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Die Beschwerde wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Haft zur Sicherung der Abschiebung mit Ablauf des 07.12.2020 endet.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 07.10.2020 den Betroffenen bis zum 12.11.2020 in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Von der Erhebung von Dolmetscherkosten wird für beide Rechtszüge abgesehen. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Beteiligten zu 2. zu 60 % auferlegt. Im Übrigen findet eine Auslagenerstattung nicht statt.
Gründe:
2I.
3Der Betroffene, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste erstmals am 12.12.2013 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Diesen lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 01.12.2014 als offensichtlich unbegründet ab. Der Betroffene wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Sofern er die Ausreisefrist nicht einhält, wurde ihm die Abschiebung nach Serbien angedroht. Die vom Betroffenen dagegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 25.08.2016 (Az. 16a K 498/15) als offensichtlich unbegründet abgewiesen. Den Aufforderungen der beteiligten Behörde zur Ausreise vom 13.07.2015 (Blatt 42 der Ausländerakte) und 26.02.2019 (Blatt 143 der Ausländerakte) kam der Betroffene nicht nach.
4Die beteiligte Behörde befristete mit Verfügung vom 11.04.2018 das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf einen Zeitraum von 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung; wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 103 der Ausländerakte Bezug genommen. Diese Befristung erwähnte der Betroffene in einem Antrag an die Härtefallkommission vom 25.05.2018, wegen dessen Einzelheiten auf Blatt 170 der Ausländerakte Bezug genommen wird.
5Der Betroffene wurde am 12.11.2019 von der beteiligten Behörde nach Serbien überstellt. Am 13.12.2019 reiste er erneut in das Bundesgebiet ein. Der Betroffene hatte sich zuvor in Serbien neue Ausweispapiere auf den Namen T ausstellen lassen. Der damalige Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen Rechtsanwalt P fügte eine Kopie dieses Reisepasses seinem Schreiben vom 22.06.2020 (Blatt 267 der Ausländerakte) an die beteiligte Behörde bei und fragte an, wie mit Herrn T aufenthaltsrechtlich verfahren werden soll. Die beteiligte Behörde bat den Betroffenen mit E-Mail vom 28.09.2020, persönlich mit dem original Reisepass am 07.10.2020 bei ihr vorzusprechen. Der Betroffene räumte bei seiner Anhörung durch die beteiligte Behörde am 07.10.2020 ein, aus Angst, sonst nicht nach Deutschland einreisen zu dürfen, einen „neuen Ausweis gemacht“ zu haben. Er wolle in Deutschland mit seiner Lebensgefährtin leben und werde nicht freiwillig ausreisen, da sein Kind nicht ohne Vater aufwachsen solle. Wegen der Einzelheiten der Anhörung vom 07.10.2020 wird auf Blatt 288 der Ausländerakte verwiesen.
6Die beteiligte Behörde wies den Betroffenen mit Verfügung vom 07.10.2020 aus dem Bundesgebiet aus. Ihm wurde aufgegeben, die Bundesrepublik Deutschland unverzüglich, spätestens jedoch bis zum 21.10.2020 zu verlassen. Die Wirkung der Ausweisung und der eventuell notwendig werden Abschiebung wurde gemäß § 11 Abs. 2 und 3 AufenthG auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Die zwangsweise Abschiebung nach Serbien wurde angedroht und die sofortige Vollziehung der Verfügung angeordnet. Die Ausreiseverfügung vom 07.10.2020 wurde dem Betroffenen am gleichen Tag ausgehändigt. Wegen der Einzelheiten der Verfügung wird auf Blatt 279 ff. der Ausländerakte verwiesen.
7Die beteiligte Behörde hat beim Amtsgericht Gelsenkirchen mit Schriftsatz vom 07.10.2020 beantragt, gegen den Betroffenen Sicherungshaft bis zum 08.12.2020 anzuordnen. Für den Fall, dass über den Antrag nicht sofort entschieden werden kann, hat sie hilfsweise beantragt, die Sicherungshaft im Wege der einstweiligen Anordnung gemäß § 427 FamFG zu erlassen. Wegen der Einzelheiten des Haftantrags wird auf Blatt 1 ff. der Akte verwiesen.
8Die zuständige Amtsrichterin hat am 07.10.2020 die Kanzlei des Rechtsanwalts P telefonisch von dem am gleichen Tag vorgesehenen Anhörungstermin benachrichtig. Dessen Büro hat erklärt, er sei bereits von der Lebensgefährtin des Betroffenen informiert worden. Rechtsanwalt P wolle jedoch zum Termin nicht erscheinen (vgl. Vermerk vom 07.10.2020, Blatt 20 der Akte).
9Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 07.10.2020 persönlich angehört. Dabei hat er erklärt, sein Anwalt habe ihm versprochen, dass ihm bei dem Termin heute Morgen nicht passieren werde; er sollte zur Ausländerbehörde und würde die Papiere bekommen. Sein Anwalt habe ihm nicht gesagt, dass so etwas passieren könne. Er habe nicht gewusst, dass er ein Einreiseverbot gehabt habe; er habe es sich aber gedacht. Wegen der Einzelheiten der Anhörung wird auf Blatt 21 der Akte verwiesen.
10Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 07.10.2020 die Abschiebungshaft bis zum 08.12.2020 mit sofortiger Wirkung angeordnet. Wegen der Einzelheiten der Entscheidung wird auf Blatt 23 der Akte Bezug genommenen. Der Beschluss ist Rechtsanwalt P übersandt worden.
11Der Betroffene hat gegen den Beschluss vom 07.10.2020 mit Schreiben seines neuen Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt G vom 09.10.2020 (Blatt 30 der Akte) Beschwerde eingelegt und beantragt festzustellen, dass der angefochtene Beschluss ihn in seinen Rechten verletzt hat.
12Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Akte dem Beschwerdegericht vorgelegt.
13Rechtsanwalt G hat die Beschwerde nach Einsichtnahme in die Akte und die Ausländerakte mit Schreiben vom 26.10.2020 begründet; wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf Blatt 41 der Akte verwiesen. Zudem hat er beantragte, dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen. Der Betroffene verfügt ausweislich seiner Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse über kein Einkommen und Vermögen.
14Am 26.10.2020 wurde ein Kind des Betroffenen geboren. Rechtsanwalt G hat vor diesem Hintergrund mit Schreiben vom 02.11.2020 (Blatt 49 der Akte) die Außervollzugsetzung des angefochtenen Beschlusses beantragt. Die Beschwerdekammer hat den Antrag mit Beschluss vom 04.11.2020 (Blatt 64 der Akte) zurückgewiesen und dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt G bewilligt.
15Die beteiligte Behörde hat mit Schreiben vom 04.11.2020 (Blatt 61 der Akte) die Gründe für die Abschiebung im Wege einer Sammelchartermaßnahme mitgeteilt: Eine Flugbuchung auf einem normalen Linienflug sei nicht sachgerecht. Bei der Abschiebung sei eine Sicherheitsbegleitung erforderlich. Ein Flug mit Sicherheitsbegleitung hätte vor dem 01.12.2020 nicht stattfinden können. Wegen der Einzelheiten des Schreibens wird auf Blatt 61 der Akte verwiesen.
16Ein Mitarbeiter der Zentralstelle des Landes NRW für Flugabschiebungen (ZFA) C hat auf telefonische Nachfrage des Gerichts die Buchungslage bei Abschiebungen nach Serbien wie folgt erläutert: Eine unbegleitete Abschiebung könne innerhalb von zwei bis drei Wochen mit einem Linienflug erfolgen. Bei Personen, die unerlaubt eingereist seien, werde grundsätzlich nur eine Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung vorgenommen. Die Bundespolizei lehne die Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung in Linienflügen nach Serbien grundsätzlich ab, da dafür in regelmäßigen Abständen Sammelchartermaßnahmen zur Verfügung stünden. Die letzte Sammelchartermaßnahme vor dem 01.12.2020 habe am 06.10.2020 stattgefunden. Die Sammelchartermaßnahme finde unter Sicherheitsbegleitung und ärztlicher Versorgung statt. Die Bundespolizei setze ihre (verbleibenden) Beamten aus Gründen der Priorisierung für Abschiebungen in Linienflügen in Länder ein, bei denen keine Sammelchartermaßnahmen vorgenommen werden. Sie sei infolge der Corona Pandemie überlastet. Eine Abschiebung mit Sicherheitsbegleitung in Linienflügen nach Serbien binde bei der Bundespolizei erhebliche Personalkapazitäten, da sich die Beamten bei ihrer Rückkehr 14 Tage in Quarantäne begeben müssten.
17Die Beschwerdekammer hat die Ausländerakte beigezogen und den Betroffenen am 11.11.2020 persönlich angehört; wegen der Einzelheiten der Anhörung wird auf den Vermerk vom 11.11.2020 Bezug genommen.
18Der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen hat zur Anhörung innerhalb der ihm gewährten Frist Stellung bezogen; wegen der Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 12.11.2020 verwiesen.
19II.
20Die Beschwerde des Betroffenen ist gem. § 58 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig.
21In der Sache hat die Beschwerde nur teilweise Erfolg.
221. Der Haftanordnung liegt ein zulässiger Haftantrag zugrunde.
23Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Gesichtspunkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (BGH, Beschluss vom 13.10.2016, V ZB 22/16, juris). Die beteiligte Behörde legt in dem Antrag vom 07.10.2020 dar, dass und weshalb der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig ist und welcher Zeitraum für die Durchführung der Abschiebung benötigt wird. Betreffend die Haftdauer hat die beteiligte Behörde durch die Benennung des konkreten (nächstmöglichen) Flugtermins ausreichend die erforderliche Dauer der Abschiebehaft dargelegt. Mehr ist im Rahmen eines zulässigen Haftantrags nicht erforderlich (vgl. auch BGH, Beschluss vom 01. Juni 2017 – V ZB 39/17 –, juris). Die beteiligte Behörde hat allerdings im Haftantrag selbst nicht das Vorliegen einer Abschiebungsandrohung dargelegt. Dem Antrag war aber die Ausreiseverfügung vom 07.10.2020 beigefügt, in der dem Betroffenen die Abschiebung nach Serbien angedroht wurde. Dies reicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 17. März 2016 – V ZB 39/15 -, Beschluss vom 14. Januar 2016 – V ZB 18/14 -, juris).
242. Das Amtsgericht hat zu Recht zur Sicherung der Abschiebung die Haft bis zum Ablauf des 07.12.2020 angeordnet.
25a. Der Betroffene ist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig, weil er unerlaubt eingereist ist. Er hatte nicht den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und durfte auch wegen des gegen ihn erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen (§ 14 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG). Die Einlassung des Betroffenen, er habe keine Kenntnis von dem Einreise- und Aufenthaltsverbot gehabt, hält die Kammer nicht für glaubhaft. Der Betroffene hat das Einreise- und Aufenthaltsverbot in seinem Antrag an die Härtefallkommission vom 25.05.2018 erwähnt. Die Kammer ist davon überzeugt, dass die Beschaffung des Reisepasses auf den Namen T gerade vor dem Hintergrund erfolgte, das gegen ihn erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot zu umgehen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Einreise- und Aufenthaltssperre ist nicht im Rahmen des Abschiebungshaftverfahrens vorzunehmen, sondern im Verwaltungsverfahren oder in einem Verfahren vor den Verwaltungsgerichten.
26Im Übrigen ergibt sich die Ausreisepflicht des Betroffenen auch aus der Ausreiseverfügung der beteiligten Behörde vom 07.10.2020. Die in der Ausreiseverfügung vom 07.10.2020 gewährte Ausreisefrist ist abgelaufen.
27b. Der Betroffene ist gemäß § 58 Abs. 1 S. 1 AufenthG abzuschieben. Die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht ist nicht gesichert, weil der Betroffene mittellos ist (§ 58 Abs. 3 Nr. 4 AufenthG) und zu erkennen gegeben hat, dass er seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen wird (§ 58 Abs. 3 Nr. 7 AufenthG).
28c. Dem Betroffenen ist die Abschiebung in der Verfügung der beteiligten Behörde vom 07.10.2020 angedroht worden. Eine Androhung nach § 59 AufenthG muss auch dann erfolgen, wenn der Ausländer gemäß § 14 AufenthG unerlaubt einreist und deshalb nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufentG vollziehbar ausreisepflichtig ist (BGH, Beschluss vom 07. Februar 2019 – V ZB 216/17 -, Beschluss vom 13. September 2018 – V ZB 61/18 -, Beschluss vom 12. Juli 2013 – V ZB 92/12 -, Beschluss vom 14. März 2013 – V ZB 135/12 -, juris).
29d. Die Haftanordnung ist auf Grund der unerlaubten Einreise schon nach § 62 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG gerechtfertigt. Es liegt zudem der Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG wegen Fluchtgefahr vor. Die Fluchtgefahr wird widerleglich vermutet, wenn der Betroffene – wie hier – sich entgegen § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG im Bundesgebiet aufhält (§ 62 Abs. 3a Nr. 4 AufenthG). Die sich daraus ergebende Vermutung ist nicht widerlegt. Der Betroffene hat nicht glaubhaft gemacht und es ist auch nicht offensichtlich, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will (§ 62 Abs. 3 Satz 2 FamFG). Die freiwillige Meldung des Betroffenen bei der zuständigen Behörde kann zwar ein Anzeichen dafür sein, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will. Hier liegt es aber anders. Der Einlassung bei seiner Anhörung am 07.10.2020 ist zu entnehmen, dass er nicht mit seiner Ausweisung gerechnet hatte, sondern glaubte, Aufenthaltspapiere zu erhalten. Der Betroffene hat gegenüber der beteiligten Behörde am 07.10.2020 ausdrücklich erklärt, dass er nicht freiwillig ausreisen werde, weil sein Kind nicht ohne Vater aufwachsen soll. Damit hat er klar zum Ausdruck gebracht, dass er sich nicht für eine behördliche Durchsetzung seiner Rückführung zur Verfügung halten würde.
30e. Die Abschiebungshaft ist auch nach der Geburt des Kindes verhältnismäßig. Die Maßnahme ist zur Sicherung der Abschiebung geeignet und erforderlich und der mit ihr verbundene Eingriff steht nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache.
31Die Verwaltungsgerichte und nicht die Haftgerichte haben darüber zu befinden, ob die Abschiebung zu Recht betrieben wird. Zu dieser Prüfung gehört auch die Entscheidung der Frage, ob die Geburt eines in Deutschland aufenthaltsberechtigten Kindes der Abschiebung entgegensteht. Der Haftrichter muss aber prüfen, ob die Wirkungen der Haft in einem angemessenen Verhältnis zu der beabsichtigten Abschiebung stehen. Sie ist notwendig, weil es an der Verhältnismäßigkeit der Haft fehlen kann, wenn zwischen dem Ausländer und seiner Lebensgefährtin eine Beistandsgemeinschaft besteht und sie oder ihre Kinder auf die Unterstützung durch den Ausländer angewiesen sind. Dass der Betroffene mit seiner Lebensgefährtin nicht verheiratet ist, schließt die Annahme einer Beistandsgemeinschaft nicht aus, da auch faktische Beziehungen zwischen Erwachsenen den Schutz des Art. 8 EMRK genießen, wenn Elemente einer Abhängigkeit dargelegt werden, die über die üblichen gefühlsmäßigen Bindungen hinausgehen. Besteht eine solche einer Familie ähnliche Beistandsgemeinschaft des Ausländers zu einer aufenthaltsberechtigten Lebensgefährtin mit deren minderjährigen Kindern, darf die Sicherungshaft nur im äußersten Fall und nur für die kürzest mögliche Dauer angeordnet werden (vgl. BGH FGPrax 2013, 86; BGH, Beschluss vom 17.06.2010 – V ZB 127/10 -).
32Gemessen daran ist die Haft hier verhältnismäßig. Die Ausreisepflicht des Betroffenen kann ohne die Sicherungshaft nicht durchgesetzt werden (siehe oben lit. d.). Die beteiligte Behörde hat die Abschiebung mit der gebotenen Beschleunigung betrieben (siehe unten lit. h). Die Lebensgefährtin des Betroffenen hat von dem mittellosen Betroffenen vor der Anordnung der Haft keine finanzielle Unterstützung, sondern lediglich Hilfe im Haushalt erhalten. Anhaltspunkte dafür, dass infolge der Trennung und des Wegfalls dieser Hilfe eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit der Lebensgefährtin oder des Kindes bestehen, liegen nicht vor. Bei Bedarf hat die Lebensgefährtin zudem die Möglichkeit, sich an ihre Eltern zu wenden, die in ihrer Nähe leben.
33f. Des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft gemäß § 72 Abs. 4 AufenthG bedarf es nicht, da keine Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen eingeleitet wurden.
34g. Das Amtsgericht durfte die Sicherungshaft nur bis zum 07.12.2020 anordnen.
35Die beteiligte Behörde hat für den Betroffenen für den 01.12.2020 einen Flug gebucht. Das Amtsgericht musste die Haft nicht auf den 01.12.2020 begrenzen und durfte der beteiligten Behörde einen zeitlichen Puffer für allfällige Verzögerungen bis zum 07.12.2020 einräumen (vgl. BGH, Beschluss vom 20.10.216, Az. V ZB 167/14, juris). Für den Zeitraum danach war die angeordnete Haft aufzuheben.
36h. Die beteiligte Behörde hat das Beschleunigungsgebot beachtet. Dieses Gebot verlangt, dass die Abschiebehaft als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art 104 GG und Art 5 Abs. 1 EMRK auf das unbedingt erforderlich Maß beschränkt wird und die Ausländerbehörde die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betreibt. Dies schließt jedoch einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung nicht aus (BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – V ZB 56/10 -, juris). Eine sachfremde Verzögerung des Verfahrens liegt nicht vor. Der Betroffene wurde am 07.10.2020 festgenommen. Die beteiligte Behörde hat am gleichen Tag die ZFA C um die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung gebeten. Ob eine Sicherheitsbegleitung in der Sache erforderlich ist, haben die Haftgerichte nicht zu überprüfen (BGH, Beschluss vom 23.05.2019 – V ZB 236/17 -, juris; Beschluss vom 25.08.2020 – XIII ZB 45/19 -, juris). Die Sammelchartermaßnahme vom 01.12.2020 war nach Auskunft der ZFA C die schnellste Möglichkeit für die Rückführung des Betroffenen mit Sicherungsbegleitung. Die Bundespolizei führt keine Linienflüge mit Sicherheitsbegleitung nach Serbien durch, weil dafür in regelmäßigen Abständen Sammelchartermaßnahmen mit Sicherheitsbegleitung zur Verfügung stehen, bei denen das Personal effektiver eingesetzt werden kann. Die Rückführung mit einer Sammelchartermaßnahme führt in den meisten Fällen nicht zu einer Verzögerung der Maßnahme. Bei Linienflügen mit Sicherheitsbegleitung hat der Bundesgerichtshof eine Vorlaufzeit von bis sechs Wochen als angemessen angesehen (vgl. BGH Beschluss vom 20.09.2018 – V ZB 4/17 -). Die Vorlaufzeit bei Sammelchartermaßnahmen kann in Einzelfällen kürzer oder – wie hier - bei einer Ergreifung des Betroffenen kurz nach einer Sammelchartermaßnahme auch länger dauern. Bei Gesamtwürdigung dieser Umstände ist die Entscheidung der Bundespolizei, die Rückführung nach Serbien in Sammelchartermaßnahmen zu vollziehen, nicht zu beanstanden. Sie hat sich dabei innerhalb des ihr eröffneten organisatorischen Spielraums bewegt. Der Flugtermin am 01.12.2020 beruht nicht auf einer Überlastung der Bundespolizei. Der Betroffene ist für die nächste anstehende Sammelchartermaßnahme vorgesehen. Die Vorlaufzeit für den Flug von beinahe acht Wochen wurde erforderlich, weil der Betroffene einen Tag nach der letzten Sammelchartermaßnahme am 06.10.2020 aufgegriffen wurde.
373. Der mit der Beschwerde erhobene Feststellungsantrag ist zulässig. Für die Zulässigkeit eines im Beschwerdeverfahren gestellten Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung ist es ohne Bedeutung, ob sich die Hauptsache vor der Entscheidung des Beschwerdegerichts im Rechtssinne erledigt oder ob die Freiheitsentziehung durch die Entscheidung des Beschwerdegerichts beendet wird. In dem zuletzt genannten Fall kann der Betroffene neben der Aufhebung der Haftanordnung analog § 62 Abs. 1 FamFG die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung verlangen (BGH InfAuslR 2013, 37).
38Der Feststellungsantrag ist teilweise begründet. Der Beschluss des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 07.10.2020 hat den Betroffenen bis zur Entscheidung der Beschwerdekammer in seinen Rechten verletzt, weil das Amtsgericht vor seiner Entscheidung nicht die Ausländerakte beigezogen hat.
39Eine Beiziehung der Ausländerakte vor der Entscheidung des Amtsgerichts am 07.10.2020 ist weder dem Anhörungsvermerk zu entnehmen noch an anderer Stelle in der Gerichtsakte schriftlich dokumentiert. Da es sich bei der Beiziehung der Ausländerakte um eine Verfahrensgarantie handelt, muss deren Beachtung für die Rechtsmittelinstanzen nachvollziehbar sein und daher aktenkundig gemacht werden. Die Beiziehung der Ausländerakte ist zu dokumentieren. Unterbleibt dies, kann nicht festgestellt werden, dass diese Verfahrensgarantie gewahrt worden ist; dies wirkt zugunsten des Betroffenen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. November 2010 – V ZB 165/10 -, juris). Die Dokumentation kann nach Abschluss der Instanz nicht mehr nachgeholt werden. Andernfalls verfehlte sie ihren Zweck, den tatsächlichen Geschehensablauf zeitnah in den Akten festzuhalten (BGH, Beschluss vom 04. Dezember 2014 – V ZB 87/14 -, juris).
40Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte durch das Amtsgericht stellt einen Verstoß gegen das Freiheitsrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG dar. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die Freiheit als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen, also vor Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs. Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang. Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt. Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht. Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird. Das gerichtliche Verfahren muss deshalb darauf angelegt sein, den Betroffenen vor dem Freiheitsentzug all diejenigen rechtsstaatlichen Sicherungen zu gewähren, die mit einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. Die Eilbedürftigkeit einer solchen Entscheidung kann eine Vereinfachung und Verkürzung des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigen, darf aber die unabhängige, aufgrund der Justizförmigkeit des Verfahrens besonders verlässliche Entscheidungsfindung nicht gefährden.
41Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt damit auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht. Die Akten der Ausländerbehörde sind als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung in aller Regel beizuziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 - 2 BvR 1033/06 -, juris, Rn. 30; Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, 3015); sind die Akten nicht erreichbar, muss das Gericht seiner Pflicht zur eigenständigen, aktuellen und erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise genügen (vgl. zur entsprechenden Problematik im Auslieferungsrecht BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 - 2 BvR 1381/17 -, Rn. 23 ff.).
42Aus der Ausländerakte können sich Tatsachen ergeben, die für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung von Bedeutung sind, insbesondere Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen von Abschiebungshindernissen zugunsten des Betroffenen ergibt, denn Sicherungshaft darf grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn die Abschiebung konkret möglich erscheint (vgl. Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, 3015, Beschlussempfehlung zum FamFG, BTDrucks 16/9733, S. 299). Auch wenn es in Einzelfällen denkbar ist, dass die Ausländerakte keine Informationen enthält, die über den Inhalt des Haftantrags nebst Anlagen hinausgehen, so muss das Haftgericht in einem solchen Einzelfall doch zumindest ausdrücklich im Haftbeschluss feststellen und plausibel begründen, warum ausnahmsweise von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen werden konnte (BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Mai 2020 – 2 BvR 2345/16 -, juris).
43Das Amtsgericht hat seine Entscheidung über die Haftanordnung in Unkenntnis des Inhalts der Ausländerakte des Beschwerdeführers getroffen. Es hat in seinem Beschluss auch nicht begründet, weshalb es von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen hat.
44Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte - jedenfalls ohne jegliche Begründung - belastet die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. BVerfGE 58, 208; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 1990 - 2 BvR 1592/88 -, juris, Rn. 15; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. März 1996 - 2 BvR 927/95 - juris, Rn. 18) und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht (BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. Mai 2020 – 2 BvR 2345/16 -, juris).
454. Der Beschluss des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 07.10.2020 verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 4 GG.
46Art. 104 Abs. 4 GG ist nicht nur eine objektive Verfassungsnorm, die dem Richter eine Verpflichtung auferlegt; sie verleiht zugleich dem Festgehaltenen ein subjektives Recht darauf, dass die Vorschrift beachtet wird. Sie schreibt die unverzügliche Benachrichtigung eines Angehörigen des Festgehaltenen oder einer Person seines Vertrauens von jeder richterlichen Entscheidung über die Anordnung oder Fortdauer einer Freiheitsentziehung vor. Aus Sinn und Zweck der Vorschrift ergibt sich, dass diese Pflicht dem Richter obliegt, der die Haft oder ihre Fortdauer anordnet. Die mit Verfassungsrang angeordnete Benachrichtigungspflicht tritt selbständig neben die Entscheidung über die Freiheitsentziehung.
47Ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 4 GG liegt allerdings dann nicht vor, wenn die in Frage stehende Entscheidung über die Freiheitsentziehung – wie im vorliegenden Fall der Beschluss des Amtsgerichts Gelsenkirchen vom 07.10.2020 – dem Bevollmächtigten des Betroffenen bekanntgegeben wird, da ein von dem Betroffenen mandatierter Prozessbevollmächtigter in aller Regel als Person seines Vertrauens gelten kann. Denn der Zweck des Art. 104 Abs. 4 GG, einer in Haft genommenen Person den Kontakt nach außen zu sichern und damit ein spurloses Verschwinden von Personen zu verhindern, wird durch die Bekanntgabe des Beschlusses an den Bevollmächtigten regelmäßig sichergestellt, jedenfalls wenn dieser – wie hier - auf den ausdrücklichen Wunsch des Vertretenen tätig geworden ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 14.05.2020 – 2 BvR 2345/16 -, juris).
485. Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG und Art. 5 EMRK analog. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die beteiligte Behörde zur Erstattung eines Teils der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten. Die Kostenquote entspricht dem Verhältnis von Obsiegen und Unterliegen des Betroffenen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. September 2013 – V ZB 212/12 -, juris).
49Die Dolmetscherkosten hat der Betroffene nicht zu erstatten. Bei Betroffenen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, ist regelmäßig nach § 81 Abs. 1 Satz 2 FamFG anzuordnen, dass von der Erhebung von Dolmetscherkosten abzusehen ist, da der Betroffene seine Rechte in einem Freiheitsentziehungsverfahren nur effektiv wahrnehmen kann, wenn ihm jedenfalls in der nach § 420 FamFG vorgeschriebenen Anhörung unentgeltlich ein Dolmetscher zur Verfügung gestellt wird (vgl. BGH FGPrax 2010, 154).
50Rechtsmittelbelehrung:
51Gegen diese Entscheidung findet das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde statt.
52Die Rechtsbeschwerde ist binnen einer Frist von einem Monat nach der schriftlichen Bekanntgabe dieses Beschlusses durch Einreichung einer Beschwerdeschrift bei dem Bundesgerichtshof (Bundesgerichtshof, 76125 Karlsruhe) einzulegen.
53Die Rechtsbeschwerde kann wirksam nur durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt eingelegt werden (§ 10 Abs. 4 S. 1 FamFG).