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Schmerzensgeld; Fehlverhalten, Organisation im Krankenhaus bei der Geburt eines Kindes, Übertragung des ungeborenen Kindes
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000,00 DM (i. W.: dreihundertausend Deutsche Mark) zu zahlen.
2. Wegen des weitergehend bezifferten Klageantrages (Antrag zu Ziffer 2 der Klageschrift vom 21.08.1995) wird die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der diesem aus dem Ereignis vom 28.08.1992 ab dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in diesem Rechtsstreit entstehen wird, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergeht.
4. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 300.000,00 DM vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand:
2Der Kläger wurde am 28.08.92 im Krankenhaus der Beklagten in F geboren. Er leidet seit der Geburt an einer zerebralen Schwerstschädigung. Es besteht eine Spannungsathetose, ein Anfallsleiden und eine Sehschwäche bei Microzephalus (abnorme Kleinheit des Kopfes). Der Kläger kann sich willkürlich praktisch nicht bewegen, weder Hände noch Beine. Die Kopfkontrolle ist gering. Es bestehen beidseits Pfannendysplasien mit ausgeprägtem Pfannenerker. Der Kläger kann nicht schlucken und wird durch Sonden ernährt. Die Parteien streiten darüber, ob dieser Zustand auf Behandlungsfehler im Hause der Beklagten vor und während der Geburt zurückzuführen ist.
3Die Schwangerschaft der Mutter des Klägers war durch deren behandelnden Arzt Dr. N am 19.12.91 festgestellt worden. Dr. N errechnete als Geburtstermin den 09.08.92. Abgesehen von einer mit Penicillin erfolgreich behandelten Pyelonephritis am 29.06.92 war der Schwangerschaftsverlauf unauffällig. Ultraschall und Kardiotokographien (Zeichnungen der fetalen Herzschlagfrequenz und der Wehentätigkeit; CTG) zeigten in der Zeit vom 09.01. bis 31.07.92 keine Auffälligkeiten. Am 07.08.92 überwies Dr. N die Mutter des Klägers an die gynäkologische Abteilung der Beklagten. Sie wurde dort zunächst ambulant betreut. Untersuchungen fanden statt am 13.08., 15.08. und 19.08.1992, nach der Behauptung der Beklagten auch am 17.08.92.
4Am 19. und 20.08.92 wurde die Kindesmutter stationär betreut. Es wurden kardiotokographische Untersuchungen, Ultraschall und vaginale Untersuchungen durchgeführt. Sodann korrigierte die Beklagte den voraussichtlichen Geburtstermin von dem von Dr. N errechneten Datum 09.08.92 auf den 16.08.92. Am 20.08.92 wurde die Kindesmutter wieder in die ambulante Betreuung entlassen.
5Die endgültige stationäre Aufnahme erfolgte am 26.08.92 wegen leichter unregelmäßiger Kontraktionen. Bei der Aufnahme wurden weitere ambulante Untersuchungen, insbesondere CTG-Aufnahmen und später ab 22.08.92 Fruchtwasserspiegelungen (Amnioskopien) durchgeführt.
6Am 27.08.92 gegen 14.00 Uhr setzten bei der Mutter des Klägers die Wehen ein. Sie wurde um 16.00 Uhr in den Kreißsaal verlegt und an das Dauer-CTG angeschlossen. Dort wurde sie in den folgenden Stunden allein von dem Arzt im Praktikum I., der noch kein Facharzt war, und einer Hebamme betreut. Um 22.55 Uhr platzte die Fruchtblase und es trat grünlich-gelbliches Fruchtwasser aus. Ab 23.10 Uhr traten stärkere, gegen 23.20 Uhr gravierende Dezelerationen auf. Erst gegen 24.00 Uhr wurde der Oberarzt verständigt. Bis zu diesem Zeitpunkt lag die Versorgung der Kindesmutter ausschließlich in den Händen des Arztes I. und der Hebamme. Bei Verschlechterung des CTG und drohender fetalen Ashyxie (Atemdepression infolge Herzkreislaufversagen) wurde um 1.00 Uhr mit der Vorbereitung der Vakuum-Extraktion begonnen. Das OP-Personal wurde in Sectiobereitschaft versetzt. Gegen 1.10 Uhr wurde die Vakuumglocke angelegt. Um 1.48 Uhr wurde der Kläger dann nach 38 Minuten dauernder Vakuumextraktion geboren.
7Der Zustand des Klägers war derart schlecht, dass er um 2.10 Uhr zur weiteren pädiatrischen Betreuung an das L in F gegeben wurde. Dort verblieb er stationär bis zum 30.09.1992.
8Der Kläger wirft der Beklagten schwerste Fehler in der Organisation der Geburt und der geburtshilflichen Betreuung der Kindesmutter durch die behandelnden Ärzte vor.
9Er behauptet, der richtige Geburtstermin sei, wie von Dr. N festgestellt, der 09.08.92 gewesen, so dass er zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme am 26.08.92 eindeutig übertragen gewesen sei. Schon am 19.08.92 sei diese erhebliche Übertragung feststellbar gewesen. Bereits an diesem Tage hätte auch eine Wehenschwäche der Mutter des Klägers in Betracht gezogen und die Geburt eingeleitet werden müssen. Ein unbedingt erforderlicher Oxytocienbelastungstest zur Früherkennung eines kindlichen Sauerstoffmangels sei unterlassen worden. Entsprechendes gelte erst recht für den Tag der stationären Aufnahme am 26.08.92. Die Beklagte hätte sich an diesem Tag - so der Kläger -- sofort Klarheit über die plazentare Versorgung und die Belastung des Kindes verschaffen müssen. Statt eines bloßen Treppenbelastungstestes hätte ein Oxytocientest durchgeführt werden müssen, der allein aussagekräftige Befunde über die Belastbarkeit des Kindes bei der Geburt geliefert hätte. Auch wäre sofort eine erneute Ultraschallaufnahme erforderlich gewesen, die ebenfalls unterlassen worden sei. Des weiteren hätte eine Mikroblutuntersuchung durchgeführt werden müssen.
10Spätestens nach dem Platzen der Fruchtblase am 27.08.92 um 22.55 Uhr mit Austreten gelblich-grünen Fruchtwassers und auftretender Dezeleration hätte klar sein müssen, dass dem Kläger eine weitere Belastung nicht zuzumuten war. Eine gelblich-grüne Verfärbung des Fruchtwassers entwickele sich nicht innerhalb von 24 Stunden, sondern weise auf eine längere Übertragung und dadurch bedingte Mangelversorgung des Kindes hin. Später habe es weitere Anzeichen für eine deutliche Übertragung, wie Waschfrauenhände und -füße und eine grün verfärbte Nabelschnur, gegeben. Deshalb hätte sofort ein Kaiserschnitt durchgeführt werden müssen. Der stattdessen vorgenommene Versuch einer vaginalen Geburt sei ein grober Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Geburtshilfe.
11Durch das Fehlverhalten der behandelnden Ärzte sei es beim Kläger zu einer Ashyxie (Atemdepression bzw. Atemstillstand) gekommen mit der Folge einer intranatalen hypoxisch-ischämischen Hirnschädigung.
12Auch sei es ein Fehler gewesen, erst nach der Geburt des Klägers einen Pädiater zu informieren. Mit einer kindlichen Dekompensation in Form von auffälligen CTG-Erscheinungen mit Dezeleration sei von vornherein zu rechnen gewesen. Keinesfalls hätte die Kindesmutter aber bei den gegebenen Anzeichen einer Risikoschwanger-schaft über Stunden allein der Betreuung eines Arztes im Praktikum und einer Hebamme überlassen werden dürfen.
13Der Zustand des Klägers habe sich nach der Geburt weiter verschlechtert. Es bestehe heute eine schwere, vorwiegend spastische Tetraplegie (Lähmung aller vier Gliedmaßen) mit Gelenkkontrakturen. Außerdem sei der Kläger vollkommen blind.
14Der Kläger verlangt Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 250.000,00 bis 300.000,00 DM sowie Ersatz des materiellen Schadens, insbesondere des angefallenen Betreuungsaufwandes.
15Er beantragte,
161. an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird;
172. an den Kläger 293.700,00 DM nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
183. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen Schaden zu ersetzen, der diesem aus dem Ereignis vom 28.08.1992 ab dem 28.08.1995 entstehen wird, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist.
19Die Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Sie bestreitet, dass der Zustand des Klägers auf einem Fehlverhalten, einem Behandlungs- oder Organisationsverschulden der Beklagten und der die Kindesmutter behandelnden Ärzte beruht.
22Eine Übertragung habe nicht vorgelegen. Der Geburtstermin sei richtigerweise auf den 16.08.92 korrigiert worden. Am 19.08.92 sei festgestellt worden, dass der uterine Geburtskanal noch völlig unreif und geschlossen gewesen sei. Eine Wehenschwäche habe nicht vorgelegen. Die Mutter des Klägers habe seit dem 13.08.92 unregelmäßige Gebärmutterkontraktionen gehabt. Ein Oxytocientest sei deshalb nicht erforderlich gewesen. Auch sei das Fruchtwasser am 26.08.92 noch klar und nicht verfärbt gewesen. Das Fruchtwasser könne sich innerhalb eines Tages, ja innerhalb von Minuten verfärben. Auch eine Grünverfärbung des Fruchtwassers sei kein Hinweis auf eine Schädigung des Kindes und kein typisches Anzeichen für eine Übertragung. Zwar könnten Waschfrauenhände Anzeichen einer leichten Übertragung sein, nicht aber einer solchen, die eine Mangelversorgung des Kindes bedinge. Die Ursache des Zustandes des Kindes sei daher nicht im perinatalen Bereich zu suchen.
23Am 27.08.92 habe die Mutter des Klägers spontane Wehen bekommen. Eine Risikoschwangerschaft und eine Plazentainsuffizienz seien nach dem gesamten Verlauf nicht anzunehmen gewesen. Es seien alle notwendigen Untersuchungen durchgeführt worden. Insbesondere sei der vorgenommene Treppenbelastungstest durchaus ausreichend. Auch nach dem Platzen der Fruchtblase um 22.55 Uhr und Auftreten von Dezelerationen bestand kein Anlass zu einem Kaiserschnitt. Die Fortsetzung der vaginalen Entbindung sei medizinisch nicht zu beanstanden.
24Der die Kindesmutter betreuende Arzt I. sei zwar kein Facharzt gewesen, habe aber über ausreichende Erfahrung verfügt. Außerdem habe der Oberarzt als Facharzt in Rufbereitschaft zur Verfügung gestanden. Als er um 23.55 Uhr infor-
25miert worden sei, habe er sofort die Klinik aufgesucht und die Behandlung übernommen.
26Die Beklagte hält das verlangte Schmerzensgeld für übersetzt. Sie bestreitet den in Ansatz gebrachten Betreuungsaufwand.
27Wegen des weiteren Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Akten Bezug genommen.
28Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines gynäkologisch-geburtshilflichen Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. med. N 2 sowie eines pädiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. S.
29Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die schriftlichen Gutachten vom 30.11.98 (Blatt 481 bis 500 der Akte), 15.01.2000 (Blatt 552 bis 555 der Akte) und 18.10.99 (Blatt 516 bis 525 der Akte) sowie auf die mündlichen Erläuterungen des Sachverständigen Dr. N 2 in der mündlichen Verhandlung am 09.05.2000 (Blatt 607 bls 615 der Akte) Bezug genommen.
30Entscheidungsgründe:
31Die Klage ist dem Grunde nach gerechtfertigt.
32Dem Kläger stehen gegen die Beklagte die mit der Klage verfolgten Schadensersatzansprüche aus den §§ 831, 823 Abs. 1 BGB und aus einer schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten aus dem zwischen der Beklagten und der Mutter des Klägers abgeschlossenen, zu Gunsten des Klägers wirkenden Behandlungsvertrag zu. Der Kläger hat Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes gemäß § 847 BGB.
33Den Ärzten, die die Geburt des Klägers im Krankenhaus der Beklagten betreut haben, sind dabei grob schuldhafte Behandlungsfehler unterlaufen. Die Beklagte hat den ihr obliegenden Beweis, dass die Schäden des Klägers nicht auf diese Fehler zurückzuführen sind, nicht erbracht. Hinsichtlich der ärztlichen Behandlungsfehler macht sich die Kammer die Feststellungen der Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. N 2 an deren Sachkunde und Erfahrung keine Zweifel bestehen, zu Eigen.
341.
35Nach der überzeugend begründeten Auffassung der Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. N 2 ist der von Dr. N festgelegte Geburtstermin 09.08.92 als gesichert anzusehen. Ultraschalluntersuchungen im Frühstadium der Schwangerschaft geben verhältnismäßig sichere Erkenntnisse auf das Geburtsdatum, die eine sehr genaue Berechnung mit einer geringen Schwankungsbreite von +/- drei Tagen ermöglichen. Die von Dr. N durchgeführten Ultraschalluntersuchungen, deren Ergebnisse im Mutterpass eingetragen sind, stützen zweifelsfrei den errechneten Termin 09.08.92. Nachvollziehbare Gründe für die von der Beklagten vorgenommene Verlegung des voraussichtlichen Geburtstermins auf den 16.08.92 haben die Sachverständigen nicht gefunden.
36Bereits ab dem 09.08.92 lag daher eine Übertragung vor. Schon bei einer Überschreitung des Geburtstermins um nur zehn Tage wird von einer Risikoschwangerschaft gesprochen, die zwar nicht eine sofortige Entbindung der Kindesmutter erforderlich macht, aber doch eine engmaschige Überwachung erfordert. Spätestens seit dem 19.08.92 entspricht die Überwachung der Schwangerschaft der Mutter des Klägers im Hause der Beklagten nach Auffassung der Sachverständigen Prof. L und Dr. N 2 nicht mehr dem ärztlichen Standard.
37Ein eindeutig pathologisches CTG am 19.08.92 und eine schwere Tachykardie, die einen beginnenden Sauerstoffmangel des Kindes anzeigen kann, hätten den behandelnden Ärzten Anlass zu weiteren Untersuchungen geben müssen. Insbesondere hätte zumindest am 20.08.92 ein Oxytocienbelastungstest, eine Methode zur Früherkennung eines kindlichen Sauerstoffmangels infolge chronischer Plazentainsuffizienz in der Spätschwangerschaft, durchgeführt werden müssen. Der vorgenommene Treppenbelastungstest, bei dem die Kindesmutter angehalten wird, sich durch Treppensteigen zu belasten, bei anschließendem Kontroll-CTG, ist insoweit nicht hinreichend aussagekräftig. Jedenfalls, so der Sachverständige Dr. N 2, hätte die Beklagte die Kindesmutter in stationärer Behandlung behalten müssen.
38Zum Zeitpunkt ihrer erneuten stationären Aufnahme am 26.08.92 lag eine Überschreitung des errechneten Geburtstermins um 17 Tage und damit zweifelsfrei eine Risikoschwangerschaft vor. In Anbetracht der deutlichen Übertragung hätte spätestens jetzt ein Oxytocienbelastungstest durchgeführt werden müssen. Obwohl laut Geburtsjournal die stationäre Aufnahme am 26.08.92 wegen "rechnerischer Übertragung zum Oxytocienbelastungstest" erfolgte, unterließen die behandelnden Ärzte entgegen den anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst auch weiterhin einen solchen Test und beschränkten sich erneut auf den nach Auffassung des Sachverständigen völlig unzureichenden Treppenbelastungstest. Durch den Oxytocientest hätten die behandelnden Ärzte die erforderlichen Erkenntnisse über die Belastbarkeit des Fötus gewonnen. Die tatsächlich geringe Belastbarkeit des klägerischen Fötus zeigte sich dann schließlich auch in der am 27.08.92 ab 16.00 Uhr durchgeführten CTG-Dauerüberwachung. Nach den überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Prof. L und Dr. N 2 hätte jetzt auch für die behandelnden Arzte der Beklagten offensichtlich werden müssen, dass das Kind wenig belastbar war. Dennoch unterließen sie auch in der Folgezeit weiterhin dringend gebotene diagnostische Maßnahmen.
39So hätte spätestens gegen 23.00 Uhr, als nach dem Blasensprung die ersten stärkeren Wehen auftraten und das Kind darauf reagierte, eine so genannte Mikroblutuntersuchung durchgeführt werden müssen, die aufgrund des ausreichend geöffneten Muttermundes ohne größere Probleme möglich gewesen wäre. Dazu bestand jedenfalls dann Veranlassung, wenn, wie geschehen, die Geburt nicht sofort eingeleitet, sondern hinausgezögert werden sollte. Eine Mikroblutuntersuchung hätte Aufschluss über einen möglichen Sauerstoffmangel des Kindes gegeben, worauf dann entsprechend hätte reagiert werden können.
40Hätte die Mikroblutuntersuchung etwa, so der Sachverständige Dr. N 2 einen pH-Wert von weniger als 7,25 ergeben, so wäre dies eine deutliche Indikation zur schnellstmöglichen Beendigung der Geburt gewesen. Nur bei einem günstigen pHWert hätte zugewartet werden können. Obwohl bereits das abgegangene grüne Fruchtwasser auf mindestens eine Episode eingeschränkter Sauerstoffversorgung des Kindes hinwies, haben die behandelnden Ärzte auf die angezeigte Untersuchung durch Mikroblutanalyse verzichtet und ohne weitere gesicherte Erkenntnisse mit der Geburt zugewartet, eine nach Auffassung des Sachverständigen ebenfalls deutlich vom ärztlichen Standard abweichende Vorgehensweise.
41Einen weiteren Behandlungsfehler sehen die Sachverständigen in der noch in der Geburtsphase erfolgten Verabreichung von Oxytocien. Die Gabe dieses an sich zur Auslösung geburtsmechanisch wirkender Kontraktionen probaten Mittels war zu diesem Zeitpunkt nach Auftreten pathologischer Herzfrequenzmuster, die auf eine herannahende Gefahr für das Kind hinwiesen, eindeutig contraindiziert. Ein entsprechender Hinweis findet sich, wie der Sachverständige Dr. N 2 glaubhaft dargestellt hat, auf jedem Beipackzettel dieses Medikaments. Deshalb wird ebenfalls auf dem Beipackzettel ausdrücklich empfohlen, zunächst durch eine Fetalblutanalyse den Zustand des Fötus zu prüfen. Auch diese klaren Hinweise sind von den behandelnden Ärzten nicht beachtet worden.
42Schließlich halten die Sachverständigen Prof. L und Dr. N 2 auch die lange Dauer der schließlich durchgeführten Vakuum-Extraktion von 38 Minuten für völlig unakzeptabel und unzumutbar. Wie der Sachverständige Dr. N 2 in seiner mündlichen Erläuterung des Gutachtens eindrucksvoll dargestellt hat, kommt es durch die lange Entwicklung des Unterdrucks auf den kindlichen Kopf im Anschluss an die Entfernung der Vakuumglocke zu einer plötzlichen Dekompression, die zu einem Platzen von Blutgefäßen und zu entsprechenden Hirnschäden des Kindes führen kann. Spätestens nach zehn Minuten erfolgloser Vakuum-Extraktion hätte diese abgebrochen und entweder mittels Sectio oder mittels einer Zange das Kind geboren werden müssen.
43Das Fehlverhalten der behandelnden Ärzte der Beklagten setzt sich auch nach der Geburt des Klägers fort.
44Obwohl nach Auffassung der Sachverständigen von vornherein eine schwierige Geburt zu erwarten war, wurde erst nach der Geburt die Kinderklinik benachrichtigt, so dass ein Kinderarzt erst 22 Minuten nach der Geburt eintraf. Der Sachverständige Dr. N 2 hält auch dies für einen unverzeihlichen Fehler. Allein angesichts der langen Dauer der Vakuum-Extraktion wäre die Alarmierung eines Pädiaters viel früher notwendig gewesen.
45Die zahlreichen, von den Sachverständigen festgestellten Behandlungsfehler im Hause der Beklagten mögen darauf zurückzuführen sein, dass der bis 24.00 Uhr die geburtshilfliche Betreuung der Kindesmutter mit Unterstützung einer Hebamme allein leitende Arzt im Praktikum nicht über die bei der Überwachung einer Risikoschwangerschaft erforderliche Erfahrung verfügte und daher überfordert war. Jedenfalls ist nach Auffassung der Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. N 2 die Überwachung einer Risikoschwangerschaft allein durch einen Arzt im Praktikum bei bloßer Rufbereitschaft eines Oberarztes auch nach dem 1992 üblichen Standard nicht akzeptabel und ein entsprechendes Verhalten daher fehlerhaft. Bei den hier gegebenen Anzeichen einer Risikoschwangerschaft durfte, wie der Sachverständige Dr. N 2 in seiner mündlichen Anhörung nochmals hervorhob, ein Arzt im Praktikum, auch unterstützt durch eine Hebamme, mit der Geburt nicht allein betraut werden. Vielmehr müsse in einem solchen Fall durchgängig ein Facharztstatus gewährleistet sein, mindestens dergestalt, dass der Facharzt spätestens innerhalb von fünf Minuten im Kreißsaal anwesend sein muss. Eine bloße Rufbereitschaft des Oberarztes reicht dazu nicht aus. Zu verlangen war auch nach damaligem Standard eine Anwesenheitsbereitschaft. Nach Auffassung des Sachverständigen Dr. N 2 hätte der Facharzt den Kreißsaal auch aus eigenem Antrieb in regelmäßigen Abständen aufsuchen müssen, um sich über den Gang der Geburt ein Bild machen zu können. Im vorliegenden Fall hielt sich, wie dem eigenen Vortrag der Beklagten zu entnehmen, der Oberarzt nicht einmal in der Klinik selbst auf, sondern musste sich, so der Vortrag der Beklagten, nach seiner Verständigung erst in die Klinik begeben.
46Dass die schweren Behinderungen des Klägers gerade auf die zahlreichen Behandlungsfehler im Hause der Beklagten zurückzuführen sind, hat der Kläger nicht bewiesen. Weder die gynäkologisch-geburtshilflichen Gutachten noch das pädiatrische Gutachten konnten eine entsprechende Kausalität mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Jedoch komme dem Kläger hier Beweiserleichterung zugute. Es oblag der Beklagten, nachzuweisen, dass die Ursächlichkeit ausgeschlossen oder ein Kausalzusammenhang zumindest ganz unwahrscheinlich ist. Denn die Behandlungsfehler der die Geburt betreuenden Ärzte der Beklagten sind als im rechtlichen Sinne grob zu werten.
47Bereits in ihrem schriftlichen Gutachten haben die Sachverständigen Prof. L und Dr. N 2 darauf hingewiesen, dass die festgestellten Mängel in der Betreuung der Schwangerschaft der Mutter des Klägers und das fehlerhafte Management unter der Geburt deutlich vom ärztlichen Standard abweichen.
48Darüber hinaus hat der Sachverständige Dr. N 2 in der mündlichen Erläuterung des Gutachtens überzeugend und nachdrücklich klargestellt, dass allein die lange Dauer des Versuchs einer Vakuum-Extraktion, aber auch die verspätete Hinzuziehung eines Kinderarztes, bereits für sich genommen als ein objektiv nicht mehr verständlicher und unverzeihlicher Fehler anzusehen ist, der einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf. Der Sachverständige hat dies vor allem für die Dauer der Vakuum-Extraktion in der bereits dargestellten Weise nachvollziehbar und eindrücklich begründet. Auch die contraindizierte Gabe von Oxytocien in der Geburtsphase ist angesichts der klaren Anwendungshinweise auf dem Beipackzettel schlichtweg nicht mehr verständlich und daher als grob fehlerhaft anzusehen.
49Darüber hinaus begründet aber vor allem auch die Häufung unterschiedlicher Behandlungsfehler im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung des in der unzureichenden Betreuung durch einen Arzt im Praktikum liegenden Organisationsverschuldens ein insgesamt grobes Fehlverhalten der Beklagten. Es erscheint aus medizinischer Sicht unverständlich, dass trotz vorhandener Warnzeichen unschwer durchführbare diagnostische Maßnahmen nicht ergriffen wurden. Einem ihm unterstellten Arzt hätte der Sachverständige Dr. N 2, wie er betont hat, schwere Vorwürfe gemacht und ihm bedeutet, dass so etwas keinesfalls wieder vorkommen dürfe.
50Die in diesem Sinne groben Behandlungsfehler rechtfertigen Beweiserleichterungen zu Gunsten des Patienten, hier bis zur weitgehenden Beweislastumkehr.
51Den ihr obliegenden Beweis, dass ein Kausalzusammenhang zumindest unwahrscheinlich sei, hat die Beklagte nicht erbracht.
52Sowohl die Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. N 2 als auch der Sachverständige Prof. S halten einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den Behandlungsfehlern der Beklagten und der schweren Hirnschädigung des Klägers für zwar nicht sicher feststellbar, aber praktisch möglich und nicht völlig unwahrscheinlich. Zwar hält es der Sachverständige Prof. Dr. S darüber hinaus für nicht fernliegend, dass die intrauterine Minderversorgung durch das Kind nicht kompensiert werden konnte, da unter Umständen eine perinatal erworbene Streptokokkeninfektion bestand. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine auch nur mit annähernder Sicherheit anzunehmende Tatsache, sondern um eine Hypothese des pädiatrischen Gutachtens, so dass es sich dabei nur um eine mögliche Ursache handelt. Wissenschaftlich bleibt die Frage der Kausalität daher offen, bei allerdings nicht nur theoretischer Möglichkeit einer Ursächlichkeit der Behandlungsfehler der Beklagten. Dies geht angesichts der Schwere der Behandlungsfehler zu Lasten der Beklagten.
53Dem in der mündlichen Verhandlung vom 09.05.2000 gestellten Beweisantrag der Beklagten, zum Beweis der Tatsache, dass die schweren Hirnschäden des Klägers nicht geburtsassoziiert seien, ein pädiatrisches Hauptgutachten einzuholen, musste die Kammer nicht nachgehen. Es liegt bereits ein pädiatrisches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S vor. In diesem Gutachten hat sich der Sachverständige Prof. Dr. S zur Kausalität zwischen den geburtshilflichen Maßnahmen der Beklagten und der schweren Hirnschädigung des Klägers geäußert. Er hat dabei sämtliche zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen herangezogen und ausgewertet. Bei Berücksichtigung dieser Erkenntnisse, auf die auch ein weiterer pädiatrischer Gutachter beschränkt wäre, hat auch Prof. Dr. S die Frage der Kausalität nicht eindeutig beantworten können. Weitere und neue Erkenntnisse zu dem vom Beklagten benannten Beweisthema können daher auch durch ein weiteres pädiatrisches Gutachten nicht gewonnen werden.
542.
55Für das Fehlverhalten der bei ihr angestellten behandelnden Ärzte hat die Beklagte gemäß §§ 831, 823 BGB sowie aus positiver Vertragsverletzung des Behandlungsvertrages in Verbindung mit § 278 BGB einzustehen. Den ihr obliegenden Entlastungsbeweis im Rahmen des § 831 BGB hat die Beklagte nicht erbracht. Sie ist daher dem Kläger zum Ersatz aller diesem entstehenden materiellen und immateriellen Schäden verpflichtet. Da weitere Schäden auch in Zukunft angesichts des nach dem pädiatrischen Gutachten irreversiblen Gesundheitszustandes des Klägers sicher zu erwarten sind, war dem Festellungsantrag (Klageantrag zu Ziffer 3.) stattzugeben.
56Ebenso war der Klageantrag zu 2. dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären. Die weitere Entscheidung über die Höhe der geltend gemachten materiellen Schäden bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
573.
58Gemäß § 847 BGB hat die Beklagte dem Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen.
59Bei der Bemessung des zugesprochenen Betrages hat die Kammer berücksichtigt, dass der Kläger schwersthirngeschädigt und infolge dessen geistig und körperlich schwer behindert ist. Wie der Sachverständige Prof. Dr. S seinem Gutachten bestätigt hat, kann der Kläger sich selbstständig nicht fortbewegen, nicht greifen, kann nicht sehen, seine Gliedmaßen praktisch nicht willkürlich bewegen, und nicht schlucken. Die Schädigung ist nach Auffassung des Sachverständigen so ausgeprägt, dass eine normale Nahrungsaufnahme wohl niemals möglich sein wird. Sie hat ein solches Ausmaß erreicht, dass eine lebenslange vollständige Pflegebedürftigkeit des Klägers zu erwarten ist. Mit einer Besserung des Zustandes ist nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens nicht zu rechnen. Die Kammer hält deshalb zum Ausgleich dieser Behinderungen ein Schmerzensgeld von 300.000,00 DM für angemessen.
604.
61Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.