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I. Die Beklagten werden verurteilt,
1. der Klägerin unter Vorlage eines einheitlichen, chronologisch geordneten Verzeichnisses vollständig Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie seit dem 8. März 2022
mRNA, bei der 100% von Nukleotiden in der mRNA, die Uracil umfassen, durch Nukleotide ersetzt sind, die N1-Methylpseudouridin umfassen,
in der Bundesrepublik Deutschland angeboten, hergestellt (soweit es die Beklagten zu 1), 2) und 4) betrifft), in Verkehr gebracht, gebraucht oder zu den genannten Zwecken entweder eingeführt oder besessen haben,
und zwar unter Angabe:
a. der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
b. der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
c. der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
2. der Klägerin unter Vorlage eines einheitlichen, chronologisch geordneten Verzeichnisses Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die in Klageantrag I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 8. März 2022 begangen haben, unter Angabe:
a. der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten und -preisen unter Einschluss von Produktbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer einschließlich der Verkaufsstellen, für welche die Erzeugnisse bestimmt waren,
b. der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen,-zeiten und -preisen unter Einschluss von Produktbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,
c. der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet, und
d. der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
wobei
von den Beklagten die Angaben zu 2. d. nur für die Zeit seit dem 18. Juni 2022 zu machen sind;
zum Nachweis der Angaben zu 1. die entsprechenden Einkaufs- und Verkaufsbelege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürfte Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
es den Beklagten nach ihrer Wahl vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften ihrer Angebotsempfänger und ihrer nicht gewerblichen Abnehmer statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, zur Verschwiegenheit verpflichteten, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern sie dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage darüber Auskunft zu erteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder ein bestimmter Angebotsempfänger in der Rechnungslegung enthalten ist;
die Auskunft und Rechnungslegung gemäß 1. und 2. von den Beklagten in einer mittels EDV auswertbaren, elektronischen Form zu übermitteln sind;
II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind,
1. der Klägerin für die in Klageantrag I.1. bezeichneten und in der Zeit vom 8. März 2022 bis zum 17. Juni 2022 begangenen Handlungen eine angemessene Entschädigung zu zahlen;
2. der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der dieser durch die in Klageantrag I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 18. Juni 2022 bereits entstanden ist und/oder noch entstehen wird,
wobei solche Handlungen von der Verpflichtung ausgenommen sind, die die Lieferung von COVID-19 Impfstoffen in eines der AMC-92 Länder betreffen, welche sind: Afghanistan, Arabische Republik Ägypten, Algerien, Angola, Äthiopien, Bangladesch, Benin, Bhutan, Bolivien, Burkina Faso, Burundi, Cabo Verde, Côte d'Ivoire, Dominica, Dschibuti, El Salvador, Eritrea, Eswatini, Fidschi, Gambia, Ghana, Grenada, Guinea, Guinea-Bissau, Guyana, Haiti, Honduras, Indien, Indonesien, Jemen, Kambodscha, Kamerun, Kenia, Kirgisische Republik, Kiribati, Komoren, Demokratische Republik Kongo, Republik Kongo, Demokratische Volksrepublik Korea, Kosovo, Demokratische Volksrepublik Laos, Lesotho, Liberia, Madagaskar, Malawi, Malediven, Mali, Marokko, Marshallinseln, Mauretanien, Föderierte Staaten von Mikronesien, Moldawien, Mongolei, Mosambik, Myanmar, Nepal, Nicaragua, Niger, Nigeria, Pakistan, Papua-Neuguinea, Philippinen, Ruanda, Salomonen, Sambia, Samoa, São Tomé und Principe, Senegal, Sierra Leone, Simbabwe, Somalia, Sri Lanka, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Sudan, Südsudan, Arabische Republik Syrien, Tadschikistan, Tansania, Timor-Leste, Togo, Tonga, Tschad, Tunesien, Tuvalu, Uganda, Ukraine, Usbekistan, Vanuatu, Vietnam, Westjordanland und Gaza und Zentralafrikanische Republik.
III. Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten der Klägerin tragen die Beklagten 2/3 nach Kopfteilen und 1/3 als Gesamtschuldner. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 25.000.000,00 EUR, wobei für die Vollstreckung der einzelnen Ansprüche folgende Teilsicherheiten festgesetzt werden:
Tenor zu I.: 20.000.000,00 EUR
Tenor zu III.: 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
2Die Klägerin ist im Patentregister eingetragene Inhaberin des Europäischen Patents mit der Nummer EP X (Anlage FBD-A3, im Folgenden: Klagepatent, deutsche Übersetzung in Anlage FBD-A3a). Das Klagepatent beruht auf einer Teilanmeldung, die aus der früheren europäischen Patentanmeldung EP X hervorgegangen ist, die wiederum von der PCT-Patentanmeldung Nr. PCT/X abgeleitet ist, die unter Inanspruchnahme einer US-amerikanischen Priorität vom 01.10.2010 am 03.10.2011 angemeldet wurde. Die Teilanmeldung des Klagepatents erfolgte am 28.05.2019, die deutsche Übersetzung der Ansprüche veröffentlichte das Deutsche Patent- und Markenamt am 07.10.2021. Das Europäische Patentamt (im Folgenden: EPA) veröffentlichte den Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents am 18.05.2022. Das Klagepatent steht in Kraft.
3Insgesamt neun Einsprechende erhoben Einspruch gegen das Klagepatent, darunter die Beklagte zu 2) (im Einspruchsverfahren bezeichnet als O1) am 23.09.2022 und die Beklagte zu 7) (im Einspruchsverfahren bezeichnet als O6) am 17.02.2023. Mit Entscheidung aus Mai 2024 hat die Einspruchsabteilung des EPA den von der Klägerin zuletzt allein verfolgten unabhängigen Anspruch 3 aufrechterhalten.
4Das Klagepatent betrifft „N1-Methyl-Pseudouracile enthaltende Ribonucleinsäuren sowie ihre Verwendungen“. Der aufrechterhaltene, unabhängige Erzeugnisanspruch 3 des Klagepatents (im Folgenden: Klagepatentanspruch) lautet:
5„mRNA, wobei 100% von Nukleotiden in der mRNA, die Uracil umfassen, durch Nukleotide ersetzt sind, die N1-Methylpseudouridin umfassen.“
6Die Beklagten produzieren und vertreiben in Deutschland und aus Deutschland heraus unter der Bezeichnung A COVID-19-mRNA-Impfstoffe, die unter den EU-Zulassungsnummern EU/1/20/1528/001, EU/1/20/1528/002, EU/1/20/1528/003, EU/1/20/1528/004, EU/1/20/1528/005, EU/1/20/1528/006, EU/1/20/1528/007, EU/1/20/1528/008, EU/1/20/1528/009, EU/1/20/1528/011, EU/1/20/1528/012, EU/1/20/1528/014, EU/1/20/1528/018, EU/1/20/1528/019, EU/1/20/1528/020, EU/1/20/1528/021, EU/1/20/1528/022, EU/1/20/1528/023, EU/1/20/1528/024 und EU/1/20/1528/028 bis EU/1/20/1528/036 registriert sind (im Folgenden bezeichnet als angegriffene Ausführungsformen). Die angegriffenen Ausführungsformen mit Zulassungsnummern bis einschließlich EU/1/20/1528/014 enthalten Tozinameran, ein mRNA-Molekül mit Anweisungen zur Herstellung eines Spike-Proteins des SARS-CoV-2. Zusätzlich zu Tozinameran enthalten die Varianten EU/1/20/1528/006 und EU/1/20/1528/007 Riltozinameran, ein weiteres mRNA-Molekül mit Anweisungen zur Herstellung eines Spike-Proteins aus der Omicron BA.1-Subvariante von SARS-CoV-2. Die Varianten EU/1/20/1528/008, EU/1/20/1528/009, EU/1/20/1528/011, EU/1/20/1528/012 und EU/1/20/1528/014 enthalten neben Tozinameran sog. Famtozinameran, ein mRNA-Molekül mit Anweisungen zur Herstellung eines Spike-Proteins aus den Omicron BA.4 und BA.5-Subvarianten von SARS-CoV-2. Die Impfstoffvarianten EU/1/20/1528/018 bis EU/1/20/1528/024 enthalten Raxtozinameran, ein mRNA-Molekül mit Anweisungen zur Herstellung eines Spike-Proteins aus der Omicron XBB.1.5-Subvariante von SARS-CoV-2. Die Impfstoffvarianten EU/1/20/1528/028 bis EU/1/20/1528/036 enthalten den Wirkstoff Bretovameran, ein mRNA-Molekül mit Anweisungen zur Herstellung eines Spike-Proteins aus der Omicron JN.1-Subvariante von SARS-CoV-2.
7Die Konzerne B und C kooperieren bei Herstellung, Angebot und Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen. Die Beklagten zu 1) bis 4) sind Gesellschaften des B -Konzerns, wobei die Beklagte zu 2) die Muttergesellschaft ist und es sich bei den Beklagten zu 1), 3) und 4) um in Deutschland ansässige Tochtergesellschaften handelt. Die Beklagte zu 7) ist die Muttergesellschaft des C -Konzerns, die Beklagten zu 5) und 6) sind ihre Tochtergesellschaften.
8Im Einzelnen nehmen die Beklagten bei Herstellung, Angebot und Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen folgende Aufgaben wahr:
9Die Beklagte zu 1) ist für die Herstellung und den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen in Deutschland verantwortlich. Als Inhaberin der europaweiten Zulassungen ist sie zudem für den Vertrieb ins Ausland, insbesondere innerhalb der EU, verantwortlich. Auch hat sie gemeinsam mit der Beklagten zu 7) das „D […]“ (im Folgenden: APA, Anlage FBD-A12) vom 20.11.2020 und entsprechende Folgeverträge mit der Europäischen Kommission abgeschlossen und ist – ebenso wie die Beklagte zu 7) – Adressatin der sog. „Order Forms“, mit denen die einzelnen Mitgliedsstaaten im Anschluss an das APA konkrete Bestellungen aufgegeben haben.
10Die Beklagte zu 2) ist als Muttergesellschaft des B -Konzerns für die umfassende Kooperation mit C betreffend die Entwicklung und Herstellung der angegriffenen Ausführungsformen verantwortlich. Zudem hat sie mit den Beklagten zu 1), 3) und 4) Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge abgeschlossen. Sie kontrolliert und steuert das Verhalten ihrer Tochtergesellschaften unter anderem in Bezug auf die Herstellung, das Anbieten, Gebrauchen und Inverkehrbringen der angegriffenen Ausführungsformen.
11Ausweislich der Lauer-Taxe bietet die Beklagte zu 3) die angegriffenen Ausführungsformen in Deutschland an bzw. tritt als sog. „örtlicher Vertreter“ auf, soweit das Bundesministerium für Gesundheit Anbieterin der angegriffenen Ausführungsformen ist. Außerdem ist sie Inhaberin einer EU-Großhandelserlaubnis für den Vertrieb und das Inverkehrbringen der angegriffenen Ausführungsformen in allen Ländern des Europäischen Wirtschaftsraumes.
12Die Beklagten zu 4), 5) und 6) sind jeweils in den Herstellungsprozess der angegriffenen Ausführungsformen eingebunden. Dabei stellt die Beklagte zu 4) selbst in Deutschland für Deutschland und darüber hinaus her. Die Beklagten zu 5) und 6) stellen in Kenntnis des Umstandes, dass die von ihnen (mit-)hergestellten angegriffenen Ausführungsformen auch auf dem oder über den deutschen Markt vertrieben werden, im Ausland her.
13Die Beklagte zu 7) ist – wie ausgeführt – neben der Beklagten zu 1) Partei des APA und Adressatin der sich daran anschließenden Order Forms der Mitgliedsstaaten. Zudem kontrolliert und steuert sie ihre Tochtergesellschaften, insbesondere im Hinblick auf deren Beteiligung bei der Entwicklung und Herstellung der angegriffenen Ausführungsformen (auch) für den deutschen Markt.
14Am 8. Oktober 2020, als noch kein COVID-19 Impfstoff zugelassen war, erfolgte von Seiten der Klägerin vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie eine Presseerklärung (im Folgenden: „Patent Pledge“), in der sie unter anderem wie folgt ausführte:
15„Beyond B vaccine, there are other COVID-19 vaccines in development that may use B-patented technologies. We feel a special obligation under the current circumstances to use our resources to bring this pandemic to an end as quickly as possible. Accordingly, while the pandemic continues, B will not enforce our COVID-19 related patents against those making vaccines intended to combat the pandemic. Further, to eliminate any perceived IP barriers to vaccine development during the pandemic period, upon request we are also willing to license our intellectual property for COVID-19 vaccines to others for the post pandemic period“,
16übersetzt:
17„Neben dem Impfstoff von B befinden sich weitere COVID-19-Impfstoffe in der Entwicklung, die möglicherweise auf von B patentierte Technologien zurückgreifen. Unter den derzeitigen Umständen fühlen wir uns besonders verpflichtet, unsere Ressourcen zu nutzen, um diese Pandemie so schnell wie möglich zu beenden. Dementsprechend wird B, solange die Pandemie andauert, unsere COVID-19-Patente nicht gegen diejenigen durchsetzen, die Impfstoffe zur Bekämpfung der Pandemie herstellen. Um vermeintliche Hindernisse durch geistiges Eigentum für die Entwicklung von Impfstoffen während der Pandemie zu beseitigen, sind wir darüber hinaus auch bereit, unser geistiges Eigentum an COVID-19-Impfstoffen auf Anfrage für die Zeit nach der Pandemie zu lizenzieren“
18Wegen der Einzelheiten des „Patent Pledge“ wird auf die Anlage B 5 und deren Übersetzung, vorgelegt als Anlage B 5a, Bezug genommen.
19Organe und Mitarbeitende der Klägerin äußerten sich in der Folge mehrfach öffentlich zu dem „Patent Pledge“. Wegen der Einzelheiten wird Bezug genommen auf die von den Beklagten vorgelegten Anlagen B 6/B 6a bis B 11/B 11a.
20Am 21. Dezember 2020 wurde der COVID-19 Impfstoff der Beklagten zugelassen, wenige Wochen später derjenige der Klägerin. In Deutschland wurde zum 7. Juni 2021 die Priorisierung der Impfstoffverteilung aufgehoben.
21Am 7. März 2022 brachte die Klägerin eine Presseerklärung „B Updated Patent Pledge“ (im Folgenden „Updated Patent Pledge“) heraus, in der sie unter anderem wie folgt ausführte:
22„As the pandemic surged in October 2020, we voluntarily committed that, while the pandemic continues, B will not enforce our COVID-19 related patents against those making vaccines intended to combat the pandemic.‘ [...]
23To underscore our commitment to low-and middle-income countries, B is now updating our patent pledge to never enforce our patents for COVID-19 vaccines against companies manufacturing in or for the 92 low-and middle-income countries in the Gavi COVAX Advance Market Commitment (AMC), provided that the manufactured vaccines are solely for use in the AMC 92 countries. [...]
24In non-AMC 92 countries, vaccine supply is no longer a barrier to access. In these countries, the Company expects those using B -patented technologies will respect the Company’s intellectual property. B remains willing to license its technology for COVID-19 vaccines to manufacturers in these countries on commercially reasonable terms. [...]“,
25übersetzt:
26„Als die Pandemie im Oktober 2020 ausbrach, erklärten wir freiwillig, dass, solange die Pandemie andauert, B ihre COVID-19-Patente nicht gegen die Impfstoffhersteller durchsetzen wird, die zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt werden.‘ [...]
27Um unser Engagement für Länder mit geringem und mittlerem Einkommen zu unterstreichen, aktualisiert B jetzt unser Patentversprechen, unsere Patente für COVID-19-Impfstoffe niemals gegen Unternehmen durchzusetzen, die in oder für die 92 Länder mit geringem und mittlerem Einkommen im Rahmen des Gavi COVAX Advance Market Commitment (AMC) produzieren, vorausgesetzt, die hergestellten Impfstoffe sind ausschließlich für die Verwendung in den 92 AMC-Ländern bestimmt. [...]
28In Ländern, die nicht der AMC 92 angehören, ist die Versorgung mit Impfstoffen kein Hindernis mehr für den Zugang. In diesen Ländern geht das Unternehmen davon aus, dass diejenigen, die die von B patentierten Technologien nutzen, das geistige Eigentum des Unternehmens anerkennen werden. B ist nach wie vor bereit, seine Technologie für COVID-19-Impfstoffe an Hersteller in diesen Ländern zu kommerziell angemessenen Bedingungen zu lizenzieren. [...]“
29Wegen der Einzelheiten des „Updated Patent Pledge“ wird auf die Anlage FBD-A 2 und deren Übersetzung („Aktualisierte Zusage von B im Zusammenhang mit Patenten“) der Anlage FBD-A 2a Bezug genommen. Wegen der danach getätigten Äußerungen der Klägerin wird auf die Anlagen B 12/B 12a und B 13/B 13a Bezug genommen.
30Am 5. Mai 2023 erfolgte eine Erklärung des Generaldirektors der World Health Organization (WHO), in der er die weltweite Beendigung der globalen Gesundheitsnotlage erklärte (Anlage B 34/B 34a).
31Die in den angegriffenen Ausführungsformen enthaltene mRNA umfasst kein Uracil. Das ursprünglich vorhandene Uracil ist zu 100% durch Nukleotide ersetzt, die N1-Methylpseudouridin umfassen.
32Die Klägerin ist der Ansicht, Herstellung, Angebot und Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen durch die Beklagten stellten eine Verletzung des Klagepatents dar. Der Geltendmachung ihrer Ansprüche wegen der Patentverletzung stehe der „Patent Pledge“ nicht entgegen.
33Auf den „Patent Pledge“ finde gemäß Art. 8 Abs. 2 Rom-II-Verordnung deutsches Recht Anwendung, da es sich bei diesem nicht um ein „vertragliches Schuldverhältnis“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Rom-I-Verordnung handele. Selbst wenn der Anwendungsbereich der Rom-I-Verordnung eröffnet wäre, habe der „Patent Pledge“ eine offensichtlich engere Bindung zum deutschen Recht, weswegen Letzteres gemäß Art. 4 Abs. 3 Rom-I-Verordnung zur Anwendung gelange.
34Nach deutschem Recht entfalte der „Patent Pledge“ weder als solcher noch im Zusammenspiel mit den von den Beklagten genannten Interview- und Presseäußerungen eine für einen Lizenzvertrag, einen „covenant not to sue“ oder eine schuldrechtliche Benutzungserlaubnis erforderliche vertragliche Bindungswirkung. Dafür fehle es sowohl an einem rechtsverbindlichen Angebot der Klägerin als auch an einer ausdrücklichen oder konkludenten Annahmeerklärung der Beklagten. Vielmehr handele es sich bei dem „Patent Pledge“ um eine für die Zukunft frei widerrufliche Einwilligung (vgl. § 183 BGB). Jedenfalls sei eine angebliche Bindung bereits im März 2022 durch den Eintritt der (alternativen) auflösenden Bedingungen des „Patent Pledge“ – hinreichende Impfstoffverfügbarkeit und Ende der Pandemie – aufgrund des Wegfalls der Impfstoffknappheit weggefallen, spätestens aber mit der Veröffentlichung des „Updated Patent Pledge“, mit dem die einseitig erteilte Einwilligung wirksam widerrufen worden sei.
35Auch nach US-amerikanischem Recht stehe der „Patent Pledge“ der hiesigen Geltendmachung aus dem Klagepatent nicht entgegen. Entgegen der Auffassung der Beklagten stelle der „Patent Pledge“ nach US-amerikanischem Recht weder einen ausdrücklichen noch einen konkludenten Verzicht („express waiver“ und „implied waiver“) dar. Nichts im Wortlaut des „Patent Pledge“ deute darauf hin, dass sie, die Klägerin, bewusst auf ihre IP-Rechte verzichtet oder diese aufgegeben habe. Aus dem Wortlaut des „Patent Pledge“ werde vielmehr deutlich, dass sie lediglich ihre Absicht angekündigt habe, ihr geistiges Eigentum für einen begrenzten Zeitraum nicht durchzusetzen. In jedem Fall sei ein Verzicht sachlich und zeitlich begrenzt worden, wobei es Sache der Klägerin sei, zu definieren, was mit „solange die Pandemie andauert“ gemeint sei. Ein konkludenter Verzicht scheitere schon daran, dass es sich bei dem „Patent Pledge“ um eine ausdrückliche Erklärung handele.
36Bei dem „Patent Pledge“ handele es sich auch nicht um eine stillschweigende Lizenz („implied license“) nach US-amerikanischem Recht. Es fehle insoweit an einer Verknüpfung zwischen dem „Patent Pledge“ und den Verletzungshandlungen der Beklagten sowie an einem Vertrauen der Beklagten auf den „Patent Pledge“. Die Beklagten hätten die angegriffenen Ausführungsformen insoweit unabhängig von dem „Patent Pledge“ entwickelt und hergestellt und dabei gerade nicht im Vertrauen auf den „Patent Pledge“ gehandelt. Auch habe sie die Beklagten mit ihrem „Patent Pledge“ nicht zu einer Patentverletzung „animiert“, sondern lediglich zum Ausdruck gebracht, dass diese bei ihrer (eigenen) COVID-19-Impfstoffentwicklung keine Verletzungsvorwürfe befürchten müssten. Weiterhin seien auch die Voraussetzungen einer stillschweigenden Lizenz durch Rechtsverwirkung („implied license by legal estoppel“) im Streitfall nicht erfüllt. Das Rechtsinstitut sei nach US-amerikanischem Recht für Fälle vorgesehen, in denen es um ein später erteiltes oder zur Kenntnis gelangtes Patent gehe, das für die Nutzung einer bereits erteilten Lizenz erforderlich sei. Ferner fehle es nach dem hierfür maßgeblichen Recht des Bundesstaates Massachusetts an der Voraussetzung einer tauglichen Gegenleistung („consideration“) zu Gunsten der Klägerin. Spätestens mit dem „Updated Patent Pledge“ als hinreichend klarer Widerrufserklärung sei ein etwaiger Verzicht oder eine etwaige Lizenz – spätestens nach einer Umstellungsfrist – wirksam widerrufen worden.
37Nach Auffassung der Klägerin könne der „Patent Pledge“ auch nicht als einseitiger Vertrag („unilateral contract“) ausgelegt werden. Hierfür fehle es schon an einem Angebot ihrerseits. Eine Annahme der Beklagten scheitere bereits am fehlenden Bindungswillen. Ferner liege wiederum keine taugliche Gegenleistung im Hinblick auf den „Patent Pledge“ vor. Insbesondere liege eine Gegenleistung nicht in den Nachweisen für die Sicherheit und Wirksamkeit von mRNA-Impfstoffen, die die Beklagten den Aufsichtsbehörden im Rahmen des Zulassungsverfahrens für ihren Impfstoff vorgelegt hätten, da die Beklagten die Nachweise ihrer Behauptung nach auf Basis ihrer eigenen Forschung und Technologie gewonnen hätten. Schließlich sei ein einseitiger Vertrag spätestens durch den „Updated Patent Pledge“ wirksam abgeändert worden.
38Die Klägerin meint zudem, dass das Klagepatent rechtsbeständig sei. Nach der Entscheidung der Einspruchsabteilung sei ein Widerruf der Patenterteilung oder die Vernichtung des Klagepatents unwahrscheinlich. Diese Entscheidung sei nicht nur nicht evident unrichtig, sondern sogar überzeugend.
39Die WO X (im Folgenden in Übereinstimmung mit der Diktion der Beklagten zu 5-7 als D1 bezeichnet, Anlage B21 – D1, von den Beklagten zu 1-4 als D4 und im Einspruchsverfahren als D11 bezeichnet) nehme den klagepatentgemäßen Gegenstand nicht neuheitsschädlich vorweg. Ausgehend von dem darin genannten Beispiel 31 hätte der Fachmann noch eine Mehrzahl von Auswahlentscheidungen zu treffen gehabt. Ihm hätte sich zudem nicht aufgedrängt, dass dieses Beispiel in Zusammenhang mit mRNA zu sehen sei. Außerdem hätte der Fachmann sich nicht nur für den Austausch eines kanonischen Nukleotids zugunsten einer der 96 in der Liste dieses Beispiels genannten Modifikationen entscheiden müssen, sondern auch dafür, die Modifikationen tatsächlich nur auf eines dieser vier kanonischen Nukleotide zu beschränken. Zusätzlich hätte er in dieser Hinsicht eine 100%ige Substitutionsrate auswählen müssen.
40Das Klagepatent sei auch nicht wegen einer unzulässigen Erweiterung zu widerrufen. Der Offenbarungsgehalt der Entgegenhaltungen sei nicht vergleichbar mit dem der Ursprungsoffenbarung. Letztere erfordere nur eine einzige Auswahlentscheidung zu Gunsten des Austauschs eines Uracil-haltigen Nukleotids durch N1-Methylpseudouridin.
41Letztlich sei der Rechtsstreit auch nicht im Hinblick auf ein sich möglicherweise anschließendes nationales Nichtigkeitsverfahren vor dem Bundespatentgericht bzw. dem Bundesgerichtshof auszusetzen. Diese wendeten – in dem hier maßgeblichen Umfang – die gleichen Grundsätze an wie das Europäische Patentamt.
42Ursprünglich hat die Klägerin eine Verurteilung der Beklagten aus den Patentansprüchen 1 und 3 wie erteilt beantragt. Nachdem das Klagepatent von der Einspruchsabteilung des EPA erstinstanzlich eingeschränkt aufrechterhalten worden ist, beantragt, die Klägerin nunmehr:
43- wie erkannt -
44hilfsweise ihr im Falle des Unterliegens nachzulassen, die Zwangsvollstreckung wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung durch Bankbürgschaft abzuwenden.
45Die Beklagten beantragen,
46die Klage abzuweisen,
47hilfsweise, das Verfahren gemäß § 148 ZPO bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über das gegen das Klagepatent anhängige Einspruchsverfahren auszusetzen
48hilfsweise ihnen zu gestatten, die Vollstreckung bis zum Eintritt der Rechtskraft durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung ohne Rücksicht auf eine Sicherheitsleistung der Klägerin abzuwenden.
49Die Beklagten sind der Auffassung, die Klage sei unbegründet. Dies gelte unabhängig davon, ob die Verpflichtungen aus dem „Patent Pledge“ nach US-Recht oder nach deutschem Recht zu beurteilen seien.
50Im Streitfall richte sich die Frage der rechtlichen Einordnung des „Patent Pledge“ gemäß der Rom-I-Verordnung nach US-amerikanischem Bundesrecht und dem Recht des Staates Massachusetts. In Bezug auf den Anwendungsbereich des Vertragsstatuts gemäß Art. 3 ff. Rom-I-Verordnung werde insoweit für ein „vertragliches Schuldverhältnis“ nicht vorausgesetzt, dass es sich um eine zweiseitige oder gegenseitige Verpflichtung handele; auch einseitige Verpflichtungen seien erfasst. In Ermangelung einer Rechtswahl gemäß Art. 3 Rom-I-Verordnung oder eines Sonderfalls gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom-I-Verordnung komme Art. 4 Abs. 2 Rom-I-Verordnung zur Anwendung, wonach ein Vertrag dem Recht des Staates unterliege, in dem die Partei, die die für den Vertrag charakteristische Leistung erbringen müsse, ihren gewöhnlichen Aufenthalt habe. Da die charakteristische Leistung, wie bei einem Lizenzvertrag, in der Rechtseinräumung seitens der Klägerin zu sehen sei, sei das Sachrecht am Sitzstaat der Klägerin (hier Cambridge, Massachusetts) anzuwenden.
51Nach dem hier maßgeblichen US-amerikanischen Recht stelle der „Patent Pledge“ ihrer Ansicht nach einen ausdrücklichen Verzicht („express waiver“) dar, jedenfalls einen konkludenten Verzicht („implied waiver“), wie es sich aus den zahlreichen Stellungnahmen der Klägerin und ihrem sonstigen Verhalten ergebe. Hilfsweise liege in der Erklärung des „Patent Pledge“ eine konkludente Lizenz („implied licence“), weiter hilfsweise ein einseitiger Vertrag („unilateral contract“), durch welchen sich die Klägerin verpflichtet habe, im Anwendungsbereich des „Patent Pledge“ ihre Patente nicht durchzusetzen. Jedenfalls habe die Klägerin in die Nutzung des Klagepatents durch die Beklagten im Wege der Duldung („acquiescence“) eingewilligt. Die Bindung an den „Patent Pledge“ bleibe, unabhängig von der rechtlichen Einordnung desselben, auch nach dem „Updated Patent Pledge“ aufrechterhalten, da die Pandemie weiterbestehe.
52Auch wenn deutsches Sachrecht Anwendung finde, sei aufgrund des „Patent Pledge“ eine Geltendmachung von Ansprüchen wegen Patentverletzung jedenfalls für Handlungen bis zur Erklärung der WHO vom 5. Mai 2023 ausgeschlossen. Die Klägerin habe ihnen durch den „Patent Pledge“ für die Dauer der Pandemie im Wege eines einseitigen Rechtsgeschäfts bzw. einer einseitigen schuldrechtlichen Gestattung eine Benutzungsbefugnis für das Klagepatent eingeräumt. Jedenfalls habe die Klägerin mit dem „Patent Pledge“ für die Dauer der COVID-19 Pandemie auf die Durchsetzung ihrer COVID-19 bezogenen Schutzrechte gegen die Hersteller von COVID-19 Impfstoffen verbindlich verzichtet. Daneben komme für die rechtliche Einordnung des „Patent Pledge“ noch die Einordnung als unwiderrufliche Einwilligung, Lizenz oder schuldrechtlicher Gestattungsvertrag in Betracht. Insoweit handele es sich bei dem „Patent Pledge“ nach deutschem Recht um eine mindestens schuldrechtlich wirkende Erklärung, während der Dauer der weltweiten COVID-19 Pandemie keinerlei Rechte wegen Verletzung von B -Patenten gegen Unternehmen geltend zu machen, die insoweit relevante Handlungen zum Zwecke der Impfstoffentwicklung oder Impfstoffherstellung vorgenommen hätten. Im patentrechtlichen Sinne wirke diese rechtsgeschäftlich bindende Erklärung als materiell-rechtliche Zustimmung, die entweder schon das Vorliegen des Tatbestands des § 9 PatG ausschließe oder aber jedenfalls entsprechende Nutzungshandlungen rechtfertige.
53Der „Patent Pledge“ sei ihrer Auffassung nach auch nicht wirksam durch den „Updated Patent Pledge“ widerrufen worden. Zwar könne der „Patent Pledge“ unter der aufschiebenden Bedingung der weltweiten Beendigung der COVID-19 Pandemie durch entsprechende Erklärung mit Wirkung für die Zukunft teilweise widerrufen werden. Die Feststellung des Eintritts der aufschiebenden Bedingung der weltweiten Beendigung der COVID-19 Pandemie sei indes an eine entsprechend zu interpretierende Erklärung der WHO oder ihrer Organe geknüpft. Die COVID-19 Pandemie dauere aber noch an, insbesondere habe die WHO diese bis zum 5. Mai 2023 nicht offiziell für beendet erklärt (vgl. Äußerungen der WHO, Anlagen B 15/B 15a, B 16/B 16a, B 17/B 17a), nachdem sie den COVID-19 Ausbruch am 11. März 2020 als Pandemie eingestuft habe (vgl. Anlagen B 14/B 14a). Auch in Deutschland habe jedenfalls bis zum 5. Mai 2023 nach wie vor eine pandemische Situation mit im Dezember 2022 sogar noch höheren Todesfällen als zu Beginn der Pandemie bestanden (vgl. Anlage B 18). Schließlich habe die Klägerin auch keine hinreichende Impfstoffverfügbarkeit dargetan. Der „Updated Patent Pledge“ enthalte ferner keine wirksame Widerrufs- oder Kündigungserklärung. Vielmehr handele es sich um eine Aktualisierung des „Patent Pledge“ nur insoweit, als dass die Klägerin COVID-19 bezogene Patente für Unternehmen, die in oder für AMC 92-Länder produzierten, niemals durchsetzen werde, auch nicht nach Ende der Pandemie. Für die übrigen Länder gelte demnach der ursprüngliche „Patent Pledge“ fort. Schließlich verstieße eine Beendigung des „Patent Pledge“ vor Ende der COVID-19 Pandemie auch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB).
54Soweit man den „Patent Pledge“ als Vertrag einordne, sei ein solcher rechtsverbindlich zustande gekommen. Insoweit habe die Klägerin auf den Zugang einer Annahmeerklärung verzichtet, die ohnehin nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten gewesen sei. Jedenfalls habe in der Bereitstellung und dem öffentlichen Anbieten des COVID-19 Impfstoffs eine konkludente Annahmeerklärung der Beklagten gelegen. Auch habe nach dem objektiven Empfängerhorizont ein entsprechender Rechtsbindungswille der Klägerin zum Abschluss eines Vertrages bestanden. Insoweit könne ein Angebot bzw. eine Erklärung mit Rechtsbindungswillen – wie hier – auch an einen völlig unbestimmten Personenkreis (ad incertas personas) gerichtet sein. Insbesondere der Sinn und Zweck des „Patent Pledge“ (Beseitigung empfundener Hindernisse durch Herstellung von Rechtssicherheit) spreche für das Vorliegen eines Rechtsbindungswillens.
55Die Klage sei jedenfalls unzulässig. Denn der „Patent Pledge“ habe zumindest die Wirkung eines Stillhalteabkommens. Einem solchen messe der Bundesgerichtshof in seiner jüngsten Rechtsprechung ferner materiell-rechtliche Wirkungen im Sinne einer Zustimmung des Patentinhabers zum Inverkehrbringen patentgemäßer Produkte bei (unter Verweis auf BGH, Urteil vom 24. Januar 2023 – X ZR 123/20, Rn. 48 ff., GRUR 2023, 474 – CQI-Bericht II).
56Die Beklagten meinen ferner, dass das vorliegende Verfahren jedenfalls auszusetzen sei. Es gelte ein reduzierter Aussetzungsmaßstab, da die Klägerin keine Unterlassungsansprüche geltend mache. Selbst, wenn für die Aussetzung eine hohe bzw. überwiegende Vernichtungswahrscheinlichkeit gefordert werde, sei der Rechtsstreit auszusetzen, da das Klagepatent nicht rechtsbeständig sei. Denn die Entscheidung der Einspruchsabteilung sei offensichtlich unrichtig, da diese die anerkannten Grundsätze nicht richtig angewandt habe. Das Klagepatent sei sowohl durch die D1 als auch durch die WO X (im Folgenden in Übereinstimmung mit der Diktion der Beklagten zu 5-7 als D4 bezeichnet, Anlage B21 – D4, von den Beklagten zu 1-4 als D1 und im Einspruchsverfahren als D8 bezeichnet) neuheitsschädlich getroffen. Sowohl die D1 als auch die D4 offenbarten die Auswahl von N1-Methylpseudouridin im Sinne des Merkmals 3.1 des Klagepatents. Ebenso sei die vollständige Substitution von Uracil durch Nukleotide umfassend N1-Methylpseudouridin gemäß Merkmal 3.1 des Klagepatents offenbart, da diese als vorteilhaft angesehen werde.
57Schließlich sei der Gegenstand des Klagepatents unzulässig erweitert. In diesem Zusammenhang sei offensichtlich, dass die Einspruchsabteilung unterschiedliche Maßstäbe bei der Beurteilung der Frage der unzulässigen Erweiterung und der Frage der Neuheit gegenüber der D1 angewendet habe.
58Der Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung sei jedenfalls unverhältnismäßig und damit unbegründet.
59Wegen der weiteren Einzelheiten des tatsächlichen und rechtlichen Vorbringens der Parteien wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.
Die Klage ist zulässig und begründet.
61Die Klägerin hat gegen die Beklagten Ansprüche auf Auskunft und Rechnungslegung sowie Feststellung der Entschädigungs- und Schadensersatzpflicht dem Grunde nach aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. §§ 139 Abs. 2, 140b Abs. 1 und 3 PatG, §§ 242, 259 BGB, Art. II § 1 Abs. 1 S. 1 IntPatÜG.
Das Klagepatent betrifft N1-Methylpseudouracile enthaltende Ribonukleinsäuren (im Folgenden: RNA) sowie ihre Verwendungen.
63Zum Stand der Technik führt das Klagepatent aus, natürlich auftretende RNA sei aus vier grundlegenden Ribonukleotiden synthetisiert: ATP, CTP, UTP und GTP, könne jedoch auch posttranskriptional modifizierte Nukleotide enthalten (Abs. [0002]; Absatzangaben ohne weitere Bezüge sind solche der (Übersetzung der) Klagepatentschrift). Im Stand der Technik seien etwa einhundert unterschiedliche Nukleosidmodifikationen in der RNA erkannt worden (Abs. [0002]). Die WO 2007/024708 A2 beziehe sich auf RNA mit bestimmten modifizierten Nukleosiden, insbesondere Pseudouridin, das, wie man herausgefunden habe, die Immunogenität von RNA verringere (Abs. [0005]). Das Klagepatent nimmt zudem Bezug auf frühere, also aus dem Stand der Technik bekannte, Verfahren zum Herbeiführen von Proteinexpression, ohne Einzelheiten dieser Verfahren zu benennen (Abs. [0003]).
64An dem Stand der Technik kritisiert das Klagepatent, dass die Rolle von Nukleosidmodifikationen auf das immunstimulierende Potential, die Stabilität und auf die Translationseffizienz von RNA sowie der sich daraus ergebende Nutzen zur Verstärkung der Proteinexpression und Herstellung von Therapeutika unklar sei (Abs. [0002]). Mit früheren Verfahren zum Herbeiführen von Proteinexpression gebe es eine Vielzahl von Problemen. Zum Beispiel könne in eine Zelle eingebrachte heterologe Desoxyribonukleinsäure (DNA) von Tochterzellen (ungeachtet, ob die heterologe DNA in das Chromosom eingebracht worden sei) oder vom Nachwuchs geerbt werden (Abs. [0003]). Mit beliebiger Häufigkeit in die genomische DNA von Wirtszellen eingebrachte DNA könne zu Veränderungen und/oder Schädigung der genomischen DNA der Wirtszellen führen (Abs. [0003]). Darüber hinaus müssten mehrere Schritte erfolgen, bevor ein Protein erzeugt sei (Abs. [0003]). Sobald die DNA in einer Zelle sei, müsse sie in den Zellkern transportiert werden, wo sie zu RNA transkribiert werde. Die aus der DNA transkribierte RNA müsse dann in das Zytoplasma eindringen, wo sie zu einem Protein translatiert werde. Dieses Erfordernis mehrerer Verarbeitungsschritte sorge für Verzögerungen bis zur Erzeugung eines Proteins von Interesse (Abs. [0003]). Ferner sei es schwierig, DNA-Expression in den Zellen zu erreichen; häufig dringe DNA in Zellen ein, werde aber nicht exprimiert oder nicht in nennenswerten Raten oder Konzentrationen exprimiert (Abs. [0003]). Dies könne ein besonderes Problem sein, wenn DNA in Zellen wie Primärzellen oder modifizierte Zelllinien eingebracht werde (Abs. [0003]).
65Das Klagepatent stellt vor dem Hintergrund dieses Standes der Technik fest, dass im Fachgebiet ein Bedarf an biologischen Methoden bestehe, um die Modulation der intrazellulären Translation von Nukleinsäuren anzugehen (Abs. [0004]). Daher stellt es sich (konkludent) die Aufgabe, diesen Bedarf zu decken.
66Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Klagepatent ein Erzeugnis vor mit den Merkmalen des Klagepatentanspruchs 3 vor, die wie folgt gegliedert werden können:
673. mRNA, wobei
3.1 100% von Nukleotiden in der mRNA, die Uracil umfassen, durch Nukleotide ersetzt sind, die N1-Methylpseudouridin umfassen.
Die in den angegriffenen Ausführungsformen enthaltenen mRNA (Tozinameran, Riltozinameran, Famtozinameran, Raxtozinameran und Bretovameran) verwirklichen sämtliche Merkmale des Klagepatentanspruchs 3, was zwischen den Parteien zu Recht unstreitig ist. Ebenso unstreitig ist die Benutzung der durch das Klagepatent geschützten Erfindung durch die Beklagten.
Die Beklagten haben die Lehre des Klagepatents widerrechtlich genutzt. Insbesondere war ihnen die unentgeltliche Benutzung der patentierten Lehre während des streitgegenständlichen Zeitraums nicht aufgrund des von der Klägerin erklärten „Patent Pledge“ gestattet. Dies ergibt sich nach Auslegung des „Patent Pledge.“
Die Auslegung des „Patent Pledge“ richtet sich gemäß Art. 8 Abs. 1 Rom-II-VO nach deutschem Recht und nicht gemäß Art. 4 Abs. 2 Rom-I-VO nach US-amerikanischem Recht. Denn die Rom-I-VO ist nach hiesigem Verständnis auf den „Patent Pledge“ nicht anwendbar.
73Gemäß Art. 1 Abs. 1 Rom-I-VO gilt die Rom-I-VO nur für vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen, die eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweisen. Was unter „vertragliche Schuldverhältnisse“ in Abgrenzung zu den „außervertraglichen Schuldverhältnissen“ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Rom-II-VO zu verstehen ist, ist im Einzelnen umstritten. Unproblematisch fallen zweiseitige Verträge unter die vertraglichen Schuldverhältnisse im vorgenannten Sinne.
74Nach der hier ebenfalls zur Auslegung heranziehbaren Judikatur des EuGH zu Art. 7 Nr. 1 und 2 Brüssel-Ia-VO grenzen sich vertragliche von außervertraglichen Ansprüchen dadurch ab, dass nur bei den Erstgenannten eine Partei gegenüber einer anderen Partei eine „freiwillig übernommene Verpflichtung“ eingeht. Dieser Vertragsbegriff ist grundsätzlich weit auszulegen; weder der Abschluss eines Vertrags im rechtsgeschäftlichen Sinn noch das Vorliegen zweiseitiger oder gegenseitiger Verpflichtungen soll erforderlich sein, solange nur eine irgendwie geartete rechtsgeschäftliche Sonderverbindung entsteht (vgl. BeckOGK/Paulus, 1.3.2023, Rom I-VO Art. 1 Rn. 30, m.w.N.; Ferrari IntVertragsR/Kieninger, 3. Aufl. 2018, VO (EG) 593/2008 Art. 1 Rn. 7; MüKoBGB/Martiny, 9. Aufl. 2025, Rom I-VO Art. 1 Rn. 8; jeweils m.w.N.). Es besteht weitestgehend Einigkeit, dass einseitige, jedoch auf Verträge bzw. Vertragsverhältnisse bezogene Rechtsgeschäfte, wie eine Anfechtung, Kündigung oder ein Rücktritt bzw. Widerruf grundsätzlich ebenfalls vom sachlichen Geltungsbereich der Rom-I-VO erfasst sind (BeckOGK/Paulus, a.a.O., Art. 1 Rn. 32; Ferrari IntVertragsR/Kieninger, a.a.O., Art. 1 Rn. 7; MüKoBGB/Martiny, a.a.O., Art. 1 Rn. 27). Umstritten ist dies jedoch für sonstige, nicht auf bestehenden Verträgen aufbauende einseitige (verpflichtende) Rechtsgeschäfte wie die Auslobung (§§ 657 ff. BGB) oder geschäftsähnliche Handlungen wie eine Gewinnzusage (eher sich dafür aussprechend: BeckOGK/Paulus, a.a.O., Art. 1 Rn. 32 und Ferrari IntVertragsR/Kieninger, a.a.O., Art. 1 Rn. 7; offengelassen MüKoBGB/Martiny, a.a.O., Art. 1 Rn. 28 f.). Nach der Rechtsprechung sowohl des EuGH als auch des BGH ist für das Vorliegen eines „Vertrags“ im Sinne der Brüssel-Ia-VO – und damit auch der Rom I-VO – maßgebend, ob aus objektiver Empfängersicht die eingegangene Verpflichtung „ihren Urheber wie ein Vertrag“ bindet oder nicht (vgl. BeckOGK/Paulus, a.a.O., Art. 1 Rn. 32; EuGH NJW 2005, 811; BGH NJW 2012, 455 Rn. 14).
75Nach diesen Maßstäben ist trotz der weiten Auslegung bereits ein „vertragliches Schuldverhältnis“ i.S.d. Art. 1 Rom-I-VO mangels ersichtlichen Rechtsbindungswillens der Klägerin abzulehnen (zur Prüfung im Einzelnen siehe unten). Denn es sollte gerade kein rechtlicher Anspruch der Erklärungsempfänger gegen die Klägerin aus dem „Patent Pledge“ entstehen. Vielmehr war aus der Sicht eines objektiven Empfängers der Erklärung ersichtlich, dass auf Seiten der Klägerin keine Verpflichtung entstehen sollte, die diese wie einen Vertrag bindet. Die Erklärung beschränkte sich auf eine einfache Zustimmung zur Patentnutzung, bis diese widerrufen bzw. zurückgenommen würde. Diese einseitige Erklärung ist damit auch kein auf einen Vertrag oder ein Vertragsverhältnis bezogenes Rechtsgeschäft, sondern stellt eine Erklärung dar, die sich auf die Durchsetzbarkeit der Verletzungsansprüche der Klägerin auswirkt und sich damit auf ein deliktisches/außervertragliches Verhältnis bezieht.
76Damit ist gemäß Art. 8 Abs. 1 Rom-II-VO deutsches Recht anzuwenden, wonach auf außervertragliche Schuldverhältnisse aus einer Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums das Recht des Staates anzuwenden ist, für den der Schutz beansprucht wird, hier das Recht der Bundesrepublik Deutschland. Ob der behauptete Eingriff – hier unter Berücksichtigung des „Patent Pledge“ – tatsächlich vorliegt oder droht bzw. ob er rechtswidrig ist, ist dann eine Frage des Sachrechts (Grünberger/Hüßtege/Mansel/Dauner-Lieb/Heidel/ Ring, BGB, Rom-Verordnungen, 4. 2024, Rom II Art. 8 Rn. 40; BeckOGK/McGuire, 1.7.2023, Rom II-VO Art. 8 Rn. 157).
Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ist in der Erklärung des „Patent Pledge“ weder eine schuldrechtliche Gestattung der Nutzung der COVID-19 Patente der Klägerin für die Dauer der Corona-Pandemie im Sinne eines einseitigen Rechtsgeschäfts zu sehen noch ein rechtsverbindliches Angebot auf Abschluss eines (Lizenz-)Vertrages. Denn nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont fehlt es dem „Patent Pledge“ als einseitiger Erklärung an einem Rechtsbindungswillen der Klägerin. Insbesondere stellt dieser damit keinen Antrag im Sinne von § 145 BGB, gerichtet auf Abschluss einer vertraglichen Vereinbarung, dar. Insofern erfordert sowohl ein Lizenzvertrag als auch die schuldrechtliche Gestattung eines Schutzrechts die Abgabe einer rechtsgeschäftlichen Willenserklärung der Klägerin des Inhalts, dass den Beklagten ein entsprechender (schuldrechtlicher) Anspruch auf Vornahme der betreffenden Nutzungshandlung eingeräumt werden soll und erfordert damit einen (schuldrechtlichen) Rechtsbindungswillen (BGH, GRUR 2010, 628, Rn. 32 – Vorschaubilder). Ein solcher ist nicht ersichtlich.
78Vielmehr handelt es sich bei dem „Patent Pledge“ in Abgrenzung dazu um eine an die Allgemeinheit gerichtete, schlichte, frei widerrufliche Einwilligung in die Nutzung der klägerischen COVID-19 Patente, unter anderem des Klagepatents, im Rahmen der Impfstoffentwicklung und -herstellung. Als Erlaubnis führt diese zwar – solange sie fortbesteht – zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit von Verletzungshandlungen der Beklagten. Die Beklagten erwerben aber weder ein dingliches Recht noch einen schuldrechtlichen Anspruch oder ein sonstiges gegen den Willen des Rechtsinhabers durchsetzbares Recht (insoweit ebenfalls differenzierend BGH, a.a.O., Rn. 33 ff., m.w.N.; GRUR 2024, 1528, Rn. 16 – Coffee; vgl. zur Möglichkeit einer schlichten Benutzungserlaubnis auch Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 16. Aufl., Kap. E., Rn. 255, m.w.N.). Diese rechtliche Einordung ergibt sich aus der Gesamtschau der Umstände, insbesondere aus dem Wortlaut des „Patent Pledge“ und dem der Erklärung zugrundeliegenden Sinn und Zweck (so im Ergebnis auch High Court, Anlage B 50, Rn. 180 ff.).
79Ob eine auf eine schuldrechtliche Gestattung oder den Abschluss eines Lizenzvertrags gerichtete und mit einem entsprechenden Rechtsbindungswillen abgegebene Willenserklärung vorliegt oder das Verhalten des Berechtigten als schlichte Einwilligung in den Eingriff in das geschützte Recht anzusehen ist, ist durch Auslegung zu ermitteln.
80Bei der Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen ist insoweit nach §§ 133, 157 BGB der wirkliche Wille der Erklärenden zu erforschen. Dabei ist vom Wortlaut der Erklärung auszugehen (BGH, NJW-RR 2000, 1002, m.w.N.). Bei der Willenserforschung hat das Gericht auch den mit der Erklärung verfolgten Zweck, die Interessenlage und die sonstigen Begleitumstände zu berücksichtigen, die den Sinngehalt der Erklärung erhellen können (vgl. BGH, NJW-RR 2008, 683 m.w.N.). Dabei sind empfangsbedürftige Willenserklärungen so auszulegen, wie sie der Empfänger nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte verstehen musste (vgl. BGH, NJW 2009, 774, m.w.N.). Letztlich muss aus objektiver Empfängersicht erkennbar sein, dass die Klägerin durch ihre Erklärung rechtlich bindend die Nutzung des Klagepatents gestatten bzw. einen Lizenzvertrag eingehen wollte. Ebenso hängt von dem objektiven Erklärungsinhalt aus der Sicht des Erklärungsempfängers ab, ob ein Verhalten des Berechtigten als schlichte Einwilligung in den Eingriff in das geschützte Recht anzusehen ist (vgl. zum Urheberrecht: BGH, GRUR 2010, 628, Rn. 36 – Vorschaubilder I; GRUR 2012, 602, Rn. 28 – Vorschaubilder II; GRUR 2024, 1528, Rn 17 – Coffee). Für das Urheberrecht hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass dabei maßgeblich ist, ob es um nach den Umständen übliche Nutzungshandlungen geht, mit denen der Berechtigte rechnen muss, wenn er sein Werk Nutzern ohne Einschränkungen frei zugänglich macht (GRUR 2024, 1528, Rn 17 – Coffee). Gleiches muss für das Patentrecht gelten, soweit der Berechtigte seine Erfindung durch Erklärung zur Benutzung freigibt. Mangelt es dem Erklärenden an einem Rechtsbindungswillen, wird regelmäßig von einer schlichten Einwilligung auszugehen sein.
Die Klägerin hat am 8. Oktober 2020 vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie erklärt, ihre „COVID-19-Patente nicht gegen diejenigen durch[zu]setzen, die Impfstoffe zur Bekämpfung der Pandemie herstellen, solange die Pandemie andauert“ (vgl. Anlage B 5/B 5a).
82Nach ihrem Wortlaut ist die zitierte Erklärung nicht im positiven Sinne darauf gerichtet, anderen Impfstoffherstellern die Nutzung zu gestatten oder im Sinne einer Lizenz ein Nutzungsrecht einzuräumen. Sie ist vielmehr negativ dahingehend formuliert, was die Klägerin nicht tun wird, nämlich während der Pandemie aus ihren COVID-19 Patenten gegen andere Impfstoffhersteller vorzugehen. Diesem Wortlaut der Erklärung ist bei verständiger Würdigung aus Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers nicht zu entnehmen, dass sich die Klägerin damit rechtlich verpflichten wollte, allen Impfstoffherstellern einen einklagbaren schuldrechtlichen oder gar dinglichen Anspruch auf Nutzung ihres Covid-19-relevanten Patentportfolios einzuräumen. Stattdessen ist die Erklärung als eine Selbstbindung der Klägerin zu verstehen, die für die Impfstoffhersteller gleichwohl nicht ohne Wirkung ist, weil sie als Reflex eine schlichte Einwilligung in die Benutzung des Patentportfolios der Klägerin umfasst.
83Die zitierte Erklärung ist nicht ausdrücklich in einen rechtlichen Kontext eingebettet. Sie ist nicht Gegenstand eines Vertragswerkes oder dergleichen, sondern Teil einer an die Allgemeinheit gerichteten Presseerklärung. Abgesehen vom Disclaimer („Forward-Looking Statement“) hat allenfalls der zitierte Satz einen rechtlichen Erklärungswert, der aufgrund dieses Kontextes aber nicht überstrapaziert werden darf.
84Die Bedeutung der Erklärung erhellt sich weiterhin durch den Nachsatz, wonach „sich die Klägerin zur Beseitigung aller vermeintlichen Hindernisse im Bereich des geistigen Eigentums für die Entwicklung von Impfstoffen während der Pandemiezeit bereit erklärt, anderen auf Anfrage Lizenzen an ihrem geistigen Eigentum für COVID-19 Impfstoffe zu vergeben“ (Anlage B5/B5a). Dieser Nachsatz bringt zum Ausdruck, dass das Absehen von der Durchsetzung COVID-19-relevanter Patente gerade nicht als Lizenz oder anderweitige schuldrechtliche Nutzungsgestattung angesehen werden kann. Einen solchen Anspruch gegen die Klägerin auf Nutzung ihres COVID-19-Portfolios sollte es nur auf Anfrage und auch nur für die post-pandemische Zeit geben – und dies auch nur zur Beseitigung vermeintlicher IP-Hindernisse („perceived IP barriers“) für die Entwicklung von Impfstoffen während der Dauer der Pandemie („vaccine development during the pandemic period“). Mit anderen Worten: Impfstoffhersteller, die sich trotz der Erklärung der Klägerin, ihre COVID-19-bezogenen Patente während der Pandemie nicht durchzusetzen, noch an der Entwicklung von Impfstoffen gehindert sahen, weil sie etwa eine Inanspruchnahme aus den Patenten in der post-pandemischen Phase fürchteten, konnten sich durch die Anfrage nach einer Lizenz für diese Zeit absichern. Damit war der Planbarkeit der Impfstoffentwicklung und -produktion hinreichend Genüge getan.
85Aus alledem lässt sich ableiten, dass die Zusage der Klägerin, die COVID-19-bezogenen Patente nicht durchzusetzen, keine Rechtsposition vermitteln sollte, die mit einer Lizenz vergleichbar ist und mit entsprechenden Verpflichtungen der Klägerin verbunden gewesen wäre. Diese, durch das Erfordernis einer Anfrage des Lizenznehmenden für die Nutzung in der post-pandemischen Periode („upon request“) zum Ausdruck kommende, ausdrückliche Zurückhaltung im Hinblick auf das Eingehen einer (lizenz-)vertraglichen Verpflichtung spricht dafür, dass es der Klägerin gerade nicht egal war bzw. ist, ob und mit wem sie eine vertragliche Bindung eingeht. Der Erklärung lässt sich demnach nicht entnehmen, dass jeglicher Empfänger der Erklärung einen rechtsverbindlichen Anspruch auf Nutzung des Klagepatents zur Herstellung seiner eigenen Impfstoffe oder auf Einräumung einer entsprechenden Lizenz während der Pandemie erhalten sollte.
86Weiterhin kam es ausweislich des Wortlauts der Erklärung für die Klägerin auch nicht in Betracht, ihre Patente für einen nicht absehbaren oder gar unbegrenzten Zeitraum nicht durchzusetzen. Dies wird sowohl durch die zeitliche Eingrenzung „solange die Pandemie andauert“ deutlich als auch durch das Lizenzerfordernis „für die Zeit nach der Pandemie“. Diese begrifflichen Wendungen sind in keiner Weise kalendermäßig eindeutig. Schon der Begriff der Pandemie stellt keinen messbaren Wert oder eine einzelne, eindeutig feststellbare Tatsache dar. Im weitesten Sinne bedeutet der Begriff der Pandemie eine neue, aber zeitlich begrenzt in Erscheinung tretende, weltweit starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen und in der Regel auch mit schweren Krankheitsverläufen. Schon diese Definition lässt aufgrund ihrer unbestimmten Begriffe („starke Ausbreitung“, „hohe Erkrankungszahlen“, „schwere Krankheitsverläufe“) erkennen, dass die zeitliche Dauer beziehungsweise das zeitliche Ende einer Pandemie alles andere als eindeutig ist. Insofern geht es auch nicht an, diese mangelnde Eindeutigkeit durch die Definition des Begriffs der Pandemie seitens bestimmter Gesundheitsorganisationen und das Ende der Pandemie durch Erklärungen dieser Organisationen zu ersetzen. Mit Ausnahme des Begriffs COVID-19 Pandemie ist dem Wortlaut des „Patent Pledge“ nichts für ein solches Verständnis zu entnehmen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Klägerin die Einwilligung in die Nutzung ihrer Patente dergestalt aus den Händen geben wollte, dass die zeitliche Dauer von nicht näher bestimmten Umständen, insbesondere Erklärungen Dritter, abhängig sein sollte. Letztlich wurde der zeitliche Rahmen als eines der essentialia negotii einer vertraglichen Vereinbarung nicht hinreichend bestimmt, was schließlich auch gegen das Vorliegen eines rechtlichen Bindungswillens der Klägerin spricht (vgl. MüKoBGB/Busche, 10. Aufl. 2025, BGB § 145 Rn. 7) und für die rechtliche Qualität des „Patent Pledge“ als schlichte und jederzeit widerrufliche Einwilligung in die Patentnutzung.
Auch aus dem mit dem „Patent Pledge“ verfolgten Zweck und der zu berücksichtigenden Interessenlage sowohl der Klägerin als der Erklärenden als auch der anderen Impfstoffhersteller als Erklärungsempfänger ergibt sich kein Rechtsbindungswille der Klägerin, weder für ein einseitiges Rechtsgeschäft noch für ein rechtsverbindliches Angebot auf Abschluss eines (Lizenz-)Vertrages. Vielmehr deutet auch dieser darauf hin, dass die Klägerin lediglich eine einfache, jederzeit widerrufbare Einwilligung in die Nutzung erteilen wollte.
88Erklärter Zweck des „Patent Pledge“ war nach seinem Wortlaut, „diese Pandemie so schnell wie möglich zu beenden“ und „vermeintliche Hindernisse durch geistiges Eigentum für die Entwicklung von Impfstoffen während der Pandemie zu beseitigen“. Andere Impfstoffhersteller sollten – bis auf weiteres – bei ihrer Impfstoffentwicklung nicht durch eine Inanspruchnahme der Klägerin aufgrund ihrer COVID-19 Patente behindert werden, damit die Pandemie schnellstmöglich beendet werden kann. Die Erklärung erfolgte wegen der ausdrücklichen Bezugnahme auf die Impfstoffentwicklung deutlich vor dem Hintergrund des Ziels der schnellstmöglichen Impfstoffverfügbarkeit als Mittel der Pandemiebekämpfung. Für das Erreichen dieses erklärten Zieles reichte eine widerrufliche (einfache) Einwilligung der Klägerin in die Nutzung ihrer COVID-19 Patente für die Impfstoffentwicklung aus. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, warum sich die Klägerin darüber hinaus hätte rechtlich binden wollen. Die unbestimmte Wendung „solange die Pandemie andauert“ wird vor diesem Hintergrund durch die Impfstoffverfügbarkeit relativiert, die der Maßstab für die Dauer der Nutzungseinwilligung ist. Ihr Widerruf muss sich allenfalls nach Treu und Glauben an der Impfstoffverfügbarkeit messen lassen (s.u.).
89Soweit die Beklagten für ihre Auslegung des „Patent Pledge“ als Willenserklärung mit Rechtsbindungswillen anführen, dass Sinn und Zweck desselben aus Sicht eines objektiven Empfängers insbesondere gewesen sei, Rechtssicherheit bei der Impfstoffentwicklung in Bezug auf die Nutzung der COVID-19 Patente der Klägerin zu schaffen, überzeugt dies die Kammer nicht. Denn zum einen hat die Klägerin im „Patent Pledge“ gerade in Aussicht gestellt, ihre COVID-19 Patente für die Zeit nach der Pandemie auf Anfrage zu lizenzieren, so dass eine Nutzung der mit Einwilligung der Klägerin entwickelten und hergestellten Impfstoffe auch in Zukunft – gegen Entgelt – möglich sein sollte. Zum anderen war der „Patent Pledge“ auch unter Zugrundelegung der nach Auffassung der Beklagten zutreffenden Auslegung nicht geeignet, jegliche Investitionen ihrerseits abzusichern. Insoweit ist die Einwilligung in die Patentnutzung – jedenfalls aus Sicht der Beklagten – ausdrücklich zeitlich begrenzt auf die Dauer der Pandemie. Wie sich diese bestimmt, ist im „Patent Pledge“ jedoch nicht aufgeführt und bleibt damit der Interpretation – und dem Risiko – des jeweiligen Empfängers vorbehalten. Eine Definition des Zustands der „Pandemie“ durch die Klägerin erfolgte insoweit nicht, erfasst aber aus objektiver Sicht jedenfalls den Zustand zum Zeitpunkt der Erklärung, als noch nicht hinreichend Impfstoff zur Verfügung stand. Im Zeitpunkt der Erklärung des „Patent Pledge“ im Oktober 2020 war insoweit nicht absehbar, wie lange – Monate, Jahre oder Jahrzehnte – es dauern würde, bis eine flächendeckende Impfstoffversorgung zur Verfügung stehen würde, geschweige denn, ob und wann genau eine Notzulassung für die COVID-19-Impfstoffe erfolgen würde. Es sind insbesondere keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Bedingung des Endes der Pandemie an eine (offizielle) Erklärung der WHO geknüpft werden sollte, da diese in dem „Patent Pledge“ nicht als eine die Corona-Pandemie maßgebliche Organisation erwähnt wird. Hinreichende Rechts- und damit Investitionssicherheit konnte der „Patent Pledge“ den Impfstoffherstellern damit ohnehin nicht einräumen.
90Dass die Klägerin aus Sicht des objektiven Empfängers, insbesondere aus der Sicht anderer professioneller Impfstoffhersteller, mit dem „Patent Pledge“ auf die Durchsetzung ihrer COVID-19 Patente für einen – auch für sie – nicht absehbaren Zeitraum verbindlich verzichten wollte und damit im Endeffekt keinerlei Planungs- und Rechtssicherheit betreffend ihrer Rechte behalten sollte, ist lebensfremd. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich bei der Klägerin um ein verhältnismäßig junges, hoch spezialisiertes Unternehmen handelt, für das deren COVID-19 Patente von enormer wirtschaftlicher Relevanz sind, wie es auch aus der Beschreibung ihres Unternehmens im ersten Absatz der „Patent Pledge“-Presseerklärung für den objektiven Empfänger hervorgeht.
91Vor diesem Hintergrund entspricht es aus objektiver Empfängersicht dem Sinn und Zweck des „Patent Pledge“, dass es der Klägerin vorbehalten bleiben sollte, zu bestimmen, wie lange sie von der Durchsetzung ihrer COVID-19 Patente Abstand nimmt.
92Ferner spricht im Streitfall auch die Unentgeltlichkeit der Nutzung für den Zeitraum des Bestehens der Einwilligung – auch wenn die Unentgeltlichkeit eines Geschäfts allein für die Annahme eines rechtlich unverbindlichen Verhältnisses nicht zwangsläufig genügt (BGH, NJW 2021, 1818, Rn. 21) – ebenfalls für eine einfache, jederzeit widerrufbare Einwilligung der Klägerin (vgl. Kühnen, a.a.O.). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Vertrieb der ersten COVID-19 Impfstoffe, was den Herstellern von Impfstoffen wie der Beklagten bewusst gewesen ist, – gerade zu Beginn der Pandemie – um ein potentielles Milliardengeschäft handelte. Der dauerhafte bzw. zeitlich nicht absehbare Verzicht auf eine angemessene Gegenleistung zur erteilten Einwilligung in die Patentnutzung ist nicht interessengerecht, sondern bevorteilt die Nutzer der COVID-19 Patente unangemessen. Insbesondere liegt eine angemessene Gegenleistung nicht darin, dass – was nicht ersichtlich ist – gerade aufgrund der Einwilligung der Klägerin eine schnellere Zulassung des klägerischen Impfstoffs erfolgen konnte und ihr dadurch messbare Vorteile entstanden wären. Auch eine gestiegene Reputation, die der Klägerin durch die erteilte Einwilligung zugekommen sein mag, stellt allenfalls einen mittelbaren und auch nicht messbaren Vorteil, nicht aber eine Gegenleistung der Einwilligungsempfänger dar.
Dass der objektive Empfänger erkennen konnte, dass sich die Klägerin mit dem „Patent Pledge“ nicht für eine unbestimmte Zeit (vertraglich) binden, sondern lediglich eine frei widerrufliche Einwilligung in die Patentnutzung erteilen wollte, wird schließlich auch durch den Passus am Ende der Presseerklärung unterstützt, wobei klargestellt wird, dass auch eine Nichtberücksichtigung dieses Passus – wie es die Beklagten vertreten – nicht zu einem anderen Auslegungsergebnis führen würde.
94Dort wird darauf hingewiesen, dass die Erklärung „zukunftsgerichtete Aussagen“ („forward-looking statements“) im Sinne des Private Securities Litigation Reform Act von 1995 enthalte, insbesondere zur Durchsetzung und Lizenzierung ihrer geistigen Eigentumsrechte während und nach der COVID-19-Pandemie und dass diese zukunftsgerichteten Aussagen in der Erklärung weder Versprechen noch Garantien seien und man sich nicht übermäßig auf diese verlassen solle. Denn sie beinhalteten bekannte und unbekannte Risiken, Ungewissheiten und andere Faktoren, die dazu führen könnten, dass die tatsächlichen Ergebnisse wesentlich von den in diesen zukunftsgerichteten Aussagen ausgedrückten oder implizierten Ergebnissen abwichen und basierten auf den aktuellen Erwartungen von B und würden nur zum Zeitpunkt dieser Erklärung gelten.
95Diese Hinweise sind als Teil der Presseerklärung bei der Auslegung zu berücksichtigen, auch falls es sich hierbei um eine notwendige Standarderklärung („boilerplate clause") nach den Regeln des US-Kapitalmarktrecht handeln sollte. Denn die objektiven (weltweiten) Empfängerkreise, aus deren Sicht die Erklärung auszulegen ist, beschränken sich zum einen nicht auf den US-amerikanischen Raum und damit auf Empfänger, die sich der Notwendigkeit der Aufnahme eines solchen Zusatzes nach US-amerikanischem Recht bewusst sind. Es ist zudem nicht anzunehmen, dass ein objektiver Empfänger die in Bezug genommene US-amerikanische Norm nachschlagen würde. Zum anderen nimmt der Passus am Ende der Presseerklärung explizit Bezug auf die Aussagen zur Durchsetzung der geistigen Eigentumsrechte der Klägerin vor, während und nach der COVID-19-Pandemie und damit ausdrücklich auf die Aussagen des „Patent Pledge“ zur vorübergehenden Nichtdurchsetzung der klägerischen Patentrechte. Der objektive Empfänger wird diese Angaben daher nicht außen vor lassen und erkennen, dass die Klägerin sich zum einen mangels „Versprechen“ oder „Garantien“ nicht vertraglich binden wollte, zum anderen, dass sie sich offen lassen wollte, ihre Meinung – unabhängig von der tatsächlichen Pandemielage – zu ändern und von der Einräumung der Einwilligung wieder Abstand zu nehmen (so auch High Court, Anlage B 50 Rn. 46 ff.).
Auch unter Berücksichtigung der von den Beklagten angeführten, dem „Patent Pledge“ zeitlich nachfolgenden Äußerungen von Seiten der Klägerin (Anlagen B 6/6a bis B 13/13a) geht der „Patent Pledge“ nicht über eine frei widerrufliche Einwilligung in die Nutzung der klägerischen Patente hinaus.
97Dabei mag dahinstehen, ob Äußerungen, die teilweise über zwei Jahre nach dem „Patent Pledge“ getätigt wurden (bspw. Äußerungen des Herrn E im Rahmen eines Interviews vom 5. Mai 2022) überhaupt noch für dessen Auslegung herangezogen werden können. Jedenfalls ist nicht davon auszugehen, dass die juristischen Feinheiten der genauen rechtlichen Einordnung des „Patent Pledge“ und dessen juristische Bezeichnung, die in den verschiedenen Rechtsordnungen zudem variieren kann, den Äußernden bekannt bzw. bewusst waren. Die Äußerungen untermauern jedenfalls die Kernaussage des „Patent Pledge“, dass die Klägerin ihre COVID-19 Patente bis auf Weiteres nicht gegen Impfstoffhersteller durchsetzen wird, um der Pandemie-Bekämpfung nicht im Weg zu stehen. Der rechtlichen Einordnung als einfache Einwilligung stehen sie damit nicht entgegen.
Mangels Rechtsbindungswillens der Klägerin liegt in dem „Patent Pledge“ im Ergebnis auch keine Zusicherung gegenüber den Beklagten, von Klagen zeitweilig Abstand zu nehmen (sog. prozessuales Stillhalteabkommen bzw. „Covenant not to sue“),das nicht nur zur Unzulässigkeit der Klage (auf Einrede der Beklagten) führt (vgl. BGH, NJW-RR 1989, 1048, m.w.N.), sondern nach der BGH-Entscheidung „CQI-Bericht“ (Urteil vom 24. Januar 2023 – X ZR 123/20, GRUR 2023, 474) in der Regel auch zur Erschöpfung der Rechte im Hinblick auf Erzeugnisse, die auf dieser Grundlage in Verkehr gebracht werden. Unabhängig davon, dass es auf die Frage der Erschöpfung der Rechte aus dem Klagepatent im Hinblick auf die bis zum „Updated Patent Pledge“ hergestellten und vertriebenen Impfstoffe im Streitfall nicht ankommt, da diesbezügliche Verletzungsansprüche nicht geltend gemacht werden, wäre Voraussetzung eines solchen Stillhalteabkommens bzw. „Covenant not to sue“ eine Vereinbarung, in der sich der Patentinhaber verpflichtet, aus dem Patent keine Ansprüche gegen den Vertragspartner geltend zu machen (BGH, a.a.O.). An einer vertraglichen Vereinbarung, wie sie in der vorzitierten BGH-Entscheidung vorlag, fehlt es hier – wie ausgeführt – gerade.
Auch wenn nach dem Vorstehenden bereits kein Angebot der Klägerin auf Abschluss einer vertraglichen Vereinbarung mit den Beklagten zu sehen ist, fehlt es zur Annahme einer solchen im Übrigen an einer ausdrücklichen oder konkludenten Annahmeerklärung der Beklagten. Eine konkludente Annahme kann insbesondere nicht in der Herstellung von Impfstoffen unter Verwendung der technischen Lehre des Klagepatents gesehen werden, da die Beklagten nach ihren eigenen Angaben bereits vor dem „Patent Pledge“ der Klägerin mit der Entwicklung und Vermarktung ihrer Impfstoffe begonnen haben und es damit nach dem „Patent Pledge“ zu keiner Änderung ihres Verhaltens gekommen ist.
100Ferner hat die Klägerin weder auf den Zugang einer Annahmeerklärung verzichtet noch ist eine solche nach der Verkehrssitte nicht zu erwarten (§ 151 BGB). Insoweit wird durch die Formulierung des „Patent Pledge“ deutlich, dass die im Falle des Eingehens einer vertraglichen Verpflichtung, namentlich einer Lizenzeinräumung, diese nur „auf Anfrage“ und damit gerade nicht ohne Rückmeldung des Erklärungsempfängers erfolgen soll. Dass es für eine vertragliche Nutzungsgestattung oder eine lizenzvertragliche Nutzung eines Patents nach der Verkehrssitte keiner Annahmeerklärung bedarf bzw. eine solche nicht erwartet wird, ist weder dargelegt worden noch sonst ersichtlich.
Die Klägerin hat ihre schlichte Einwilligung mit dem wiederum an die Allgemeinheit gerichteten „Updated Patent Pledge“ vom 7. März 2022 (Anlage FBD-A 2 /FBD-A 2a) wirksam mit Wirkung für die Zukunft (vgl. BGH, GRUR 2010, 628, Rn. 37 – Vorschaubilder) widerrufen (§ 183 S. 1 BGB), so dass die Benutzung des Klagepatents durch die Beklagten ab dem 8. März 2022 rechtswidrig gewesen ist.
102Die Einwilligung der Klägerin wurde mit dem „Patent Pledge“ von Vornherein zeitlich befristet – „solange die Pandemie andauert“ – erteilt, wobei der Klägerin – wie ausgeführt – unabhängig davon vorbehalten blieb, den zeitlichen Endpunkt ihrer Einwilligung festzustellen. Es sind weder eindeutige Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Klägerin auf ihr Widerrufsrecht ausdrücklich oder konkludent verzichtet hätte, noch ergibt sich eine Unwiderruflichkeit der Einwilligung aus dem ihrer Erteilung zugrundeliegenden Rechtsverhältnis. So ist zwar von einer Unwiderruflichkeit regelmäßig auszugehen, wenn die Einwilligung – vorwiegend oder jedenfalls auch – im Interesse des Ermächtigten erteilt worden ist und ihm Sicherheit geben sollte (BeckOGK/Regenfus, 1.11.2024, BGB § 183 Rn. 24; MüKoBGB/Bayreuther, 10. Aufl. 2025, BGB § 183 Rn. 16). Im vorliegenden Fall sollte die Einwilligung in die Nutzung der COVID-19 Patente der Klägerin zwar insbesondere dazu erfolgen, auch anderen Impfstoffherstellern die (Weiter-)Entwicklung von Impfstoffen zu ermöglichen, dies allerdings gerade nicht ohne zeitliche Begrenzung, wie es aus der Erklärung hervorgeht. Zudem sind die Impfstoffhersteller durch das Angebot einer nachfolgenden Lizenz abgesichert. Ganz besonders gilt die freie Widerrufbarkeit in den Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Benutzungsgestattung unentgeltlich eingeräumt wurde und der Begünstigte keine konkreten Umstände dafür vortragen kann, dass und weshalb er auf eine fortdauernde Benutzungserlaubnis vertrauen durfte bzw. aus welchen Gründen ihm eine kurzfristige Umstellung auf eine andere technische Lösung objektiv unzumutbar ist (Kühnen, a.a.O.). So liegt der Fall hier. Es sind keinerlei dringende Gründe für die weitere Gewährung von Seiten der Beklagten dargetan worden oder sonst ersichtlich. Zudem war aus der Erklärung selbst für die Beklagten – wie dargelegt – ersichtlich, dass sie sich ohne Rücksprache mit der Klägerin nicht auf den Fortbestand der Einwilligung verlassen durften.
103Die Klägerin hat in dem „Updated Patent Pledge“ ihren Willen zum Widerruf ihrer Einwilligung auch hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht. Insoweit hebt sie die im „Patent Pledge“ aufgestellte zeitliche Beschränkung ihrer Einwilligung – und insoweit den „Patent Pledge“ „aktualisierend“ – (nur) für Unternehmen auf, die in oder für die 92 Länder mit geringem und mittlerem Einkommen im Rahmen des Gavi COVAX Advance Market Commitment (AMC) Impfstoffe für die Verwendung in den 92 AMC-Ländern produzieren. Gleichzeitig bringt sie zum Ausdruck, dass – in Abgrenzung hierzu – in Ländern, die nicht der AMC 92 angehören, von einer Durchsetzung ihrer Patentrechte nicht mehr abgesehen werde, weil dort die Versorgung mit Impfstoffen kein Hindernis mehr für den Zugang sei. Insoweit führt die Klägerin aus, dass sie in diesen Ländern davon ausgehe, „dass diejenigen, die die von B patentierten Technologien nutzen, das geistige Eigentum des Unternehmens respektieren werden“. Aus Sicht eines objektiven Empfängers ist dies mit einem Fortbestehen der Einwilligung zur Nutzung nicht mehr vereinbar. Ferner erklärt die Klägerin im Hinblick auf die nicht-AMC92-Länder – wie bereits im „Patent Pledge“ angekündigt –, dass sie, gerade weil keine Einwilligung mehr besteht, zu einer Lizenzierung zu wirtschaftlich angemessenen Rahmenbedingungen bereit sei (so auch High Court, Anlage B 50, Rn. 61 ff.).
104Mangels Vorliegens eines vertraglichen Schuldverhältnisses kommt es schließlich weder auf die Kündigungsvorschrift des § 314 BGB noch auf die AGB-Vorschriften §§ 305 ff. BGB an (selbst einseitige Rechtsgeschäfte des Verwenders unterliegen nur der Inhaltskontrolle des § 242 BGB, BeckOK BGB/Becker, 72. Ed. 1.5.2024, BGB § 305 Rn. 14 f., m.w.N.).
Die Geltendmachung der klägerischen Ansprüche verstößt auch nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB).
106Insoweit kann eine Rechtsausübung unter anderem dann unzulässig sein, wenn sich objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens ergibt, weil das frühere Verhalten mit dem späteren sachlich unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick darauf vorrangig schutzwürdig erscheinen (st.Rspr.; vgl. BGH, NJW 2009, 1343; NJW-RR 2013, 757; NJW 2014, 2790 Rn. 41; NJW 2014, 2723; jew. m.w.N.).
107Ein widersprüchliches Verhalten der Klägerin ist bereits nicht gegeben. Insoweit war – wie bereits ausgeführt – aus Sicht eines objektiven Empfängers erkennbar, dass die Klägerin mit dem „Patent Pledge“ lediglich zeitweise von einer Durchsetzung ihrer Patentrechte absah und die erteilte Einwilligung frei widerruflich sein sollte. Soweit nach dem „Patent Pledge“ ein schutzwürdiges Vertrauen auf Seiten der Erklärungsempfänger entstanden ist, ist dieses von der Klägerin durch den Widerruf der Einwilligung und die Geltendmachung ihrer Patentrechte daher nicht enttäuscht worden. Insoweit macht die Klägerin in zeitlicher Hinsicht auch nur Ansprüche nach dem Widerruf ihrer Einwilligung geltend. Die Nutzung des Klagepatents lag vor dem Hintergrund der frei widerrufbaren Einwilligung durch den „Patent Pledge“ im Risikobereich der Beklagten. Insbesondere durften sie mangels hinreichender Bestimmung des „Pandemieendes“ nicht darauf vertrauen, dass die Einwilligung so lange fortdauern würde, bis die Pandemie offiziell bzw. von Seiten der WHO für beendet erklärt würde. Es hätte den Beklagten freigestanden, sich vor der Benutzung klägerischer Patente und spätestens nach dem „Updated Patent Pledge“ an die Klägerin zu wenden, um die bestehende Unsicherheit auszuräumen und/oder um einen Vertrag mit einem für sie verbindlichen zeitlichen Rahmen auszuhandeln. Dies hat sie nicht getan.
108Selbst wenn man annehmen wollte, der Widerruf der Einwilligung sei der Klägerin so lange aus Treu und Glauben verwehrt gewesen, wie die Situation, wie sie zum Zeitpunkt des „Patent Pledge“ bestand, andauerte, ist der Widerruf wirksam gewesen. Denn zum Zeitpunkt des „Updated Patent Pledge“ am 7. März 2022 waren der COVID-19 Impfstoff der Beklagten und der Klägerin bereits seit über einem Jahr in Deutschland und damit einem wichtigen Abnehmerland zugelassen und mittlerweile flächendeckend verfügbar, so dass die Situation im Vergleich zum Zeitpunkt des „Patent Pledge“ jedenfalls entschärft war.
Wegen der unberechtigten Benutzung des Klagepatents durch die Beklagten stehen der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche zu:
Die Klägerin hat gegen die Beklagten dem Grunde nach für die jeweils zugesprochenen Zeiträume einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 2 PatG sowie einen Anspruch auf Entschädigung aus Art. 67 Abs. 3 EPÜ i.V.m. Art. II § 1 Abs. 1 S. 1 IntPatÜG.
Das für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, den Anspruch zu beziffern und ohne eine rechtskräftige Feststellung der Schadensersatz- bzw. Entschädigungspflicht die Verjährung der Ansprüche droht.
Die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs liegen vor. Die Beklagten wussten oder hätten jedenfalls wissen müssen, dass die von ihnen genutzte Lehre Gegenstand der Anmeldung des Klagepatents war. Aufgrund der Benutzung der Erfindung vor der Erteilung des Klagepatents ist es zudem hinreichend wahrscheinlich, dass ein Entschädigungsanspruch der Höhe nach entstanden ist.
Ebenso sind die Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch gegeben.
114Die Beklagten handelten schuldhaft. Als Fachunternehmen hätten sie die Patentverletzung bei Anwendung der im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfalt zumindest erkennen können, § 276 BGB. Bei Anwendung dieser Sorgfalt hätten sie auch erkennen können, dass ihnen kein unentgeltliches Nutzungsrecht an der Lehre des Klagepatents zustand. Auch wenn die Beklagten die Vorstellung gehabt haben sollten, zur Nutzung berechtigt zu sein, hätte die im Geschäftsverkehr erforderliche Sorgfalt jedenfalls erfordert, sich durch entsprechende Nachfrage bei der Klägerin zu vergewissern. Dies war jedoch spätestens durch die Klarstellung im Updated Patent Pledge ohnehin obsolet.
115Überdies ist durch die rechtsverletzenden Handlungen der Beklagten die Entstehung eines Schadens hinreichend wahrscheinlich.
Der Klägerin stehen gegen die Beklagten zudem die geltend gemachten Ansprüche auf Auskunft und Rechnungslegung aus § 140b Abs. 1 PatG, §§ 242, 259 BGB i.V.m. Art. 64 Abs. 1 EPÜ zu.
117Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsformen ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstands unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG i.V.m. Art. 64 Abs. 1 EPÜ, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG i.V.m. Art. 64 Abs. 1 EPÜ. Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB i.V.m. Art. 64 Abs. 1 EPÜ, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, die ihr zustehenden Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche zu beziffern. Die Klägerin ist im Übrigen auf die Angaben angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt; die Beklagten werden durch die von ihnen verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass einziger Abnehmer der angegriffenen Ausführungsformen in Deutschland die Bundesrepublik Deutschland ist. Die Beklagten haben nicht konkret dargelegt, aus welcher öffentlich zugänglichen Quelle die Klägerin die begehrten Informationen entnehmen können sollte.
Eine Aussetzung des Rechtsstreits kommt nicht in Betracht.
Die Aussetzung ist regelmäßig abzulehnen, wenn das Klagepatent erstinstanzlich aufrechterhalten worden ist. Diese – unter Beteiligung technischer Fachleute zustande gekommene – Entscheidung hat das Verletzungsgericht aufgrund der gesetzlichen Kompetenzverteilung grundsätzlich hinzunehmen. Im Rahmen der Aussetzungsentscheidung ist es nicht Sache des Verletzungsgerichts, das Einspruchsbeschwerde- oder Nichtigkeitsberufungsverfahren in allen Einzelheiten vorweg zu nehmen. Immer dann, wenn die Argumentation im Rechtsbestandsverfahren möglich und mit nachvollziehbaren Gründen vertretbar erscheint, hat es vielmehr bei der getroffenen Einspruchs- oder Nichtigkeitsentscheidung zu verbleiben, so dass, wenn nicht im Einzelfall ganz besondere Umstände vorliegen, für eine Aussetzung des Verletzungsrechtsstreits keine Veranlassung besteht. Sie ist erst dann geboten, wenn die Rechtsbestandsentscheidung auf für das Verletzungsgericht nachweisbar unrichtigen Annahmen oder einer nicht mehr vertretbaren Argumentation beruht oder wenn mit dem Rechtsmittel gegen die Rechtsbestandsentscheidung, ohne dass insoweit ein Nachlässigkeitsvorwurf angebracht ist, weiterer Stand der Technik präsentiert wird, der, weil er der Erfindung näher kommt als der bisher gewürdigte Stand der Technik, mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit eine Vernichtung des Klagepatents erwarten lässt (OLG Düsseldorf, Urt. v. 07.07.2011 – I-2 U 66/10).
120Hier ist der erstinstanzlichen Entscheidung des Europäischen Patentamts ein hohes Gewicht einzuräumen, so dass von dem strengen Aussetzungsmaßstab nicht allein deshalb abgewichen werden kann, weil die Klägerin keinen Unterlassungsanspruch geltend macht. Auch die Durchsetzung der geltend gemachten Auskunfts- und Rechnungslegungsansprüche würde durch eine Aussetzung deutlich erschwert, da sich die Bezifferung von Zahlungsansprüchen dann ebenfalls deutlich nach hinten schöbe. Dem Umstand, dass die Klägerin sich dazu entschieden hat, einen Unterlassungsanspruch nicht gerichtlich geltend zu machen, kann nicht ohne weiteres entnommen werden, dass sie an einer Unterlassung kein Interesse hat. Durch die Auswahl der eingeklagten Ansprüche ist sie nicht daran gehindert, einen Unterlassungsanspruch zu einem späteren Zeitpunkt geltend zu machen. Zudem wäre es ihr möglich, die Beklagten auf Grundlage eines zusprechenden Urteils auch zur Unterlassung aufzufordern, gegebenenfalls unter Androhung der Erhebung einer entsprechenden Klage.
Der vorliegende Rechtsstreit war nicht auszusetzen, weil der Rechtsbestand im Hinblick auf die von der Einspruchsabteilung getroffene Entscheidung (siehe Anlage FBD 51; für die Begründung der Entscheidung Anlage B 49; in deutscher Übersetzung Anlage FBD 57; im Folgenden auch bezeichnet als „EPA-Entscheidung“) hinreichend gesichert ist. Darin hat die Einspruchsabteilung nicht nur eine neuheitsschädliche Vorwegnahme des Klagepatentanspruchs aus nachvollziehbaren Gründen abgelehnt (siehe unten, Ziff. 1), sondern auch eine unzulässige Erweiterung (siehe unten, Ziff. 2). Außerdem erscheint der Rechtsbestand selbst unter Heranziehung des nationalen Prüfungsmaßstabs hinreichend gesichert (siehe unten, Ziff. 3).
Die D1 nimmt die Lehre des unabhängigen Anspruchs 3 nicht neuheitsschädlich vorweg. Unter Beachtung der Rechtsprechung des EPA (vgl. unten, Ziff. a.) hat die Einspruchsabteilung die Neuheitsangriffe einerseits ausgehend von dem in der D1 genannten Beispiel 31 (siehe unten, Ziff. b.) und andererseits ausgehend von der D1 im Allgemeinen (siehe unten, Ziff. c.) geprüft und abgelehnt. Auch unter Hinzuziehung der D4 (siehe unten Ziff. d.) kam sie – nachvollziehbar – zu keinem anderen Ergebnis.
Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts wird verlangt, dass sich der beanspruchte Gegenstand "unmittelbar und eindeutig aus dem Stand der Technik ergeben muss", damit auf fehlende Neuheit geschlossen werden kann. Es muss "außer Zweifel stehen“, dass der beanspruchte Gegenstand unmittelbar und eindeutig offenbart wurde (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 10. Auflage 2022, I.C.4.1, mit Verweis auf T 450/89, T 677/91, T 988/95, T 1029/96, T 218/00). Zudem ist eine Offenbarung nur dann neuheitsschädlich, wenn die darin enthaltene Lehre nacharbeitbar ist, das heißt vom Fachmann ausgeführt werden kann (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, a.a.O., 2022, I.C.4.11). Eine Offenbarung kann nur dann als "implizit" angesehen werden, wenn für den Fachmann sofort erkennbar ist, dass nichts anderes als das angebliche implizite Merkmal Teil des offenbarten Gegenstands war (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, a.a.O., I.C.4.3. unter Verweis auf T 95/97, T 51/10).
124Darüber hinaus ist das sogenannte „Zwei-Listen-Prinzip“ zu beachten. Nach den „Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt“ ist eine Erfindung als neu anzusehen, wenn die geschützte Merkmalskombination aus einer aus zwei oder mehr Listen einer gewissen Länge zu treffenden Auswahl resultiert; dies gilt jedoch nicht, wenn es im Stand der Technik einen Hinweis auf die spezifische Kombination gab (siehe Abschnitt G VI. 7. (ii) (a)). Demgegenüber ist eine Offenbarung, die lediglich eine Auswahl aus einer einzigen Liste von individualisierten Alternativen erfordert, neuheitsschädlich (siehe Abschnitt G VI. 7. (i) (a)).
Von diesen Grundsätzen ausgehend hält es die Kammer für vertretbar, wenn die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Lehre des Klagepatents nicht durch das Beispiel 31 der D1 neuheitsschädlich vorweggenommen wird, weil die darin aufgezählten Verbindungen nicht als Liste von individualisierten Verbindungen angesehen werden könnten.
126Das Beispiel 31 wird in den Absätzen [0290] und [0291] der D1 behandelt und nimmt unter anderem Bezug auf die vorangegangenen Beispiele 2 und 7. Sodann werden 96 verschiedene Nukleosid-Modifikationen aufgezählt, aus denen der Fachmann eine Auswahl zu treffen hatte (siehe unten, Ziff. aa.). Außerdem besteht eine Auswahl darin, die in Absatz [0291] benannten Modifikationen zusätzlich oder alternativ zu den in den Beispielen 2 und 7 genannten Modifikationen zu testen (siehe unten, Ziff. bb.). Absatz [0056] der D1 liefert zudem keine weiteren Anhaltspunkte zugunsten einer bestimmten Auswahl (siehe unten, Ziff. cc.). Außerdem stellte es sich auch nicht als bevorzugt oder sogar selbstverständlich dar, eine Substitutionsrate von 100% auszuwählen (siehe unten, Ziff. dd.).
127Nicht weiter diskutiert wurde von der Einspruchsabteilung in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Verweis in Beispiel 31 auf in vitro-transkribierte RNA und deren Effekt auf die Translationseffizienz allein auf mRNA verweist. Einer Vertiefung dieser Frage bedurfte es auch nicht, weil eine neuheitsschädliche Offenbarung aus anderen Gründen scheitert.
Die Einspruchsabteilung hält richtigerweise fest, dass es für die Entscheidung zugunsten des Austauschs von m1ψ einer Auswahl aus der Liste der in Absatz [0291] genannten Modifikationen bedurfte. Sofern die Beklagten meinen, dass der Fachmann ausreichend Anlass gehabt hätte, um ausgehend von dieser Liste bereits zu m1ψ zu gelangen, ergeben sich diese Hinweise jedenfalls nicht unmittelbar aus der D1.
129Inwiefern die in Absatz [0291] aufgezählten Modifikationen tatsächlich getestet worden sind oder es sich nur um sogenannte „prophetische Verbindungen“ handelt, spielt keine Rolle. Denn in jedem Fall musste eine Auswahlentscheidung getroffen werden, die allein noch nicht die Neuheit gegenüber der D1 begründen konnte. Allerdings bedurfte es zumindest einer weiteren Auswahlentscheidung für den Fachmann mit der Folge, dass nach dem sogenannten „Zwei-Listen-Prinzip“ von der Neuheit des Klagepatentanspruchs gegenüber der D1 auszugehen ist.
Die Einspruchsabteilung hält fest, dass dem Beispiel 31 nicht eindeutig entnommen werden könne, ob mit den in Absatz [0290] einleitend genannten „zusätzlichen Nukleosid-Modifikationen“ weitere zu den in den Beispielen 2 und 7 bereits getesteten Modifikationen hinzugefügt werden sollen oder ob diese alternativ durchzuführen sind, also die in den Beispielen 2 und 7 genannten Modifikationen ersetzen sollen. Dies ist insoweit nachvollziehbar, als dass hier von „zusätzlichen“ Modifikationen die Rede ist, was eher gegen eine alternative Ersetzung der in den Beispielen 2 (m5C, m5U, phi und m5C/phi) und 7 (m6A, m5C, s2U, Phi und 2‘-O-methyl) bereits getesteten Modifikationen spricht.
Es erscheint auch vertretbar, mit der Einspruchsabteilung in Absatz [0056] keinen konkreten Verweis auf m1ψ zu sehen. Die Einspruchsabteilung sieht die in diesem Absatz vorgenommene Definition des Begriffs „Pseudouridin“ als eine Hintergrundinformation über die Bedeutung dieses Begriffs in der Klagepatentschrift an, ohne dass die Definition in einen konkreten technischen Kontext gesetzt werde. Dies gelte insbesondere in Zusammenhang mit mRNA. Außerdem fehle eine direkte Verbindung zwischen Beispiel 31 und Absatz [0056]; darüber hinaus werde m1ψ nicht als besonders bevorzugt dargestellt. Diese Argumentation ist anknüpfend an die Stellung von Absatz [0056] in der Patentschrift und seinen Inhalt nachvollziehbar.
132Absatz [0056] der D1 erläutert, dass sich der Begriff „Pseudouridin“ in weiteren Ausführungsbeispielen unter anderem auf 1-Methyl-Pseudouridine beziehen könne. Letztlich könne aber jedes aus dem Stand der Technik vorbekannte Pseudouridin gemeint sein. Jede dieser Möglichkeiten repräsentiere eine eigene Ausführungsform der in der D1 verkörperten Erfindung.
133Es ist bereits nicht erkennbar, weshalb der Fachmann ausgehend von dem Beispiel 31 zu Absatz [0056] gelangt wäre und aus der ihm darin präsentierten Auswahl aus Pseudouridin und dessen Derivaten eines der Derivate ausgewählt hätte. Schließlich wird dem Fachmann in Beispiel 31 bereits eine große Auswahl an möglichen – und als getestet bezeichneten – Modifikationen präsentiert, die zudem m1ψ aufweist. Absatz [0056] enthält keinen weitergehenden Hinweis auf konkret diese Nukleosid-Modifikation.
Weiterhin ist auch die Argumentation der Einspruchsabteilung vertretbar, dass ein vollständiger Ersatz von Uracil durch N1-Methylpseudouridin nicht offenbar sei, weil die in den Beispielen 2 und 7 verwendeten Methoden, auf die das Beispiel 31 verweist, nicht den 100%igen Ersatz einer bestimmten Modifikation als bevorzugt vermitteln.
135In diesem Zusammenhang zeigt die Einspruchsabteilung zunächst auf, welche Voraussetzungen eine geeignete mRNA erfüllen müsse. Dazu gehöre neben der Eignung, dass es sich um ein Substrat für die Polymerase für die in vitro-Transkriptionsreaktion handele, dass die RNA gegen Nuklease-Abbau stabil sei und eine verminderte Immunantwort habe; außerdem müsse sie von der Proteinbildungsmaschinerie erkannt werden. Die Einspruchsabteilung räumt sodann ein, dass der 100%ige Austausch zwar als vorteilhaft für die Verringerung der Immunogenität offenbart werde, es sich dabei aber eben nur um einen Teilaspekt handele. So hebe Beispiel 7 wiederholt solche experimentellen Ergebnisse als vielversprechend hervor, die zeigten, dass eine geringere Immunogenität auch dann erzielt werden könne, wenn nicht alle kanonischen Nukleotide durch modifizierte ersetzt würden.
136Diese Argumentation kann nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden. Beispiel 31 verweist auf die Methoden, wie sie in den Beispielen 2 und 7 beschrieben sind, so dass diese Beispiele beide gleichermaßen miteinzubeziehen sind. In Beispiel 2 geht es – bereits der Überschrift nach – um die in vitro Synthese von RNA-Molekülen mit modifizierten Nukleosiden. In Absatz [0187] wird zunächst beschrieben, wie die Ausgangs-RNA gewonnen wird; die Absätze [0188] bis [0192] nennen beispielhaft Sequenzen dieser RNA. In Absatz [0193] heißt es sodann, dass die modifizierte RNA durch die Ersetzung von ein (oder zwei) kanonischen NTPs (Nukleosid-Triphosphaten) aus einer Auswahl von fünf verschiedenen modifizierten Nukleotiden gewonnen werde. Beispiel 7 trägt die Überschrift „Die Unterdrückung der RNA-vermittelten Stimulation ist proportional zur Anzahl der in der RNA vorhandenen modifizierten Nukleoside“. Einleitend heißt es, dass die meiste der verwendeten, Nukleosid-modifizierten RNA eine Art der Modifikation enthielt, die in etwa 25% der gesamten Nukleotide der RNA (beispielsweise allen Uridin-Basen) aufgetreten sei. In Absatz [00213] wird dann beschrieben, dass selbst der kleinste Umfang der Modifizierung ausreichend für eine messbare Cytokin-Inhibition gewesen sei. Konkret wird in diesem Zusammenhang ein Betrag von 0,2-0,4% als „klein“ bezeichnet, 2,5% wird als „höherer prozentualer Anteil“ genannt. Absatz [0218] hält in der Zusammenfassung fest, dass bei jeder der fünf getesteten Modifikationen (m6A, m5C, s2U, Phi und 2‘-O-methyl) bereits bei dem Vorliegen in niedriger Fraktion ein relevantes Maß an Immunsuppression erzielt worden sei, sich aber weitere Suppression gezeigt habe, wenn der Anteil der modifizierten Nukleoside erhöht worden sei.
137Bei den Beispielen 2 und 7 handelt es sich damit nicht um zwei gleichwertig nebeneinanderstehende Versuche, sondern beide verfolgen eine unterschiedliche Zielrichtung. Während in Beispiel 2 zunächst grundsätzlich die in vitro Synthese von RNA-Molekülen mit modifizierten Nukleosiden beschrieben wird, knüpft das Beispiel 7 an vorherige Beispiele an und stellt sich als Weiterentwicklung derselben dar. Dies ergibt sich aus dem einleitenden Satz „Most of the nucleoside-modified RNA utilized thus far contained one type of modification occuring in approximately 25% of the total nucleosides in the RNA (e.g. all the uridine bases)“. Mit dem Verweis auf 25% der Gesamtnukleoside mag sich zwar ergeben, dass alle Nukleoside einer bestimmten Gruppe (wie Uridin) modifiziert wurden, allerdings macht die Wendung „thus far“ deutlich, dass dies bisher so geschehen sei und im Folgenden anders verfahren werden soll. Insofern heißt es dann „To define the mininal frequency of particular modified nucleosides that is sufficient to reduce immunogenicity under the conditions utilized herein, RNA molecules with limited numbers of modified nucleosides were generated“. Das Beispiel 7 beschäftigt sich also – anders als die vorangegangenen Versuche, in denen schlichtweg die jeweilige Modifikation im gesamten Umfang eines Nukleosids vorgenommen wurde – mit dem konkreten Umfang, in welchem diese Modifikation vorgenommen werden muss, um für die angestrebte Reduzierung der Immunogenität „ausreichend“ (sufficient) zu sein. Der Fachmann entnimmt beiden Beispielen in der Zusammenschau, dass bereits eine Substitutionsrate in einem niedrigen einstelligen Prozentbereich eine signifikante Wirkung zur Reduzierung der Immunogenität entfaltet. Daran ändert auch der Hinweis im letzten Satz des Absatzes [0218] nichts, in welchem es heißt, dass bei Erhöhung der modifizierten Nukleoside eine weitere Suppression erreicht werde. Dies dürfte sich für den Fachmann ohnehin als Selbstverständlichkeit erschließen. In Beispiel 7 geht es hingegen gerade darum, eine ausreichende (sufficient) Immunogenität auch mit einer niedrigeren Substitutionsrate zu erreichen. Insofern ist die Einspruchsabteilung der auch für die Kammer nachvollziehbaren und plausiblen Ansicht, dass der erste Satz des Beispiels 7 in Absatz [0212] als Einleitung der Diskussion darüber gelesen werden sollte, ob die Verringerung des prozentualen Ersatzes durch modifizierte Nukleotide zu mRNAs führen könne, die in der Lage seien, eine effiziente Übersetzung zu liefern und gleichzeitig eine reduzierte Immunogenität, wie sie durch die beispielhafte 100%ige Substitution erreicht werde.
138Der Verweis auf die Beispiele 2 und 7 in Beispiel 31 kann vor diesem Hintergrund nicht dahingehend verstanden werden, dass der Fachmann sich einfach eines dieser beiden Beispiele aussuchen kann und auf dieser Grundlage eine der in Absatz [0291] vorgeschlagenen Modifikationen vornimmt. Doch selbst wenn der Fachmann ausgehend von dem Beispiel 31 entweder die Substitutionsrate von 100% entsprechend dem Beispiel 2 oder aber eine verringerte Substitutionsrate, wie sie von Beispiel 7 vorgeschlagen wird, angewandt hätte, hätte dies eine Auswahlentscheidung erfordert, die zusätzlich zu der nach Absatz [0291] auszuwählenden Modifikation tritt.
Die Entscheidung der Einspruchsabteilung stellt sich auch, soweit sie sich im Übrigen mit der Entgegenhaltung D1 auseinandersetzt, als vertretbar dar.
140Die Einspruchsabteilung hält zunächst fest, dass die Merkmale der klagepatentgemäßen Lehre in den folgenden Passagen der D1 offenbart seien:
141- Anspruch 1 und Absatz [0004], die beide eine Pseudouridin enthaltende mRNA offenbarten;
142- Absatz [0056], der offenbare, dass sich der Begriff „Pseudouridin“ auf N-1-Methylpseudouridin beziehen könne;
143- Absatz [0072], in dem offengelegt werde, dass 100% der einem bestimmten Nukleotid in der RNA entsprechenden Reste modifiziert seien; und
144- Absatz [0074], der besage, dass (nur) ein Typ der vier kanonischen Nukleotide Cytidin, Uridin, Guanosin oder Adenosin modifziert werden.
145Allerdings erfordern – so die Einspruchsabteilung – sämtliche Offenbarungsstellen mit Ausnahme der die mRNA betreffende Passage eine Auswahl unter gleichwertigen Alternativen und es gibt zudem keinen Hinweis dafür, dass der Fachmann diese Passagen miteinander kombiniert hätte. Auch dieser Teil der Entscheidung ist nachvollziehbar und nicht evident unrichtig.
146In Zusammenhang mit Absatz [0056] ist nicht weiter erörterungswürdig, ob tatsächlich mRNA als bevorzugte Form der RNA anzusehen ist. Denn die Annahme der Einspruchsabteilung, dass mRNA nicht bevorzugt werde, hat im Ergebnis keine Auswirkungen auf das Ergebnis, dass der Fachmann noch weitere Auswahlentscheidungen treffen musste, um zu der klagepatentgemäßen Erfindung zu gelangen.
Absatz [0056] erfordert, wie oben unter Ziff. b. cc. bereits dargestellt, eine Auswahlentscheidung unter Pseudouridin bzw. Pseudouridin-Derivaten, wobei explizit fünf verschiedene Pseudouridin-Derivate genannt sind und keines als bevorzugt ausgewiesen wird. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Pseudouridin-Derivate jeweils als „weitere Ausführungsform“ bezeichnet werden, anstatt in Form einer fortlaufenden Liste aufgezählt zu werden. Einen expliziten Hinweis für den Fachmann, aus dem sich m1ψ als bevorzugte Ausführungsform ergeben würde, bietet die D1 jedenfalls nicht.
Inwiefern der Fachmann eine Auswahlentscheidung zugunsten der Reste nur eines der vier kanonischen Nukleotide, also Uridin, Cytidin, Guanosin oder Adenin vorgenommen hätte, ist – anders als die Einspruchsabteilung meint – unerheblich. Denn der Klagepatentanspruch ist auch dann neuheitsschädlich getroffen, wenn mehr als nur ein kanonisches Nukleotid ausgetauscht wird. Wie die Einspruchsabteilung in Ziffer 4.2.2 zutreffend festhält, ist der Wortlaut offen und schließt mRNA nicht aus, bei der 100% der Uridin-Nukleotide durch m1ψ ersetzt ist und eines der anderen Nukleotide durch ein oder mehrere entsprechend modifizierte Nukleotide. Insofern erscheint es widersprüchlich, die nach der D1 zu treffende Auswahlentscheidung zugunsten der Modifikation nur eines kanonischen Nukleotids als neuheitsschädlich anzusehen.
149Dieser Widerspruch hat jedoch keine Auswirkungen auf das von der Einspruchsabteilung aufgefundene Gesamtergebnis. Denn abgesehen davon sind mit Absatz [0056] der D1 noch weitere Auswahlentscheidungen verbunden.
Die Einspruchsabteilung geht davon aus, dass eine 100%ige Substitutionsrate nicht ohne Weiteres vom Fachmann angenommen worden wäre, sondern ebenfalls auf einer Auswahlentscheidung beruhte. Sie verweist in diesem Zusammenhang zum einen auf Absatz [0072], der offenbart, dass zwischen 0,1% bis 100% der einem bestimmten Nukleotid in der RNA entsprechenden Reste modifiziert seien; zum anderen bezieht sich die Einspruchsabteilung auf Absatz [0074], der beschreibt, in welchem Umfang die Reste eines Nukleotids, also Uridin, Cytidin, Guanosin oder Adenin, modifiziert werden können. Auch in diesem Zusammenhang werden verschiedene prozentuale Anteile genannt, die von 0,1 % bis zu 100 % reichen.
151Diese Würdigung des Gesamtoffenbarungsgehalts der D1 durch die fachkundig besetzte Einspruchsabteilung erscheint nicht unvertretbar. Wie von der Einspruchsabteilung festgestellt, lassen beide Absätze eine 100%ige Substitutionsrate nicht als bevorzugt erkennen. Bereits in Zusammenhang mit dem Beispiel 31 ist erläutert worden, aus welchen Gründen es für den Fachmann einer Auswahlentscheidung zugunsten einer 100%igen Substitution bedurft hätte (siehe oben, Ziff. b. dd.). Insofern kann unter Berücksichtigung der Absätze [0072] und [0074], die eine breite Spanne an möglichen Substitutionsraten nennen, nichts Anderes gelten. Ohne weitere Anleitung mag der Fachmann von einer vollständigen Substitution ausgehen, jedoch findet er in der D1 mit den Absätzen [0072] und [0074] sowie Beispiel 7 den Hinweis, gerade keine 100%ige Substitution vorzunehmen und trotzdem zu einer ausreichenden Reduzierung der Immunogenität zu kommen. Anderes kann auch nicht angenommen werden vor dem Hintergrund, dass der Fachmann der D1 entnehme, dass eine 100%ige Substitution für eine möglichst niedrige Immunogenität vorteilhaft sei (Absatz [0218]). Denn Beispiel 7 beschäftigt sich gerade damit, eine ausreichend niedrige Immunogenität mit einer möglichst niedrigen Substitutionsrate zu erreichen. Dies erscheint einleuchtend, weil sich eine hohe Substitutionsrate – so hält es die Einspruchsabteilung in nachvollziehbarer Weise in Abschnitt 4.6.2.2 ihrer Entscheidung fest – sehr negativ auf die Translation im Protein auswirken könne.
152Daran vermag auch Absatz [0134] der D1 nichts zu ändern. Dieser offenbart die Herstellung einer RNA per in vitro Transkription, welche auch "ein Pseudouridin" als modifiziertes Nukleotid enthält. Verwiesen wird in diesem Rahmen auf die Versuche 2 und 7, womit wiederum kein eindeutiger Hinweis auf eine 100%ige Substitutionsrate verbunden ist, siehe die obigen Ausführungen unter Ziff. b. dd.
Die Entscheidung der Einspruchsabteilung erweist sich auch hinsichtlich ihrer Würdigung der D4 als nicht unvertretbar.
154Die D4 stimmt inhaltlich weitgehend mit der D1 überein. Vor allem findet sich das in der D1 erläuterte Beispiel 31 dort als entsprechendes Beispiel 34. Jedoch findet sich in der D4 zusätzlich Anspruch 11 (siehe Bl. 751 der Anlage B21-D4), der wie folgt lautet:
155The method of any of Claims 1-10, wherein all of the uridine nucleosides in said modified mRNA are replaced by pseudouridine nucleosides.
156Die D4 unterscheidet sich damit insofern von der D1, als dass der Fachmann darin angeleitet wird, alle Uridin-Nukleoside durch Pseudouridin-Nukleoside auszutauschen. Gleichwohl ist damit eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung der erfindungsgemäßen Lehre nicht verbunden.
157Die Einspruchsabteilung stellt zunächst in vertretbarer Weise fest, dass der Begriff Pseudouridin verwendet werde, um den eigentlichen, nicht modifizierten Pseudouridin-Anteil zu definieren. Insofern ist festzuhalten, dass der Begriff des Pseudouridin als die eindeutig definierte Verbindung „Pseudouridin“ oder als Oberbegriff für diese Verbindung und alle ihre Derivate verstanden werden kann. In Anspruch 11 der D4 erhält der Fachmann zunächst allein den Hinweis, alle Uridin-Nukleoside durch Pseudouridin-Nukleoside auszutauschen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Begriff „Pseudouridin“ in Anspruch 11 der D4 auch sämtliche Derivate umfassen soll. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den Seiten 45/46 der D4, die eine mit dem Absatz [0056] der D1 gleichlautende Textstelle aufweisen. Die Einspruchsabteilung hat dazu zwar festgestellt, dass es sich nicht um eine Definition von Pseudouridin im Sinne der Fachliteratur handele, sondern sich der Begriff „Pseudouridin“ gemäß bestimmten Ausführungsformen auch auf Pseudouridin-Derivate beziehen könne (siehe Rz. 4.6.2.2 der EPA-Entscheidung). Allerdings – und auch das hat die Einspruchsabteilung festgestellt – fehlt es an jedem technischen Kontext, so dass aufgrund der allgemeinen Formulierung („in another embodiment the term refers to …“) offenbleibt, in welchen Fällen der Begriff Pseudouridin ein bestimmtes Derivat umfassen soll. Im Fall des Unteranspruchs 11 erhält der Fachmann jedenfalls keinen Hinweis auf N1-Methylpseudouridin, zumal der einbezogene Unteranspruch 2 verschiedene Pseudouridin-Derivate als Modifikationen konkret benennt, zu denen N1-Methylpseudouridin aber gerade nicht gehört. Wenn Unteranspruch 11 nunmehr sämtliche Pseudouridin-Derivate hätte einbeziehen wollen, wäre ein entsprechender Hinweis oder ihre Benennung zu erwarten gewesen. Stattdessen werden die vorherigen Ansprüche dahingehend konkretisiert, dass es sich bei der Nukleosid-Modifikation um Pseudouridin – verstanden im engeren Sinne – handeln soll, das 100% des Uracils ersetzt.
158Selbst wenn man dies anders sieht, bleibt das von der Einspruchsabteilung angeführte Argument, dass der Fachmann sich zusätzlich noch entscheiden müsse, ob er den Austausch der Uridin-Nukleoside durch eines oder mehrere der dort genannten Pseudouridin-Derivate vornehme. Dieses erscheint insofern nachvollziehbar und die Entscheidung der Einspruchsabteilung insofern vertretbar, als dass auch Beispiel 31 mit dem Hinweis auf die „zusätzlichen Nukleosid-Modifikationen“ als Anleitung für den Fachmann verstanden werden kann, zusätzliche Modifikationen durchzuführen (siehe oben, Ziff. b. bb.).
Schließlich hält die Einspruchsabteilung den Gegenstand des Klagepatents für nicht unzulässig erweitert gegenüber der Ursprungsoffenbarung WO 2012/045075 (Anlage B21-OA). Auch dies begegnet keinen durchgreifenden Bedenken.
160Die Einspruchsabteilung hält in diesem Zusammenhang die folgenden Merkmale für diskussionswürdig:
161a. die Definition der beanspruchten Nukleinsäure als mRNA;
162b. den Bezug auf modifiziertes Uracil;
163c. den Bezug auf den 100%igen Ersatz von Uracil durch ein modifiziertes Uracil;
164d. den Umstand, dass es sich bei dem modifizierten Uracil-haltigen Nukleotid um N1-Methyl-Pseudouridin handelt.
Zunächst stellt die Einspruchsabteilung fest, dass die „Definition der beanspruchten Nukleinsäure als mRNA“ im dritten Absatz der Seite 28 der Ursprungsoffenbarung als bevorzugt bezeichnet werde. Im Rahmen des „allgemeineren Kontexts“, den sie sodann herausarbeitet, bezieht sie sich ebenfalls auf diese Beschreibungsstelle. Dort heißt es, dass in bevorzugten Ausführungsformen die modifizierte Nukleinsäure mRNA beinhalte. Es erscheint nicht evident unrichtig, diese Stelle als hinreichende Grundlage für die Definition der beanspruchten Nukleinsäure als mRNA anzusehen, auch wenn mit dem Begriff des „Beinhaltens“ die Möglichkeit verbleibt, dass nicht ausschließlich mRNA gemeint ist.
Hinsichtlich der obigen Merkmale b. und d., die ein modifiziertes Uracil betreffen, wobei es sich bei dem modifizierten Uracil-haltigen Nukleotid um N1-Methylpseudouridin handelt, erweist sich die Einspruchsentscheidung ebenfalls als vertretbar.
167Die Einspruchsabteilung zieht den allgemeinen Kontext der Ursprungsoffenbarung heran und stellt in diesem Zusammenhang zwei Möglichkeiten heraus:
Zunächst verweist sie auf die vorletzte Zeile von Seite 15. An dieser Stelle wird 1-Methyl-Pseudouridin als beispielhafter Bestandteil für ein modifiziertes Nukleosid genannt. Die Zeilen 5 und 6 auf Seite 21 zeigen die entsprechende Valenzstrichformel und in Tabelle 2 auf Seite 23 findet sich N1-Methyl-Pseudouridin als Beispiel für ein modifiziertes Nukleotid. Die Zeilen 4-6 auf Seite 37 verweisen darauf, dass 100% des Uracils in der Nukleinsäure durch ein modifiziertes Uracil ersetzt werde.
169In einer alternativen Argumentation arbeitet die Einspruchsabteilung das allgemeine Konzept dann aus den Ansprüchen 15, 17 und 20 heraus. Anspruch 15 hat eine Nukleinsäuresequenz zum Gegenstand, die ein Nukleotid umfasst, das die Bindung eines Große Furche-Bindungspartners mit einer Nukleinsäuresequenz stört, wobei das Nukleotid eine verringerte Bindungsaffinität zu dem Große Furche-Bindungspartner aufweist. Anspruch 16 spezifiziert den Anspruch 15 insofern näher, als dass eine Substanz mit einer bestimmten, dort näher bezeichneten Grundstruktur umfasst sein muss. In dieser Grundstruktur müsste der Fachmann dann die in Anspruch 17 genannte Formel II-b auswählen und zuletzt mit Anspruch 20 kombinieren, der angibt, dass die Nukleinsäuresequenz eine Vielzahl von Nukleotiden der Formel I-b umfasst. Tatsächlich erfordert die Kombination dieser Ansprüche mehrere Auswahlentscheidungen, damit der Fachmann im Ergebnis zum Klagepatentanspruch gelangt. Dies lässt aber die Ausführungen der Einspruchsabteilung, die daraus einen allgemeinen Kontext ableitet, nicht als evident unrichtig erscheinen. Schließlich handelt es sich dabei nur um zusätzliche Erwägungen, um den bereits anderweitig aufgefundenen, allgemeinen Kontext zu stützen.
Vor diesem Hintergrund wird die Lehre des Klagepatents in den ursprünglichen Anmeldeunterlagen unmittelbar und eindeutig offenbart. Lediglich der Austausch von Uridin durch N1-Methylpseudouridin beruht auf einer Auswahl aus einer Liste, was unter Berücksichtigung der oben genannten Rechtsprechung (siehe oben, Ziff. II. 1. a.) jedoch einer hinreichenden Offenbarung nicht entgegensteht.
171Das Erfordernis eines 100%igen Austauschs des Uracil-haltigen Nukleotids durch N1-Methylpseudouridin sieht die Einspruchsabteilung in den Ausführungsbeispielen unmittelbar und eindeutig offenbart, ohne dass mit einer solchen isolierten Auswahl des Merkmals eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung verbunden wäre. Diese Begründung hält die Kammer für vertretbar.
172Nach der Rechtsprechung des EPA ist es in der Regel nicht zulässig, bei der Änderung eines Anspruchs isolierte Merkmale aus einer Reihe von Merkmalen herauszugreifen, die ursprünglich nur in Kombination miteinander (z.B. in einer bestimmten Ausführungsform in der Beschreibung oder in Zeichnungen der ursprünglichen Anmeldung) offenbart waren (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Kap. II. E. 1.9.1 unter Bezug auf T 1067/97, T 714/00, T 25/03, T 2095/12 und T 1365/16). Eine solche Zwischenverallgemeinerung sei nur zu rechtfertigen, wenn keinerlei eindeutig erkennbare funktionale oder strukturelle Verbindung zwischen den Merkmalen der spezifischen Kombination bestehe oder das herausgegriffene Merkmal nicht untrennbar mit diesen Merkmalen verknüpft sei (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern, Kap. II. E. 1.9.1 m.w.N.).
173Die Einspruchsabteilung definiert unter Verweis auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern den anzulegenden Maßstab dahingehend, dass die Extrapolation eines oder mehrerer Merkmale aus den Beispielen auf ein allgemeineres Konzept nicht zu einem zusätzlichen Gegenstand führe, wenn der Fachmann erkennen würde, dass die genannten Merkmale nicht untrennbar mit anderen Merkmalen des Arbeitsbeispiels bzw. der Arbeitsbeispiele verbunden seien und daher eindeutig und unmittelbar auf den allgemeineren Zusammenhang zutreffen (siehe Abschnitt 4.2.2 der EPA-Entscheidung). Dieser Maßstab ergibt sich so auch aus Kapitel II. E. 1.9.1 der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, so dass insofern keine evidente Unrichtigkeit zu erkennen ist.
174Es ist nicht feststellbar, dass die Einspruchsabteilung diese Rechtsprechung hier unrichtig angewandt hätte. Sie verweist darauf, dass die Auswahl zugunsten eines 100%igen Austauschs von Uracil durch N1-Methylpseudouridin ausdrücklich in den Merkmalen Chem 7, Chem 30, Chem 35, Chem 41 und Chem 46 offenbart sei. Es handelt sich dabei um Beispiele aus der Tabelle 3 des Beispiels, das sich auf Seite 64 der Ursprungsoffenbarung findet. Darin heißt es ausdrücklich, dass eine 100%ige Ersetzung (100% replacement) vorgenommen werde.
175Die Einspruchsabteilung hält fest, dass die 100%ige Substitutionsrate nicht die Kombination mit anderen beispielhaften Merkmalen erfordern würde. Dass dieses Merkmal damit auf den zuvor dargestellten allgemeinen Kontext anwendbar sein soll, ist nicht zu beanstanden. Schließlich ist nicht erkennbar, weshalb die 100%ige Substitutionsrate zwingend in Zusammenhang mit weiteren Merkmalen zu sehen sein müsste. Es ist insbesondere nicht nachvollziehbar, aus welchen konkreten Gründen der Fachmann zu dem Schluss kommen sollte, dass zumindest einige der weiteren Merkmale der mRNA (wie z.B. deren Translatierbarkeit, und damit das Vorhandensein eines Poly(A)-Schwanzes und einer „starken“ Kozak-Sequenz, sowie der 5’-UTR Region und einer speziellen alpha-globin 3‘-UTR Region) aus den Beispielen untrennbar mit der spezifischen 100%igen Substitutionsrate verbunden sein müssten, so dass eine Aufnahme des Merkmals „mRNA“ ohne weitere entsprechende Klarstellung ausgeschlossen wäre.
Die Ausführungen der Einspruchsabteilung zum Einwand der unzulässigen Erweiterung stehen nicht in Widerspruch zu dem Ergebnis der Neuheitsprüfung. Richtigerweise müssen im Rahmen beider Prüfungen die gleichen Grundsätze zum Offenbarungsgehalt der jeweiligen Druckschriften angewandt werden (siehe z.B. die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 30.08.2011, G 2/10, Para. 4.6). Hier ist jedoch der Offenbarungsgehalt der Ursprungsoffenbarung nicht identisch mit der der D1 oder der D4.
177Hinsichtlich der Nukleosidmodifikation musste der Fachmann unter Zugrundelegung sowohl der Ursprungsoffenbarung als auch der D1 eine Auswahl zu Gunsten von N1-Methylpseudouridin treffen, die allein aber weder der ausreichenden Offenbarung noch einer neuheitsschädlichen Vorwegnahme entgegensteht.
178Anders als die Ursprungsoffenbarung lässt die D1 (bzw. D4) jedoch in Beispiel 31 offen, ob ein kanonisches Nukleosid durch mehr als ein modifiziertes Nukleosid ausgetauscht werden soll. Außerdem unterscheidet sich die Ursprungsoffenbarung von dem Offenbarungsgehalt der D1 (bzw. D4), sofern die 100%ige Substitutionsrate betroffen ist. Während in der Ursprungsoffenbarung beispielhafte Untersuchungen mit einer 100%igen Substitutionsrate (direkt im Rahmen des Beispiels 1) erläutert werden, ist dies im Rahmen der D1 (bzw. D4) in den Beispielen 2 und 7 geschehen, die zusammen gelesen werden müssen und dem Fachmann insofern einen konkreten Hinweis dahingehend geben, dass auch eine niedrigere als eine 100%ige Substitutionsrate ausreichend für die gewünschte Immunogenität sei; dementsprechend fehlt es dort an der eindeutigen Offenbarung einer vollständigen Substitution.
Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass das Klagepatent in einem Nichtigkeitsverfahren vor dem Bundespatentgericht widerrufen werden wird. Insofern kann die Beantwortung der Frage, ob eine Aussetzung bei einem noch nicht vor dem Bundespatentgericht anhängigen Verfahren nach § 148 ZPO in Betracht kommt, dahinstehen.
180Es ist auch nicht von entscheidender Bedeutung, ob die Rechtsprechung des EPA und die nationale Rechtsprechung darüber geteilter Meinung sind, inwiefern für den Fachmann das offenbart ist, was er als technische Information vor seinem „geistigen Auge“ als gedankliche Individualisierung mitliest (vgl. Engels/Ackermann: Patentrechtliche Wertungsunterschiede: EPA-Praxis und nationale Sicht (Teil I), GRUR 2024, 641, mwN). In dieser Hinsicht mag ein Wertungsunterschied zwischen dem EPA und dem Bundespatentgericht bzw. BGH zuzugestehen sein. Unter Anwendung dieser gedanklichen Individualisierung mag der nationale Ansatz dazu führen, dass der Bezug zur mRNA im Rahmen des Beispiels 31 der D1 mitzulesen ist. Wie bereits oben unter Ziffer 1. c. (aa) (1) ausgeführt, könnte dies sogar nach der Rechtsprechung des EPA angenommen werden. Jedoch verbliebe für den Fachmann auch unter der Annahme, dass er das Beispiel 31 ausschließlich auf mRNA lesen würde, noch mehr als eine Auswahlentscheidung zu treffen. Dass diese (mehreren) Entscheidungen vom Fachmann noch zu treffen waren, ergibt sich als Ergebnis der Auslegung der D1 und hat nichts damit zu tun, welche Informationen der Fachmann mitlesen würde oder nicht.
Das Beispiel 31 überlässt dem Fachmann mehrere Auswahlmöglichkeiten bzw. ist nicht eindeutig.
182Wie oben unter Ziffer 1. b. bereits aufgezeigt, lässt das Beispiel 31 nicht eindeutig erkennen, ob die darin genannten Nukleosid-Modifikationen alternativ oder kumulativ mit den in den Beispielen 2 und 7 genannten Modifikationen durchzuführen sind. Außerdem ist der Verweis in Beispiel 31 auf die Beispiele 2 und 7 als Gesamtverweis auf beide Beispiele zu sehen, so dass der Fachmann noch zwischen verschiedenen Substitutionsraten auszuwählen hatte. Diese Auswahlentscheidungen treten neben die nach Beispiel 31 noch aus 96 Varianten zugunsten von m1ψ zu treffende Entscheidung. Gleiches gilt aus den oben unter Ziffer 1. c. dargestellten Gründen auch für den Offenbarungsgehalt der D1 allgemein.
183Damit fehlt es der D1 an einer hinreichenden Individualisierung des Erfindungsgegenstands, die auch die nationale Rechtsprechung fordert. Gemäß der Olanzapin-Entscheidung ist eine rein hypothetische, denkgesetzlich mögliche Aufstellung von Merkmalen einer allgemeineren Lehre im Stand der Technik nicht neuheitsschädlich, wenn es in der Offenbarung an der erforderlichen konkreten Individualisierung fehlt. Entsprechend hat der BGH auch die Neuheit des Stoffes Olanzapin gegenüber einer Markush-Formel mit zwei Substituenten anerkannt, die bei gedanklicher Aufstellung aller Substituentenkombinationen Olanzapin als eine von zwölf Verbindungen umfasste (vgl. BGH, GRUR 2009, 382, Rn. 32 – Olanzapin). Insofern muss sich ein beanspruchter Stoff entweder als zwangsläufiges Ergebnis eines vorbeschriebenen Verfahrens oder in spezifischer, also individualisierter, Form offenbaren (BGH, a.a.O., RN. 29). Da es hier mehr als einer Auswahl aus einer Liste bedurfte, findet auch die Rechtsprechung zu Routineversuchen bzw. zu einer Einbahnstraßensituation keine Anwendung. Denn eine solche Situation lag auf Grund der mehrfach zu treffenden Auswahlentscheidungen nicht vor.
Auch mit Blick auf das Urteil des Gerichts von Den Haag (Anlage B 47, in deutscher Übersetzung Anlage B 47b) kann nichts anderes gelten. In der Entscheidung wird es als Selbstverständlichkeit angesehen, dass der Fachmann eine 100%ige Substitution vornehmen würde. Entsprechend den unter Ziffer 1. b. dd. dargestellten Gründen kann dies nicht ohne Weiteres angenommen werden; dies gilt insbesondere, wenn – wie in Beispiel 31 suggeriert – die Beispiele 2 und 7 in Zusammenschau gesehen werden.
Der Antrag der Beklagten auf Geheimhaltung der im Rahmen des Auskunfts- und Rechnungslegungsanspruchs zu erteilenden Informationen ist zwar zulässig, aber unbegründet.
186Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat in diesem Zusammenhang zutreffend festgestellt, dass nur solche Informationen unter § 16 Abs. 1 GeschGehG fallen, die in das Verfahren eingeführt worden sind. Informationen zur Auskunft und Rechnungslegung werden jedoch erst infolge einer Verurteilung und somit erst nach Abschluss des Erkenntnisverfahrens übermittelt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04.01 2023, Az. 2 W 28/22, in GRUR 2023, 677, Rz. 8 – Geheimnisschutz II; vgl. auch LG Düsseldorf, Urt. v. 07.02.2024, 4c O 58/22):
187Nach § 145a S. 2 PatG gelten als streitgegenständliche Informationen iSd § 16 I GeschGehG sämtliche von Kläger und Beklagtem in das Verfahren eingeführten Informationen. Aufgrund eines titulierten Anspruchs zu erteilende Auskünfte sind hiervon schon dem Wortlaut nach nicht umfasst. Es handelt sich dabei nicht um von einer Partei im Rahmen des Verfahrens geleisteten Vortrag, sondern um die unmittelbar an den Gläubiger zu erbringende Erfüllung eines tenorierten materiell-rechtlichen Anspruchs. Diese Natur der entsprechenden Informationen bleibt auch dann bestehen, wenn derartige Auskünfte im Rahmen eines Schriftsatzes im Vollstreckungsverfahren erteilt werden.
188Informationen, die die Beklagte im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens gegenüber der Klägerin offenlegt, können demnach nicht Gegenstand einer Geheimnisschutzanordnung sein, insbesondere nicht im vorangehenden Erkenntnisverfahren.
189E.
190Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 100 Abs. 1 und 4 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 S. 1 und 2 ZPO.
191Den Beklagten war keine Abwendungsbefugnis nach § 712 Abs. 1 ZPO einzuräumen, da sie einen durch die Vollstreckung des Urteils drohenden, unersetzlichen Nachteil nicht dargelegt oder – wie von § 714 Abs. 2 ZPO vorgeschrieben – glaubhaft gemacht haben.
192Der Streitwert wird gemäß § 51 Abs. 1 GKG auf 30.000.000,00 Euro festgesetzt, wovon 10.000.000,00 EUR auf die gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Schadensersatzleistung entfallen.
193Dr. Voß Dr. Schröder Klepsch
194Vorsitzender Richter am Richterin am Landgericht Vorsitzende Richterin am
195Landgericht Landgericht