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Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
2Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Leistungsverfügung bis zur Entscheidung in der Hauptsache einstweilen vertragsgemäßen Versicherungsschutz aus einer zu seinen Gunsten geschlossenen D&O-Versicherung in Form der Freistellung von Rechtsverteidigungskosten.
3Der Antragsteller war seit 2002 als Vorstand der J. AG tätig. Am 19.06.2020 trat er mit sofortiger Wirkung als Vorstandsvorsitzender und Mitglied des Vorstands zurück.
4Die J. AG unterhielt seit dem 01.03.2002 und bis zum 01.01.2021 bei dem Versicherer M. European Group SE („M.“) eine Grundversicherung für Organmitglieder und leitende Angestellte mit einer Versicherungssumme von 25 Mio. € in der Versicherungsperiode 2019 und 17 Mio. € in der Versicherungsperiode 2020 (Versicherungssumme 15 Mio. € sowie Zusatzlimits in Höhe von weiteren 2 Mio. €). Es gelten die Versicherungsbedingungen M. OLA 2015.
5Mit Schreiben vom 04.04.2019 informierte die J. AG den Grundversicherer mit einem sog. „circumstance reporting“ (Anlage S&P EV 13 Übersetzung) über potentiell haftungsrelevante Sachverhalte, darunter über eine kritische Berichterstattung der Financial Times über die J. AG sowie über eine gegen die J. AG, den Antragsteller und weitere Beteiligte erhobene Anlegerklage in den USA. Wegen des Inhalts des Schreibens wird auf die genannten Anlage Bezug genommen.
6Tatsächlich warf die Financial Times der J. AG spätestens ab Januar 2019 unter anderem vor, dass etwa die Hälfte des Konzernumsatzes aus dem angeblichen Geschäft mit drei angeblichen Drittpartnern (TPA) („X.“ in Singapur, „R. Solutions“ auf den Philippinen und „C. Solutions“ in Dubai) ausgewiesen worden sei, tatsächlich jedoch vieles dafür spreche, dass dieses Geschäft in Wirklichkeit nicht existiert habe und damit auch der gesamte daraus abgeleitete Umsatz möglicherweise nur fingiert worden sei (Anlage SS 4).
7Mit der im Februar 2019 bei dem U.S. District Court of California zum Aktenzeichen 2:19-cv-00986 erhobenen Klage (F. v. J. AG) machten Anleger Schadenersatzansprüche (auch) gegen den Antragsteller geltend unter anderem wegen der Veröffentlichung falscher Jahresabschlüsse der J. AG sowie wegen weiterer falscher und irreführender öffentlicher Aussagen und Mitteilungen, die den Aktienkurs der J. AG künstlich nach oben getrieben haben sollen (Anlage SS 7).
8Der Grundversicherer stellte mehrere Nachfragen zu dem Schreiben vom 04.04.2019. Unter dem 06.03.2023 (Anlage S&P EV 16) teilte er nunmehr mit, dass das Schreiben die Voraussetzungen einer Umstandsmeldung nicht erfülle.
9Am 11.09.2019 bat die J. AG über den von ihr insoweit bevollmächtigten Makler E. die Antragsgegnerin um Prüfung und Abgabe eines Angebotes für ihre erstmalige Beteiligung an dem D&O Versicherungsprogramm der J. AG für die Versicherungsperiode 2020. Die Antragsgegnerin sollte nach der Anfrage des Maklers der J. AG als erster Exzedentenversicherer mit einer Versicherungssumme von 10 Mio. € im Anschluss an die Grunddeckung der M. in das D&O Versicherungsprogramm der J. AG eintreten. Mit der Anfrage übersendete der Makler das Schreiben der J. AG vom 04.04.2019 („circumstance reporting“).
10Wegen des Emailverkehrs zwischen dem Makler und der M. wird auf die Anlagen AG 6 und AG 9 Bezug genommen.
11Die Parteien einigten sich am 20.11.2019 auf den Vertragsabschluss. Der Versicherungsschein datiert – in zwei Fassungen – vom 19.12.2019 und 27./28.01.2020 (Anlage S&P EV 3). Er sieht eine Versicherungssumme von 10 Mio. € pro Versicherungsfall und eine Höchstersatzleistung für alle Versicherungsfälle einer Versicherungsperiode von ebenfalls 10 Mio. € vor. Die Versicherungsbedingungen der M. (M. OLA 2015, vgl. Anlage S&P EV 2) als Grundversicherungsbedingungen gelten ebenso für das Versicherungsverhältnis mit der Antragsgegnerin im Wege der „Following Form“ (vgl. S. 2 der Versicherungspolice der Antragsgegnerin, Anlage S&P EV 3). Diese werden durch die Regelungen in den Exzedenten-Versicherungsbedingungen der Antragsgegnerin ergänzt. In den Versicherungsbedingungen M. OLA 2015 ist in Ziffer 11.5 Düsseldorf als Gerichtsstand vereinbart.
12Die Bedingungen M. OLA 2015 sehen folgende Regelungen vor:
13„... 2.8 Vorsorgliche Anzeige von Umständen
14Werden während einer Versicherungsperiode oder der ersten zwölf Monate der Nachmeldefrist Umstände entdeckt, die wahrscheinlich zu einem Versicherungsfall führen, können diese dem Versicherer vorsorglich angezeigt werden. Erforderlich ist die Bezeichnung der potentiellen Pflichtverletzung einer bestimmten versicherten Person, des möglichen Schadens und des potentiellen Anspruchstellers bzw. des potentiellen Verfahrens.
15Ein auf diesen Umständen beruhender Versicherungsfall gilt in der Versicherungsperiode, in welcher die Anzeige erstmals erfolgte, sowie bei Anzeigen innerhalb der Nachmeldefrist, als in der letzten Versicherungsperiode eingetreten, wenn der Versicherungsfall spätestens vor Ende der Vertragslaufzeit oder Ablauf der Nachmeldefrist eintritt und gemeldet wird. Gegebenenfalls findet eine abweichende Zuordnung des Versicherungsfalls über die Serienschadenklausel statt. ...
166.2.1 Allgemeine Verteidigungskosten
17Verteidigungskosten sind
18a) die Vergütung des Rechtsanwalts nach Maßgabe einer mit Zustimmung des Versicherers getroffenen Honorarvereinbarung, andernfalls nach Maßgabe des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes oder einer ausländischen Kostenordnung, ...
196.2.2 Vorschriften für alle Verteidigungskosten
20Verteidigungskosten sind in dem Umfang versichert, in welchem diese einer versicherten Person durch die Verteidigung gegen einen Schadenersatzanspruch oder gegen einen Auskunfts- oder Unterlassungsanspruch oder in einem Verfahren selbst entstehen oder ihr gerichtlich, behördlich oder durch Vergleich, dem der Versicherer zugestimmt
21hat, auferlegt werden.
22Sofern die Höhe der Verteidigungskosten nicht gesetzlich oder anders vorgeschrieben ist, sind sie im Umfang der Erforderlichkeit und Angemessenheit versichert....
237.1.3 Leistung von Verteidigungskosten, Rückforderungsverzicht
24Im Zweifel über das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung oder vorsätzlichen Pflichtverletzung wird der Versicherer Verteidigungskosten gewähren. Dies gilt auch, wenn der Anspruch auf Schadenersatz oder das Verfahren auf eine Rechtsnorm gestützt wird, deren Voraussetzungen nur bei Vorsatz erfüllt sein können.
25Steht das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung oder einer vorsätzlichen Pflichtverletzung fest, entfällt der Versicherungsschutz. Als Feststellung gilt eine rechtkräftige gerichtliche Entscheidung oder ein Eingeständnis der versicherten Person, aus der/dem sich die Tatsachen ergeben, welche die wissentliche oder vorsätzliche Pflichtverletzung belegen.
26Der Versicherer verzichtet im Falle der Feststellung einer wissentlichen oder vorsätzlichen Pflichtverletzung gegenüber den versicherten Personen auf eine Rückforderung bereits geleisteter Verteidigungskosten.
277.2 Ausschluss vorherige Kenntnis, bereits angezeigte Pflichtverletzung
28Vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind Versicherungsfälle wegen einer Pflichtverletzung, welche
29a) der vom Versicherungsfall betroffenen versicherten Person zu dem im Versicherungsschein genannten Kontinuitätsdatum als solche bekannt war. In Ermangelung einer Nennung im Versicherungsschein gilt als Kontinuitätsdatum der Beginn der Vertragslauheit dieses Versicherungsvertrags oder
30b) im Rahmen der Meldung eines Versicherungsfalls oder der vorsorglichen Anzeige von Umständen, die zu einem Versicherungsfall führen können, unter einem anderen D&O-Versicherungsvertrag oder unter einer früheren Versicherungsperiode dieses Versicherungsvertrages angezeigt wurde. ...
317.4.3 Ausschluss Securities Acts
32Vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind Versicherungsfälle wegen Pflichtverletzungen bezüglich der Vorschriften des USA Securities Act of 1933 und des USA Securities Exchange Act of 1934 oder ihrer Ergänzungen, Durchführungs- und Verwaltungsvorschriften sowie bezüglich anderen in den USA geltenden Rechts mit entsprechenden Regelungsgegenständen. ...
338.7.1 Einheitlicher Versicherungsfall
34Alle Versicherungsfälle, denen dieselbe Pflichtverletzung zugrunde liegt, gelten unabhängig von der Anzahl der Inanspruchnahmen und Verfahren als derselbe Versicherungsfall.
35Dies gilt auch für Versicherungsfälle, denen mehrere, von einer oder mehreren versicherten Personen begangene Pflichtverletzungen zugrunde liegen, wenn diese für denselben Vermögensschaden ursächlich oder Gegenstand desselben Verfahrens oder sachlich und zeitlich eng miteinander verbundenen sind.
368.7.2 Zuordnung des Versicherungsfalls
37Ein Versicherungsfall gilt als alleine in dem Zeitpunkt eingetreten, in dem
38a) die erste Inanspruchnahme erfolgt, das erste Verfahren eingeleitet wird oder Versicherungsschutz auslösende Ereignisse im Sinne der 1.1.2 e), 4.2, oder 4.13 erstmals eintreten oder
39b) die zum Versicherungsfall führenden Umstände erstmals
40i. unter einem D&O-Versicherungsvertrag angezeigt oder
41ii. Gegenstand eines vor Beginn der Vertragslaufzeit anhängigen Gerichts-, Verwaltungsstreit- oder Strafprozessverfahrens wurden,
42je nachdem, welcher der früheste dieser Zeitpunkte ist....“
43In der Vertragsfassung vom 27./28.01.2020 sind als Anlage folgende Besondere Bedingungen enthalten:
44Besondere Bedingung Nr. 1
45„Mit Wirkung vom 01.01.2020, mittags 12 Uhr Ortszeit am eingetragenen Hauptsitz der Versicherungsnehmerin wird folgendes vereinbart:
46Nicht versichert sind Ansprüche gegen Versicherte wegen oder aufgrund von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Financial Times gemäß Sachverhaltsdarstellung Ziffer 1, gemäß Mail vom 11.09.2019.
47Der sonstige Vertragsinhalt bleibt unberührt und unverändert in Kraft.“
48Besondere Bedingung Nr. 2
49„Mit Wirkung vom 01.01.2020, mittags 12 Uhr Ortszeit am eingetragenen Hauptsitz der Versicherungsnehmerin wird folgendes vereinbart:
50Nicht versichert sind Ansprüche gegen Versicherte wegen oder aufgrund von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Sammelklage in den Vereinigten Staaten von Amerika gemäß Sachverhaltsdarstellung Ziffer 2, gemäß Mail vom 11.09.2019.
51Der sonstige Vertragsinhalt bleibt unberührt und unverändert in Kraft.“
52Besondere Bedingung Nr. 3
53„Mit Wirkung vom 01.01.2020, mittags 12 Uhr Ortszeit am eingetragenen Hauptsitz der Versicherungsnehmerin wird folgendes vereinbart:
54Nicht versichert sind Ansprüche gegen Versicherte wegen oder aufgrund von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem Singapur Verfahren gemäß Sachverhaltsdarstellung Ziffer 3, gemäß Mail vom 11.09.2019.
55Der sonstige Vertragsinhalt bleibt unberührt und unverändert in Kraft.“
56Im Jahr 2020 wurde in Deutschland ein Ermittlungsverfahren gegen ehemalige und noch amtierende Vorstandsmitglieder der J. AG, darunter dem Antragsteller wegen Vergehens nach dem Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) eingeleitet (StA München I 402 Js 149725/20). Den Beschuldigten wurde vorgeworfen, durch ad-hoc Mitteilungen nach § 40 Abs. 1 WpHG vom 12.03.2020 und 22.03.2020 vorsätzlich Informationen verbreitet zu haben, die irreführende bzw. falsche Signale für den Börsenpreis der Aktien der J. AG gegeben haben.
57Zudem erhob die Z. AG gegen die J. AG eine Schadensersatzklage mit Musterverfahrensantrag nach § 2 KapMuG. Mit jener Klage begehrt die Z. AG Schadensersatz wegen der Veröffentlichung unrichtiger Insiderinformationen und wegen unterlassener Veröffentlichungen von Kapitalmarktinformationen im Zusammenhang mit vermeintlichen Bilanzmanipulationen. Die gegen die J. AG erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf eine vermeintlich mangelhafte Corporate Governance, ein angeblich unzureichendes Compliance-System und den Umgang mit Vorwürfen in der Öffentlichkeit zu ihrer Bilanzierung, Vorwürfen zu erfundenen Umsätzen und als fragwürdig bezeichneten Geschäften und Geschäftsbeziehungen. Die Vorwürfe implizieren dabei auch eine Verantwortung der Geschäftsleitung der J. AG. Die Schadensersatzklage mit Musterverfahrensantrag wurde der J. AG am 10.06.2020 zugestellt.
58Mit Schreiben vom 24.06.2020 zeigte die J. AG gegenüber dem Grundversicherer den Eintritt eines Versicherungsfalls durch das strafrechtliche Ermittlungsverfahren an. Zugleich formulierte sie eine Umstandsmeldung nach Ziffer 2.8 M. OLA 2015 im Hinblick auf drohenden Inanspruchnahmen auf Schadensersatz sowie die konkrete Inanspruchnahme durch die Schadensersatzklage mit Musterverfahrensantrag.
59Mit Schreiben vom 09.07.2020 formulierte der Antragsteller eine Schadenmeldung gegenüber der Antragsgegnerin. Darin nahm er Bezug auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, das Schreiben vom 24.06.2020 und das Musterverfahren, in dem eine Klageerweiterung gegen den Antragsteller persönlich drohe (Anlage S&P EV 10).
60Am 22.07.2020 wurde der Antragsteller festgenommen. Für das Strafverfahren sind derzeit über 100 Verhandlungstage bis ins Jahr 2024 hinein angesetzt (4 Kls 402 Js 108194/22 LG München I). Er befindet sich seit 2020 in Untersuchungshaft.
61Der Grundversicherer wurde mit Urteil des LG Frankfurt vom 18.01.2021 (2-08 O 308/20, bestätigt durch Urteil des OLG Frankfurt vom 07.07.2021, 7 U 19/21; beide juris) im Wege der einstweiligen Verfügung verpflichtet, vorläufig Abwehrdeckung zu gewähren.
62Die Antragsgegnerin lehnte die Deckung mit Schreiben vom 13.08.2020 und Email vom 04.11.2022 ab (Anlagen S&P EV 11, 12) und berief sich zur Begründung zunächst darauf, dass die Absicherung des Insolvenzantrags ausgeschlossen sei und später darauf, dass die Versicherungsperiode 2019 einschlägig sei, da bereits 2019 eine Umstandsmeldung abgegeben worden sei. Da der Grundversicherer für die Versicherungsperiode 2019 eine Deckungssumme von EUR 25 Mio. in der Grundversicherung vorhalte, drohe auf absehbare Zeit kein Deckungssummenverbrauch. Zudem sei im Exzedentenvertrag für sämtliche Pflichtverletzungen und Versicherungsfälle, die mit den in der Umstandsmeldung 2019 mitgeteilten Sachverhalten im Zusammenhang stehen, Versicherungsschutz durch die Besonderen Bedingungen ausdrücklich ausgeschlossen worden.
63Die anwaltlichen Vertreter des Grundversicherers teilten mit E-Mail vom 03.03.2023 mit, dass die Grundversicherungssumme in Höhe von 13,5 Mio. € aufgebraucht sei. Mit E-Mail vom 05.06.2023 teilten sie dann mit, dass die Grundversicherungssumme in Höhe von 15 Mio. € vollständig aufgebraucht sei.
64Der Antragsteller ist der Ansicht, die Beklagte sei ihm nach Erschöpfung der vom Erstversicherer versicherten Summe deckungspflichtig. Hierzu trägt er vor:
65Nach den Mitteilungen des Grundversicherers sei die Grundversicherungssumme ausgeschöpft. Den „Zusatzlimits“ von 2 Mio. € stünden derzeit noch nicht erstattete Honorarrechnungen in Höhe von jedenfalls € 2.197.147,40 € gegenüber. Gegen ihn seien eine Vielzahl zivilrechtlicher Gerichtsverfahren anhängig (Anlage S&P EV 1), darunter über 700 Klagen von Anlegern der J. AG, eine zivilrechtliche Inanspruchnahme durch den Insolvenzverwalter der J. AG in dreistelliger Millionenhöhe und das auf ihn persönlich erweiterte Kapitalanlegermusterverfahren. Es sei damit zu rechnen, dass bis Ende dieses Jahres zahlreiche weitere Anlegerklagen gegen ihn erhoben würden, da mit Ablauf des Jahres 2023 die Verjährung der entsprechenden Ansprüche drohe. Er habe mit seinen Verfahrensbevollmächtigten, die ihn in allen Zivilverfahren vertreten, am 07.07.2020 eine Honorarvereinbarung abgeschlossen. Die dortigen Stundensätze (500,00 € für Herrn Dr. CW., 400,00 € für weitere Partner, 250,00 € für Associates und 150,00 € für wissenschaftliche Mitarbeiter) seien marktüblich. Sein Vermögen sei durch Sicherungsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft München sowie zahlreicher Anleger vollständig verarretiert. Zu seiner Rechtsverteidigung sei er auf die Rechtsschutzdeckung angewiesen. Der Streit der beiden Versicherer über die Einordnung der Versicherungsfälle in die jeweilige Versicherungsperiode dürfe nicht zu seinen Lasten gehen.
66Soweit die Antragsgegnerin in dem Schreiben vom 04.04.2019 eine Umstandsmeldung im Sinne der Ziffer 2.8 M. OLA 2015 sehe, sei das Schreiben nicht hinreichend konkretisiert. Die Klageschrift aus den USA sei dem Schreiben vom 04.04.2019 nicht beigefügt gewesen. Zusammenhänge zu deutschen Verfahren seien zum damaligen Zeitpunkt nicht absehbar gewesen und dementsprechend auch nicht Gegenstand des Schreibens. Soweit die Antragsgegnerin sich auf die Besonderen Ausschlüsse Nr. 1 - 3 berufe, bestreite er mit Nichtwissen, dass die Vertragsfassung vom 27./28.01.2020 wirksam zustande gekommen sei. Auch diese Ausschlüsse erfassten zudem nicht die Geschehnisse in Deutschland. Soweit sich die Antragsgegnerin nunmehr auf die Serienschadenklausel berufe, könne die Sammelklage in den USA hierfür keineswegs als Anknüpfungspunkt herangezogen werden, da die Klageschrift aus den USA nicht vorgelegen habe und die darin erhobenen Vorwürfe gemäß Ziffer 7.4.3 M. OLA 2015 vom Versicherungsschutz ausgeschlossen gewesen seien. Versicherungsschutz bestehe auch nicht unter einer Lokalpolice der M., da Versicherungsnehmerin insoweit die J. North America Inc. sei, unter deren Versicherungsschutz die J. AG und ihr Vorstand nicht fielen. Die Sammelklage in den USA beziehe sich auf einen klar abgrenzbaren Sachverhalt. Einige der Inanspruchnahmen in Deutschland wiesen ganz erkennbar keinerlei Bezug zu der in den USA erhobenen Sammelklage auf. So sei beispielsweise Gegenstand der vom Insolvenzverwalter erhobenen Organhaftungsklage lediglich die pflichtwidrige Vergabe von Krediten an OCAP, einem Start-Up Unternehmen in Singapur.
67Nach teilweise Antragsänderung beantragt er:
68Der Antragsgegnerin wird geboten, den Antragsteller ab Ausschöpfung der Grundversicherungssumme bei der M. European Group SE in Höhe von 17 Mio. € bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache in den gegen den Antragsteller anhängigen zivilgerichtlichen Verfahren (gem. Anlage S&P EV 1) vertragsgemäßen Versicherungsschutz zzgl. der bis zum Zeitpunkt der Erschöpfung gestellten und noch nicht erstatteten Honorarrechnungen zu gewähren, d.h. insbesondere, den Antragsteller von den Rechtsverteidigungskosten freizustellen, wobei die Erschöpfung mit Mitteilung des Grundversicherers, dass insgesamt ein Betrag in Höhe von 17 Mio. € gezahlt worden sei, als eingetreten gilt und wobei für die Leistungen der von dem Antragsteller zu seiner zivilrechtlichen Verteidigung beauftragten Rechtsanwälte B. ein Stundensatz i. H. v. € 400,00 für Partner, i. H. v. € 250,00 für angestellte Anwälte und i. H. v. € 150,00 für wissenschaftliche Mitarbeiter, jeweils netto, als angemessen gelten.
69Die Antragsgegnerin beantragt,
70den Antrag zurückzuweisen.
71Sie ist der Ansicht, sie sei nicht eintrittspflichtig. Sowohl das gegen den Antragsteller gerichtete Strafverfahren als auch die zivilrechtliche Inanspruchnahme durch den Insolvenzverwalter der J. AG stünden offensichtlich untrennbar und unmittelbar im Zusammenhang mit den 2019 mitgeteilten Sachverhalten, insbesondere mit der damals bereits existierenden, einschlägigen Berichterstattung der Financial Times sowie mit dem Gegenstand der damals bereits anhängigen US-Anlegerklage. Dies habe zur Folge, dass beide gemeldeten Versicherungsfälle nach Ziffer 2.8 M. OLA 2015 wegen der Umstandsmeldung zwingend und ausschließlich in die Versicherungsperiode 2019 einzuordnen und nach Ziffer 7.2 b) M. OLA 2015 ausgeschlossen seien. Der Grundversicherer habe diese Umstandsmeldung als vertragsgemäß akzeptiert. Das Berufen des Antragstellers auf eine Unwirksamkeit dieser Umstandsmeldung sei überraschend und rechtsmissbräuchlich. Zudem nehme der Antragsteller selbst in einem Zuständigkeitsbestimmungsverfahren vor dem OLG Frankfurt eine Zuordnung von einigen der von ihm in der Anlage S&P1 genannten Inanspruchnahmen in die Versicherungsperiode 2019 vor. Selbst wenn man die Versicherungsfälle erst als im Jahr 2020 eingetreten ansehen wollte, sei eine Eintrittspflicht jedoch ausdrücklich durch die Besonderen Bedingungen zum Vertrag ausgeschlossen. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur engen Auslegung von Risikoausschlussklausel greife nicht, da es sich um individuell vereinbarte Regelungen handele. Eine Deckungspflicht sei auch durch die Serienschadenklausel Ziffern 8.7.1 und 8.7.2 ausgeschlossen. Soweit der Antragsteller sich darauf berufe, dass die Vorwürfe in den USA gemäß Ziffer 7.4.3 M. OLA 2015 vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sei, sei dies unzutreffend, da für die betreffenden Vorwürfe Versicherungsschutz unter einer Lokal-Police der M. besteht, auf die im streitgegenständlichen Versicherungsvertrag auch Bezug genommen werde.
72Sie ist der Ansicht, es liege auch kein Verfügungsgrund vor. Für die Versicherungsperiode 2019 halte der Grundversicherer eine deutlich höhere Versicherungssumme von 25 Mio. € vor. Das Begehren auf vollständige Befriedigung der behaupteten Ansprüche komme nach § 940 ZPO nur ausnahmsweise im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung in Betracht. Der Gläubiger müsse auf die sofortige Erfüllung zur Abwendung einer existentiellen Notlage dringend angewiesen sein und in einem Hauptsacheverfahren mit hoher bis an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit obsiegen. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Das von dem Insolvenzverwalter betriebene Zivilverfahren sei im Wesentlichen ausgeschrieben. Da der Verhandlungstermin am 22.02.2024 bewusst erst nach Abschluss der Beweisaufnahme des Strafverfahrens stattfinden solle, bestehe derzeit keine Veranlassung kurzfristig weitere Kosten zu produzieren. Sie bestreite die übrigen behaupteten Inanspruchnahmen gemäß Anlage S&P1.
73Zudem habe der Abschluss des Versicherungsvertrags auf falschen Finanzkennzahlen beruht. In den Bilanzen ausgewiesenen Aktivposten seien frei erfunden gewesen. Dementsprechend habe das Landgericht München I die Jahresabschlüsse für 2017 und 2018 für nichtig erklärt (5 KH O 15710/20). Bei Kenntnis der wahren finanziellen Situation hätte sie, die Antragsgegnerin, den Versicherungsvertrag nicht abgeschlossen.
74Der Antragsteller hat zunächst bei dem Landgericht Frankfurt am Main den Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen die Antragsgegnerin beantragt. Der Antrag ist mit Beschluss vom 29.03.2023 (2-08 O 88/23) wegen Unzuständigkeit zurückgewiesen worden.
75Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.
76Entscheidungsgründe
77Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet, §§ 935, 940 ZPO.
78Begründet ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, wenn der Verfügungskläger einen Verfügungsanspruch und einen Verfügungsgrund schlüssig behauptet und glaubhaft macht. Ein Verfügungsgrund liegt vor, wenn durch die Änderung eines bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Es kommt darauf an, ob Umstände vorliegen, die nach dem Urteil eines objektiven, vernünftigen Menschen befürchten lassen, dass die Anspruchsverwirklichung durch die Veränderung der gegebenen Umstände vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Glaubhaft gemacht werden Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund nach § 294 ZPO. Der erforderliche Grad an Gewissheit ist bereits erreicht, wenn sich aus dem Vortrag des Antragstellers die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, dass sie zutrifft (BGH IX ZB 37/03, NJW 2003, 3558, beckonline).
79Ein Begehren, das auf Befriedigung der behaupteten Ansprüche abzielt – Leistungsverfügung –, kann ausnahmsweise im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung geltend gemacht werden. Der Gläubiger muss auf die sofortige Erfüllung zur Abwendung einer existentiellen Notlage dringend angewiesen sein und im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit obsiegen. Ihm darf die Erwirkung eines Titels im ordentlichen Verfahren wegen der unvermeidlichen zeitlichen Verzögerung nicht zumutbar sein und ihm müssen aus der Nichtleistung schwerwiegende Nachteile drohen, die nicht außer Verhältnis stehen dürfen zu dem Schaden, den der Schuldner erleiden kann (OLG Frankfurt, 7 W 29/20, juris).
80I.
81Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller in einem Hauptsacheverfahren obsiegen wird, vermag die Kammer nicht festzustellen. Es fehlt an einem Verfügungsanspruch. Es ist ein Versicherungsfall eingetreten, der jedoch durch Ziffer 8.7.2 der Versicherungsperiode 2019 zuzurechnen ist.
821.
83Es liegt ein Versicherungsfall im Sinne der Ziffer 1.1.1 M. OLA 2015 vor. Der Antragsteller wird wegen einer behaupteten Pflichtverletzung in Ausübung einer Tätigkeit als versicherte Person erstmals schriftlich für Vermögensschäden auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Es liegen Inanspruchnahmen des Antragstellers in diversen zivilgerichtlichen Verfahren vor. Der Versicherungsschutz besteht in der Prüfung der Haftpflicht, der Übernahme der Verteidigungskosten gegen unbegründete Schadenersatzansprüche und der Freistellung von begründeten Schadenersatzansprüchen. Nach Ziffer 7.1.3 hat der Versicherer bei Zweifeln über das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung oder vorsätzlichen Pflichtverletzung Verteidigungskosten zu gewähren, wobei als Feststellung einer wissentlichen oder vorsätzlichen Pflichtverletzung nur eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder ein Eingeständnis der versicherten Person gelten.
842.
85Der Versicherungsfall ist nicht nach Ziffern 2.8, 7.2 b) M. OLA 2015 ausgeschlossen.
86a.
87Nach Ziffer 2.8 M. OLA 2015 können Umstände, die während einer Versicherungsperiode oder der ersten zwölf Monate der Nachmeldefrist Umstände entdeckt werden, die wahrscheinlich zu einem Versicherungsfall führen, dem Versicherer vorsorglich angezeigt werden. Ein auf diesen Umständen beruhender Versicherungsfall gilt in der Versicherungsperiode, in welcher die Anzeige erstmals erfolgte, sowie bei Anzeigen innerhalb der Nachmeldefrist, als in der letzten Versicherungsperiode eingetreten, wenn der Versicherungsfall spätestens vor Ende der Vertragslaufzeit oder Ablauf der Nachmeldefrist eintritt und gemeldet wird. Nach Ziffer 7.2 b) M. OLA 2015 sind vom Versicherungsschutz ausgeschlossen Versicherungsfälle wegen einer Pflichtverletzung, welche im Rahmen der Meldung eines Versicherungsfalls oder der vorsorglichen Anzeige von Umständen, die zu einem Versicherungsfall führen können, unter einem anderen D&O-Versicherungsvertrag oder unter einer früheren Versicherungsperiode dieses Versicherungsvertrages angezeigt wurde.
88Umstände in diesem Sinne können neben rechtlichen oder prozessualen Schritten, die gegen den Versicherten oder die versicherte Person eingeleitet wurden, auch bloße Sachverhalte sein, die gerade noch nicht zu der Vornahme von (außer)gerichtlichen Schritten potentieller Geschädigter geführt haben, die aber möglicherweise einen haftungsbegründenden Tatbestand verwirklichen. Dabei dürfen nicht zu hohe Anforderungen an die Umstandsmeldung gestellt werden und keine Meldung von Umständen verlangt werden, die dem Versicherten oder der versicherten Person nicht (verlässlich) zur Verfügung stehen (vgl. Langen, r + s 2006, 177, 181). Auf der anderen Seite ist nach dem Sinn und Zweck der Klausel eine Konkretisierung der möglichen späteren Inanspruchnahme in der Art und Weise erforderlich, dass der Versicherer erkennen kann, mit welchen Schäden möglicherweise noch zu rechnen ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.07.2017, I-4 U 61/17, juris, Rn. 49). Ein Sachverhalt, der zu einer Inanspruchnahme führen kann, muss dementsprechend sowohl die Bezeichnung einer möglichen Pflichtverletzung beinhalten, als auch Ausführungen dazu, wem gegenüber diese Pflicht verletzt worden sein könnte (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.07.2017, I-4 U 61/17, juris, Rn. 50).
89b.
90Nach diesen Maßstäben ist nicht davon auszugehen sein, dass in dem Schreiben der J. AG vom 04.04.2019 an den Grundversicherer eine solche Umstandsmeldung im Hinblick auf die Inanspruchnahmen in Deutschland liegt.
91Zwar ist das Schreiben mit „circumstance reporting“ überschrieben und war von der J. AG offenbar zu dem Zweck aufgesetzt worden, die dort geschilderten Geschehnisse im Hinblick auf etwaige künftige Inanspruchnahmen bei der Versicherung anzumelden. Der Grundversicherer scheint zunächst auch keine Einwände gegen die Umstandsmeldung an sich erhoben zu haben, sondern hat im Gegenteil sogar Nachfragen gestellt, die darauf hindeuten könnten, dass er die Meldung gegen sich gelten lassen wollte (die konkreten Nachfragen sind der Kammer allerdings nicht bekannt). In der Folge hat die J. AG mit Schreiben vom 24.06.2020 den Eintritt des Versicherungsfalls angezeigt und eine weitere Umstandsmeldung getätigt. Der Grundversicherer hat die Schadensfälle sodann unter der Versicherungsperiode 2020 abgerechnet und nicht unter der Versicherungsperiode 2019. Dementsprechend hat der Grundversicherer nunmehr mit Email vom 06.03.2023 Ausführungen dazu gemacht, dass das Schreiben vom 04.04.2019 keine ordnungsgemäße Umstandsmeldung darstelle. Ein solches Verständnis liegt rückwirkend betrachtet ggf. in seinem Interesse, weil für die Versicherungsperiode 2019 eine höhere Deckungssumme vereinbart war.
92Das Schreiben vom 04.04.2019 genügt den Anforderungen an eine Umstandsmeldung – jedenfalls soweit davon auch spätere Inanspruchnahmen in Deutschland betroffen sein sollen – nach Dafürhalten der Kammer nicht. In dem Schreiben teilt die J. AG dem Grundversicherer unter dem Betreff „Sachverhaltsmeldung im Rahmen der D&O-Versicherung“ unter Bezugnahme auf einen Artikel in der Financial Times mit, dass Bedenken hinsichtlich verdächtiger Transaktionen und angeblicher Handlungen eines Mitglieds des Finanzteams von J. in Singapur geäußert worden seien. Eine Zusammenfassung dieser Vorwürfe sei in mehreren Artikeln der Financial Times unter Verwendung streng vertraulicher Dokumente für eine möglicherweise diffamierende Medienberichterstattung verwendet worden, die zu einer Verschlechterung des Aktienkurses der J. AG geführt habe. Ferner wird angezeigt, dass der Kläger Mark F. in den USA eine Sammelklage für Anleger der J. AG, Herrn Y., Herrn S., Herrn JN., Herrn NZ. und Frau WV. initiiert habe, mit der er Schadensersatz wegen behaupteter Verstöße gegen das Bundeswertpapiergesetz geltend mache. Schließlich wurde mitgeteilt, dass die singapurischen Behörden Untersuchungen hinsichtlich der vorgenannten Umstände und Anschuldigungen eingeleitet hätten. Es wird darauf hingewiesen, dass Sachverhalte, die im Zusammenhang mit dieser Meldung stehen, weitere Tochtergesellschaften betreffen können, weshalb die Nennung von Tochtergesellschaften nicht abschließend und auf die genannten Unternehmen beschränkt sein könne.
93Damit werden als Pflichtverletzung der Versicherten im Wesentlichen Compliance-Verstöße in Singapur und Verstöße gegen das Wertpapiergesetz in den USA vermutet. Irgendwelche Anhaltspunkte für drohende Inanspruchnahmen in Deutschland bestanden zunächst nicht und wurden folglich auch nicht benannt. Daraus konnte der Versicherer den drohenden Umfang von Pflichtverletzungen, Schäden und Anspruchstellern nach Dafürhalten der Kammer nicht hinreichend absehen.
94c.
95Eine Rückdatierung des Zeitpunkts des Versicherungsfalls durch dieses Schreiben ist auch aus Rechtsgründen nicht geboten.
96Das Schreiben vom 04.04.2019 ist – naturgemäß – nicht an die Antragsgegnerin gerichtet, sondern an den Grundversicherer, da der Versicherungsvertrag mit der Antragsgegnerin im Jahr 2019 noch gar nicht bestand. Handelte es sich bei dem vorliegenden Vertrag mit der Antragsgegnerin um einen isolierten Vertrag, könnte eine Zurechnung dieses Schreibens keinesfalls erfolgen. Auch unter Berücksichtigung der besonderen Situation einer Exzendentenversicherung ist eine Zurechnung dieses Schreibens nicht veranlasst.
97Vorsorgliche Umstandsmeldungen erweitern das der D&O-Versicherung zugrundeliegende claims-made-Prinzip. Die Aufnahme der Klausel zum Umstandsmeldung in den Modellbedingungen ab dem Jahr 2011 ist eine konkrete Konsequenz aus der ab 2009 geführten Diskussion um die Frage der wirksamen Ausgestaltung des claims-made-Prinzips. Das OLG München (Urteil vom 08.05.2009, 25 U 5136/08, VersR 2009, 1066) hatte ausgeführt, die grundsätzlichen Nachteile des claims-made-Prinzips würden durch die Regelungen über die unbegrenzte Rückwärtsdeckung, die vereinbarte Nachhaftungszeit und die Möglichkeit einer Umstandsmeldung bei Vertragsbeendigung durch Kündigung des Versicherers ausreichend kompensiert (zu allem van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 7. Aufl., D&O-Versicherung Rn. 112 ff). Die Klausel dient mithin dazu, den Versicherungsbereich zu Gunsten des Versicherungsnehmers im Hinblick auf während der Versicherungszeit noch nicht eingetretene Versicherungsfälle zu erweitern. Vorliegend ist eine konkrete Inanspruchnahme des Antragstellers unstreitig mit der Zustellung der Klageerweiterung im Musterverfahren im Jahr 2020 erfolgt. Eine Rückdatierung aufgrund einer vorsorglichen Umstandsmeldung würde allerdings zur einer Einschränkung des claims-made-Prinzips zu Lasten des Versicherungsnehmers führen, die von den Bedingungen nicht gewollt ist.
98Dementsprechend enthält der Exzendentenversicherungsvertrag mit der Antragsgegnerin auch die Klausel „Jeder Versicherungsfall unter der Grundversicherung ist dem Exzedentenversicherer unverzüglich schriftlich anzuzeigen“. Eine Anzeige an den Grundversicherer wird nicht als ausreichend angesehen. Dementsprechend hat die Antragsgegnerin auch die im Schreiben vom 04.04.2019 angezeigten Umstände zum Anlass genommen, auf diesen beruhende Inanspruchnahmen mit den Besonderen Bedingungen 1-3 ausdrücklich vom Versicherungsschutz auszuschließen. Wären auf diesen Umständen beruhende Versicherungsfälle bereits durch die Klausel Ziffer 7.2 b) M. OLA 2015 ausgeschlossen, hätte es der Formulierung eines weiteren Ausschlusses nicht bedurft.
993.
100Der Versicherungsfall ist auch nicht durch die Besonderen Bedingungen ausgeschlossen.
101a.
102Die Besonderen Bedingungen in der Vertragsfassung vom 27./28.01.2020 sehen Ausschlüsse für „Ansprüche gegen Versicherte wegen oder aufgrund von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Financial Times gemäß Sachverhaltsdarstellung Ziffer 1, gemäß Mail vom 11.09.2019“ (Nr. 1), „Ansprüche gegen Versicherte wegen oder aufgrund von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Sammelklage in den Vereinigten Staaten von Amerika gemäß Sachverhaltsdarstellung Ziffer 2, gemäß Mail vom 11.09.2019“ (Nr. 2) und „Ansprüche gegen Versicherte wegen oder aufgrund von Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem Singapur Verfahren gemäß Sachverhaltsdarstellung Ziffer 3, gemäß Mail vom 11.09.2019“ (Nr.3 ) vor.
103Nach dem unbestrittenen Vortrag der Antragsgegnerin waren diese in der Vertragsfassung vom 27./28.01.2020 enthaltenen Besonderen Bedingungen zwischen den Parteien vereinbart. Die steht in Übereinstimmung mit dem vorgelegten Email-Verkehr. Etwas hiervon Abweichendes trägt der Antragsteller substantiiert nicht vor. Da er Rechte aus dem Vertrag herleiten will, obläge es ihm, die konkret geltende Fassung zu benennen und sich bei Zweifeln hierüber entsprechend zu informieren. Der Versicherungsnehmer ist verpflichtet, dem Versicherten Auskunft über das Bestehen des Versicherungsvertrages und dessen Inhalt zu erteilen (Langheid/Rixecker, Versicherungsvertragsgesetz, 7. Aufl. 2022, VVG, § 46 Rn. 4).
104b.
105Es ist aber nicht davon auszugehen, dass diese Ausschlüsse die hier geltend gemachten Haftungsfälle erfassen.
106Bei den Besonderen Bedingungen 1-3 handelt es sich erkennbar nicht um Allgemeine Versicherungsbedingungen, sondern um individualvertragliche Vereinbarungen. Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Auslegung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen und speziell von Risikoausschlussklauseln (etwa BGH NJW 2009, 1147) sind auf sie nicht anwendbar. Viel mehr gelten die allgemeinen Regeln zur Auslegung von Willenserklärungen, §§ 133, 157 BGB, nach denen Wortlaut, Zweck und Interessenlage der Parteien zu berücksichtigen sind.
107Der Wortlaut der Besonderen Bedingungen erfasst zunächst eindeutig die Sachverhalte der Financial Times, der Sammelklage in den USA und die Untersuchungen in Singapur. Die vom Kläger nunmehr geltend gemachten Inanspruchnahmen betreffen über 700 bereits anhängige Zivilklageverfahren in Deutschland, darunter die Klage des Insolvenzverwalters und das Musterverfahren der Z. AG. Von dem kurzen Wortlaut der Besonderen Bedingungen sind diese Verfahren ausdrücklich jedenfalls nicht erfasst, zumal sie zum Zeitpunkt der Vereinbarung der Besonderen Bedingungen noch nicht erhoben worden waren. Die individualvertraglichen Ausschlüsse dürften sich – entgegen der Auffassung des Antragstellers – zwar nicht lediglich in einer Wiederholung des Vorkenntnisausschlusses erschöpfen. Bei der Auslegung von Willenserklärungen ist davon auszugehen, dass vertragliche Festlegungen einen rechtserheblichen Inhalt haben sollen. Deshalb ist einem Verständnis der Vorzug zu geben, bei dem sich die Regelung nicht ganz oder teilweise als sinnlos erweist (BGH, Beschluss vom 12.06.2008, V ZR 222/07, juris Rn. 12). Dies wären sie aber, wenn sie lediglich einen ohnehin bestehenden Vorkenntnisausschluss wiederholten. Zutreffend dürfte vielmehr sein – wie der Antragsteller ebenfalls einwendet –, dass die konkreten weiteren Entwicklungen bei Vertragsschluss Anfang 2020 noch nicht absehbar waren. Insoweit läge es zwar im Interesse der Antragsgegnerin jegliche weitere Entwicklungen der Vorwürfe ebenfalls vollständig vom Versicherungsvertrag auszuschließen. Bei einem solchen Verständnis wäre der künftige Umfang des Versicherungsschutzes aber kaum absehbar und die Abgrenzung von versicherten und nicht versicherten Entwicklungen schwierig. Naheliegend dürfte daher sein, dass (nur) die genannten Komplexe in Singapur und USA, diese dafür aber ggf. vollständig und kenntnisunabhängig ausgeschlossen werden sollten. Aus der Korrespondenz mit dem Makler ergibt sich nichts weiter Erhellendes.
1084.
109Versicherungsschutz ist nach Dafürhalten der Kammer aber durch die Serienschadenklausel, Ziffer 8.7.2 ausgeschlossen.
110a.
111Danach gelten alle Versicherungsfälle, denen dieselbe Pflichtverletzung zugrunde liegt, unabhängig von der Anzahl der Inanspruchnahmen und Verfahren als derselbe Versicherungsfall. Dies gilt auch für Versicherungsfälle, denen mehrere, von einer oder mehreren versicherten Personen begangene Pflichtverletzungen zugrunde liegen, wenn diese für denselben Vermögensschaden ursächlich oder Gegenstand desselben Verfahrens oder sachlich und zeitlich eng miteinander verbunden sind. Der Versicherungsfall gilt als alleine in dem Zeitpunkt eingetreten, in dem die erste Inanspruchnahme erfolgt oder die zum Versicherungsfall führenden Umstände erstmals unter einem D&O-Versicherungsvertrag angezeigt oder Gegenstand eines vor Beginn der Vertragslaufzeit anhängigen Gerichts-, Verwaltungsstreit- oder Strafprozessverfahrens wurden.
112b.
113Hier liegt eine Verklammerung vor, aufgrund derer von einem Eintritt des Versicherungsfalls im Jahr 2019 auszugehen ist.
114aa.
115Versicherungsfall ist nach Ziffer 1.1.1 M. OLA 2015 die erstmalige schriftliche Inanspruchnahme auf Schadenersatz für einen Vermögensschaden. Inanspruchnahmen auf Schadenersatz lagen hier jedenfalls durch die Klage in den USA, die Anlegerklagen in Deutschland, die Musterklage und die Klage des Insolvenzverwalters vor.
116bb.
117Diesen Inanspruchnahmen sollen jeweils Pflichtverletzungen des Antragstellers und weiterer Beteiligter zugrunde gelegen habe. Es bleibt in der Antragsschrift unklar, ob es sich dabei um ein und dieselbe Pflichtverletzung handelt oder verschiedene Pflichtverletzungen, die dann jedoch nach dem Verständnis der Kammer sachlich und zeitlich derart eng miteinander verbunden sind, dass sie auch als im Sinne der Klausel verbunden gelten müssen.
118Die Sammelklage in den USA formuliert als Pflichtverletzung insoweit „violations of the federal securities laws and to pursue remedies under Sections 10(b) and 20(a) of the Securities Exchange Act of 1934 (the “Exchange Act”) and Rule 10b-5 promulgated thereunder“ im Tatzeitraum „April 7, 2016 through February 1, 2019“. In Deutschland lautet der Anklagevorwurf auf gewerbsmäßigen Bandenbetrug, Untreue, Bilanzfälschung und Marktmanipulation im Tatzeitraum seit 2015. In Singapur wurden „potential comliance breaches in the area of accounting“ im Zeitraum 2015 bis 2018 gemeldet. Diese Vorwürfe dürften jedenfalls denselben Gesamtkomplex betreffen.
119Es handelt sich auch nicht um mehrere selbständige und nur von der gleichen Fehlerquelle beeinflusste Handlungen. Anders als in dem der Entscheidung des BGH (Urteil vom 17.09.2003, IV ZR 19/03) zugrundeliegenden Sachverhalt, liegen hier keine einzelnen Vermittlungstätigkeiten des Antragstellers vor, sondern er soll in seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender derart in die Finanzkennzahlen eingegriffen haben, dass viele Personen getäuscht und im Vertrauen auf diese Zahlen geschädigt worden sind.
120Soweit der Antragsteller sich darauf beruft, diese behaupteten Pflichtverletzungen könnten deswegen nicht durch die Serienschadenklausel verklammert sein, da sie in keiner Umstandsmeldung konkret benannt seien, folgt die Kammer dem nicht. Anders als bei den vorstehend unter Ziffer 2. und 3. diskutierten Aspekten (Umstandsmeldung / individualvertragliche Ausschlüsse) erfordert die vorliegende Serienschadenklausel weder eine formelle Konkretisierung der Pflichtverletzung in einer Meldung, noch eine konkrete antizipierte Parteivorstellung bei Vertragsschluss. Ausreichend ist vielmehr ein (auch nach Vertragsabschluss) festzustellender sachlicher und zeitlicher Zusammenhang.
121Soweit sich der Antragsteller darauf beruft, dass jedenfalls einzelne der Inanspruchnahmen in Deutschland keinen Bezug zu der US-Sammelklage aufwiesen, ist es der Kammer nicht möglich, im einstweiligen Verfügungsverfahren die gesamten Abläufe im Geschehen der J. AG aufzuklären, für die auch im Strafverfahren über 100 Verhandlungstage anberaumt sind. Erforderlich ist nach der streitgegenständlichen Serienklausel auch kein „rechtlicher“, sondern ein „sachlicher und zeitlicher“ Zusammenhang, der auch dann bestehen dürfte, wenn die konkrete Inanspruchnahme nicht unter dem exakt identischen rechtlichen Gesichtspunkt erfolgt.
122cc.
123Die Kammer erachtet die Klausel auch nicht als unwirksam. Es ist umstritten, ob und inwieweit Klauseln, die einen „zeitlichen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Zusammenhang“ fordern der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB standhalten (Meinungsstand bei Späte/Schimikowski, Haftpflichtversicherung, 2. Aufl. 2015, AVB-V § 3 Rn. 88). Der BGH hatte zu der Vorgängerregelung (die auf eine gemeinsame Fehlerquelle abstellte), ausgeführt, „der Verzicht auf jede zeitliche und vor allem auch enge sachliche Verknüpfung von gemeinsamer Fehlerquelle, den Verstößen und dem Eintritt der Schäden“ ... sei „der Grund für die unangemessenen Ergebnisse, zu denen diese Klausel führen kann“; die (frühere) Klausel sei daher unwirksam. Dem versucht die neue Klausel Rechnung zu tragen. Vorliegend ist schon gar nicht klar, um wie viele Pflichtverletzungen es sich handelt. Läge nur ein einzige vor, wäre der Klauselteil, der den „sachlichen und zeitlichen Zusammenhang“ benennt, schon gar nicht einschlägig. Aber auch wenn mehrere Pflichtverletzungen vorliegen sollten, dürfte die Klausel wirksam sein. Auch gesetzliche Regelungen (etwa § 12 Abs. 4 VersVermG oder § 51 Abs. 2 BRAO) sehen die Zusammenfassung von Versicherungsfällen vor und verwenden hierzu ebenfalls unbestimmte Rechtsbegriffe. Auch das OLG Düsseldorf scheint in seiner Entscheidung (4 U 61/17 aaO) die dortige Klausel nicht per se als unwirksam angesehen zu haben.
124dd.
125Der Zeitpunkt des Eintritts dieses Serien-Versicherungsfalls richtet sich damit nach dem Zeitpunkt der ersten Inanspruchnahme, der ersten Umstandsanzeige oder dem ersten anhängigen Verfahren.
126(1)
127Wir vorstehend dargelegt, dürfte das Schreiben vom 04.04.2019 als Umstandsanzeige nicht in Betracht kommen.
128(2)
129Abzustellen ist allerdings nach Ziffer 8.7.2 a) 1. Alt. M. OLA 2015 auf die erste Inanspruchnahme. Diese fand in den USA im Jahr 2019 statt (Klageschrift F. vom 08.02.2019).
130(i)
131Dem steht – wie vorstehend bereits dargelegt – nicht entgegen, dass die Klageschrift nach dem Vortrag des Antragstellers dem Versicherer nicht übersandt worden ist. Eine förmliche Umstandsmeldung aller zusammenzufassenden Pflichtverletzungen erfordert die Serienschadenklausel – anders als Ziffer 2.8 M. OLA 2015 – nicht.
132(ii)
133Dem steht auch nicht entgegen, dass nach Ziffer 7.4.3 Versicherungsschutz wegen Pflichtverletzungen bezüglich der Securities Acts in den USA ausgeschlossen ist.
134Soweit der Antragsteller ausführt, die Behandlung als einheitlicher Versicherungsfall sei denklogisch nur möglich, wenn es sich bei der ersten Inanspruchnahme bzw. den zum Versicherungsfall führenden Umständen auch um versicherte Tätigkeiten handele, hat die Antragsgegnerin zum einen eingewandt, dass die Vorwürfe in den USA durchaus unter einer der in den Vertrag mit dem Grundversicherer integrierten Lokalpolicen versichert gewesen seien. Zum anderen steht dem der Wortlaut der konkreten Klausel entgegen. Diese lässt den Versicherungsfall ausdrücklich auch dann als eingetreten gelten, wenn die zum Versicherungsfall führenden Umstände erstmals unter einem D&O-Vertrag angezeigt oder Gegenstand eines vor Beginn der Vertragslaufzeit anhängigen Gerichts-, Verwaltungsstreit- oder Strafprozessverfahrens wurden.
135Die Kammer ist ursprünglich davon ausgegangen, die vorliegende Ziffer 7.4.3 ziele darauf ab, keine Verfahren in den USA betreiben zu müssen, was ggf. eine berechtigte kalkulatorische Erwägung darstellen mag. Soweit der Antragsgegnervertreter im Termin zur mündlichen Verhandlung nunmehr vorgetragen hat, dies sei nicht die tragende Erwägung, vielmehr seien die die nach Ziffer 7.4.3 ausgeschlossenen Pflichtverletzungen schlicht unter einer anderen Lokal-Police vereinbart, würde auch dies einen plausiblen Ausschlussgrund darstellen. Beides führt nach dem Verständnis der Kammer nicht dazu, dass derartige Pflichtverletzungen (in den USA) nicht Anlass oder Ursache für weitere vom streitgegenständlichen Versicherungsschutz erfasste Schäden sein können. Offenbar ist auch die J. AG von diesem Verständnis ausgegangen, da sie selbst auch diese – von der vorliegenden Police nicht erfassten – Umstände in den USA im Schreiben vom 04.04.2019 angezeigt hat. Wären diese nebst aller Folgen ohnehin nicht versichert, ergäbe die Anzeige keinen Sinn.
136(iii)
137Diesem Verständnis steht – anders als bei Ziffer 2.8 M. OLA 2015 – auch nicht entgegen, dass sich hier ein vorvertraglicher Anknüpfungspunkt ergibt. Anders als bei Ziffer 2.8 M. OLA handelt es sich bei der Serienschadenklausel um eine Risikobegrenzungsklausel zugunsten des Versicherers (OLG Düsseldorf, I-4 U 61/17, aaO).
138Soweit in der Literatur teilweise Einschränkungen von Serienschadensklauseln dahingehend vorgenommen werden, dass die Klausel nur für Handlungen innerhalb eines Versicherungsjahres gelten könne (Darstellung bei van Bühren, Handbuch Versicherungsrecht, 7. Aufl., § 25 Rn. 154 unter Hinweis auf Säcker VersR 2005, 10) oder Versicherungsfälle, die vor Wirksamkeit des Versicherungsvertrages eingetreten sind, auszunehmen seien (für ProdHB, Veith/Gräfe/Gebert, Der Versicherungsprozess, 4. Aufl. 2020, § 16 Produkthaftpflicht und Rückrufkostendeckung, Rn. 197), besteht hierzu vorliegend keine Veranlassung.
139Die streitgegenständliche Klausel entspricht vorliegend der besonderen Interessenlage. Sie verklammert nach ihrer Wirkweise nicht (nur) mehrere Fälle innerhalb einer Versicherungsperiode, sondern auch mehrere Versicherungsfälle über verschiedene Versicherungsperioden. Vorliegend ist das auch sinnvoll, da die Versicherungssumme der Antragsgegnerin pro Versicherungsperiode (10 Mio. €) ohnehin ihrer Versicherungssumme pro Versicherungsfall (10 Mio. €) entspricht. Dies war auch bereits in der Grundversicherung der Fall (15 Mio. € pro Fall und 15 Mio. € je Periode für das Jahr 2020). Eine Verklammerung nur über eine Versicherungsperiode liefe ins Leere. Die Klausel benennt vorvertragliche Umstände ausdrücklich und in Ansehung der Tatsache, dass im Vorversicherungszeitraum ebenfalls Versicherungsschutz bestand. Nicht anders ist der Wortlaut „die unter einem D&O-Vertrag angezeigt“ und „...Gegenstand eines vor Beginn der Vertragslaufzeit anhängigen Gerichts-, Verwaltungsstreit- oder Strafprozessverfahrens wurden“ zu verstehen. Es ist gerade nicht erforderlich, dass die Umstände unter dem konkreten D&O-Versicherungsvertrag angezeigt oder erst nachvertraglich eingetreten sein dürfen. Eine Klarstellung wie in den Musterbedingungen („Unabhängig von den einzelnen Versicherungsperioden gelten mehrere während der Wirksamkeit des Versicherungsvertrages geltend gemachte Ansprüche eines oder mehrerer Anspruchsteller ...“) findet sich nicht. Die Klausel unterscheidet sich damit möglicherweise von derjenigen, die der zitierten Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 12.04.2017, 4 U 61/17 zugrunde lag.
1405.
141Inwieweit der Vortrag der Antragsgegnerin zu falschen vorgelegten Finanzkennzahlen erheblich ist, vermag die Kammer mangels näherer Darlegung nicht zu beurteilen.
1426.
143Im Laufe des einstweiligen Verfügungsverfahrens wurden schriftsätzlich wie im Termin zur mündlichen Verhandlung laufend weitere Gesichtspunkte aus dem Gesamtkomplex präsentiert. Diese immer neuen Gesichtspunkte können Gesichtspunkte der Vertragsauslegung sein. Insgesamt vermag die Kammer zum derzeitigen Stand die für den Erlass einer Leistungsverfügung erforderliche „hohe Wahrscheinlichkeit“, dass der Antragsteller in einem Hauptsacheverfahren obsiegen würde, nicht festzustellen.
144II.
145Es bestehen auch Bedenken hinsichtlich eines Verfügungsgrundes.
146Eine Leistungsverfügung (§ 940 ZPO) setzt voraus, dass ein dringendes Bedürfnis für die Eilmaßnahme besteht. Sie ist in den Fällen zulässig, in denen die geschuldete Handlung so kurzfristig zu erbringen ist, dass die Erwirkung eines Titels im ordentlichen Verfahren nicht möglich ist. Zwar hat das OLG Frankfurt (7 W 29/20, Anlage S&P EV 14) im Verfahren gegen den Grundversicherer umfangreiche Ausführungen zur Notlage des Antragstellers gemacht.
147Ein Verfügungsgrund fehlt jedoch, wenn der Antragsteller trotz bestehenden Regelungsbedürfnisses lange zuwartet, bevor er die einstweilige Verfügung beantragt (Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 940 Rn. 4-6).
148Die Antragsgegnerin hat hier Deckungsschutz bereits mit Schreiben vom 13.08.2020 und Email vom 04.11.2022 abgelehnt. Insoweit wäre die Erhebung einer Klage bereits seit geraumer Zeit möglich gewesen. Im Haftpflichtversicherungsrecht sind auch vorweggenommenen Deckungsklagen als zulässig anerkannt (BGH, Urteil vom 15.11.2000, IV ZR 223/99). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Versicherer den Versicherungsschutz eindeutig abgelehnt hat (OLG Naumburg, Urteil vom 25.07.2013, 2 U 23/13, r+s 2013, 431).
149Angesichts der vorstehenden Ausführungen zum Fehlen eines Verfügungsanspruchs bedarf der Aspekt vorliegend keiner Entscheidung.
150III.
151Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 6 ZPO.
152Streitwert: 10.000.000 €
153O. |
Dr. L. |
V. |
VorsRi'inLG O. ist wegen Urlaubsabwesenheit an der Unterschriftsleistung verhindert |