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Der Antrag wird zurückgewiesen.
II.
Die Kosten des Verfahrens werden den Verfügungsklägerinnen auferlegt.
III.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
2Die Verfügungsklägerinnen nehmen die Verfügungsbeklagte wegen Benutzung des Erfindungsgegenstands der europäischen Patentanmeldung EP A (Anlagen FBD 6, 6a; nachfolgend: EP A) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes auf Unterlassung und Rückruf in Anspruch, wobei sie die Ansprüche auf sittenwidriges bzw. unlauteres Verhalten stützen.
3Die Verfügungsklägerin zu 1) ist eingetragene Anmelderin des EP A (Anlage FBD 1). Insbesondere über die Verfügungsklägerin zu 2) vertreiben die Verfügungsklägerinnen das Arzneimittel „B“ mit dem Wirkstoff Fingolimod. Das Medikament dient zur Behandlung von bestimmten Patientengruppen mit schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS). Bis zum Ablauf des 22. März 2022 bestand für das Arzneimittel der Verfügungsklägerin zu 1) „B“ ein regulatorischer Vermarktungsschutz nach Art. 14 Abs. 11 VO (EG) 726/2004, § 24b Abs. 1 S. 2 AMG.
4Die Teilanmeldung EP A betrifft die Verwendung eines S1P-Rezeptormodulators bei der Behandlung oder Prävention der Neoangiogenese im Zusammenhang mit einer demyelinisierenden Erkrankung, z. B. Multipler Sklerose (MS). Sie wurde am 25. Juni 2007 angemeldet und nimmt die Priorität der DE C vom 27. Juni 2006 in Anspruch.
5S1P-Rezeptormodulatoren sind typischerweise Sphingosin-Analoga. Sphingosin-1-Phosphat (S1P) ist ein natürliches Serumlipid. Gegenwärtig sind acht S1P-Rezeptoren bekannt, nämlich S1P1 bis S1P8. S1P-Rezeptormodulatoren sind Verbindungen, die als Agonisten an einem oder mehreren Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptoren, z. B. S1P1 bis S1P8, wirken. Fingolimod ist ein Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator. In der EP A werden neben den verschiedenen Arten von Krankheitsbildern der MS unter anderem Fingolimod-Dosierungen zur Behandlung von Erwachsenen sowie Kindern und Jugendlichen ab einem Alter von zehn Jahren und einem Körpergewicht über 40 kg beschrieben.
6Im Jahre 2015 reichte die Verfügungsklägerin zu 1) die Teilanmeldung EP A mit formellem Anmeldedatum gemäß Art. 76 Abs. 1 EPÜ vom 25. Juni 2007 beim Europäischen Patentamt (EPA) ein. Die Prüfungsabteilung des EPA wies die Erteilung eines Patents basierend auf der EP A am 19. November 2020 zurück. Dagegen legte die Verfügungsklägerin zu 1) am 22. Dezember 2020 Beschwerde ein. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung hob die Beschwerdekammer des EPA am 8. Februar 2022 auf. Sie verwies die Sache an die Prüfungsabteilung zurück, mit der Anordnung, ein Patent auf der Grundlage eines Anspruchs mit folgendem Wortlaut
7„A S1P receptor modulator for use in the treatment of relapsing-remitting multiple sclerosis, at a daily dosage of 0.5 mg p.o., wherein said S1P receptor modulator is 2-amino-2-[2-(4-octylphenyl)ethyl]propane-1,3 diol in free form or in a pharmaceutically acceptable salt form.”
8und einer daran anzupassenden Beschreibung zu erteilen (vgl. Anlagen FBD 8, 8a, 17, 17a).
9In deutscher Übersetzung lautet der zu erteilende Anspruch:
10„S1P-Rezeptormodulator zur Verwendung bei der Behandlung von schubförmig-remittierender Multipler Sklerose in einer Tagesdosis von 0,5 mg p.o., wobei der S1P-Rezeptormodulator 2-Amino-2-[2-(4-octylphenyl)ethyl]propan-1,3-diol in freier Form oder in Form eines pharmazeutisch unbedenklichen Salzes ist.“
11Die Verfügungsklägerin zu 1) ergriff Maßnahmen zur Beschleunigung der administrativen Vorgänge, insbesondere stellte sie einen „PACE“-Antrag zur Verfahrensbeschleunigung (Anlage FBD 10). Die schriftlichen Gründe der Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA vom 8. Februar 2022 liegen mittlerweile vor (vgl. Anlagen FBD 17, 17a) und wurden von den Verfügungsklägerinnen mit ihrer Replik vom 17. Juni 2022 zur Akte gereicht. Die Verfügungsklägerin zu 1) reagierte ferner im Erteilungsverfahren mit der Eingabe vom 20. Juni 2022 (Anlagen AG 43, 43a) auf Einwendungen eines Dritten vom 14. Juni 2022 nach Erlass der Beschwerdeentscheidung und stellte neben dem (Haupt-)Antrag gerichtet auf Mitteilung nach Regel 71 (3) AusführungsO zum EPÜ auf Grundlage der derzeit beim EPA bereits vorgelegten angepassten Beschreibung und des von der Beschwerdekammer zur Erteilung angeordneten Hauptantrags, hilfsweise den gleichen Antrag auf der Grundlage einer angepassten Beschreibung, welche die Einwendung des Dritten berücksichtigt, und schließlich weiter hilfsweise einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach Artikel 116 EPÜ. Die Mitteilung nach Regel 71 Abs. 3 AusführungsO zum EPÜ erging am 18. August 2022 (Anlage FBD 22). Die Verfügungsklägerin zu 1) reichte unter dem 19. August 2022 die in die Amtssprachen übersetzten Patentansprüche ein und entrichtete die Erteilungsgebühr.
12Eine Erteilung des Dosierungspatents basierend auf der EP A ist bislang noch nicht erfolgt.
13Die Verfügungsbeklagte ist eine Generikaherstellerin. Sie erhielt am 21. Dezember 2020 eine arzneimittelrechtliche Marktzulassung für das Generikum „D“ in einer Dosierung von 0,5 mg p.o. (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform). Angesichts der Markzulassung erläuterten die Verfügungsklägerinnen gegenüber der Verfügungsbeklagten bereits im September 2020 ihre Auffassung der Schutzrechtslage und wiesen mit Schreiben vom 11. Februar 2022 (Anlagenkonvolut FBD 14, 14a) auf die Entscheidung der Beschwerdekammer vom 8. Februar 2022 hin. Seit dem 1. April 2022 wird die angegriffene Ausführungsform in der Lauertaxe gelistet, wobei die Vorabinformation zur Listung der Verfügungsklägerin zu 2) erstmalig am 25. März 2022 zur Verfügung stand.
14Ein weiteres Schreiben der Verfügungsklägerinnen vom 22. Februar 2022 beantwortete die Verfügungsbeklagte am 8. März 2022. Die Verfügungsklägerinnen mahnten am 28. März 2022 (Anlage AG 4) die Verfügungsbeklagte ab, worauf die Verfügungsbeklagte mit Schreiben vom 31. März 2022 antwortete. Mit Schreiben vom 7. April 2022 (Anlage AG 6) mahnten die Verfügungsklägerinnen die Verfügungsbeklagte unter Fristsetzung von einer Woche erneut ab.
15Die angegriffene Ausführungsform verwirklicht alle Merkmale des einzigen Patentanspruchs basierend auf der EP A, dessen Erteilung die Beschwerdekammer angeordnet hat.
16Die Verfügungsklägerinnen behaupten, dass die Verfügungsklägerin zu 2) die exklusive Lizenznehmerin in Deutschland für u.a. den deutschen Teil des EP A (Anlagen FBD 2, 2a) sei.
17Die Verfügungsklägerinnen sind ferner der Ansicht, dass aufgrund der formell und materiell rechtskräftigen Weisung des EPA feststehe, dass die EP A alsbald als Dosierungspatent erteilt werde, wobei die Verfügungsklägerin zu 1) keinen Einfluss mehr auf die administrativen Abläufe beim EPA habe. Ein künstliches In-die-Länge-Ziehen des Erteilungsverfahrens habe die Verfügungsklägerin zu 1) nicht praktiziert, vielmehr beruhe die Dauer des Verfahrens auf der überraschenden Zurückweisung des Erteilungsantrags und Verzögerungen durch die anhaltende Pandemielage.
18Sie meinen, die Verfügungsbeklagte verhalte sich durch die Listung der angegriffenen Ausführungsform in der Lauer-Taxe, mit der die Vertriebsaufnahme unmittelbar bevorstehe, sittenwidrig i.S.d. § 826 BGB bzw. unlauter nach § 4 Abs. 4 UWG, so dass ihr ein Verfügungsanspruch in Form der Unterlassung und des Rückrufs zustehe.
19Die Verfügungsbeklagte nutze eine derzeit noch andauernde Notlage der Verfügungsklägerinnen aus, die bestehe, weil nach Ablauf des regulatorischen Vermarktungsschutzes das Dosierungspatent basierend auf der EP A allein aus administrativen Gründen noch nicht formell erteilt worden sei, die außerhalb des Einflussbereichs der Verfügungsklägerinnen stünden. Da bereits zum jetzigen Zeitpunkt feststehe, dass das Dosierungspatent in naher Zukunft in einem fest definierten Umfang erteilt werde, nutze die Verfügungsbeklagte die Schutzlücke bewusst aus, um mit der angegriffenen Ausführungsform in den Arzneimittelmarkt einzutreten, obwohl sie wisse, dass der Vertrieb nicht lange währen könne und sich daher auf ihr Geschäft nur in unbedeutendem Maße auswirke. Angesichts des möglichen Entschädigungsanspruches der Verfügungsklägerinnen sei ihr wirtschaftliches Interesse noch geringer einzuschätzen, da es um diesen gemindert werde. Gleichzeitig sei ihr bewusst, dass ihr Handeln zu einem sofortigen erheblichen Schaden führe, der signifikante nachteilige und nicht wiedergutzumachende wirtschaftliche Folgen für die Verfügungsklägerinnen habe. Dieses Verhalten stelle ein für den Vermögensschaden ursächliches Verhalten dar, dessen Rechtswidrigkeit sich durch die unerlaubte Zwecksetzung ergebe und daher die Voraussetzungen für einen Unterlassungsanspruch nach §§ 826, 1004 BGB verwirkliche. Der Zurechnungszusammenhang werde auch nicht dadurch unterbrochen, dass andere Gefahrenkreise weitere Ursachen setzten, deren Zusammenwirken erst den Schaden herbeiführe. Insoweit nehme sie das Schädigungsrisiko auch billigend in Kauf.
20Ferner seien entsprechende Ansprüche in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs „Zelluloidschicht-Sohle“ aus dem Jahr 1951 (GRUR 1952, 562) sogar dann für möglich gehalten worden, als das Patent sich noch in einem früheren Anmeldestadium befand, ohne dass eine Veröffentlichung erfolgt und eine Erteilung absehbar gewesen sei.
21Darüber hinaus sei in der bewussten Ausnutzung der Schutzlücke auch eine gezielte Behinderung von Mitbewerbern gemäß § 4 Nr. 4 UWG zu sehen. Die Parteien seien Wettbewerberinnen auf dem Markt der Arzneimittelversorgung. Die berechtigten Interessen der Verfügungsbeklagten am Vertrieb seien äußerst gering, weil die angegriffene Ausführungsform angesichts des Dosierungspatents, dessen Erteilung in Kürze bevorstehe, nie einen vollständigen Produktzyklus durchlaufen könne und eine Tätigkeit für wenige Monate am Markt nicht der eigenen wettbewerblichen Entfaltung diene.
22Die Ansprüche würden auch nicht durch die spezialgesetzlichen Regelungen des Patentrechts, namentlich Art. II § 1 IntPatÜG, ausgeschlossen, sondern blieben anwendbar, soweit sie gerade nicht auf die Verletzung eines Schutzrechts bezogen seien. Das Begehren der Verfügungsklägerinnen richte sich nicht auf den Erhalt eines quasi-patentrechtlichen Schutz unter Umgehung des Art. II § 1 Abs. 1 IntPatÜG, sondern auf die Unterlassung sittenwidrigen bzw. unlauteren Verhaltens. Hier handele es sich auch gerade nicht um den Normalfall einer ungeprüft offengelegten Patentanmeldung, welchen der Gesetzgeber bei der Einführung des § 33 PatG im Sinn gehabt habe.
23Auch ein Verfügungsgrund liege vor. Abgesehen von der mangelnden Relevanz des gesicherten Rechtsbestands des zukünftigen Dosierungspatents für die hier geltend gemachten Ansprüche, stehe dieser angesichts der klaren Entscheidung der Beschwerdekammer nicht in Zweifel. Die bisherige Rechtsprechungspraxis der Instanzengerichte bei einstweiligen Verfügungen stehe nach der neuesten Unionsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum einen in Frage. Zum anderen könne von dem Erfordernis einer günstigen Rechtsbestandsentscheidung ohnehin abgesehen werden, weil das EP A sowohl von der Prüfungsabteilung als auch von der Beschwerdekammer eingehend geprüft worden sei, wobei zahlreiche Generikaanbieter an dem Erteilungsverfahren als Dritte beteiligt gewesen seien und Einwendungen erhoben hätten. Da davon auszugehen sei, dass auch die Verfügungsbeklagte an dem Verfahren beteiligt gewesen sei, sei das Erteilungsverfahren letztlich bereits wie ein kontradiktorisches Verfahren geführt worden. Abgesehen davon sei ein Abwarten eines Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren bei Verletzungshandlungen von Generikaunternehmen regelmäßig für den Patentinhaber unzumutbar. Schließlich werde sich das zukünftige Dosierungspatent basierend auf dem EP A auch als rechtsbeständig erweisen.
24Die Verfügungsklägerinnen hätten zügig gehandelt, so dass auch die zeitliche Dringlichkeit gewahrt sei. Nach der Rechtsprechung des BVerfG hätten die Verfügungsklägerinnen den Verfügungsantrag im Hinblick auf das vorprozessuale Erwiderungsschreiben vom 31. März 2022 nicht ergänzen oder anpassen dürfen, sondern hätten auf das Schreiben der Verfügungsbeklagten erwidern und dieser erneut eine Frist zur Stellungnahme setzen müssen. Die erneut gesetzte Frist habe allein der angemessenen Möglichkeit zur Stellungnahme der Verfügungsbeklagten gedient.
25Die Interessenabwägung müsse angesichts der irreparablen, drohenden Schäden aufgrund des Preisverfalls und des Abschlusses von Open-House-Verträge zugunsten der Verfügungsklägerinnen ausfallen, zumal die Verfügungsbeklagte keine eigenen wirtschaftlichen Risiken mangels entfallender Forschungs- und Entwicklungskosten eingegangen sei. Die Verfügungsklägerin zu 2) habe durch den Abschluss von Rabattvereinbarungen einen durch die 4G-Regel hervorgerufenen massiven Umsatzverlust zunächst teilweise abmildern können, wobei der erhöhte Preisdruck seit April 2022 auch zu einer Erhöhung der Rabattforderung geführt habe. Für die Monate April bis Juli 2022 erwarteten die Verfügungsklägerinnen Umsatzeinbußen von ca. EUR 43 Mio., für das laufende Jahr 2022 auf EUR 111 Mio. Schließlich berge die Einleitung eines Stellungnahmeverfahrens zur Bildung einer Festbetragsgruppe betreffend den Wirkstoff Fingolimod durch den Gemeinsamen Bundesausschuss die Gefahr einer für die Verfügungsklägerinnen extrem nachteiligen Festbetragsgruppenbildung, deren Aufhebung kurzfristig kaum möglich sein werde.
26Sofern zurückweisende Entscheidungen anderer Gerichte im In- und Ausland ergangen seien, seien diese nach Auffassung der Verfügungsklägerinnen rechtsfehlerhaft. Im Übrigen hätten auch Gerichte zugunsten der Verfügungsklägerinnen entschieden und den Vertrieb untersagt (Anlagen FBD 19, 19a; FBD 20, 20a).
27Die Verfügungsbeklagte sei auch im Rahmen der Unterlassung gehalten, die bereits an Abnehmer gelieferten Produkte zurückzurufen, da eine bloße Unterlassung weiterer Vertriebshandlungen nicht geeignet sei, den massiven wirtschaftlichen Schaden durch den drohenden Weitervertrieb der angegriffenen Ausführungsform, die sich bereits bei Großhändlern und Apotheke befänden, abzuwenden.
28Die Verfügungsklägerinnen beantragen,
29der Verfügungsbeklagten aufzugeben,
301.
31es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes von bis zu € 250.000,00 – ersatzweise Ordnungshaft – oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an dem gesetzlichen Vertreter zu vollziehen ist, zu unterlassen, das Arzneimittel
32D
33in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten und/oder in den Verkehr zu bringen, insbesondere durch Listung in den in der Bundesrepublik Deutschland verwendeten Arzneimitteldatenbanken für Ärzte und Apotheker, insbesondere der Lauer-Taxe,
34und dabei insbesondere die Listung dieses Arzneimittels in allen Arzneimitteldatenbanken für Ärzte und/oder Apotheker, die in der Bundesrepublik Deutschland Verwendung finden und in denen es enthalten ist, insbesondere der Lauer-Taxe, auf ihre Kosten löschen zu lassen,
352.
36soweit sie unter Ziffer 1. bezeichnete Arzneimittel bereits in Verkehr gebracht hat, diese gegenüber ihren gewerblichen Abnehmern mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie sonstige mit der Rückgabe verbundene Kosten zu übernehmen und den Verfügungsklägerinnen den erfolgten Rückruf in geeigneter Form nachzuweisen,
37hilfsweise ihre gewerblichen Abnehmer dazu aufzufordern, die unter Ziffer 1. bezeichneten Arzneimittel vorläufig nicht weiter zu vertreiben.
38Die Verfügungsbeklagte beantragt,
39den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.
40Da sich dem Antrag keine zeitliche Beschränkung entnehmen lasse, sei dieser zu unbestimmt.
41Die Verfügungsbeklagte erklärt sich mit Nichtwissen zum Umfang der Rechtsstellung der Verfügungsklägerin zu 2).
42Die Verfügungsklägerinnen könnten sich nicht erfolgreich auf einen Verfügungsanspruch berufen.
43Die Benutzung der EP A sei nicht rechtswidrig. Auch nach Erteilung bestünde nicht automatisch ein Vertriebsverbot, sondern dieses müsse erst gerichtlich geltend gemacht und durchgesetzt werden. Sofern ein Entschädigungsanspruch den Interessen der Verfügungsklägerinnen aufgrund der vermeintlich baldigen Erteilung des Dosierungspatents nicht genüge, überzeuge dies gerade nicht, weil der Entschädigungsanspruch den Rechtsbestand des später erteilten Patents voraussetze und rückwirkend mit dessen Widerruf oder Vernichtung entfalle. Zudem habe die Verfügungsklägerin zu 1) das Prüfungsverfahren durch wiederholte Teilanmeldungen und Änderungen selbst künstlich in die Länge gezogen, um ein erteiltes Patent bestenfalls kurz vor Ablauf der Marktexklusivität für B zu erhalten. So habe sie es für die Wettbewerber unmöglich gemacht, ein erteiltes Patent frühzeitig im kontradiktorischen Verfahren anzugreifen, um den eigenen Markteintritt zeitgerecht vorzubereiten und gerichtliche Klarheit zum mangelnden Rechtsbestand der Verfügungspatentanmeldung zu erwirken.
44Eine Erteilung des Dosierungspatents basierend auf der EP A stünde zudem nicht zeitnah bevor. So könne der zu erwartende Erlass der Entscheidung einschließlich Rückverweisung an die erste Instanz nicht zu einer umgehenden Erteilung führen. So habe die Beschwerdekammer gerade keine Zurückweisung vorgenommen mit der Anordnung, ein Patent auf Basis des nach ihrer Meinung gewährbaren Anspruchs sowie der am 7. Januar 2022 eingereichten Beschreibung zu erteilen. Insofern müssten noch Anpassungen der Beschreibung vorgenommen werden. So könne möglicherweise die Würdigung des Standes der Technik in Übereinstimmung mit den geänderten Ansprüchen bislang nicht ausreichend sichergestellt sein. Erst wenn eine entsprechende Anpassung eingereicht sei, erteile die Prüfungsabteilung dem Anmelder die Mitteilung nach Regel 71 (3) AusführungsO zum EPÜ. Ferner sei danach innerhalb einer 4-Monats-Frist die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr zu zahlen sowie Übersetzungen einzureichen, bevor eine Erteilung beschlossen werden könne. Diese Erfordernisse könnten weitere bis zu zwei Monate in Anspruch nehmen.
45Die gesetzgeberische Wertung des insoweit abschließend geregelten Entschädigungsanspruchs werde auch ansonsten akzeptiert, da das Versagen eines bestimmten Leistungsschutzes nicht durch das Wettbewerbsrecht kompensiert werden dürfe. So sei das bloße Nachahmen eines nicht unter Sonderrechtsschutz stehenden Arbeitsergebnisses nicht unlauter. Insofern könne die Nachahmung von Mitbewerbern nicht verboten werden, solange nicht besondere Umstände rechtfertigen würden, sie als unlauter zu werten. Diese Umstände seien für den wettbewerblichen Leistungsschutz abschließend geregelt.
46Es läge ein Verfügungsanspruch gerichtet auf Unterlassung weder nach Wettbewerbsrecht noch nach allgemeinem Zivilrecht vor.
47So fehle es bereits hinsichtlich der Verfügungsklägerin zu 1) an einem Wettbewerbsverhältnis, weil sie selbst nicht keine Vertriebshandlungen vornehme. Eine gezielte Behinderung liege nicht vor. Die wettbewerblichen Entfaltungs- und Handlungsmöglichkeiten der Verfügungsklägerinnen würden durch den Markteintritt der Verfügungsbeklagten weder beeinträchtigt, noch würde der Zweck verfolgt, die Verfügungsklägerinnen zu verdrängen. Die Verfügungsklägerinnen könnten weiter auf dem Markt tätig bleiben und es ginge der Verfügungsbeklagten ausschließlich um die Etablierung der angegriffenen Ausführungsform auf dem Markt, um eine Absatzmöglichkeit mit entsprechenden Umsätzen und Gewinnen zu schaffen.
48Zudem fehle es an einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung. Anders als in dem Rheinmetall-Borsig-Urteil I (BGH, GRUR 1956, 265) verfügten die Verfügungsklägerinnen mit Blick auf die EP A zu keinem Zeitpunkt über einen wirksamen Patentschutz.
49Ein Zusprechen des Unterlassungsanspruchs hätte zur Folge, dass die Verfügungsbeklagte vor einer künftigen Patenterteilung Produkte vom Markt nehmen müsste, gleichzeitig aber das Patent nicht über ein Rechtsbestandsverfahren angreifen könne und schlechter stehe als in der Situation des erteilten Patents. Mangels rechtswidrigen Verhaltens könne auch die Rechtsfolge der Unterlassung nicht ausgesprochen werden.
50Es fehle weiter an einem Verfügungsgrund, weil das Dosierungspatent nach seiner Erteilung mit einem Einspruch angegriffen werden könne, die Bindungswirkung der Entscheidung im Prüfungsbeschwerdeverfahren entfalle und das Einspruchsverfahren insbesondere auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Beteiligten unabhängig sei. Anders als im ex-parte Verfahren könnten die validen Angriffe gegen das zukünftige Patent von den Einsprechenden in einer mündlichen Verhandlung entschiedener präsentiert werden.
51So sei das zukünftige Patent angesichts der Entgegenhaltungen D10 (Pressemitteilung der Verfügungsklägerin zu 1) vom 6. April 2006; Anlagen AG 13, 13a) und einer Präsentation der Verfügungsklägerin vom 16. März 2006 (Anlagen AG 14, 14a) nicht neu.
52Es fehle ausgehend von diesen Entgegenhaltungen jeweils in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen an der nötigen Erfindungshöhe. Ferner habe der Fachmann auch der Veröffentlichung von Kovarik et al. (Anlagen AG 30, 30a) entnehmen können, dass die in Zukunft beanspruchte Dosis vielversprechend gewesen sei. Diese Entgegenhaltung sei nicht Gegenstand des Erteilungsverfahrens gewesen. Schließlich werde der Fachmann ohne erfinderisches Zutun durch die D1 (WO E (Anlage AG 31) und die D17 (Budde et al., American Journal of Transplantation 2003; 3: 846-854; Anlage AG 32) zum zukünftig beanspruchten Gegenstand geführt.
53Ferner sei die Erfindung nicht ausführbar offenbart. So fehle es insbesondere an ausreichenden Belegen für die beanspruchte Wirkung. Schließlich werde das zukünftige Patent aufgrund einer nicht zulässigen Zwischenverallgemeinerung unzulässig erweitert sein.
54Die zeitliche Dringlichkeit sei zudem nicht gewahrt, weil die Verfügungsklägerinnen der Verfügungsbeklagten wiederholt Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hätten, obwohl die Verfügungsbeklagte schon nach der ersten Abmahnung vom 28. März 2022 ihren ablehnenden Standpunkt eindeutig zum Ausdruck gebracht habe.
55Auch die weitere Interessenabwägung falle zu Ungunsten der Verfügungsklägerinnen aus. So sei der Schaden geringer als von den Verfügungsklägerinnen angegeben. Die Kausalität zwischen dem Markteintritt der Verfügungsbeklagten und dem angeblichen Schaden sei zweifelhaft, da die Verfügungsbeklagte unstreitig nicht das einzige Generikaunternehmen auf dem Fingolimod-Markt sei. Zudem sei dieser Markt insgesamt rückläufig. Die Relevanz der 4G-Regel sei vorliegend bei weitem nicht so hoch, da bei der Behandlung von MS-Patienten das Setzen des „aut idem“-Kreuzes durch den Arzt in vielen Fällen erwartet werden könne und die Verfügungsklägerin zu 2) bereits zahlreiche Rabattverträge mit Krankenkassen geschlossen habe. Schließlich würden die 4G-Regel und die Rabattverträge durch die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung ausgehebelt, da die Apotheken bis zum 25. November 2022 alle vorrätigen Fingolimod-Präparate abgeben dürften. Auch habe die Verfügungsklägerin zu 2) die Preise um ca. 6 % angehoben, so dass sie selbst dafür verantwortlich sei, dass ihr Produkt nicht mehr zu den vier preisgünstigsten Präparaten zähle.
56Die Verfügungsklägerinnen hielten es darüber hinaus offenbar nicht für notwendig, gegen alle Generikaunternehmen, die mit Fingolimod-Präparaten auf den Markt eintreten, vorzugehen. Zudem gebe es bereits zahlreiche Entscheidungen von Gerichten im In- und Ausland (u.a. Anlagen AG 9; AG 16, 16a; AG 18, 18a; AG 19; AG 20, 20a, AG 39), die entsprechende einstweilige Verfügungsanträge der Verfügungsklägerinnen gegen Generikaunternehmen zurückgewiesen hätten.
57Schließlich sei eine separate Rückrufverpflichtung nicht auszusprechen und auch der Antrag im Übrigen zu unbestimmt, da es an einer genaueren Angabe hinsichtlich der Arzneimitteldatenbanken fehle.
58Der Streitwert sei angesichts einer vermeintlich kurzen Marktpräsenz der Verfügungsbeklagten zu hoch.
59Das Gericht hat den Parteien und den Verfahrensbevollmächtigten von Amts wegen gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen über den von der Justiz des Landes NRW zur Verfügung gestellten Virtuellen Meetingraum (VMR) vorzunehmen. Davon haben die Verfahrensbeteiligten Gebrauch gemacht.
60Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Schriftsätze der Parteien samt Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25. August 2022 Bezug genommen.
61Entscheidungsgründe
62Der zulässige Antrag ist unbegründet.
63Die Verfügungsklägerinnen haben keinen Verfügungsanspruch gegen die Verfügungsbeklagte glaubhaft gemacht, §§ 935, 940 ZPO i.V.m. § 826 BGB i.V.m. § 1004 BGB, §§ 3, 4 Nr. 4, 8 Abs. 1 UWG; Art. 64 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 3 PatG.
64A.
65Die Verfügungsklägerinnen haben mangels sittenwidrigen Verhaltens bzw. einer gezielten Behinderung keinen Unterlassungsanspruch (Antrag zu Ziffer 1) gegen die Verfügungsbeklagte.
66I.
67Sofern die Aktivlegitimation der Verfügungsklägerinnen seitens der Verfügungsbeklagten bestritten worden ist, erübrigen sich vertiefte Ausführungen hierzu, weil bereits kein Anspruch in der Sache besteht.
68II.
69Klarstellend wird – auch wenn dieses Rechtsverständnis im Ergebnis zwischen den Parteien nicht streitig ist – vorweg geschickt, dass dem Patentinhaber für den Zeitraum zwischen der Offenlegung einer Patentanmeldung und der Patenterteilung nur ein Entschädigungsanspruch nach Art. II § 1 IntPatÜG (europäische Patentanmeldungen) bzw. § 33 PatG (nationale Patentanmeldungen) zur Verfügung steht. Die Patentanmeldung wird daher gerade nicht mit der gleichen Schutzwirkung ausgestattet wie ein erteiltes Patent, insbesondere werden keine Schadensersatz und/oder Unterlassungsansprüche gewährt (vgl. insbesondere BT-Drs V/1631, S. 4). Weitergehende Ansprüche nach Art. 67 Abs. 1 EPÜ sind nach Art. II § 1 Abs. 1 S. 3 IntPatÜG ausgeschlossen. Ferner wird die Benutzung des Gegenstandes einer lediglich offengelegten Patentanmeldung nicht als rechtswidrig angesehen, so dass der Entschädigungsanspruch nur eine angemessenen Ausgleich für die Nutzungsmöglichkeit der fremden Erfindung zum Inhalt hat (vgl. BGH, GRUR 1989, 411 – Offenend-Spinnmaschine). Das bedeutet, dass im Rahmen des Patentrechts als lex specialis für den gewerblichen Rechtsschutz von technischen Erfindungen ein Unterlassungsanspruch gestützt auf die Benutzung einer Patentanmeldung ausgeschlossen ist.
70Der Sonderrechtsschutz im Patentrecht schließt auch weitergehende Ansprüche sowohl aus dem sonstigen gewerblichen Sonderrecht wie dem UWG als auch dem allgemeinen bürgerlichen Recht aus (vgl. Benkard/Grabinski/Zülch, PatG, 11. Aufl., § 139 Rn. 14 mit Hinweis auf den ergänzenden wettbewerblichen Leistungsschutz und § 823 BGB).
71Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist von diesen Grundsätzen nur in extremen Ausnahmefällen abgewichen, in denen lediglich besondere Einzelfallumstände dazu führen können, dass Ansprüche auf Unterlassung nach §§ 8 Abs.1, §§ 3, 4 Nr. 3 UWG wegen einer unlauteren Behinderung (BGH, GRUR 2002, 820 – Bremszangen; BGH, GRUR 2007, 795 – Handtasche) oder Schadensersatzansprüche für die Zeit vor Erteilung des Patents nach § 826 BGB wegen Ausnutzen einer vorübergehenden Notlage des Patentinhabers (BGH, GRUR 1956, 265 – Rheinmetall-Borsig-Urteil I; GRUR 1952, 562 – Zelluloidschicht-Sohle) im Raum stehen.
72Die Verfügungsklägerinnen berufen sich im vorliegenden einstweiligen Verfügungsverfahren ausschließlich auf solche besonderen Einzelfallumstände. Sie sehen diese in dem Umstand begründet, dass die Verfügungsbeklagte die angegriffene Ausführungsform derzeit in dem Wissen anbietet und vertreibt, dass sie nach Erteilung des Patents EP A – die sicher demnächst erfolgt – die Benutzungshandlungen wieder einstellen muss und dieser zwischenzeitliche Vertrieb zu signifikanten und irreparablen wirtschaftlichen Folgen für die Verfügungsklägerinnen führt. Maßgeblich sehen sie den zur Entscheidung gestellten Sachverhalt als vergleichbar mit demjenigen an, welcher der Entscheidung „Rheinmetall-Borsig-Urteil I“ (BGH, GRUR 1956, 265) zugrunde lag. Angesichts der ansatzweise thematischen Übereinstimmung der Sachverhalte bezüglich eines (derzeit) nicht erteilten Patentes wird zuerst ein etwaiger Verfügungsanspruch nach § 826 Abs. 1 BGB i.V.m. § 1004 BGB (unter III.) vor einem solchen nach §§ 8 Abs. 1, 4 Nr. 4 UWG (unter IV.) behandelt, obwohl dogmatisch der Sonderrechtsschutz nach dem UWG Vorrang genießt.
73III.
74Die Verfügungsklägerinnen haben keinen Anspruch nach § 826 BGB i.V.m § 1004 BGB gegen die Verfügungsbeklagte glaubhaft gemacht. Das Anbieten der angegriffenen Ausführungsform in dem Zeitraum, in dem die EP A noch nicht als Patent erteilt ist, stellt kein haftungsbegründendes, sittenwidriges Verhalten der Verfügungsbeklagten dar.
751.
76Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Hier genügt es nicht, dass der Handelnde vertragliche Pflichten oder das Gesetz verletzt oder bei einem anderen einen Vermögensschaden hervorruft. Es muss eine besondere Verwerflichkeit eines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zu Tage tretenden Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (vgl. BGH, NJW 2014, 1380 m.w.N.).
77In der Entscheidung Rheinmetall-Borsig-Urteil I (GRUR 1956, 265) erkannte der Bundesgerichtshof darauf, dass die wissentliche Ausnutzung einer vorübergehenden Notlage eines Patentinhabers, in der er aufgrund von ihm nicht zu vertretender Umstände vorübergehend schutzlos gestellt ist, eine sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB darstellen kann.
78In dem zugrundeliegenden Fall war die dortige Klägerin Inhaberin eines erteilten Patents. Aufgrund nicht zu vertretender Umstände hatte sie die Frist zur Zahlung der Jahresgebühr versäumt, wodurch das Patent vorübergehend erloschen war. Die Klägerin konnte allerdings erfolgreich eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erwirken, so dass das Patent mit Wirkung ex nunc wieder auflebte. In dem drei Monate umfassenden Zeitraum, in dem das Patent als erloschen galt, hatte die dortige Beklagte patentgemäße Vorrichtungen hergestellt, obwohl sie von der dortigen Klägerin informiert worden war, dass eine Wiedereinsetzung beabsichtigt war und das Patent in der Folge wieder aufleben würde. Der BGH hielt hierzu fest, dass in einer solchen Konstellation ein Anspruch aus § 826 BGB in Betracht kommen kann. Der Bundesgerichtshof hatte nicht über einen Unterlassungsanspruch, sondern nur über den Schadensersatzanspruch zu befinden, da das dortige Klagepatent bereits durch Zeitablauf erloschen war.
792.
80Selbst wenn man anerkennt, dass sittenwidriges Verhalten i.S.d. § 826 BGB i.V.m. § 1004 BGB einen Unterlassungsanspruch begründen kann, bewertet die Kammer das Verhalten der Verfügungsbeklagten aus mehreren Gründen nicht als sittenwidrig.
81a)
82Da es sich bei Normen, die an sittenwidriges Verhalten anknüpfen, regelmäßig um Auffangtatbestände handelt, ist der jeweilige gesetzliche Kontext im Blick zu behalten sowie die Anschauung der billig und gerecht Denkenden, die angesichts gesellschaftlichen und soziologischen Wandels ebenfalls Veränderungen unterliegen kann. Viele durch Richterrecht gestaltete Fallkonstellationen zu Auffangtatbeständen haben später in ähnlicher Form Eingang in gesetzliche Regelungen gefunden.
83Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesgerichtshofs in den 50er Jahren sah das Gesetz noch keinen Entschädigungsanspruch für lediglich offengelegte und angemeldete Erfindungen vor und insofern bestand eine Regelungslücke. Es kann nicht beurteilt werden, ob bei Existenz einer solchen Norm das Gericht zwingend auf den § 826 BGB rekurriert hätte, der wie ausgeführt lediglich für den Ersatz des rein wirtschaftlichen Schadens nicht für ein Verbot einer unerlaubten Handlung herangezogen worden ist.
84Die bereits geschilderte aktuelle Gesetzeslage, nach der mit dem Entschädigungsanspruch für technische Erfindungen eine abschließende Regelung vorliegt, lässt schon rein wirtschaftlich betrachtet keine Notlage für die Verfügungsklägerinnen entstehen. Sicherlich erfahren die Verfügungsklägerinnen einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden, dessen Umfang zwischen den Parteien zwar im Einzelnen streitig ist, der aber durch die Preismechanismen am Pharmazeutikamarkt bei Markteintritt der angegriffenen Ausführungsform als Generikum bedingt wird und auch hinreichend von den Verfügungsklägerinnen glaubhaft gemacht worden ist. Eine Notlage, die über einen erheblichen Vermögensschaden hinausgeht, behaupten aber auch die Verfügungsklägerinnen nicht.
85b)
86Ferner unterscheidet sich hiesiger Fall maßgeblich von dem seitens des Bundesgerichtshofs im Jahr 1956 zu beurteilenden Fall dadurch, dass es sich bei der EP A um eine Patentanmeldung handelt und nicht um ein bereits erteiltes, aber vorübergehend erloschenes Patent.
87aa)
88Bei einem erteilten Patent ist der Schutzbereich durch den Hoheitsakt der Erteilung klar umrissen und kann nicht mehr einseitig vom Patentinhaber ohne Weiteres geändert werden. Es besteht also bereits ein Recht zur alleinigen Nutzung der Erfindung mit der Rechtsfolge des Verbietungsrecht für andere (Art. 64 EPÜ i.V.m. §§ 9, 139 Abs. 1 PatG). Im Rheinmetall-Borsig-Urteil I war jedenfalls kein Grund ersichtlich, wieso das vorübergehend erloschene Patent nach Vornahme der versäumten Gebührenzahlung in anderer als der erteilten Form wiederaufleben sollte. Sein Schutzbereich blieb gleich. Damit geht einher, dass dort der Unterlassungsanspruch schon einmal wirksam entstanden war.
89bb)
90Dies ist hier anders. Derzeit bewegt sich die Verfügungsbeklagte in einem schutzfreien Raum, in dem die endgültige Ausgestaltung der EP A noch nicht mit der wie nach Erteilung bestehenden Sicherheit feststeht. Darüber hinaus ist ein Verbietungsrecht noch nicht entstanden. Die mit dem Erteilungsakt einmal erreichte Rechtssicherheit hinsichtlich der geschützten Erfindung können die Verfügungsklägerinnen somit gerade nicht für sich ins Feld führen.
91Richtig ist, dass mit der Entscheidung der Beschwerdekammer des EPA vom 8. Februar 2022 (Anlagen FBD 17, 17a) der Wortlaut des zu erteilenden Anspruchs unwiderruflich feststeht. Das zu erteilende EP A betrifft ausschließlich ein Dosierungspatent. Dabei hat die Beschwerdekammer indes entgegen des Antrags der Verfügungsklägerin zu 1) im Beschwerdeverfahren die Sache mit der Auflage an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen, die Beschreibung an die Ansprüche, über deren Wortlaut rechtskräftig entschieden wurde, anzupassen (vgl. Anlage FBD 17a, S. 28).
92Der Tenor der Entscheidung der Beschwerdekammer betrifft den Fall b) unter Ziffer 9.1. der Richtlinien für die Prüfung im EPA, Ausgabe März 2022, Kapitel E, XII. Die Verfügungsklägerin hatte in der Verhandlung eine angepasste Fassung der Beschreibung zur Akte gereicht, auf welche die Beschwerdekammer aber gerade nicht zurückgegriffen hat. Dieser unter Fall a) der Ziffer 9.1. geschilderte Fall hätte zu einer Zurückverweisung mit der Auflage geführt, auf Grundlage einer vollständigen Fassung, über die von der Beschwerdekammer rechtskräftig entschieden wurde, ein Patent zu erteilen. Dies ist nicht geschehen.
93Für den hier interessierenden Fall b) sieht Ziffer 9.2. der Richtlinien für die Prüfung im EPA, Ausgabe März 2022, Kapitel E, XII vor, dass die Sache bezüglich der Ansprüche abgeschlossen ist, und die Prüfungs- bzw. Einspruchsabteilung die Ansprüche nicht mehr ändern darf und auch dem Anmelder oder Patentinhaber nicht erlauben darf, dies zu tun, selbst wenn neue Tatsachen auftauchen, wobei Berichtigungen (z.B. Schreibfehler) jedoch noch zulässig sein können. Hinsichtlich der Anpassung der Beschreibung an den von der Beschwerdekammer entschiedenen Wortlaut der Ansprüche geben die Richtlinien vor, dass der Anmelder bzw. Patentinhaber möglichst ökonomisch vorgehen soll, so dass komplette Neuschriften in der Regel nicht zu akzeptieren sind. Unter einer ökonomischen Anpassung versteht das EPA eine Beschränkung auf das unbedingt Erforderliche (Beschwerdekammer, T 113/92, v. 17.12.1992).
94Die Konsequenz ist im vorliegenden Fall, dass die Anpassung der Beschreibung Änderungen beinhaltet, selbst wenn diese auf das Notwendige zu beschränken sind. Weiter kann die letztlich durch die Prüfungsabteilung vorgenommene Anpassung der Beschreibung mit einer weiteren Beschwerde angegriffen werden (vgl. Singer/Stauder/Luginbühl/Bühler, EPÜ, 8. Aufl., Art. 111 Rn. 29; m.w.N.). Dass die Verfügungsklägerin zu 1) darauf durch den Beschleunigungsantrag hätte verzichten können, ist weder ersichtlich noch vorgetragen.
95Im Übrigen zeigt der bisherige Verlauf des Prüfungsverfahrens, dass die Verfügungsklägerin zu 1) bereits bereit war, nach einer Einwendung eines Dritten im Juni 2022 hilfsweise die Beschreibung erneut anzupassen und ebenfalls hilfsweise einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu stellen (vgl. Anlagen AG 43, 43a). Die Verfügungsklägerin zu 1) hatte daher die Möglichkeit der Einflussnahme auf den weiteren Verlauf des Erteilungsverfahrens und hat davon auch Gebrauch gemacht. Das bedeutet aber auch, dass nach wie vor der sachliche Schutzbereich des zu erteilenden Patents nicht endgültig feststeht. Dieser wird zwar durch die nunmehr vom EPA festgelegte Anspruchsfassung bestimmt, für deren Auslegung aber auch die Beschreibung heranzuziehen ist (Art. 69 Abs. 1 S. 2 EPÜ). Aktuell besteht eine Diskrepanz zwischen der ursprünglichen Beschreibung der EP A und der noch anzupassenden Beschreibung des Dosierungspatents EP A. Entgegen der Ansicht der Verfügungsklägerinnen steht daher ein fest definierter Umfang des Dosierungspatents gerade nicht fest, da der Inhalt des Auslegungsmaterials noch nicht vollständig festgelegt ist.
96Zudem ergeht eine Entscheidung über die Erteilung des EP A erst dann, wenn nach Mitteilung nach Regel 71 Abs. 3 AusführungsO zum EPÜ alle Gebühren entrichtet, die Übersetzung der Patentansprüche eingereicht ist und Einverständnis mit der für die Erteilung vorgesehenen Fassung seitens der Verfügungsklägerin zu 1) besteht. Die Erteilung des Dosierungspatents EP A ist also von diversen Entscheidungen und Handlungen der Verfügungsklägerin zu 1) abhängig, die sodann noch vorzunehmen sind und deren Unterlassen oder nicht fristgerechte Vornahme sogar dazu führt, dass die EP A als zurückgenommen gilt (Regel 71 Abs. 7). Bevor das Dosierungspatent in seiner erteilten Form und damit mit seinem Schutzbereich feststeht, muss die Verfügungsklägerin zu 1) – anders als im Fall des Bundesgerichtshofes, in dem die nachgeholte Zahlung der Gebühren allein dazu führte, dass das Patent in seiner ursprünglichen Gestalt wieder auflebte – noch weiter tätig werden. Eine Unterlassung, also eine in die Zukunft gerichtete Rechtsfolge, ist überdies mit jenem status quo noch schwerer vereinbar als eine Schadensersatzleistung, die nur die Vergangenheit betrifft.
97Auch wenn die Verfügungsklägerinnen kurz vor hiesiger mündlichen Verhandlung alle Erfordernisse nach Mitteilung gem. Regel 71 Abs. 3 AusführungsO zum EPÜ erfüllt haben, konnten bis dato Umstände eintreten, welche die Verfügungsklägerinnen hätten anders vorgehen lassen können. Dies zeigt schon die oben bereits erwähnte Eingabe der Verfügungsklägerin zu 1), in der sie sich offensichtlich veranlasst sah, diverse Hilfsanträgen zu stellen. Ferner hat die Verfügungsklägerin zu 1) noch am 10. August 2022 die Benennung des Vereinigten Königsreichs als Vertragsstaat zurückgezogen (Anlagen AG 57, 57a). Dies zeigt, dass die Verfügungsklägerinnen sehr wohl Einfluss auf die ausstehende Erteilung nehmen konnten und dies auch in anderer Form getan haben. Schließlich belegt schon die bisherige Zeitspanne des hiesigen Verfügungsverfahrens, dass von einer alsbaldigen Erteilung seit dem Angebot der angegriffenen Ausführungsform im April 2022 nicht gesprochen werden kann.
98Ein Einsatz eines erlaubten Mittels zu unerlaubten Zwecken ist vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich. Die Verfügungsbeklagte benutzt den Gegenstand einer bislang lediglich offengelegten Anmeldung. Dies ist nach dem Patentrecht nicht verboten, sondern lediglich ausgleichspflichtig. Mangels fest definierten Umfangs des Dosierungspatents nutzt die Verfügungsbeklagte keinen vorübergehenden, aber in seinen Konsequenzen sicher eintretenden Zustand in verwerflicher Weise aus, da bislang Inhalt und Reichweite des zur Erteilung anstehenden Dosierungspatents nicht abschließend feststehen.
99c)
100Ferner ist das derzeit rechtmäßige Anbieten und der Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform nicht allein deswegen als ein besonders verwerfliches Verhalten anzusehen, weil es zu irreparablen Umsatzeinbußen bei den Verfügungsklägerinnen führt, jedoch nach Erteilung des Dosierungspatents wahrscheinlich vorübergehend untersagt werden könnte.
101Zu Recht verweist die Verfügungsbeklagte darauf, dass auch nach der Erteilung des Dosierungspatents dessen Rechtsbestand nicht unwiderruflich feststeht, sondern mit den entsprechenden Rechtsbehelfen angegriffen werden kann. Selbst wenn der Verfügungsbeklagten im Wege der einstweiligen Verfügung die genannten Benutzungshandlungen nach der derzeitigen Rechtsprechung des OLG Düsseldorfs wahrscheinlich vorübergehend untersagt würden, könnte die Verfügungsbeklagte über § 926 ZPO ein Hauptsacheverfahren erzwingen und im Rahmen eines Aussetzungsantrags eine erneute Prognoseentscheidung im Hinblick auf den Rechtsbestand des Verletzungsgerichts erreichen. Dass der Ausgang zukünftiger Verfahren über das zukünftige Dosierungspatent aber zum aktuellen Zeitpunkt nicht zu prognostizieren ist, spricht bereits gegen eine unerlaubte Zwecksetzung. Anders als die Verfügungsklägerinnen suggerieren, entsteht mit der Erteilung des Patents keine zwangsläufige Situation, in denen die angegriffene Ausführungsform dauerhaft vom Markt gehalten wird. Das Schicksal des zukünftigen Dosierungspatents ist derzeit schlicht offen. Für die Einordnung des aktuellen Verhaltens der Verfügungsbeklagten als sittenwidrig kann es indes nur auf die derzeitigen tatsächlichen Umstände ankommen. Auch wenn die Patentfähigkeit der EP A durch zwei Instanzen im Erteilungsverfahren geprüft wurde, schließt dies nicht aus, dass zukünftige Parteien in einem Einspruchsverfahren gegen das erteilte Dosierungspatent (neue) valide Argumente gegen den Rechtsbestand vorbringen können. Darüber hinaus zeigen aktuelle Entscheidungen anderer europäischen Gerichte, die kein Trennungsprinzip anwenden – wie z.B. die Entscheidung des Tribunal Judiciaire de Paris vom 3. Juni 2022 (Anlagen AG 40, 40a) – dass die Frage der Patentfähigkeit der EP A durchaus auch verneint werden kann.
102d)
103Auch sonstige besonderen Umstände, die den Gesamtcharakter des Verhaltens der Verfügungsbeklagten als sittenwidrig erscheinen lassen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
104Die vermeintlich besonderen Umstände des Falles liegen hier darin, dass der Schutz des klägerischen Arzneimittels „B“ als Originalpräparat auf zwei verschiedenen Mechanismen beruhte: Erstens auf dem regulatorischen Vermarktungsschutz, der nach der Zulassung des klägerischen Arzneimittels bis zum 22. März 2022 den Markteintritt anderer Wettbewerber verhinderte. Und zweitens auf der EP A, bei der das Erteilungsverfahren zu diesem Zeitpunkt bereits hätte abgeschlossen sein sollen, damit die Verfügungsklägerin zu 1) im direkten zeitlichen Anschluss den Patentschutz für die technische Erfindung erhält. Indem sich das Erteilungsverfahren in die Länge zog, schlug die beabsichtigte, zeitlich durchgehende Absicherung der Monopolstellung des klägerischen Originalprodukts durch ein bestehendes Vertriebsverbot fehl.
105Der Umstand, dass die gesetzlichen Regeln eine zeitliche Schutzlücke für den Markteintritt Dritter zulassen, wenn sich bestimmte formale Abläufe verzögern, ist vom Gesetzgeber zugelassen und grundsätzlich von den Verfügungsklägerinnen so hinzunehmen. Insofern steht es jedem Dritten frei, diese Schutzlücken zu nutzen. Das Risiko, welches hier zum Tragen gekommen ist, liegt bei den Verfügungsklägerinnen, die ihre Patentstrategien entsprechend steuern können. Wie die Verfügungsbeklagte anführt, ist ihr durch diesen Verlauf der Dinge gleichfalls bislang die Möglichkeit genommen worden, bereits gegen ein erteiltes Patent vorgehen zu können.
106Insofern vermag die Kammer auch hierin keine außergewöhnlichen Einzelfallumstände zu erkennen, die eine andere Bewertung in Bezug auf die Sittenwidrigkeit rechtfertigen könnten.
107IV.
108Die Verfügungsklägerinnen haben ebenfalls keinen Anspruch gegen die Verfügungsbeklagte gem. §§ 8 Abs. 1; 3, 4 Nr. 4 UWG.
1091.
110Die Wettbewerbereigenschaft beider Verfügungsklägerinnen kann mangels gezielter Behinderung vorliegend dahinstehen.
1112.
112Eine gezielte Behinderung der Verfügungsklägerinnen durch den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform liegt nicht vor.
113a)
114Unter dem Begriff der Behinderung ist die Beeinträchtigung der wettbewerblichen Entfaltungsmöglichkeiten eines Mitbewerbers zu verstehen (vgl. BGH, GRUR 2001, 1061 – Mitwohnzentrale.de; GRUR 2004, 877 – Werbeblocker I). Zu den Entfaltungsmöglichkeiten eines Mitbewerbers zählen alle Wettbewerbsparameter, insbesondere auch Absatz und Produktion (vgl. Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 40. Auflage 2022, § 4 Rn. 4.6; BGH, GRUR 2004, 877 – Werbeblocker I). Es genügt die Eignung zur Behinderung des Mitbewerbers (vgl. BGH, WRP 2017, 324 – Portierungsauftrag).
115Als „gezielte“ Behinderung ist eine Maßnahme ganz allgemein anzusehen, wenn sie bei objektiver Würdigung aller Umstände in erster Linie nicht auf die Förderung der eigenen wettbewerblichen Entfaltung, sondern auf die Beeinträchtigung der wettbewerblichen Entfaltung eines Mitbewerbers gerichtet ist (BGH, GRUR 2007, 800 – Außendienstmitarbeiter). Zur Behinderung des Wettbewerbs müssen also weitere, die Unlauterkeit begründende Umstände hinzutreten (Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 40. Auflage 2022, § 4 Rn. 4.7). Dabei ist nicht erforderlich, dass der der Handelnde subjektiv den Zweck verfolgt, seinen Mitbewerber vom Markt zu verdrängen oder ihn zu schwächen (vgl. BGH, GRUR 2007, 800 – Außendienstmitarbeiter). Eine gezielte Behinderung kann auch dann vorliegen, wenn die Maßnahme zwar unmittelbar der Förderung des eigenen Absatzes oder Bezugs dient, aber dieses Ziel durch eine unangemessene Beeinträchtigung der wettbewerblichen Entfaltung des Mitbewerbers erreicht werden soll (Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 40. Auflage 2022, § 4 Rn. 4.10). Zur Beurteilung ist eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls erforderlich, bei der die sich gegenüberstehenden Interessen der beteiligten Mitbewerber, Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer sowie der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen sind (vgl. BGH WRP 2015, 714 – Uhrenankauf im Internet; GRUR 2021, 497 – Zweitmarkt für Lebensversicherungen). Bewertungsmaßstab sind die gesetzlichen Wertungen, insbesondere auch der Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit und der Schutz des Interesses der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb (Köhler/Bornkamm/Feddersen, 40. Aufl. 2022, UWG § 4 Rn. 4.11).
116b)
117Gemessen an diesen Grundsätzen und nach Würdigung der Gesamtumstände vermag die Kammer in dem Verhalten der Verfügungsbeklagten keine gezielte Behinderung der wettbewerblichen Entfaltung der Verfügungsklägerinnen zu erkennen.
118Der Umstand alleine, dass die Verfügungsbeklagte vielleicht nicht in den Genuss betriebswirtschaftlicher Skaleneffekte kommt, wenn sie die angegriffene Ausführungsform nach Erteilung des Dosierungspatents gegebenenfalls wieder vorübergehend vom Markt nehmen muss, indiziert keine gezielte Behinderung. Nach den maßgeblichen patentrechtlichen Vorschriften ist der Verfügungsbeklagten der Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform derzeit gestattet und sie macht sich lediglich ausgleichspflichtig. Auch hier gilt aber das zuvor Ausgeführte: Die Verfügungsklägerinnen unterstellen eine längerfristige Einstellung des Vertriebs, so dass keine Gelegenheit für die Verfügungsbeklagte bestehe, ihr Produkt zu etablieren. Dies muss aber aus den bereits genannten Gründen nicht zwangsläufig der Fall sein. So kann ein erfolgreicher Rechtsbestandsangriff dazu führen, dass die Verfügungsbeklagte zukünftig die angegriffene Ausführungsform wieder auf den Markt bringen kann. Dies hätte im Übrigen auch zur Folgen, dass der Entschädigungsanspruch nach Art. II § 1 IntPatÜG wegfallen würde. Theoretisch sind auch andere Fallgestaltungen denkbar, z.B. dass die Verfügungsbeklagte nach Erteilung des Dosierungspatents zukünftig eine Lizenz nimmt. Abgesehen davon können diverse andere Ursachen das Auftreten von Skaleneffekten verhindern, so dass deren Ausbleiben keinen Rückschluss auf eine gezielte Beeinträchtigung der Marktposition der Verfügungsklägerinnen zulässt.
119Weiter ist zu berücksichtigen, dass die freie Preisgestaltung zum Wesen des Wettbewerbs gehört und es nicht ausreichend ist, dass der Hersteller des Originals seine Preise senken muss (vgl. BGH, WRP 2017, 79 – Segmentstruktur). Damit geht einher, dass es sich bei der angegriffenen Ausführungsform um ein Arzneimittel zur Behandlung der schubförmig-remittierenden MS handelt, die anfangs bei 85% der Betroffenen diagnostiziert wird. Das Allgemeininteresse an dem grundsätzlichen Vertrieb und der Ergänzung der Gesundheitsversorgung neben dem Originalpräparat der Verfügungsklägerinnen sowie an einer dadurch einhergehenden Preisregulierung erscheint nicht per se als geringer einzuschätzen zu sein als das Interesse der Verfügungsklägerinnen, das Original weiterhin exklusiv am Markt anzubieten. Die Verfügungsklägerinnen bleiben zudem weiter selbst am Markt tätig und halten ihre wirtschaftlichen Nachteile durch den Abschluss von Rabattverträgen bereits gering. Angesichts der bereits erwähnten Gesetzeslage, nach der mangels erteiltem Schutzrecht der Vertrieb derzeit nicht verboten ist, sieht auch die hiesige Kammer die Risiken des Preisverfalls derzeit als den tatsächlich gegebenen Marktbedingungen inhärent an (vgl. Rechtbank (Landgericht) Den Haag, Urteil vom 22. März 2022, Ziffer 4.12. Anlage AG 16a). Das Argument der Klägerin, der Bundesgerichtshof habe im Rheinmetall-Borsig-Urteil I entschieden, dass es einen parallel zum Patentrecht anwendbaren Schutz aus dem allgemeinen Wettbewerbsrecht gebe, verfängt wegen der umfassend geänderten Gesetzeslage im Bereich des Unlauterkeitsrechts nicht. Der BGH hat damals allgemein auf die Generalklausel in § 1 UWG a.F. Bezug genommen. Diese Regelung ist nicht mehr mit dem aktuell ausdifferenzierten Kanon an unlauteren geschäftlichen Handlungen, welche das UWG regelt, vergleichbar.
120V.
121Auf die diversen Entscheidungen aus dem In- und europäischen Ausland war nicht im Einzelnen vertieft einzugehen. Die Kammer wird durch abweichende Beurteilungen anderer Gerichte nicht gebunden (vgl. BGH, GRUR 2010, 950 – Walzenformgebungsmaschine). Dies gilt hier umso mehr, als dass vorliegend nicht die im Patentrecht klassische Situation zum Tragen kommt, in dem sachverständige Äußerungen zum technischen Sachverhalt im Fokus stehen. Entscheidungserheblich ist die Bewertung des Verhaltens der Verfügungsbeklagten als sittenwidrig bzw. unlauter. Das Interesse einer möglichst einheitlichen Rechtsanwendung, das es im Patentrecht in der Regel geboten erscheinen lässt, sich mit einer abweichenden Entscheidung auseinanderzusetzen (vgl. BGH, GRUR 2010, 950 – Walzenformgebungsmaschine), mag in einem solchen Fall weniger im Vordergrund stehen. Darüber hinaus vermögen aber die Entscheidungen, welche die Verfügungsklägerinnen zu ihren Gunsten anführen, keine anderweitige Beurteilung der Kammer zu rechtfertigen.
122Die Entscheidung des Unternehmensgerichts Brüssel (Anlagen FBD 19, 19a) fußt unter anderem auf einer Rechtsfigur des Anscheinsrechts nach belgischem Recht, die hier nicht von Relevanz ist. Was die Entscheidung des Handelsgerichts Barcelona (Anlagen FBD 20, 20a) angeht, vermag die Kammer in hiesigem Fall nicht festzustellen, dass die Verfügungsbeklagten allein deswegen die angegriffene Ausführungsform anbieten und vertreiben, um den Preis zu torpedieren (Anlage FBD 20 a, S. 14). Dies haben auch die Verfügungsklägerinnen weder behauptet noch glaubhaft gemacht. Anders als bei dem spanischen Urteil geht es vorliegend nicht um ein Marktverhalten, welches darauf abzielt, das Bestehen eines rechtmäßigen Ausschließlichkeitsrechts zu untergraben. Derzeit besteht noch kein rechtmäßiges Ausschließlichkeitsrecht, sondern nur ein Recht auf angemessenen wirtschaftlichen Ausgleich für die Nutzung einer offengelegten Erfindung.
123Da die Verfügungsklägerinnen sich zu Recht darauf berufen, dass die Rechtsbeständigkeit des (später) erteilten Dosierungspatents EP A für die aktuelle Fallgestaltung irrelevant ist, ist der Umstand, dass ein gerichtlicher Sachverständiger des Unternehmensgerichts Mailand diese geprüft und bestätigt haben soll, erst recht unerheblich, zumal hier noch keine gerichtliche Entscheidung ergangen ist.
124VI.
125Den Verfügungsklägerinnen steht gegen die Verfügungsbeklagte zum einen mangels erteilten EP A kein Anspruch auf Rückruf nach Art. 64 Abs.1 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 3 PatG (Antrag zu Ziffer 2) zu und zum anderen nicht, weil es sich um ein Verfahren im Eilrechtsschutz handelt.
126Sofern die Verfügungsklägerinnen sich darauf berufen, Ziffer 2 solle lediglich den Umfang der Unterlassungsverpflichtung aus Ziffer 1 – im Sinne einer Folgenbeseitigung – konkretisieren, gelten die vorherigen Ausführungen zum Unterlassungsanspruch entsprechend.
127B.
128Mangels Verfügungsanspruchs kommt es auf die Frage, ob ein Verfügungsgrund glaubhaft gemacht worden ist, nicht mehr entscheidend an.
129C.
130Die Kostenentscheidung richtet sich nach §§ 91 Abs. 1, 100 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 6 ZPO.
131D.
132Der Streitwert wird auf 3.000.000,00 EUR festgesetzt.