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Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand:
2Die am 28. August 1964 geborene Klägerin nimmt den beklagten Kreis aufgrund eines verspäteten Rettungsdiensteinsatzes auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch.
3Gemäß § 6 RettG NRW sind die Kreise und kreisfreien Städte Träger des Rettungsdienstes und der Rettungswachen. Von der Möglichkeit verbindliche Hilfszeiten im RettG zu verankern, hat der Landesgesetzgeber keinen Gebrauch gemacht. Laut Rettungsdienstbedarfsplanung sind aktuell 8 Minuten für den Rettungswagen und 12 Minuten für das Notarzteinsatzfahrzeug geplant.
4Am 15. September 2014 kurz nach 19 Uhr wählte der Lebensgefährte der Klägerin die Notrufnummer. Er teilte mit, dass die Klägerin unter starken Schmerzen in der Brust leide und dass sie einen Herzinfarkt vermuteten. Der Disponent stellte diverse Nachfragen und teilte zum Abschluss mit, dass er einen Wagen vorbeischicke, es werde einen Moment dauern; er denke, dass es nichts mit dem Herzen zu tun habe; sollte sich etwas verschlimmern, solle der Lebensgefährte wieder anrufen.
5Um 19:48 Uhr rief der Lebensgefährte erneut bei der Leitstelle an und erkundigte sich nach dem Verbleib des Krankenwagens. Der Disponent antwortete, dass dieser nach einem großen Einsatz nunmehr auf dem Weg zur Klägerin sei.
6Wegen der Einzelheiten der Telefonate wird auf die Protokolle (Anlage K1) verwiesen.
7Um 20:03 Uhr traf ein Rettungswagen und um 20:13 Uhr ein Notarzt bei der Klägerin ein. Die Klägerin wurde ins E Klinikum F verbracht. Es wurde ein akuter transmuraler Vorderwandinfarkt diagnostiziert. Bei einer sich an die Akutherzuntersuchung anschließenden MRT-Untersuchung des Herzens zeigte sich eine ausgedehnte Infarktnarbe der Vorderwand mit einer Akinese der Herzspitze. Bei einer reduzierten linksventrikulären Funktion und damit deutlich erhöhtem Risiko für Kammerflimmern wurde die Indikation für einen tragbaren externen Defibrillator gestellt. Nach einer Funktionsanalyse des linken Ventrikels lag die Ejektionsfraktion bei 45% vor. Die Klägerin befand sich vom 15. September 2014 bis 24. September 2014 stationär im Krankenhaus und war bis zum 30. Januar 2015 arbeitsunfähig krankgeschrieben.
8Die Klägerin behauptet, wäre der Rettungsdienst innerhalb der üblichen Rettungszeiten eingetroffen, so hätten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die dauerhaften Folgen des Herzinfarktes vermieden werden können. Es sei davon auszugehen, dass eine angemessene Hilfszeit von 10-12 Minuten nicht überschritten werden dürfe. Die Wartezeit im Zustand der Hilfslosigkeit habe sie, die Klägerin, traumatisiert. Sie sei in ihrer Lebensführung erheblich beeinträchtigt. Sie könne in ihrem Beruf als Mitarbeiterin eines Biogroßmarktes keine Überkopfarbeiten und kein schweres Heben mehr ausüben. Zudem sei sie dem Arbeitspensum nicht mehr gewachsen und fürchte um ihre Anstellung. Sie sei in der Haushaltsführung auf Hilfe durch ihren Sohn angewiesen. Sie könne zuvor regelmäßig ausgeübte Sportarten nur noch eingeschränkt ausüben. Sie fühle sich in ihrem Intimleben durch die medikamentösbedingten Hämatome am Körper eingeschränkt. Sie erleide regelmäßig traumatische Angstzustände in Bezug auf mögliches plötzliches Herzversagen, zudem trete regelmäßig temporäres Herzrasen auf. Sie leide unter Albträumen, Übelkeit, Schwindel, Nasenbluten, Müdigkeit und Konzentrationsschwäche.
9Sie habe einen Verdienstausfall in Höhe von 509,01 € erlitten. Ferner habe sie 100,00 € (10 Tage x 10,00 €) Zuzahlungen für das Krankenhaus erbracht. Für die Kopie von Behandlungsunterlagen habe sie 38,08 € aufgewandt. Für Arzneimittel habe sie bislang 300,78 € Zuzahlungen geleistet. Ihr seien 65,55 € Fahrtkosten entstanden.
10Sie ist der Ansicht, ihr stehe ein Schmerzensgeld von mindestens 50.000,00 € zu. Daneben sei ihr ein Haushaltsführungsschaden für die Dauer der Krankschreibung von 24,5h wöchentlich und danach von 10h wöchentlich, bei einem Stundensatz von 9,00 € mithin bis zum 30. November 2016 in Höhe von 9.270,00 € zu erstatten.
11Die Klägerin beantragt, (1) den beklagten Kreis zu verurteilen, an sie ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, welches 50.000,00 € nicht unterschreiten sollte nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 16. September 2014 und
12(2) an sie 10.283,42 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen sowie
13(3) festzustellen, dass der beklagte Kreis verpflichtet ist, auch zukünftige materielle und immaterielle Schäden der Klägerin aus dem verspäteten Rettungsdiensteinsatz vom 15. September 2014 zu erstatten, soweit diese Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind oder übergehen und
14(4) den beklagten Kreis zu verurteilen, sie von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.450,80 € freizustellen.
15Der beklagte Kreis beantragt, die Klage abzuweisen.
16Er behauptet, an diesem Tag habe der in Hilden stationierte Rettungswagen zum Zeitpunkt beider Anrufe wegen eines parallelen Großeinsatzes nicht zur Verfügung gestanden. Die Abfrage des Disponenten habe keine eindeutigen Symptome für einen Herzinfarkt ergeben. Dessen Entscheidung, zunächst den Abschluss des Großeinsatzes abzuwarten, sei daher vertretbar, so die Ansicht des beklagten Kreises.
17Es könne zu den kein abgrenzbarer Schaden aufgrund des durchgeführten Transportes festgestellt werden. Die Klägerin sei noch innerhalb von 120 Minuten nach mitgeteiltem Symptombeginn im Krankenhaus angekommen und sodann innerhalb weiterer 60 Minuten untersucht worden. Dies genüge wissenschaftlichen Empfehlungen. Der beklagte Kreis bestreitet die geltend gemachten Schadenspositionen mangels Vorlage von Belegen.
18Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf das Sachverständigengutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G vom 23. Oktober 2018 (Bl. 140 ff GA), das Ergänzungsgutachten vom 28. Juni 2019 (Bl. 217 ff GA) und die persönliche Anhörung des Sachverständigen im Protokoll der mündlichen Verhandlung am 11. März 2020 (Bl. 268 ff GA).
19Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.
20Entscheidungsgründe
21Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
22Der Klägerin steht gegen den beklagten Kreis kein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen des verzögerten Rettungsdiensteinsatzes zu, §§ 839 Abs. 1m 248m 253 AbS. 2 BGB iVm Art. 34 GG.
23Zwar war die verzögerte Entsendung des Rettungswagens amtspflichtwidrig. Nach den insoweit einschlägigen Arzthaftungsgrundsätzen oblag der Nachweis eines fehlenden kausalen Schadenseintrittes dem beklagten Kreis. Dieser Nachweis ist dem beklagten Kreis gelungen. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme ist festzustellen, dass auch ein früheres Eintreffen des Rettungswagens und des Notarztes bei der Klägerin nicht zu einem anderen, für die Klägerin günstigeren Behandlungsverlauf geführt hätte.
241.
25Es lag eine schulhafte Amtspflichtverletzung vor.
26Gemäß § 6 RettG NRW sind die Kreise und kreisfreien Städte Träger des Rettungsdienstes und der Rettungswachen. Die Wahrnehmung der rettungsdienstlichen Aufgaben ist der hoheitlichen Betätigung zuzurechnen. Fehler – auch ärztliche Fehler – im Rahmen rettungsdienstlichen Aufgaben sind nach Amtshaftungsgrundsätzen zu beurteilen (BGH III ZR 317/01).
27Nach § 2 RettG NRW umfasst der Rettungsdienst die Notfallrettung, den Krankentransport und die Versorgung einer größeren Anzahl Verletzter oder Kranker bei außergewöhnlichen Schadensereignissen. Die Notfallrettung hat nach § 2 Abs. 2 RettG NRW die Aufgabe, bei Notfallpatientinnen und Notfallpatienten lebensrettende Maßnahmen am Notfallort durchzuführen, deren Transportfähigkeit herzustellen und sie unter Aufrechterhaltung der Transportfähigkeit und Vermeidung weiterer Schäden mit Notarzt- oder Rettungswagen oder Luftfahrzeugen in ein für die weitere Versorgung geeignetes Krankenhaus zu befördern.
28Das Kammergericht Berlin (20 U 122/15) hat in einem Beschluss vom 19.05.2016 ausgeführt: Eine ärztliche Versorgung im eigentlichen Sinne bzw. eine abschließende Diagnoseerstellung falle grundsätzlich nicht in den Aufgabenbereich des Rettungsdienstes. Maßgeblich für die Frage der schuldhaften Verletzung einer bestehenden Amtspflicht im Bereich des Rettungsdienstes sei zwar die Bewertung ex ante. Wenn der Patient aber, wie im dortigen Fall, von Schmerzen im Brustbereich, einem Engegefühl und von Atemnot berichtet habe, sei es unverständlich von einer umgehenden ärztlichen Klärung durch Verständigung des Notarztes abzusehen. Die grundsätzliche Problematik des vorliegenden Falles bestehe darin, eine Abgrenzung vorzunehmen, inwieweit Rettungssanitäter/-assistenten überhaupt berechtigt seien, den Zustand eines um Hilfe Ersuchenden selbst zu beurteilen und zu entscheiden, ob es sich um einen Notfallpatienten handele oder nicht. Dabei verschließe sich der Senat nicht den sich in der Praxis ergebenden Erfordernissen eines effizienten und ressourcenschonenden Einsatzes von qualifizierten Fachkräften auch und insbesondere im Bereich des medizinischen Rettungsdienstes. Aus diesem Grund gehe der Senat auch nicht so weit, einem Rettungssanitäter oder -assistenten generell die Befugnis hierzu abzusprechen. Dies dürfe aber nicht den Blick darauf versperren, dass die primäre Aufgabe der Notfallrettung in der Erstversorgung – und zwar nur soweit ein Notarzt noch nicht anwesend sei – und in der Beförderung bestehe. Einem Rettungssanitäter/-assistenen komme daher insbesondere nicht die Stellung eines Notarztes zu; vielmehr sei er lediglich dessen Helfer. Dies vorausgeschickt habe der Senat festzustellen, dass es im Falle der geschilderten Brustschmerzen eine Frage der medizinischen Bewertung (Diagnose) darstelle, welchen Ursprungs diese seien. Vergegenwärtige man sich außerdem, welche gravierenden Folgen ein Herzinfarkt nach sich ziehen könne, und dass in einem solchen Fall oft wenige Minuten darüber entschieden, ob diese eingegrenzt werden könnten, sei es dem Senat schlichtweg unverständlich, dass der Beklagte meine, die betroffenen Rettungsassistenten hätten diese Bewertung abschließend eigenverantwortlich vornehmen dürfen, zumal eine ausreichende Abklärung in der Regel nur durch ein Elektrokardiogramm, durch Messung sog. Biomarker “Herzenzyme” und/oder durch bildgebende Verfahren erfolgen könne. Selbst wenn der Kläger daher nicht über akute Atemnot oder das Gefühl eines breiten Gürtels berichtet hätte, sei es bei über akute Brustschmerzen klagenden Patienten, sofern diese nicht offensichtlich eine andere Ursache haben, unumgänglich, eine notärztliche Abklärung herbeizuführen. Auch nach dem Indikationskatalog der Bundesärztekammer für den Notarzteinsatz unter Bezug auf den Patientenzustand indizierten “akute Brustschmerzen” den Einsatz eines Notarztes.
29Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer an. Auch vorliegend wurde von Schmerzen in der Brust und einem Zusammenhang mit der Atmung berichtet. Der Lebensgefährte der Klägerin hatte bereits laienhaft selbst einen Verdacht auf das Vorliegen eines Herzinfarkts geäußert. Der Disponent hatte die Notwendigkeit eines EKG erkannt. Bei diesen Umständen war vom Vorliegen eines Notfalles auszugehen. Der Kreis hat nicht konkret dazu vorgetragen, ob infolge des ersten Anrufs überhaupt ein Rettungswagen und Notarzt verständigt worden sind, aus welchem Grund oder für welche Dauer dieser verhindert waren und ob die Verständigung des Notdienstes einer anderen Stadt versucht worden ist und zu einem schnelleren Einsatz geführt hätte. Aus diesem Grund ist von einer schuldhaften Amtspflichtverletzung auszugehen. Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Notarzt nach dem Notruf um 19:15 Uhr bereits um 19:27 Uhr und damit 46 Minuten früher als bei tatsächlich um 20:13 Uhr hätte eintreffen können.
302.
31Die Beweislast für einen fehlenden auf der Amtspflichtverletzung kausal beruhenden Schadenseintritt lag beim beklagten Kreis.
32Zur Kausalität hat das KG Berlin (aaO) ausgeführt: Dem Kläger komme an dieser Stelle eine Beweiserleichterung zu Gute, so dass es Sache des Beklagten sei, darzulegen und zu beweisen, dass die behaupteten Folgen nicht kausal auf die verzögerte Behandlung zurückzuführen seien. Im Bereich der ärztlichen Behandlung sei anerkannt und nunmehr auch in § 630h Abs. 5 BGB gesetzlich geregelt, dass zugunsten des Patienten hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität Beweiserleichterungen bis hin zur Kausalitätsvermutung eingriffen, wenn ein grober Behandlungsfehler vorliege. Diese Grundsätze seien zwar auf Fälle, in denen es um das Handeln von Rettungssanitäter geht, grundsätzlich nicht anwendbar. Dabei seien aber dogmatisch zwei Fragestellungen zu unterscheiden: Zum einen stelle sich die Frage, ob die im Rahmen der Arzthaftung entwickelten Grundsätze generell auf die Fälle der Amtshaftung übertragen werden könnten. Dies sei zu bejahen, weil es für die tragenden Überlegungen der Beweiserleichterung aus Sicht des Patienten nicht darauf ankommen könne, ob der handelnde Arzt auf der Grundlage hoheitlichen Handelns oder auf der Grundlage eines Behandlungsvertrages tätig werde. Zum anderen stelle sich dann die Frage, ob die Grundsätze nur im Fall des Tätigwerdens eines Notarztes oder aber auch auf das Handeln von Rettungssanitätern/-assistenten anwendbar seien. Auch dies sei zumindest vorliegend zu bejahen. Denn allein der Umstand, dass es sich nicht um Ärzte im eigentlichen Sinne handele, könne der Annahme der Beweislastumkehr nicht entgegenstehen. Vielmehr würden nach der Rechtsprechung auch Maßnahmen oder Unterlassungen von nichtärztlichem Personal mit der Folge einer Beweislastumkehr als grobe Behandlungsfehler aufgefasst. Entscheidend sei, dass es sich um ein im eigentlichen Sinne medizinisches Vorgehen handele. Dies wäre in Bezug auf den eigentlichen Aufgabenbereich eines Rettungssanitäters, d.h. die Herstellung der Transportfähigkeit des Patienten und dessen anschließende Beförderung zwar zu verneinen. Hier gehe es aber gerade nicht um Fehler bei der Zuführung des Klägers zur medizinischen Versorgung, sondern vielmehr darum, dass es im Rahmen des Rettungsdiensteinsatzes unterlassen worden sei, einen Notarzt hinzuzuziehen oder den Kläger umgehend in das nächst gelegene Krankenhaus zu transportieren, und dass die Sanitäter eigenverantwortlich eine Diagnose gestellt und hierauf beruhend entschiedenen hätten, dass der Kläger keiner notfallmedizinischen Versorgung bedürfe. Dies stehe einer “Behandlung” im medizinischen Sinne gleich. Dies vorausgeschickt, sei die festgestellte Pflichtverletzung wertungsmäßig auch einem “groben Behandlungsfehler” gleichzustellen. Ein solcher liege in der Regel dann vor, wenn ein Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen habe, der aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich erscheine, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfe. Vorliegend seien die betroffenen Rettungssanitäter zwar keine Ärzte gewesen, so dass es fraglich sein könnte, welche Grundsätze anzulegen seien. Indes sei der Pflichtverstoß, d.h. die unterlassene Hinzuziehung eines Notarztes und die eigenständige Stellung einer Diagnose, derart evident, dass dies die Gleichstellung mit einem groben Behandlungsfehler rechtfertige. Hinzu komme, dass der dortige Sachverständige ebenfalls ausführe, dass das “akute Brustschmerzsyndrom” zu den lebensbedrohlichen Akutkrankheiten zähle und daher einer medizinischen fachärztlichen Abklärung bedürfe.
33Auch diesen Ausführungen schließt sich die Kammer an. Bei dem nicht ausschließbaren Verdacht eines Herzinfarkts wäre der Disponent nach Dafürhalten der Kammer verpflichtet gewesen, unverzüglich zumindest einen Rettungswagen herbeizurufen und, wenn innerhalb kurzer Zeit kein eigener Wagen verfügbar war, bei einem anderen Rettungsdienst nachzufragen. Die Amtspflichtverletzung steht daher wertungsmäßig einem groben Behandlungsfehler gleich. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es nicht sachgerecht erscheint, dem den Rettungsdienst anrufenden Patienten – der folglich seinerseits alles zur Diagnoseerstellung und Zustandssicherung getan hat – in der Folge die häufig nicht leicht zu führende Abgrenzung von Primärbeeinträchtigungen aus der Erkrankung und Sekundärbeeinträchtigungen aus der unterlassenen rechtzeitigen Behandlung aufzubürden.
343.
35Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme ist ein auf dem verzögerten Rettungswageneinsatz beruhender kausaler Schaden hier allerdings ausgeschlossen.
36Dies ergibt sich aus den Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G.
37Er hat in seinem Gutachten ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine ungünstige anatomische Gefäßstruktur. Der Infarkt sei in einem Bereich eingetreten, in dem die Gefäße sehr weit verästelt und dadurch sehr fein gewesen seien. Hinzu komme, dass das Gefäß an dieser Stelle äußerste Biegungen aufweise, so dass man kaum operieren könne. Im Rahmen der ersten Koronarangiographie am Einsatztag sei die Drahtpassage der Infarkt-betroffenen Arterie aufgrund der dünnkalibrigen, filiformen Anatomie nicht gelungen. Auch in einer zweiten Koronarangiographie am Folgetag habe das Zielgefäß nicht wiedereröffnet werden können, so dass ein konservatives Procedere festgelegt worden sei. An diesem Behandlungsverlauf – insbesondere der Festlegung eines konservativen Procederes – hätte sich nach seiner fachlichen Einschätzung auch nichts ändern lassen, wenn die Behandlung 46 Minuten früher begonnen worden wäre.
38Selbst wenn man annähme, dass der Verschluss erst im Zeitraum dieser Verzögerung eingetreten wäre – der genaue Zeitpunkt des Verschlusses lasse sich medizinisch jedoch nicht belegen – so hätte sich kein anderer Erkrankungs- und Behandlungsverlauf ergeben. Hätte man bei einem früheren Einsatz lediglich eine Stenose, jedoch noch keinen Gefäßverschluss vorgefunden, so hätte man versucht, diese Engstelle mittels Drahtpassage zu weiten. Ein verengtes Gefäß sei zwar leichter zu passieren als ein verschlossenes. Das Problem bei der Klägerin sei jedoch nicht der zu passierende Thrombus gewesen, sondern der kleinkalibrige Gefäßdurchmesser und die beschriebene Gefäßstruktur. Weder ein Stent noch ein Bypass hätten sich bei dieser Gefäßstruktur realisieren lassen.
39Eine Fibrinolyse sei in diesem Fall nicht veranlasst. Diese werde nur empfohlen, wenn binnen 90 Minuten ab dem EKG-Befund eine Katheterisierung nicht möglich sei. Diese Zeitvorgabe ändere sich auch dann nicht, wenn dem Notarzt bekannt sei, dass der Infarkt deutlich zeitlich vor Schreibung des EKG liege. Denn die Fibrinolyse berge erhebliche Risiken, die Wiedereröffnungsrate liege bei 80%, die Gefahr eines hämorrhagischen Schlaganfalls bei 1-2%. Zudem setze die Wirkung der Fibrinolyse frühestens nach 45 Minuten ein. Hinzu komme, dass die der Klägerin verabreichten und der Wirkung einer Fibrinolyse ähnlichen Medikamente bekanntermaßen auch nicht zu einer Wiedereröffnung des Gefäßes geführt hätten, so dass der Erfolg einer Fibrinolyse höchst fraglich sei. Entscheidend sei also, dass eine solche nach den geltenden Richtlinien nicht indiziert gewesen sei und keiner fachgerechten Behandlung entsprochen hätte.
40Allein in Betracht gekommen wäre eine früher beginnende medikamentöse Therapie mit blutverdünnenden Mitteln. Selbst bei den potentesten Mitteln gelte jedoch ein Zeitfenster für die Wirkung von drei Stunden und mehr.
41Es hätten sich durch eine frühere (medikamentöse konservative) Therapie auch keine Veränderungen in der späteren Entwicklung ergeben. Bei der Klägerin hätten die Folgen des Herzinfarktes relativ gut kompensiert werden können. Die LV-Funktion sei in den meisten Kontrolluntersuchungen deutlich außerhalb des klinisch relevanten und um den Alltag einschränkenden Bereichs gewesen (EF>40%). Es sei nicht festzustellen, dass signifikant weniger Herzmuskelgewebe abgestorben wäre, wenn die Behandlung 45 Minuten früher begonnen hätte.
42Soweit die Klägerin am 18. Januar 2018 gegenüber der niedergelassenen Kardiologin Belastungsdyspnoe und Belastungsangina angegeben habe, könne ein Zusammenhang nach mehr als drei Jahren medizinisch nicht fundiert dargestellt werden. Ambulant durchgeführte ergometrische Untersuchungen bis zu einer Belastung von 100 Watt seien ohne den Nachweis von signifikanten Erregungsrückbildungsstörungen bei normalem Blutdruck- und Herzfrequenzprofil verblieben. Vielmehr sei die Zunahme der sportlichen Aktivität empfohlen worden. Die am 8. Juni 2018 durchgeführte Kardioangiographie habe einen guten Blutfluss bis in die Herzspitze des Zielgefäßes gezeigt.
43Das Gericht schließt sich diesen in jeder Hinsicht nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen an. Der Sachverständige ist Chefarzt in der Medizinischen Klinik I im Lukaskrankenhaus Neuss und gilt als international renommierter Herz-Spezialist. Er hat insbesondere in seiner mündlichen Anhörung seine medizinischen Feststellungen und Schlussfolgerungen detailliert und verständlich geschildert, alle Nachfragen spontan und präzise beantwortet. Er hat sich mit den erhobenen Einwendungen und hypothetischen Sachverhalten auseinandergesetzt und jederzeit darauf hingewiesen, wenn medizinische Zweifel oder Unsicherheiten bestehen. Im Ergebnis ist aber für das Gericht völlig zweifelsfrei deutlich geworden, dass auch ein früherer Rettungseinsatz jedenfalls nicht zu einer Wiedereröffnung des Gefäßes geführt hätte und konservative Maßnahmen bei einem Beginn 45 Minuten früher keine spürbare Veränderung im weiteren Behandlungs- und Beschwerdeverlauf bewirkt hätten. Diese Ausführungen des Sachverständigen werden maßgeblich darauf gestützt und in objektiver Hinsicht dadurch bestätigt, dass unterschiedlichen Behandlern weder am Infarkttag noch am Folgetag eine Wiedereröffnung des Gefäßes mittels Drahtpassage gelungen ist.
44Anhaltspunkte für eine Parteilichkeit des Sachverständigen bestehen nicht. Er hat sich der Klägerin gegenüber verständnisvoll gezeigt und mehrfach auf die schicksalhafte Besonderheit ihrer Anatomie hingewiesen.
454.
46Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung war nicht veranlasst.
47Soweit die Klägerin mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 6. Mai 2020 Einwendungen gegen die Feststellungen des Sachverständigen erhebt, waren diese bereits gemäß § 296a ZPO zurückzuweisen. Sie führen aber auch nicht zu einer anderen Beurteilung oder weiterem Beweisbedarf.
48Soweit die Klägerin Einwendungen gegen die Feststellungen des Sachverständigen zu der von ihm zugrundegelegten anatomischen Besonderheit eines besonders feinen und verästelten Blutgefäßes erhebt und sich hiervon überrascht fühlt, ist dem nicht zu folgen. Der Sachverständige hat bereits in seinem Erstgutachten vom 23. Oktober 2018 auf Seite 14 auf die „dünnkalibrige, filiforme Anatomie“ hingewiesen. Diese Diagnose war auch das Ergebnis der ersten Koronangiographie am Infarkttag „transmutarer Myokardinfarkt bei dünnkalibrigem, peripher filiformen Ramus interventricularis anterior (RIVA)“.
49Soweit die Klägerin die Einschätzung einer niedergelassenen Kardiologin mitteilt, nach der eine Drahtpassage des Gefäßes doch möglich gewesen sei, setzt sie lediglich die Einschätzung eines Privatsachverständigen an die Stelle des gerichtlichen. Nach der Rechtsprechung ist das Gericht auch bei Widersprüchen zwischen einem vom Gericht eingeholten Gutachten und einem von einer Partei vorgelegten Privatgutachten nicht gehalten, ein weiteres Gutachten einzuholen, wenn es das gerichtliche Gutachten für überzeugend erachtet (VerfGH München, Vf. 40 – VI – 94, juris).
50„Erkennbare Rechtfertigungstendenzen“ wie die Klägerin meint, hat das Gericht in der Anhörung des Sachverständigen nicht gesehen. Dass der Sachverständige sich veranlasst sah, auch Ausführungen zur Einschätzung der Rettungsleitstelle zu machen ohne hierzu befragt zu sein, mag daran liegen, dass die rechtliche Bewertung durch das Gericht nicht mit seinem medizinischen Verständnis in Einklang zu bringen war. Zweifel an seinen übrigen Feststellungen ergeben sich hieraus nicht.
51Eine Veranlassung, dem Sachverständigen die weitere Dokumentation über die Herzkatheteruntersuchung vom 8. Juni 2018 vorzulegen, bestand nicht. Die Ergebnisse dieser Herzkatheteruntersuchung waren dem Sachverständigen ausweislich seines Ergänzungsgutachtens (dort S. 6) bekannt.
52Ob – wie die Klägerin vorträgt – die Wiedereröffnungsrate auch bei komplett verschlossenen Gefäßen „bei über 85%“ liegt, kann dahinstehen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen bildete das maßgebliche Problem vorliegend nicht der Verschluss an sich, sondern die ungünstige Anatomie und Lage des Zielgefäßes. Auch soweit Bezug genommen wird auf Leitlinien aus dem Jahr 1997, so hat der Sachverständige hier gleichwohl festgestellt, dass das Zielgefäß der Klägerin eben schicksalhaft bedingt nicht unter den hohen Prozentsatz der wiederzueröffnenden Gefäße fiel. Dies wird durch die beiden erfolglosen Eröffnungsversuche bestätigt.
53Dass im Jahr 2018, mithin drei Jahre später bei nunmehr offenem Gefäß, eine Herzkatheteruntersuchung des Zielgefäßes möglich war, indiziert nicht, dass in der Infarktsituation eine Drahtpassage des damals verschlossenen Gefäßes möglich gewesen sein muss.
54Das Gericht hat keinen Zweifel, dass der Sachverständige als Herz-Spezialist mit langjähriger Erfahrung sämtliche Eröffnungsmöglichkeiten des Zielgefäßes geprüft hat. Besonders deutlich hat er betont, dass er - trotz seiner langjährigen Erfahrung mit einer Vielzahl von Fällen - davon ausgehe, dass auch ihm selbst die Wiedereröffnung des Gefäßes hier wohl nicht gelungen wäre.
55Wegen der von der Klägerin behaupteten Traumatisierung ist die Zuerkennung eines Schmerzensgeldes nicht veranlasst, weil diese auch nach dem Vortrag der Klägerin keinen behandlungsbedürftigen Krankheitswert erreicht haben.
56Mangels Hauptforderung scheiden Ansprüche auf Nebenforderungen aus. Desgleichen bleibt dem Feststellungsantrag aus den oben genannten Gründen der Erfolg versagt.
57Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 Satz 1 und 2 ZPO.
58Streitwert: 75.283,42 €