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I.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
II.
Das Landgericht Düsseldorf legt dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
1.
Kann der Inhaber eines ergänzenden Schutzzertifikats, das ihm für die Bundesrepublik Deutschland (BRD) erteilt wurde, unter Berufung auf die Regelungen des Besonderen bzw. Speziellen Mechanismus die Einfuhr von Erzeugnissen aus den Beitrittsstaaten Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien, Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Bulgarien und Kroatien (Anhang IV, Beitrittsakte 2003, Abl. EU 2003 L 236/797 mit Änderungen gem. ABl. EU 2004 L 126/4 für Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowenien, Ungarn, Slowakei, Tschechische Republik; Teil I Anhang V Nr. 1, Beitrittsakte 2005, ABl. EU 2005 L 157/268 für Rumänien und Bulgarien; Anhang IV Beitrittsakte 2011, ABl. EU 2012, L 112/60 für Kroatien) in die BRD verhindern, wenn das ergänzende Schutzzertifikat in der BRD zu einem Zeitpunkt beantragt wurde, in dem in den Beitrittsstaaten bereits Regelungen für die Erlangung eines entsprechenden ergänzenden Schutzzertifikats bestanden, ein solches ergänzendes Schutzzertifikat im jeweiligen Beitrittsstaat aber vom Inhaber des für die BRD erteilten Schutzzertifikats nicht beantragt oder ihm nicht erteilt werden konnte, weil es an einem für die Erteilung des Schutzzertifikats erforderlichen Grundpatent im Beitrittsstaat fehlte?
2.
Macht es für die Beantwortung der Frage 1) einen Unterschied, wenn lediglich im Anmeldezeitpunkt des für die BRD erteilten Grundpatents entsprechender Schutz durch ein Grundpatent im Beitrittsstaat nicht erlangt werden konnte, jedoch im Zeitraum bis zur Offenlegung der Anmeldung, die dem für die BRD erteilten Grundpatent zugrunde liegt, erlangt werden konnte?
3.
Kann der Inhaber eines ergänzenden Schutzzertifikats, das ihm für die Bundesrepublik Deutschland (BRD) erteilt wurde, unter Berufung auf die Regelungen des Besonderen bzw. Speziellen Mechanismus die Einfuhr von Erzeugnissen aus den Beitrittsstaaten Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien, Slowakei, Bulgarien, Rumänien, Bulgarien und Kroatien in die BRD verhindern, wenn die Einfuhr der Erzeugnisse nach Ablauf der mit dem ursprünglichen Erteilungsbeschluss festgesetzten Laufzeit des ergänzenden Schutzzertifikats, aber vor Ablauf der um sechs Monate verlängerten Laufzeit des Schutzzertifikats erfolgt, die ihm auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92, der Richtlinien 2001/20/EG und 2001/83/EG sowie der Verordnung (EG) Nr. 726/2004) gewährt worden ist?
4.
Macht es für die Beantwortung der Frage 3) im Falle von Kroatien einen Unterschied, dass der Spezielle Mechanismus aufgrund des Beitritts von Kroatien im Jahre 2013 erst nach Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel und zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1768/92, der Richtlinien 2001/20/EG und 2001/83/EG sowie der Verordnung (EG) Nr. 726/2004) am 26. Januar 2007 in Kraft trat – anders als in den übrigen vor dem 26. Januar 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien, Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Bulgarien?
Gründe
2I.
3Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung des ergänzenden Schutzzertifikats DE A (nachfolgend: Klagezertifikat) auf Auskunft, Rückruf, Vernichtung und Feststellung der Schadensersatzpflicht in Anspruch.
4Die B war eingetragene Inhaberin des europäischen Patents C(nachfolgend: Grundpatent), das unter Inanspruchnahmen der schweizerischen Prioritäten vom 12. September 1989, 8. März 1990 und 20. April 1990 am 31. August 1990 angemeldet wurde und am 31. August 2010 durch Zeitablauf erloschen ist. Das Grundpatent betraf TFN-bindende Proteine.
5Die Klägerin, ein in Irland ansässiges Unternehmen des D, ist im Register als Inhaberin des auf das Grundpatent mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten Klagezertifikats eingetragen. Das Klagezertifikat wurde am 26. Juni 2003 angemeldet und am 11. Januar 2006 in Form des Berichtigungsbeschlusses des DPMA vom 31. März 2006 erteilt. Es schützt das Erzeugnis Etanercept. Die Zulassung für das Medikament E der Klägerin, das als Wirkstoff Etanercept enthält, diente als Genehmigung für das Inverkehrbringen. Eist zugelassen für die Behandlung von rheumatoider Arthritis, Psoriasis-Athritis, axialer Spondyloarthritis sowie Psoriasis bei Erwachsenen, von juveniler Arthritis und schwerer Psoriasis bei Kindern und Jugendlichen. Die erste Genehmigung für E erfolgte am 01.02.2000 in der Schweiz, wobei die Zulassung auch für die Gemeinschaft Gültigkeit entfaltete. In der Bundesrepublik Deutschland hatte das Klagezertifikat eine Laufzeit vom 1. September 2010 bis zum 1. Februar 2015. Aufgrund des Beschlusses des DPMA vom 15. Oktober 2012 (Anlage K 5) wurde die Laufzeit des Klagezertifikats vom 1. Februar bis zum 1. September 2015 gemäß den Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (nachfolgend: SPC-VO) und der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 (nachfolgend: Kinderarzneimittel-VO) verlängert (sog. pädiatrische Verlängerung). Das Klagezertifikat ist mittlerweile erloschen.
6Die Beklagte ist ein Unternehmen der dänischen F, die als sog. Parallelimporteurin tätig ist. Sie importiert Arzneimittel aus Ländern mit niedrigerem Preisniveau nach Deutschland. Mit Schreiben vom 27.06.2013 (Anlage K9) zeigte die Beklagte einen beabsichtigten Parallelimport für die östlichen EU-Mitgliedstaaten Estland und Lettland an. Zur Laufzeit des Klagezertifikats führte die Beklagte Parallelimporte für das Erzeugnis Etanercerpt aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten Estland und Lettland durch. Für andere Mitgliedstaaten war der beabsichtigte Reimport teilweise angekündigt, teilweise nahm die Beklagte von einem Reimport Abstand.
7Dementsprechend korrespondierten die G und die Beklagte von Dezember 2014 bis April 2015 über beabsichtigte Parallelimporte von E aus Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, der Tschechischen Republik und Ungarn nach Deutschland. Im April 2015 erfuhr die E, dass Packungen auf dem deutschen Markt erhältlich waren, die für Polen, Slowenien, Litauen – die alle eine gemeinsame Packung aufweisen – und Kroatien hergestellt worden waren und die Beklagte als Parallelimporteurin auswiesen.
8Die Klägerin ist der Auffassung, die Regelungen des Besonderen Mechanismus bzw. des Speziellen Mechanismus der jeweiligen Beitrittsakten der genannten Staaten seien auf den streitgegenständlichen Fall anwendbar. Dies habe zur Folge, dass sich die Beklagte nicht auf Erschöpfung berufen könne. Bei dem Klagezertifikat und der pädiatrischen Verlängerung handele es sich um ein einheitliches Schutzrecht, das vom Besonderen Mechanismus erfasst würde.
9Die Beklagte ist der Auffassung, der Erschöpfungseinwand habe Erfolg. Der Besondere bzw. Spezielle Mechanismus greife aus unterschiedlichen Gründen nicht. Zum Zeitpunkt der Anmeldung des Klagezertifikats sei entsprechender Schutz in den jeweiligen Beitrittsländern zu erlangen gewesen. Hierbei seien das Grundpatent und das SPC separat zu betrachten. Zum Zeitpunkt der Anmeldung des Klagezertifikats habe in Estland und Lettland die Möglichkeit bestanden SPCs für Arzneimittel zu erhalten. Hinsichtlich der anderen Mitgliedstaaten sei die Pflicht zur separaten Betrachtung auf die pädiatrische Verlängerung gemäß der Kinderarzneimittel-VO zu übertragen. In Polen, Ungarn, Litauen, Slowakei, Tschechische Republik, Slowenien, Lettland, Estland, Rumänien und Bulgarien habe am 10. September 2012 die Möglichkeit bestanden, eine pädiatrische Verlängerung des SPC zu erlangen.
10II.
11Die Entscheidung der Kammer hängt von der Beantwortung der eingangs in der Beschlussformel genannten Rechtsfragen ab.
121)
13Die Klägerin hat – vorbehaltlich des Einwands der Erschöpfung – einen Anspruch auf Auskunft, Rechnungslegung, Schadensersatz, Rückruf und Vernichtung gegen die Beklagte betreffend das erstmalige Inverkehrbringen in den Ländern Polen, Slowenien, Litauen und Kroatien gem. §§ 16a Abs. 2, 139 Abs. 2, 140a Abs. 1 und 3, 140b PatG i.V.m. Art. 64 EPÜ, §§ 242, 259 BGB i.V.m. Art. 36 Abs. 1, Abs. 4 Kinderarzneimittel-VO i.V.m. dem Besonderen Mechanismus gemäß Anhang des IV, Liste nach Artikel 22 der Beitrittsakte des Beitrittsvertrags vom 16. April 2003 (Besonderer Mechanismus) sowie dem Speziellen Mechanismus gemäß Anhang IV Kapitel 1 der Beitrittsakte des Beitrittsvertrags vom 5. Dezember 2011 (Spezieller Mechanismus). Was den Unterlassungsanspruch betrifft, kann die sie hinsichtlich aller Länder – mit Ausnahme von Kroatien – die Feststellung der Erledigung verlangen.
14Die Beklagte könnte sich erfolgreich auf den Erschöpfungseinwand berufen, wenn ihr der Einwand nicht durch die Anwendung des Besonderen Mechanismus (für die Länder Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Slowenien, Slowakei) bzw. Speziellen Mechanismus (für Bulgarien, Rumänien und Kroatien) abgeschnitten ist.
15Der Besondere/Spezielle Mechanismus stellt eine übergangsweise primärrechtliche Ausnahme vom Erschöpfungsprinzip dar. Er wurde eingeführt, da sich der Unionsgesetzgeber veranlasst sah, durch den Besonderen/Speziellen Mechanismus Benachteiligungen der Schutzrechtsinhaber auszugleichen, da in den neuen EU-Mitgliedstaaten mangels Patentierbarkeit von Arzneimittelstoffen als solchen kein dem westeuropäischen Standard entsprechendes Patentrecht bestand. Der Besondere/Spezielle Mechanismus soll insofern übergangsweise den Zustand in Hinblick auf arzneimittelrechtlichen Stoffschutz aufrechterhalten, wie er vor der EU-Erweiterung bestand: Vor der Erweiterung konnte in diesen Ländern kein Stoffschutz für Arzneimittelwirkstoffe erlangt werden, der Patentinhaber konnte aber dem Parallelimport der Arzneimittel, die er selbst in diesen Nicht-EU-Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht hatte, sein in den (alten) EU-Mitgliedstaaten geltendes Stoffpatent entgegenhalten. Das Erschöpfungsprinzip galt nicht, weil der Patentinhaber die Produkte nicht in der Gemeinschaft in Verkehr gebracht hatte. Er war vor nachteiligen Einflüssen auf sein Geschäft in den (alten) EU-Mitgliedstaaten durch Parallelimporte aus den osteuropäischen Staaten mit erheblich niedrigerem Preisniveau geschützt. Die dem Patentinhaber durch das Patentrecht und den ergänzenden Zertifikatsschutz zuerkannte Möglichkeit, für seine Investitions- und Forschungskosten eine angemessene Amortisation (in den Märkten der betroffenen alten EU-Mitgliedstaaten) zu erlangen, war gesichert. Diese Situation sollte durch den Besonderen/Speziellen Mechanismus für eine Übergangszeit aufrechterhalten bleiben (vgl. LG Düsseldorf, BeckRS 2014, 17689). Mit dem Besonderen/Speziellen Mechanismus soll ein Ausgleich zwischen dem wirksamen Schutz von Rechten aus Patenten oder Ergänzenden Schutzzertifikaten und dem freien Warenverkehr erreicht werden (vgl. EuGH, GRUR Int. 2015, 359 – Merck Canada und Merck Sharp & Dohme). Der Besondere/Spezielle Mechanismus sichert damit tatsächlich den vor dem Beitritt der neuen EU-Mitgliedstaaten bestehenden status quo. Es werden nicht neue Rechte eingeräumt, sondern der Parallelimporteur profitiert nur für eine Übergangszeit nicht vom Effekt der EU-Erweiterung (vgl. LG Düsseldorf, BeckRS 2014, 17689).
162)
17Die Anwendbarkeit des Besonderen/Speziellen Mechanismus, die die Kammer weiterhin zu prüfen hat, ist streitig hinsichtlich der Vorlagefragen 1) und 2), welche Anforderungen an den vergleichbaren Schutz zu stellen sind (hierzu unter a)), und hinsichtlich der Vorlagefragen 3) und 4), ob die pädiatrische Verlängerung von dem Besonderen/Speziellen Mechanismus erfasst wird, obwohl sie dort ausdrücklich nicht erwähnt ist (hierzu unter b)). Soweit ersichtlich hat sich der Gerichtshof mit diesen Fragekomplexen noch nicht näher befasst.
18a)
19Die Klägerin hat im Inland das Grundpatent am 31. August 1990 und das Klagezertifikat am 26. Juni 2003 angemeldet. Unstreitig war im Zeitpunkt der Anmeldung des Grundpatents im Jahr 1990 in allen streitgegenständlichen Staaten kein Schutz für pharmazeutische Produkte oder bestimmte therapeutische Indikationen zu erlangen. Unstreitig war SPC-Schutz in allen Beitrittsländern – mit Ausnahme von Kroatien – im Anmeldezeitpunkt des Klagezertifikats am 26. Juni 2003 erhältlich.
20Auf letzteres kommt es indes für die Entscheidung nur an, wenn es bei der Betrachtung des gleichen Schutzniveaus unerheblich ist, dass für die Klägerin am Anmeldetag ihres Grundpatents keine Möglichkeit bestand, ein kategoriegleiches Schutzrecht für Etanercept in den jeweiligen neuen Mitgliedstaaten zu erhalten.
21Diesbezüglich haben die Instanzrechtsprechung und eine gewichtige Literaturmeinung bereits vertreten, dass es bei dem Vorgehen aus einem SPC entscheidend darauf ankommt, ob am Anmeldetag des inländischen Grundpatents der Erhalt gleichwertigen Erzeugnisschutzes möglich war (vgl. LG Düssedorf, Urteil vom 26.08.2014, Az. 4c O 116/13, BeckRS 2014, 17689; Kühnen, FS 200 Jahre Carl Heymanns, S. 373 ff.). Schlagkräftiges Argument dafür, auch beim Vorgehen aus einem SPC den Stichtag der inländischen Grundpatentanmeldung für entscheidend zu halten, ist, dass das Grundpatent nach der SPC-VO eine unabdingbare Voraussetzung für die spätere Gewährung eines SPC darstellt. Nur so wird dem Umstand gebührend Rechnung getragen, dass es sich zwar um zwei eigenständige Schutzrechte handelt (vgl. EuGH, GRUR 2015, 245 – Forsgren/Österreichisches Patentamt), aber die Funktion des SPC darin besteht, die gesetzliche Schutzdauer des Arzneimittelgrundpatents um eine bestimmte Zeitspanne zu verlängern, damit der effektive Verlust an gesetzlicher Patentlaufzeit, den der Schutzrechtsinhaber durch das behördliche Zulassungsverfahren erleidet, ausgeglichen wird (vgl. Kühnen, FS 200 Jahre Carl Heymanns, S. 373 ff.). Es erscheint daher folgerichtig, dass derjenige, der sich die Folgen einer Erschöpfung bei seinem inländischen Grundpatent nicht entgegen halten lassen muss, sich auch dann nicht dem Einwand der Erschöpfung ausgesetzt sieht, wenn mit Hilfe des SPCs die Laufzeit des Grundpatent verlängert wird (vgl. Kühnen, FS 200 Jahre Carl Heymanns, S. 373 ff). Ferner sprechen der Wortlaut, der sich auf einen entsprechenden Schutz des Erzeugnisses, also des konkreten Arzneimittels bezieht, sowie Sinn und Zweck der Vorschrift, der nicht bloß auf eine abstrakte Verfügbarkeit von Patent-und/oder SPC-Schutz abstellt, für diese Ansicht (vgl. LG Düsseldorf, Urteil vom 26.08.2014, Az. 4c O 116/13, BeckRS 2014, 17689). Denn über den Besonderen Mechanismus wird gewährleistet, dass aktuelle, in den alten EU-Mitgliedstaaten zu höheren Preisen gehandelte Arzneimittel zu niedrigeren Preisen in den neuen EU-Mitgliedstaaten auf den Markt gebracht werden können und so dort die Gesundheitsversorgung verbessert wird, ohne die Gesundheitssysteme über Gebühr zu belasten. Dann muss der Mechanismus indes für die gesamte dem Schutzrechtsinhaber zustehende Schutzdauer Wirkung entfalten (vgl. LG Düssedorf, Urteil vom 26.08.2014, Az. 4c O 116/13, BeckRS 2014, 17689). Es kommt nach dieser Ansicht nicht darauf an, dass später gesetzlich eine Möglichkeit geschaffen wurde, ein Grundpatent in den Beitrittsstaaten zu erlangen.
22Der Ansicht wird entgegen gehalten, dass dieses Verständnis zu einer unverhältnismäßigen Einschränkung des Erschöpfungsprinzips und die Warenverkehrsfreiheit führt. Hierfür spricht, dass der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, dass der Besondere Mechanismus ausdrücklich vom Erschöpfungsgrundsatz abweicht und Bestimmung in einer Beitrittsakte, die Ausnahmen oder Abweichungen von Vorschriften der Verträge erlauben, unter Berücksichtigung der betreffenden Vertragsbestimmungen eng auszulegen und auf das zur Erreichung ihres Ziels unbedingt Erforderliche zu beschränken sind (vgl. EuGH, GRUR Int. 2015, 359 – Merck Canada und Merck Sharp & Dohme; EuGH, Urteil vom 5.12.1996, C-267/95 und C-268/95 – Merck/Primecrown). Der Wortlaut trennt zwischen den beiden Schutzrechten. Insofern könnte es allein auf die Möglichkeit der Erlangung eines Patents oder SPCs in den Beitrittsstaaten ankommen und nicht, ob es auch erlangt wurde. Hierfür spricht nach Ansicht der Beklagten auch, dass die Anwendung des Erschöpfungsprinzips nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht davon abhängt, ob das Produkt in dem Ausfuhrstaat patentierbar war oder nicht. Es gilt selbst dann, wenn der Inhaber sein Erzeugnis in einem Mitgliedstaat absetzt, in dem dafür kein gesetzlicher Patentschutz besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 14.7.1981, Rechtssache 187/80 – Merck/Stephar).
23Die Kammer neigt der erstgenannten Ansicht zu, hält die Vorlage aufgrund der Gegenargumente aber für geboten. Insofern stehen Frage 1) und Frage 2) im direkten Zusammenhang: Sollte sich der Inhaber eines SPC auf den Besonderen bzw. Speziellen Mechanismus selbst dann berufen dürfen, wenn SPC-Schutz im Beitrittsstaat erhältlich war, aber vom Inhaber mangels Grundpatentes nicht erlangt werden konnte, hängt die Entscheidung des Falles weiter von der Frage ab, ob für die Möglichkeit, im Beitrittsstaat ein Grundpatent zu erhalten, auf den Anmeldezeitpunkt des Grundpatents oder auch auf den nachfolgenden Zeitraum abzustellen ist. Die Beklagte hat insofern vorgetragen, dass zwar im Zeitpunkt der Anmeldung des Grundpatents in der BRD ein vergleichbares Grundpatent nicht in den Beitrittsstaaten angemeldet werden konnte, jedoch die Anmeldung eines solchen Patents in den Beitrittsstaaten auf der Grundlage von gesetzlichen Regelungen, die in den Beitrittsstaaten bis zur Offenlegung der Anmeldung des Grundpatents eingeführt waren, möglich wurde und in einzelnen Staaten entsprechender Patentschutz auch hätte erlangt werden können.
24b)
25Weiter ist fraglich, ob der Besondere/Spezielle Mechanismus die Verlängerung der Laufzeit des Klagezertifikats erfasst mit der Folge, dass sich die Beklagte für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 1. August 2015 nicht auf Erschöpfung berufen kann.
26Durch den Beschluss des DPMA vom 15. Oktober 2012 wurde die Laufzeit des Klagezertifikats gemäß Art. 36 Abs. 1 und Abs. 4 der Kinderarzneimittel-VO um sechs Monate, vom 1. Februar 2015 bis zum 1. August 2015, verlängert (Anlage K 5, S. 14 f.). Die Kinderarzneimittel-VO vom 12. Dezember 2006 trat am 26. Januar 2007 in Kraft. Nach dem Wortlaut der Kinderarzneimittel-VO handelt es sich bei der pädiatrischen Verlängerung – anders als beim SPC (vgl. Art. 4-6 SPC-VO, § 16a PatG) – nicht um ein eigenständiges Schutzrecht, sondern lediglich um eine Verlängerung der Laufzeit des SPC. Art. 36 der Kinderarzneimittel-VO schafft ausschließlich eine sechsmonatige Verlängerung des Zeitraums nach Art. 13 SPC-VO. In diesem Zusammenhang nimmt die Kinderarzneimittel-VO keinen Bezug auf Art. 4 und 6 SPC-VO.
27Im Wortlaut der Beitrittsakten wird lediglich zwischen dem Grundpatent und dem SPC differenziert. Die Kinderarzneimittel-VO findet keine Erwähnung. Dies auch nicht in der Beitrittsakte 2011 (Beitritt Kroatien), obwohl die Kinderarzneimittel-VO zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre in Kraft war. Dies könnte dafür sprechen, dass der Unionsgesetzgeber bereits kein Bedürfnis für eine klarstellende Formulierung gesehen hat.
28Es besteht Uneinigkeit darüber, ob die Erwähnung des SPC im Besonderen/Speziellen Mechanismus gleichwohl die pädiatrische Verlängerung nach Art. 36 Kinderarzneimittel-VO umfasst. Für ein solches Verständnis hat sich der Oberste Dänische Gerichtshof in seinem Urteil vom 08. April 2016 ausgesprochen. Das Gericht war der Ansicht, dass der Spezifische Mechanismus auf ein Ergänzendes Schutzzertifikat während dessen gesamter Dauer, einschließlich der Zeit der Verlängerung entsprechend der Kinderarzneimittel-VO, anzuwenden ist.
29Dafür könnte Sinn und Zweck der Regelung sprechen. Mit der im Besonderen/Speziellen Mechanismus getroffenen Interessenabwägung geht die Entscheidung des Unionsgesetzgebers einher, die Regelungsziele, die Grund für die Schaffung des SPCs waren, höher zu bewerten als die Warenverkehrsfreiheit, die hinter dem Erschöpfungsgrundsatz steht. Sinn und Zweck der Schaffung eines SPC und der pädiatrischen Verlängerung sind durchaus vergleichbar. Sie konterkarieren sich nicht, sondern ergänzen sich. Der maßgebliche Sinn und Zweck des SPC-Schutzes ergibt sich aus der SPC-VO. Nach Erwägungsgrund Nr. 4 sieht der Unionsgeber Nachteile für den Inhaber von Arzneimittelpatenten aufgrund der möglichen Dauer des Zulassungsverfahrens. So heißt es, dass derzeit durch den Zeitraum zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung für ein neues Arzneimittel und der Genehmigung für das Inverkehrbringen desselben Arzneimittels der tatsächliche Patentschutz auf eine Laufzeit verringert wird, die für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend ist. Der unzureichende Schutz hat nachteilige Auswirkungen auf die pharmazeutische Forschung (Erwägungsgrund 5). Um der Gefahr von Verlagerung von Forschungszentren in Länder, die einen größeren Schutz bieten (Erwägungsgrund 6) zu begegnen, soll die Schaffung des SPC dazu beitragen, die Forschungstätigkeit in Europa entsprechend zu belohnen. Die SPC-VO erkennt dabei zum einen an, dass die Laufzeit des SPC begrenzt sein soll, um die Volksgesundheit angemessen zu berücksichtigen (Erwägungsgrund 10), zum anderen sieht es in der Forschung im pharmazeutischen Bereich ebenso einen entscheidenden Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit (Erwägungsgrund 2). Die Dauer des SPC soll so festgelegt werden, dass ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird (Erwägungsgrund Nr. 9). Die SPC-VO erkennt folglich eine Verbesserung der Volksgesundheit auch als eine mittelbare Folge der Amortisierung an.
30Aus den Erwägungsgründen 4, 26 und 27 der Kinderarzneimittel-VO ergibt sich, dass dem Inhaber eines SPC ein Bonus für die Durchführung von pädiatrischen Studien gewährt werden soll. Damit soll ein Anreiz geschaffen werden, um die Entwicklung und die Zugänglichkeit von Arzneimitteln zur Verwendung bei der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe zu erleichtern und zu gewährleisten, dass die zur Behandlung der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe verwendeten Arzneimittel im Rahmen ethisch vertretbarer und qualitativ hochwertiger Forschungsarbeit entwickelt werden. Dies dient – ebenso wie bei der SPC-VO – gleichfalls der Verbesserung der Volksgesundheit, wobei eine besonders schutzbedürftige Bevölkerungsgruppe im Vordergrund steht. Gleiches ergibt sich bereits aus dem Vorschlag der Kommission, der die Initiative im europäischen Gesetzgebungsvorhaben darstellt und deswegen bei der Auslegung der Norm ebenfalls Berücksichtigung findet (vgl. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 396 f. m.w.N. zur EuGH-Rechtsprechung). Als übergeordnetes politisches Ziel wird die Verbesserung der Gesundheit der Kinder in Europa formuliert, indem Erforschung, Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln zur Verwendung bei Kindern intensiviert werden (Anlage B7, S. 3). Angestrebt werde mit dem Vorschlag die Intensivierung der Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder und die Entwicklung der Arzneimittel im Rahmen einer qualitativ hochwertigen Forschung. So sieht auch bereits der Vorschlag vor, hierfür einen Bonus in Form einer sechsmonatigen Verlängerung des SPC zu gewähren (Anlage B 7, S. 7).
31Da der Wortlaut des Besonderen Mechanismus das SPC ausdrücklich nennt, spricht letztlich die gleiche Zielsetzung der pädiatrischen Verlängerung dafür, sie vom Wortlaut umfasst zu sehen. Die Durchführung von Tests für die pädiatrische Anwendung zur Verbesserung der Kindesgesundheit steht ebenfalls im gemeinschaftsweiten Interesse und der Anreiz dafür darf durch Parallelimporte nicht unterlaufen werden.
32Ferner ergibt sich aus den Beitrittsakten, dass die Übergangsregelung gerade nicht abstrakt auf einen bestimmten Zeitraum nach Einführung des Zertifikatschutzes in den Beitrittsstaaten festgelegt ist, sondern auf die Möglichkeit der Erlangung entsprechenden Schutzes für das Erzeugnis in den neuen Mitgliedsstaaten abstellt. Anders als im Fall Merck/Primecrown (EuGH, Urteil vom 05.12.1996, C-267/95 und C-268/95), in dem eine nicht in allen Sprachfassungen eindeutige Zeitregelung dahin ausgelegt wurde, dass die Übergangszeiten zu dem Zeitpunkt ablaufen, der am frühesten zur Anwendung des Grundsatzes der freien Warenverkehrsfreiheit in den Beitrittsstaaten führte, wird hier an ein bestimmtes Schutzniveau angeknüpft. Dieses Schutzniveau wird durch die Kinderarzneimittel-VO geringfügig angehoben. Eine um ein halbes Jahr verlängerte Schutzdauer erscheint weder eine unverhältnismäßige Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit zu sein noch zu einer dauerhaften Derogation des „acquis communautaire“ zu führen. Eine solche Auslegung könnte daher noch im Einklang mit der grundlegenden Entscheidung des Unionsgesetzgebers stehen, den Ausgleich der Nachteile des Zertifikatsinhabers aufgrund der historischen Unterschiede im Schutzrechtsniveau zu erreichen. Da die Anreizwirkung der pädiatrischen Verlängerung der Amortisierungsfunktion des SPCs gleichsteht, formt sie das Schutzniveau des SPCs lediglich weiter aus.
33Hiergegen spricht die schon angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofes, die Beitrittsakte als Ausnahmeregelung eng auszulegen. Gewichtig ist darüber hinaus das Argument, dass bei einem solchen Verständnis die Kinderarzneimittel-VO als Sekundärrechtsakt den Anwendungsbereich des Besonderen/Speziellen Mechanismus als einer primärrechtlichen Vorschrift – teilweise nachträglich – erweitern würde. Dies könnte einen Verstoß gegen die Normenhierarchie, in der das Primärrecht Vorrang vor dem Sekundärrecht genießt, darstellen. Die unterschiedliche Normebene dürfte auch die Anwendung des lex-posterior-Grundsatzes ausschließen.
34Fraglich ist in diesem Zusammenhang weiter, ob die Kinderarzneimittel-VO einen Fall unechter Rückwirkung darstellen kann. Grundsätzlich ist eine neue Vorschrift des materiellen Unionsrechts unmittelbar auf die künftigen Auswirkungen eines Sachverhaltes anzuwenden, der unter der Geltung der alten Vorschrift entstanden ist. Darüber hinaus gelten ab dem Beitritt eines neuen Mitgliedstaates die Bestimmungen des Unionsrechts nach Maßgabe der ursprünglichen Verträge und der jeweiligen Beitrittsakte (vgl. EuGH, BeckRS 2016, 82421 – Hoffmann/La Roche). Insofern ist die Frage aufgeworfen, ob die Laufzeit des SPCs – wie das Klagezertifikat – einen bereits begonnenen, nicht abgeschlossenen Sachverhalt darstellt, auf den die Kinderarzneimittel-VO Anwendung findet, die später in Kraft trat als die Beitritte aller streitgegenständlichen Länder mit Ausnahme von Kroatien, und nach der die Verlängerung der Laufzeit für die Zukunft ermöglicht wurde.
35Im Urteil Hoffmann/La Roche hat der Gerichtshof keinerlei Erwägungen zu etwaigen Auswirkungen auf den „aquis communautaire“ angestellt. Die Beklagte möchte dem Urteil indes entnehmen, dass eine unechte Rückwirkung jedenfalls dann unproblematisch sei, wenn sie gleichzeitig zu einer möglichst schnellen Anwendung des acquis, insbesondere der Warenverkehrsfreiheit, führt. Zudem enthielt der vom Gerichtshof zu entscheidende Fall keinen Konflikt im Hinblick auf die Normenhierachie. Die Klägerin wendet in diesem Zusammenhang ein, dass das Unionsrecht nicht auf seinem Stand zum Zeitpunkt des Beitritts stehen bleibt, sondern sich weiter entwickelt. An dieser Weiterentwicklung nehmen die neuen Beitrittsstaaten teil. Dem hält die Beklagte entgegen, dass der übernommene acquis ab dem Zeitpunkt des Beitritts gilt und Anpassungen nur in sehr engen Grenzen vorgenommen werden dürfen. Der Besondere/Spezielle Mechanismus soll den status quo erhalten und keine neuen Rechte schaffen.
36III.
37Der Kammer ist bewusst, dass sie keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV trifft. Bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV hat die Kammer insbesondere berücksichtigt, dass die Regelungen des Besonderen/Speziellen Mechanismus und der Kinderarzneimittel-VO im europäischen Normengefüge aus Sicht eines kundigen Juristen vernünftigerweise mehreren möglichen Auslegungen zugänglich sind und die entscheidungserheblichen Fragen soweit ersichtlich nicht bereits Gegenstand einer Auslegung des Gerichtshof waren. Die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts erscheint auch nicht derart offenkundig, dass für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bestünde. Die Vorlage der Fragen bereits durch ein erstinstanzliches Gericht führt zu einer zeitnahen Klärung durch den Gerichtshof, die im Interesse aller Beteiligten liegt.