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Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen wetterbedingte geänderte Slotzuweisungen durch die Flugsicherung einen außergewöhnlichen Umstand gemäß Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechte-Verordnung darstellen.
In dem RechtsstreitS- GmbH gegen F- GmbH
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Artikel 267 Absatz 2 des EU-Arbeitsweisevertrags (AEUV) in der jeweils geltenden Fassung im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:
1. Liegt ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne des Artikel 5 Absatz 3 der Fluggastrechte-Verordnung stets vor, wenn die Annullierung des Flugs bzw. die einer Annullierung gleichstehende Verspätung auf einer geänderten Slotzuweisung durch die zuständige Flugsicherungseinrichtung beruht?
2. Soweit die Frage (1) vereint wird, genügt es für die Annahme eines außergewöhnlichen Umstands gemäß Artikel 5 Absatz 3 der Fluggastrechte-Verordnung, wenn die geänderte Slotzuweisung auf einer wetterbedingten Reduzierung der Flugkapazitäten beruht, die Wetterlage jedoch nicht den Flugverkehr insgesamt weitestgehend zum Erliegen gebracht hat?
Gründe:
2I.
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4Den Vorlagefragen liegen nach Verbindung eines weiteren Rechtsstreits hierher zwei Flüge wie folgt zugrunde:
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6Den Sachverhalten um die beiden Flüge ist gemeinsam, dass die Klägerin Ansprüche der jeweiligen Fluggäste auf Ausgleichsleistungen aus Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c in Verbindung mit Artikel 7 Absatz 1 Satz 1 Buchstabe a der Fluggastrechte-Verordnung aus abgetretenem Recht gegen die Beklagte als ausführende Fluggesellschaft geltend macht.
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8Bei dem ersten Flug handelt es sich um den Flug mit der Flugnummer ######, der planmäßig am 6. Oktober 2018 um 03:50 Uhr UTC (alle folgenden Zeitangaben in UTC) von München nach Thessaloniki starten sollte, Ankunft dort planmäßig um 06:50 Uhr. Der Flug wurde verspätet durchgeführt, Abflug war tatsächlich um 07:25 Uhr und Ankunft um 12:26 Uhr. Auch wenn insoweit keine Annullierung vorliegt, sondern bedingt durch die Verspätung von 3 Stunden oder mehr die für die Annullierung geltenden Rechtsfolgen der Artikel 5 bis 7 der Fluggastrechte-Verordnung lediglich entsprechend angewandt werden (Sturgeon-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, Urteil vom 19.11.2009, C-402/07, C-432/07), wird dieser Flug wegen der gleichstehenden Rechtsfolgen nachfolgend aus Vereinfachungsgründen als annulliert bezeichnet.
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10Hinsichtlich dieses Flugs hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie Ausgleichsleistungen in Höhe von 500,00 Euro zuzüglich Zinsen zu zahlen, wobei die Klägerin aus abgetretenem Recht einen Anspruch der Fluggäste I und E geltend macht.
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12Beim zweiten Flug handelt es sich um den Flug mit der Flugnummer ######, der planmäßig am 15. Juli 2018 um 18:25 Uhr von Berlin nach Stuttgart starten sollte, Ankunft dort planmäßig um 19:40 Uhr. Der Flug wurde annulliert.
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14Hinsichtlich dieses Flugs hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie Ausgleichsleistungen in Höhe von 250,00 Euro zuzüglich Zinsen zu zahlen, wobei die Klägerin aus abgetretenem Recht einen Anspruch des Fluggasts J geltend macht.
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16Die Beklagte hat hinsichtlich beider Flüge außergewöhnliche Umstände nach Artikel 5 Absatz 3 der Fluggastrechte-Verordnung geltend gemacht. Hinsichtlich des ersten Flugs hat sie angeführt, das eigentlich vorgesehene Flugzeug sei durch einen Vogelschlag auf einer Vorleistung des Vortags beschädigt worden, es habe ein Ersatzflugzeug herangeschafft werden müssen, dessen Heranschaffung sich durch geänderte Slotzeiten der Flugsicherung Eurocontrol wegen wetterbedingter Kapazitätsreduzierung weiter verzögert habe, weshalb es zu der Verspätung gekommen sei. Hinsichtlich des zweiten Flugs hat sie angeführt, es sei auf einer Vorleistung desselben Flugzeugs am selben Tag zu einem Vogelschlag gekommen, dies habe in Verbindung mit durch wetterbedingte Kapazitätsreduzierungen geänderten Slotzuweisungen durch die Flugsicherung Eurocontrol zu einer derart hohen Verspätung der Vorleistung geführt, dass der Flugteil von Stuttgart nach Berlin und zurück innerhalb der Flugdienstzeiten der Crew nicht mehr habe durchgeführt werden können.
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18Das Gericht hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung eine Beweisaufnahme durchgeführt und hierbei den Zeugen U, den in der Verkehrszentrale tätigen senior flight manager der Beklagten, mündlich angehört. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass bei beiden Flügen nicht der Vogelschlag für die Annullierung ursächlich war, sondern die durch wetterbedingte Kapazitätsreduzierungen geänderte Slotzuweisung durch die Flugsicherung, insgesamt geht das Gericht als Ergebnis der Beweisaufnahme von folgendem Sachverhalt aus:
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20Hinsichtlich des ersten Flugs geht das Gericht davon aus, dass das für den streitgegenständlichen Flug vorgesehene Flugzeug am Vorabend einen Vogelschlag erlitten hatte, der dazu führte, dass ein Ersatzflugzeug aus Hamburg nach München positioniert werden musste. Diese Positionierung wäre nach der internen Organisation der Beklagten möglich gewesen, ohne dass es zu einer Verspätung am Zielflughafen von 3 Stunden oder mehr gekommen wäre. Es geht weiter davon aus, dass die Beklagte in Hamburg um 05:00 Uhr abflugbereit war. Wäre zu dieser Zeit abgeflogen worden, hätte der streitgegenständliche Flug um 06:45 Uhr starten können und den Zielflughafen Thessaloniki noch mit einer Verspätung von weniger als 3 Stunden erreicht. Indes wurde der Beklagten durch die Flugsicherung ein Slot für den Bereitstellungsflug aus Hamburg nach München erst um 05:39 Uhr zugeteilt. Weiter ist das Gericht davon überzeugt, dass die geänderte Slotzuweisung auf einer Wetterbeeinträchtigung am Zielflughafen München beruhte. Dort wurde zwar der Flugverkehr nicht eingestellt, jedoch kam es durch eine Nebellage aus Sicherheitsgründen zu einer größeren Staffelung der Flugzeuge mit der Folge einer Kapazitätsreduzierung. Diese Änderung des der Beklagten zugewiesenen Slots führte dazu, dass sich der streitgegenständliche Flug soweit verspätete, dass der Zielflughafen nicht mehr binnen weniger als 3 Stunden nach planmäßiger Ankunftszeit erreicht werden konnte.
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22Hinsichtlich des zweiten Flugs ist das Gericht davon überzeugt, dass das eingesetzte Flugzeug im Verlauf des Tages zunächst von Stuttgart nach Malaga und zurück geflogen war, sodann von Stuttgart nach London und zurück, zuletzt war ein Flug von Stuttgart nach Berlin vorgesehen und sodann der streitgegenständliche Flug zurück nach Stuttgart. Beim Landeanflug der Vorleistung desselben Flugzeugs in London kam es zwar zu einem Vogelschlag, jedoch war dieser nicht ursächlich für die Annullierung des zweiten Flugs. Die planmäßige Abflugzeit der Vorleistung in London nach Stuttgart war um 13:05 Uhr. Bedingt durch Verspätung der vorangegangenen Vorleistung von Stuttgart nach London und die erforderliche Inspektion nach dem Vogelschlag konnte der ursprünglich vorgesehene Slot zum Abflug nicht mehr erreicht werden, die Flugsicherung teilte einen neuen Slot um 15:49 Uhr zu. Zu diesem Zeitpunkt wäre die Beklagte zum Abflug bereit gewesen, bei Nutzung dieses Slots zum Start in London hätte die restliche Flugdienstzeit der Crew die Durchführung des Flugs von Stuttgart nach Berlin und die streitgegenständliche Rückleistung noch zugelassen, zudem wäre der Zielflughafen Stuttgart innerhalb von weniger als 3 Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreicht worden. Jedoch wurde der der Beklagten durch die Flugsicherung zugewiesene Slot auf 16:34 Uhr verlegt. Ursächlich hierfür waren diverse Gewitterlagen über dem europäischen Kontinent, die dazu führten, dass die Gewitterzellen umflogen werden mussten, was zu einer Kapazitätsreduzierung führte. Die durch die Verlegung des Slots entstandene Verspätung führte dazu, dass der streitgegenständliche Flug sowie seine Vorleistung von Stuttgart nach Berlin annulliert werden mussten.
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24Nach den Bekundungen des Zeugen geht das Gericht weiter davon aus, dass hinsichtlich beider Flüge keine zumutbaren Maßnahmen bestanden, die Annullierung zu verhindern, da am planmäßigen Abflugort kein Ersatzflugzeug und keine Ersatzcrew zur Verfügung stand sowie unter Berücksichtigung auch anderer Fluggesellschaften keine Umbuchungsmöglichkeit bestand.
25II.
2612
27Angesichts des Ergebnisses der Beweisaufnahme erachtet das Gericht die Vorlagefragen für entscheidungserheblich. Die Voraussetzungen des Ausgleichsanspruch gemäß Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c in Verbindung mit Artikel 7 Absatz 1 Satz 1 Buchstabe a der Fluggastrechte-Verordnung liegen grundsätzlich vor, sodass entscheidungserheblich ist, ob in den für die Annullierungen ursächlichen geänderten Slotzuweisungen ein außergewöhnlicher Umstand nach Artikel 5 Absatz 3 der Fluggastrechte-Verordnung liegt.
281.
2913
30Unter Verweis auf Erwägungsgrund 15 der Fluggastrechteverordnung herrscht im wohl überwiegenden Teil der deutschen Rechtsprechung die Ansicht, bei einer geänderten Slotzuteilung durch die Flugsicherung, die auf anderen Gründen als einer verzögerten Startbereitschaft der betroffenen Fluggesellschaft beruht, handele es sich stets um einen außergewöhnlichen Umstand, weil es sich um eine äußere Einwirkung handele, auf die die Fluggesellschaft keinen Einfluss habe (so beispielsweise Hinweisbeschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 16.09.2021, 22 S 238 / 21, grundsätzlich in diese Richtung auch Bundesgerichtshof, Urteil vom 13.11.2013 - X ZR 115/12, NJW 2014, 859 Randnummer 14). Nach anderer Auffassung, insbesondere teilweise in der österreichischen Rechtsprechung vertreten, stellen Slotzuweisungen durch die Flugsicherung nur dann einen außergewöhnlichen Umstand dar, wenn sie nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit der Fluggesellschaft ist, weil mit der Maßnahme aufgrund der Unüblichkeit nicht gerechnet werden müsse (beispielhaft HG Wien, Urteil vom 20.07.2020 1 R 27/20x, BeckRS 2020, 21945). Das vorlegende Gericht neigt der letzteren Auffassung zu. Eine Auslegung dahingehend, jeder Eingriff der Flugsicherung sei stets ein außergewöhnlicher Umstand, dürfte mit dem ersten Erwägungsgrund der Fluggastrechte-Verordnung, dass ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sichergestellt werden soll, in erheblichen Konflikt treten. Allein, dass die Fluggesellschaft auf Slotzuweisungen durch die Flugsicherung keinen Einfluss hat, dürfte für die Begründung eines außergewöhnlichen Umstands nicht genügen, denn der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seiner bisherigen Rechtsprechung betont, dass es nicht allein auf die fehlende Beherrschbarkeit ankomme, sondern darüber hinaus es sich um Umstände handeln müsse, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens seien (EuGH, Urteil vom 23.3.2021 - C-28/20, NJW-RR 2021, 560 Randnummer 23 mit weiteren Nachweisen). Da jeder Flug typischerweise mit der Flugsicherung und ihren Weisungen in Kontakt tritt, wird man eine geänderte Slotzuweisung daher nach hier vertretener Auffassung nicht ohne weiteres als außergewöhnlichen Umstand ansehen können, zumal andernfalls ein und derselbe Umstand anders beurteilt würde, je nachdem ob er unmittelbar oder über den Zwischenschritt einer Weisung der Flugsicherung auf den Flug einwirkt.
312.
3214
33Sollte der Gerichtshof der Europäischen Union die erste Vorlagefrage dahingehend beantworten, dass eine geänderte Slotzuweisung nicht bereits generell einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, wird es darauf ankommen, unter welchen genauen Voraussetzungen die geänderte Slotzuweisung einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, woraus die zweite Vorlagefrage folgt. Das vorlegende Gericht neigt dabei der Auffassung zu, dass wetterbedingte Kapazitätsreduzierungen ihrer Natur und Ursache nach zur normalen Ausübung der Tätigkeit der Beklagten gehören und dadurch bedingt geänderte Slotzuweisungen daher keinen außergewöhnlichen Umstand begründen können, gleich ob die Kapazitätsreduzierung ihre Ursache in der gebotenen Umfliegung von Gewitterlagen auf Reiseflughöhe hat oder ob der Landeanflug auf einen bestimmten Flughafen nebelbedingt kapazitätsreduziert ist. In seiner Vogelschlag-Entscheidung hat der Gerichtshof der Europäischen Union die Annahme eines außergewöhnlichen Umstands, insbesondere das Fehlen einer Ursache, die Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des Luftfahrtunternehmens ist, damit begründet, es mangele bei der Kollision mit einem Vogel und einer hieraus resultierenden Beschädigung an der untrennbaren Verbundenheit mit dem System zum Betrieb des Flugzeugs (Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 4.5.2017, -C- 315/15, NJW 2017, 2665 Randnummer 24). Die für einen außergewöhnlichen Umstand gebotene untrennbare Verbundenheit mit dem System zum Betrieb des Flugzeugs dürfte bei einer wetterbedingt geänderten Slotzuweisung durch die Flugsicherung jedoch gegeben sein, da sowohl die Flugsicherung zum Flugbetriebssystem gehört als auch die jeweilige Wetterlage. Es ist Wesensmerkmal der in der Luftfahrt genutzten Flugzeuge, dass diese für ihren Betrieb auf die Erdatmosphäre und die ihr innewohnenden Eigenschaften angewiesen sind. Demnach gehören Eigenschaften der Atmosphäre, zu denen auch eine bestimmte Wetterlage gehört, nach Auffassung des vorlegenden Gerichts grundsätzlich untrennbar zum System zum Betrieb des Flugzeugs. Demnach gehören gewisse Widrigkeiten der Wetterlage und dadurch bedingte Kapazitätsreduzierungen zur normalen Ausübung der Luftfahrt. Die Grenze des außergewöhnlichen Umstands dürfte nach hier vertretener Auffassung bei einer geänderten Slotzuweisung wegen wetterbedingter Kapazitätsreduzierung erst dann erreicht sein, wenn die Wetterlage selbst derart stark von den üblichen Eigenschaften der Erdatmosphäre abweicht, dass der Flugverkehr zu erheblichen Teilen, jedenfalls zu mehr als der Hälfte der planmäßigen Kapazität, eingestellt ist, mithin bezogen auf die Luftfahrtfolgen von einem Unwetter gesprochen werden kann. Darunter liegende Beeinträchtigungen durch Gewitter-, Nebel- oder Windlagen sind Folge der luftverkehrstypischen Berechnung der Kapazitäten unter Zugrundelegung flugfreundlicher Wetterbedingungen; dass diese nicht immer gegeben sind, ist ein typisches Risiko des Systems Luftfahrt. Es folgt aber aus dem Ziel eines hohen Verbraucherschutzstandards durch die Fluggastrechte-Verordnung, dass typische Risiken der Luftfahrt keinen außergewöhnlichen Umstand begründen können.
34III.
3515
36Die Aussetzung des Rechtsstreits bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union folgt aus § 148 Abs. 1 der Zivilprozessordnung.
37Düsseldorf, 17.03.2022
38Amtsgericht
39T
40Richter am Amtsgericht