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Die Angeklagten werden freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen der Angeklagten werden der Staatskasse auferlegt.
G r ü n d e :
2I.
31.
4Der 56-jährige Angeklagte T1 wurde als einziges Kind seiner Eltern in Ort-01 geboren, wo er im elterlichen Haushalt aufwuchs. Altersgerecht eingeschult besuchte er nach der Grundschule bis zur elften Klasse die Gesamtschule. Anschließend begann er eine Ausbildung bei der Polizei und legte im Jahr 1985 die erste Fachprüfung ab. Nachdem er während der folgenden Jahre in Ort-02 in Hundertschaften eingesetzt gewesen war, absolvierte er ab 1991 die Kommissarausbildung. Nach Abschluss des Studiums im Jahr 1994 versah er seinen Dienst als Polizeikommissar an verschiedenen Standorten und ganz überwiegend bei der Wasserschutzpolizei. 2011 wechselte der Angeklagte T1 nach Ort-01, wo er für einige Monate in der Wache Mitte, anschließend ab Oktober 2011 durchgehend in der Wache Nord als Dienstgruppenleiter fungierte.
52.
6Die 32-Jährige Angeklagte S1 wurde als ältestes von drei Kindern ihrer Eltern in Ort-03 geboren, wo sie zusammen mit den zwei jüngeren Brüdern im Haushalt der Eltern aufwuchs. Altersgerecht eingeschult besuchte sie nach der Grundschule zunächst die Realschule und schloss nach zwei weiteren Jahren ihre schulische Laufbahn mit dem Erwerb des Fachabiturs ab. Anschließend absolvierte sie bis zum Jahr 2014 eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau und war in den folgenden zwei Jahren als Key Account Managerin tätig. 2016 begann sie im Märkischen Kreis ihre Polizeiausbildung, nach deren Abschluss sie ab dem Jahr 2019 in der Polizeiwache Nord in Ort-01 eingesetzt war. Seit September 2022 versieht die Angeklagte S1 in Führungsstellen in Ort-04 und in Ort-05 ihren Dienst.
73.
8Der 35-jährige Angeklagte H1 wurde als jüngerer von zwei Söhnen seiner Eltern in Ort-06 geboren, wo er im elterlichen Haushalt aufwuchs. Altersgerecht eingeschult besuchte er nach der Grundschule die Realschule. Anschließend begann er 2005 im Alter von 16 Jahren eine Ausbildung bei der Bundespolizei in Ort-07 zum mittleren Dienst, bevor er für vier Jahre in Einsatzhundertschaften eingesetzt war. Ab 2011 absolvierte der Angeklagte H1 an der Fachhochschule in Ort-01 das Studium für den gehobenen Dienst, das er nach drei Jahren abschloss. Von 2014 bis zum September 2022 war er durchgängig in der Wache Nord in Ort-01 eingesetzt.
94.
10Die 30-jährige Angeklagte L1 wurde als zweite Tochter ihrer Eltern in Ort-01 geboren, wo sie im elterlichen Haushalt aufwuchs. Im Alter von fünf Jahren eingeschult besuchte sie nach der Grundschule das Gymnasium, das sie im Jahr 2013 mit dem Abitur abschloss. 2014 begann die Angeklagte L1 das dreijährige duale Studium zur Polizeikommissarin an der Polizeihochschule in Ort-01. Nachdem sie während dieser Zeit bereits in der Wache Ort-01-Innenstadt eingesetzt war, versah sie nach Abschluss des Studiums ab 2017 ihren Dienst als Polizeikommissarin ausschließlich in der Wache Nord.
115.
12Der 31-jährige Angeklagte C1 wurde als zweites von drei Kindern seiner Eltern in Ort-08 geboren und wuchs zusammen mit seinem älteren Bruder und der jüngeren Schwester im elterlichen Haushalt in Ort-09 auf. Altersgerecht eingeschult besuchte er nach der Grundschule das Gymnasium, wo er 2013 die Abiturprüfung ablegte. Ab 2014 verpflichtete sich der Angeklagte C1 für drei Jahre zum Dienst bei der Bundeswehr, den er als Grenadier und im Bereich Versorgung an den Standorten Ort-10 und Ort-11 versah. Ab 2016 nahm der Angeklagte C1 das dreijährige duale Studium an der Polizeihochschule in Ort-01 auf. Im Rahmen der praktischen Ausbildung war er in Ort-12 und Ort-09 eingesetzt. Nach Abschluss des Studiums im Jahr 2019 versah er seinen Dienst als Polizeikommissar in der Wache Nord in Ort-01, wo er bereits zuvor auch Praktika absolviert hatte.
13Keiner der Angeklagten ist bisher strafrechtlich in Erscheinung getreten.
14II.
15Den Angeklagten sind durch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 09.02.2023 verschiedene Straftaten zum Nachteil des am 08.08.2022 im Rahmen eines Polizeieinsatzes getöteten V1 vorgeworfen worden: dem Angeklagten C1 ein Totschlag gemäß § 212 Abs. 1 StGB, den Angeklagten S1, L1 und H1, jeweils eine gefährliche Körperverletzung im Amt gemäß §§ 340 Abs. 1 und Abs. 3, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB und dem Angeklagten T1 die Anstiftung zu einer gefährlichen Körperverletzung im Amt gemäß §§ 340 Abs. 1 und Abs. 3, 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, 26 StGB. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde dem Angeklagten T1 im Rahmen des ersten Hauptverhandlungstages der rechtliche Hinweis auf eine mögliche Strafbarkeit wegen Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat gemäß § 357 Abs. 1 StGB erteilt.
16Insgesamt zusammengefasst ist den Angeklagten folgendes zur Last gelegt worden:
17Die Angeklagten, die seit mehreren Jahren und ab dem Jahr 2019 sämtlich in der Polizeiwache Nord in Ort-01 ihren Dienst versahen, wurden am Nachmittag des 08.08.2022 gegen 16.30 Uhr zu einem Einsatz in der Jugendhilfeeinrichtung X1 in der Straße-01 00 gerufen. Einsatzgrund war der Notruf eines Mitarbeiters der Einrichtung, nach dessen Angaben der dort untergebrachte V1 - wahrscheinlich in suizidaler Absicht - ein Messer gegen sich selbst richte. Im Verlauf des unter der Leitung des Angeklagten T1 durchgeführten Polizeieinsatzes setzte die Angeklagte S1 auf Anweisung des Angeklagten T1 mittels des großen Reizstoffsprühgerätes (RSG 8) Pfefferspray gegen den Geschädigten ein. Die Angeklagten H1 und L1 brachten Distanzelektroimpulsgeräte (DEIG) zum Einsatz, bevor der Angeklagte C1 aus einer Maschinenpistole (MP 5) sechs Schüsse auf ihn abgab. Der Geschädigte wurde durch die nach dem Anklagevorwurf ohne Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe eingesetzten Mittel verletzt und verstarb an den Folgen des Schusswaffeneinsatzes.
18III.
19Von dem unter II. geschilderten Tatvorwurf waren die Angeklagten aus rechtlichen Gründen freizusprechen.
20Die Kammer hat in der Sache folgende Feststellungen getroffen:
21Der Getötete V1 wurde nach seinen zum großen Teil nicht näher zu überprüfenden Angaben gegenüber den deutschen Behörden am 07.11.2005 in Ort-13/Mali geboren. Nach wenigen Monaten sei er mit seiner Familie in den Senegal gezogen und dort bei seiner Mutter aufgewachsen. Diese sei wenige Monate vor seiner Ankunft in Deutschland an den Komplikationen eines chirurgischen Eingriffs verstorben. Der Vater, den der Angeklagte nicht kennengelernt habe, sei Soldat gewesen und im Krieg gefallen. Aufgrund der schwierigen finanziellen Situation der Familie habe er Ende des Jahres 2019 zusammen mit seinem einzigen jüngeren Bruder den Senegal verlassen, um nach Europa zu gelangen. Die Route beschrieb V1 über Mali und Mauretanien zunächst nach Marokko, wo er sich zusammen mit dem Bruder bis 2021 unter schwierigen Bedingungen ohne Einkommen und Unterkunft aufgehalten habe. Bei der Ende des Jahres 2021 von Marokko aus angetretenen Überfahrt nach Spanien sei das Boot gesunken und der jüngere Bruder ertrunken, während er selbst gerettet und nach Sevilla gebracht worden sei. Auch dort habe er zunächst auf der Straße gelebt, bevor er in einem Asylheim untergebracht gewesen sei. Nach etwa drei Monaten sei er mit dem Zug weiter nach Paris und von dort kurze Zeit später zur deutschen Grenze gefahren, die er zu Fuß überquert habe.
22Diese vorstehenden Angaben des V1 sind, was die Route vom Senegal nach Deutschland anbelangt, plausibel. Hinsichtlich des Verlusts seiner Familienangehörigen stellen die Angaben sich jedoch als unwahr dar, zumal zwei Brüder sowie der Vater des Getöteten als Nebenkläger am Verfahren teilgenommen haben und seine Mutter ebenfalls nicht verstorben ist.
23Nach seinem Grenzübertritt am 30.04.2022 reiste V1 mit dem Zug nach Ort-14, wo er sich bei der dortigen Polizeiinspektion als unbegleiteter Minderjähriger vorstellte. Daraufhin erfolgte zunächst seine vorläufige Inobhutnahme durch das Jugendamt des Landkreises Ort-15 und von dort die weitere Zuweisung an das später mit Beschluss des Amtsgerichts Mainz vom 24.05.2022 zum Vormund bestellte Jugendamt des Landkreises Rhein-Pfalz-Kreis als zuständige Landesstelle für die Inobhutnahme. Auf Veranlassung des zuständigen Jugendamtes, bei dem die Zeugin D1 als Diplom-Sozialarbeiterin mit dem Fall des V1 betraut war, wurde er ab Anfang Mai 2022 im Clearinghaus der Y1 gGmbH in Ort-16 untergebracht. Dort machte V1 gegenüber den Mitarbeitern die oben dargestellten, mindestens in Bezug auf seine familiären Verhältnisse unwahren Angaben. Die Verständigung mit V1, der Wolof als Muttersprache, ansonsten Bambara, französisch und etwas spanisch sprach, erfolgte – wenn nicht über Dolmetscher - jedenfalls mit der Zeugin D1 in französischer Sprache. Die Zeugin D1 stand mit V1 im Hinblick auf die Covid19-Pandemie nicht in persönlichem, über Videotelefonate jedoch in regelmäßigem fernmündlichen Kontakt und ließ sich zudem durch Gespräche mit den Mitarbeitern der Einrichtung über die Entwicklung des V1 informieren. Danach zeigte V1 sich während seines Aufenthaltes grundsätzlich freundlich, allerdings aufgrund des angegebenen Verlustes sämtlicher Familienangehöriger auch psychisch belastet und auf Lärm und Konflikte mit Rückzug reagierend. Er spielte sehr gern Fußball und hatte die Vorstellung, professioneller Fußballspieler zu werden. In diesem Zusammenhang war er dreimal aus der Heimunterbringung in Ort-16 abgängig und wurde jeweils in Dortmund bzw. auf dem Weg dorthin aufgegriffen, da er Fan der Mannschaft von Borussia Dortmund war und deren Spiele in Dortmund verfolgen wollte.
24Vor diesem Hintergrund war V1 über seinen durch das Jugendamt initiierten und am 01.08.2022 erfolgten Umzug in die Jugendhilfeeinrichtung „K1“ in der Straße-01 00 in Ort-01 erfreut. Es handelt sich dabei um eine Außengruppe der in Ort-01 ansässigen und der katholischen Paulusgesellschaft zugehörigen Jugendhilfe K2, in der bis zu zwölf aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammende oder unbegleitet geflüchtete Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren durch sieben Mitarbeiter betreut werden können. Auch in diesem Wohnheim zeigte V1 in den ersten Tagen äußerlich ein grundsätzlich entspanntes, im Zusammenhang mit der in Gemeinschaft am Abend des 05.08.2022 verfolgten Fußballübertragung auch fröhliches Verhalten. Ebenso äußerte er sich in Handykontakten zu nicht näher identifizierten Dritten positiv über seinen Aufenthalt in Deutschland. Gegenüber einer weiblichen Person mit Namen W2 und senegalesischer Rufnummer schilderte er in einer Voice-Chat-Unterhaltung vom 06.08.2022 gegen 18.54 Uhr sein Leben positiv und lud sie ein, ihn in seiner schönen Unterkunft zu besuchen. Auch gegenüber anderen Chatpartnern äußerte V1 noch bis zuletzt am 08.08.2022, dass es ihm gut gehe.
25Tatsächlich litt V1 aber darunter, dass er in einem fremden Land allein auf sich gestellt war und an ihn von nicht näher identifizierten Dritten über das Mobiltelefon Erwartungen zu finanzieller Unterstützung seiner Mutter gestellt wurden. Insofern teilte er in einem am 06.08.2022 um 14.50 Uhr einer männlichen unter dem Namen W3 auftretenden Person mit spanischer Rufnummer auf dessen Vorhalt, dass er doch in Deutschland Kost, Logie und Kleidung gratis erhalte, mit, er könne dennoch seiner Mutter kein Geld schicken, da er nicht über die dafür erforderlichen Papiere verfüge.
26Die tatsächlich angespannte psychische Verfassung des V1 zeigte sich schließlich in der Nacht vom 06. auf den 07.08.2022. Zunächst äußerte er gegenüber dem als Betreuer diensthabenden Zeugen E1 (früher E2) – die Verständigung erfolgte mittels einer Übersetzungs-App sowie teilweise in französischer Sprache – er fühle sich durch einen Mitbewohner, der schon mehrfach das gemeinsam genutzte Bad aufgesucht und jeweils das Licht angeschaltet habe, gestört und am Einschlafen gehindert. Auch nachdem der Zeuge E1 versucht hatte, durch ein Nachtlicht Abhilfe zu schaffen, beruhigte V1 sich nicht. Vielmehr äußerte er, nicht länger in der Einrichtung bleiben zu wollen, ohne jedoch sagen zu können, wohin er zu gehen beabsichtige. Trotz der Bemühungen des Zeugen E1, ihn zum Bleiben zu überreden, verließ V1 die Einrichtung, woraufhin der Zeuge E1 ihn bei der Polizei als vermisst meldete.
27V1 begab sich zur Polizeiwache in der Straße-03 00 in Ort-01, wo er gegen 0.30 Uhr am 07.08.2022 eintraf. Gegenüber der dort diensthabenden Zeugin PKin N1, die zunächst versuchte, sich in deutscher Sprache mit ihm zu verständigen, äußerte er wiederholt „Hospital, Hospital“ und deutete durch Gesten Schnittbewegungen an seinem Unterarm an. Die Zeugin PKin N1 verständigte schließlich telefonisch eine spanisch sprechende Kollegin, der gegenüber V1 angab, Suizidgedanken zu haben und ein Gespräch mit einem Arzt zu benötigen. Nach Überprüfung der Personalien und Rücksprache mit dem Notdienst des Jugendamtes der Stadt Ort-01 orderte die Zeugin PKin N1 einen Krankentransportwagen, durch den V1 um 0.58 Uhr abgeholt und der G1-Klinik in Ort-15 zugeführt wurde.
28Bei seiner stationären Aufnahme in die G1-Klinik zeigte V1 sich kooperativ, wenngleich aufgrund der Sprachbarriere eine Kommunikation und die Erstellung einer Anamnese erschwert waren. Im Hinblick auf die insofern eher unklare Situation und die als Aufnahmegrund angenommene Suizidgefahr wurde V1 für die Nacht in einem Beobachtungszimmer untergebracht und dauerhaft überwacht. Auf eine fortbestehende Suizidalität hinweisende Verhaltensweisen wie Selbstverletzungsversuche wurden bei V1, der die Nacht ganz überwiegend schlafend verbrachte, nicht festgestellt.
29Am Vormittag des 07.08.2022 untersuchte die als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der G1-Klinik tätige Zeugin F1 den V1. Nachdem eine Verständigung über eine ÜbersetzungsApp nicht ausreichend erschien, fand die Exploration des V1 durch die Zeugin F1 mit Hilfe des am frühen Nachmittag als Dolmetscher für die französische Sprache hinzugezogenen Zeugen W1 statt. Dabei berichtete V1 erneut vom angeblichen Tod seiner Eltern, des kleinen Bruders sowie eines Onkels. Er äußerte müde zu sein, eigentlich zurück nach Afrika zu wollen und dass er manchmal tot sein wolle, ohne dabei jedoch konkrete Handlungsabsichten zu äußern. Insgesamt schätzte die Zeugin F1 V1 als wach, orientiert, auskunftsbereit und schwingungsfähig ein. Ein wahnhaftes Erleben schloss sie aus. Nachdem die Zeugin F1 mit ihm die in der Jugendeinrichtung möglichen Hilfsangebote und seinen Wunsch nach einem festen Ansprechpartner sowie einem ruhigen Zimmer erörtert hatte, lehnte V1 eine weitere stationäre Behandlung ab und erklärte sich damit einverstanden, zunächst in sein Zimmer in der Wohngruppe zurückzukehren. Die Zeugin F1 diagnostizierte eine depressive Episode ohne psychotische Symptome, dabei eine Distanzierung von suizidalen Absichten und ordnete bei Fehlen von Anhaltspunkten für eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung und die Notwendigkeit einer zwangsweisen Unterbringung die Entlassung des V1 an. Nachdem die Zeugin F1 telefonische Rücksprache mit der Wohngruppe gehalten und die Wünsche des V1 sowie das Explorationsergebnis mitgeteilt hatte, erklärte man ihr, eine Abholung des V1 nicht organisieren zu können. Vereinbarungsgemäß kehrte V1 deshalb am Nachmittag des 07.08.20222 mit einem Taxi in die Jugendeinrichtung zurück.
30Am Montag, dem 08.08.2022, erfuhren die in der Einrichtung als betreuende Sozialarbeiter tätigen Zeugen M1, E1 und A1 sowie der als Leiter der Wohngruppe eingesetzte Sozialarbeiter, der Zeuge P1, nach Dienstantritt von der am Wochenende stattgefundenen stationären Behandlung des V1 sowie über den mitgegebenen Arztbrief von der gestellten Diagnose. Als sich die beim zuständigen Jugendamt tätige Zeugin D1 gegen 15.00 Uhr telefonisch bei der Einrichtung nach dem Zustand des V1 erkundigen wollte, reichte die an diesem Tag als Sozialarbeiterin für ihn zuständige Zeugin M1 das Telefonat an ihn weiter. Die Zeugin D1 erklärte V1, dass er nicht beunruhigt sein solle. Es werde ein Dolmetscher für seine Muttersprache bestellt werden, mit dessen Hilfe er seine Bedürfnisse in der Einrichtung darstellen könne. In dem etwa fünfminütigen Telefonat wirkte V1 auf die Zeugin D1 ruhig, nicht depressiv, sondern eher müde.
31Noch während die Zeugin D1 mit der Zeugin M1 telefonierte, hielt V1 ein kleines, zum Bestreichen von Broten genutztes Besteckmesser in der Hand. Der in deutscher Sprache geäußerten Aufforderung der Zeugin M1, das Messer wegzulegen, kam V1 zunächst nicht nach, händigte es dann aber doch dem hinzugerufenen Zeugen A1 aus.
32Etwa eine halbe bis eine Stunde später hatte V1 ein deutlich größeres Küchenmesser an sich gebracht, ohne dass Einzelheiten zu seiner Vorgehensweise festgestellt werden konnten, und sich damit in den Innenhof der Jugendeinrichtung begeben.
33Zugang zu diesem Innenhofbereich erlangt man von außen lediglich über eine im nördlichen Bereich des Grundstücks Straße-01 00 zwischen dem Haus und der Kirche K1 liegende Zufahrt. Nördlich ist der Innenhof durch das Gebäude Straße-01 00, östlich über die gesamte Grundstückslänge durch das Kirchengebäude, südlich durch einen von der Grundstücksinnenseite ca. 1,69 m hohen und vom Gehweg der Straße-02 1,85 m hohen, mit spitz zulaufenden Pfosten entlang der Straße-02 verlaufenden Metallzaun und westlich durch ein Wohngebäude ohne Zugang zum Innenhof begrenzt.
34Der spätere Tatort im engeren Sinne befindet sich im südlichen Bereich des Innenhofes. Dort verjüngt sich am Ende des südlichen von zwei Gebäudevorsprüngen die Kirche in östliche Richtung mit einer geraden Außenwand von 6,81 m bis zu einem Turm, von dem rechtwinklig eine Kirchenwand über eine Länge von 3,36 m südlich bis zur durch den oben beschriebenen Zaun abgegrenzten Straße-02 reicht. Der von dort den Innenhof im Süden begrenzende Metallzaun endet in westlicher Richtung nach knapp 18 m an einer durch die Wohngruppe als Schuppen genutzten alten Kapelle, vor deren nördlicher Gebäudewand sich ein großer Baum befindet. Entlang des Zauns, in dem sich ein zum Tatzeitpunkt verschlossenes Tor befindet, verläuft ein etwa vier Meter breiter Grünstreifen mit Sträuchern und kleinen Bäumen. Für die weiteren Einzelheiten wird gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO auf die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbilder Band II Blatt 586 und 590 der Hauptakte, die Lichtbilder 09 bis 21 aus dem Sonderband Lichtbildmappe und die Lichtbilder aus dem Spurensicherungsbericht der KTU des Polizeipräsidiums Ort-17 vom 18.08.2022 (Band II, Bl. 842 und 843 der Hauptakte) Bezug genommen.
35Zum Tatzeitpunkt war neben dem oben beschriebenen zweiten Gebäudevorsprung in einem Abstand von etwa einem Meter westlich zur Kirchenmauer der zur Einrichtung gehörende PKW des Typs Smart mit dem amtlichen Kennzeichen (K01) geparkt. Die Front des Fahrzeugs schloss mit der südlichen Außenwand des zweiten Kirchengebäudevorsprungs ab und bildete insofern dessen Verlängerung. Bezüglich des Standortes des Pkw Smart wird auf die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbilder Band II, Blatt 584 und 585 der Hauptakte verwiesen.
36In diesen insofern an drei Seiten umschlossenen und nur in westlicher Richtung offenen Bereich des Innenhofs hatte V1 sich zurückgezogen. Er lehnte mit dem unteren Rücken bzw. dem Gesäß an der dem Zaun gegenüberliegenden Kirchenmauer, etwa einen bis eineinhalb Meter von der Gebäudeecke entfernt. Bei gebeugten Knien hielt er seinen unbekleideten Oberkörper nach vorn gebeugt, der Blick war zu Boden gerichtet. Das mitgeführte, etwa 28 cm lange Küchenmesser mit einer Klingenlänge von ca. 15 cm, für dessen Erscheinungsbild im Einzelnen auf die in Augenschein genommenen Lichtbilder 048 und 049 aus dem Sonderband Lichtbildmappe Bezug genommen wird, hielt er mit dem spitz zulaufenden Klingenende in Bauchhöhe gegen seinen Oberkörper gerichtet.
37V1 befand sich in einer psychisch angespannten Situation, in der er mit seiner Lebenssituation unglücklich war und der weniger als zwei Tage zuvor geäußerte Wunsch, nicht mehr leben zu wollen, noch vorhanden oder wiederaufgekommen war. Ob V1 in dieser Situation tatsächlich vorhatte, sich selbst mit dem Messer zu töten, war nicht sicher festzustellen. Aufgrund der objektiven äußerlichen Umstände stellte sich für außenstehende Dritte die Situation ohne Weiteres als unmittelbar bevorstehender dar, insbesondere bei Kenntnis der wegen Suizidalität zwei Tage zuvor stattgefundenen stationären psychiatrischen Behandlung.
38Von anderen Jugendlichen und Betreuern, die sich im nördlichen Teil des Innenhofs auf einer Rasenfläche im Bereich einer dort platzierten Sitzgruppe aufhielten und den oben beschriebenen Bereich hinter dem Kirchengebäudevorsprung nicht einsehen konnten, war V1 zunächst unbemerkt geblieben. Er fiel jedoch jugendlichen Passanten auf, die ihn in seiner oben dargestellten Haltung durch den Zaun zur Straße-02 beobachtet hatten. Die Fußgänger machten auf die Situation des V1 einen sich im Innenhof aufhaltenden 16-jährigen Bewohner der Einrichtung aufmerksam, der sich daraufhin an den Zeugen A1 wandte. Gegen 16.10 Uhr begab sich der Zeuge A1 in den Bereich hinter der Kirchenmauer, wo er V1 in der oben beschriebenen Haltung und mit dem gegen sich selbst gerichteten Messer sah. Der Zeuge A1 ging im Bereich der Gebäudeecke in einem Abstand von etwa eineinhalb bis zwei Metern von V1 in die Hocke und sprach ihn sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache an. Er fragte V1, was denn los sei und dass er doch das Messer weglegen solle. Darauf reagierte V1 in keiner Weise, sondern verharrte unbewegt in seiner Position. Auch die Zeugin M1, die dem Zeugen A1 in kurzem zeitlichem Abstand gefolgt war, versuchte verbalen und Blickkontakt zu V1 aufzunehmen, ohne dass von dessen Seite darauf eine irgendwie geartete Reaktion erfolgte. In dieser Situation setzte schließlich der Zeuge E1 den google-Translater zur Übersetzung in die französische Sprache ein, um V1 fragen zu können, ob er einen Dolmetscher benötige, ihn zu bitten, das Messer wegzulegen und ihm zu versichern, dass alles gut werde. Abgesehen von zwei kurzen Bewegungen des Oberkörpers verharrte V1 weiterhin in seiner Haltung und zeigte keinerlei äußere Reaktion auf diese Ansprache. Ob V1 die Versuche zur Kontaktaufnahme wahrnahm und darauf nicht reagieren wollte oder aufgrund seiner psychischen Situation schon nicht zur Situationserfassung oder bei entsprechender Wahrnehmung zu einer Reaktion nicht in der Lage war, war nicht aufzuklären. Jedenfalls entschloss sich der Zeuge P1, der als Teamleiter aus einer Besprechung in seinem Büro herbeigerufen worden war und die Versuche seiner Kollegen zur Kontaktaufnahme und Kommunikation mit V1 verfolgt hatte, schließlich über den Notruf 110 die Polizei zu alarmieren. Er begab sich dazu in sein Büro, von wo aus er einen großen Teil des Innenhofs, nicht jedoch den Standort des V1 einsehen konnte. Der Anruf des Zeugen P1 ging um 16:25:38 Uhr in der Leitstelle der Polizei in Ort-01 ein.
39In diesem bis zur späteren Schussabgabe gehaltenen Telefonat teilte der Zeuge P1 mit, dass sich ein seit etwa einer Woche in der Einrichtung untergebrachter 16jähriger Jugendlicher im Innenhof – möglicherweise in suizidaler Absicht - ein etwa 15 bis 20 cm langes Küchenmesser an den Bauch halte. Eine Verständigung in deutscher Sprache sei nicht möglich, der Jugendliche spreche lediglich französisch und spanisch. Der Versuch einer Kontaktaufnahme mit Hilfe einer ÜbersetzungsApp für die französische Sprache sei gescheitert, der Jugendliche habe darauf bisher keinerlei Reaktion gezeigt. Eine suizidale Absicht werde schon insofern befürchtet, als der Jugendliche am vorausgegangenen Wochenende wegen geäußerter Suizidgedanken stationär in der G1-Klinik behandelt worden sei. Die ihm durch die Leitstelle gestellten Fragen beantwortete der Zeuge P1 dabei teilweise nach Rücksprache mit den Zeugen M1 und E1, die sich zunächst weiterhin im Innenhof in Sichtweite des V1 aufhielten.
40Diese Informationen wurden im Verlauf des Gesprächs noch mit Angaben des Zeugen P1 zu den genauen Örtlichkeiten und Gegebenheiten im Innenhof, insbesondere Zugangsmöglichkeiten, dem genauen Standort des V1 sowie dessen Statur und Kleidung ergänzt und von der Leitstelle über Funk an die polizeilichen Einsatzkräfte weitergegeben.
41Ab 16:27:44 Uhr gelangte der Einsatz über einen Suizidversuch in der Jugendeinrichtung in der Straße-01 00- nach und nach mit sämtlichen oben dargestellten Informationen - über Funk an den Angeklagten EPHK T1, der sich zusammen mit dem Zeugen PK M1, in der Nähe der Einrichtung befand. Während die beiden uniformierten Beamten in einem Streifenwagen (Funkrufname 12/21) zur Einrichtung fuhren, forderte der Angeklagte T1 um 16:28:48 Uhr Unterstützung durch zivile Einsatztrupps sowie weitere uniformierte Streifenwagenbesatzungen an. Nachdem der Angeklagte T1 mit dem Zeugen PK M1 in der Straße-01 eingetroffen waren, postierten sie sich mit dem Streifenwagen zunächst vor dem Gebäude Straße-01 00. Über Funk wies der als Einsatzleiter fungierende Angeklagte T1 an, dass auch die weiteren Polizeikräfte verdeckt und ohne Einsatz von akustischen Signalen über die Straße-04 lediglich bis zur Holsteiner Straße Nr. 11 zur Einsatzbesprechung anfahren sollten. Dort trafen als weitere uniformierte Beamte zuerst die Angeklagten PK C1 und PKin L1 sowie der Zeuge KA R1 als Besatzung des zweiten Streifenwagens (Funkrufname 12/35) ein; als zivile Kräfte zunächst mit Fahrrädern die Zeugen POK Q1 und POK B1 (Funkrufname 12/82), dann ebenfalls in Zivil die Zeugen PHKin J1 und POK Z1 (Funkrufname 12/81), zuletzt der dritte Streifenwagen (Funkrufname 12/32) mit den Angeklagten POK H1 und PKin S1 sowie der Zeugin KAin P2 als weitere uniformierte Beamte.
42Zunächst begaben sich die Zeugen POK Q1 und POK B1 - nach kurzer Einweisung durch den Angeklagten T1 zum Einsatzgrund einer suizidalen Person mit Messer - und mit dem Auftrag als zivile Aufklärung die Lage zu sondieren von der Straße-01 aus durch den Torbogen als einzigem Zugang in den Innenhof der Einrichtung. Bereits im nördlichen Bereich wurden sie von der an diesem Tag ebenfalls als Betreuerin tätige Zeugin P4, die die Zeugen POK Q1 und POK B1 nicht als Polizeibeamte erkannte, gebeten, das Gelände wieder zu verlassen, da alles in Ordnung sei. Dieser Aufforderung kamen die Zeugen POK Q1 und POK B1 nach und trafen auf der Holsteiner Straße auf die anderen zivilen und uniformierten Kräfte. Dort wurde unter der Leitung des Angeklagten T1 und mit Hilfe des durch den Zeugen P1 auf die Straße-01 beorderten Zeugen A1 der Einsatzablauf erörtert, wobei der Zeuge A1 erneut insbesondere den Standort des V1 erklärte. Ebenso berichtete er von den bisherigen erfolglosen Versuchen, in französischer Sprache mit V1 in verbalen Kontakt zu treten.
43Der durch den Angeklagten T1 vorgegebene Einsatzplan sah vor, dass zunächst die zivilen Kräfte die Lage aufklären und erneut versuchen sollten, verbalen Kontakt zu V1 aufzunehmen. Dabei kam aufgrund seiner entsprechenden Sprachkenntnisse insbesondere dem Zeugen POK Q1 die Aufgabe zu, V1 in spanischer Sprache anzusprechen, um über einen möglichen Austausch in einer V1 bekannten Sprache Informationen zu dessen psychischem Zustand sowie seinen Handlungsmotivationen zu erhalten und ihn ggf. allein durch Ansprache an suizidalen Absichten hindern zu können.
44Für den Fall, dass V1 - wie zuvor bei den Bemühungen der Betreuer um eine Kontaktaufnahme - nicht auf die Ansprache der zivilen Einsatztrupps reagieren würde, sollte durch die Angeklagte S1 das Reizgassprühgerät RSG 8 eingesetzt werden. Dabei ging der Angeklagte T1 davon aus, dass – wie auch in vorherigen Einsätzen erfolgreich praktiziert – V1 das Messer fallenlassen würde, um seine Hände zur Linderung der durch den Reizstoff hervorgerufenen massiven Augen- und Schleimhautreizung einsetzen zu können. Die sich dadurch bietende Gelegenheit sollte durch die Beamten genutzt werden, V1 zu überwältigen und von suizidalen Handlungen abzuhalten. Falls die Entwaffnung des V1 so nicht gelänge, sollten zur Eigensicherung der Beamten Distanzelektroimpulsgeräte (DEIG) mitgeführt und ein Beamter als Sicherungsschütze mit einer Maschinenpistole MP5 bewaffnet werden.
45Das als nach diesem Plan vorrangig einzusetzende Reizstoffsprühgerät RSG 8 des Herstellers Carl Hooernecke vom Typ TW1000 RSG-8 enthält den Reizstoff Oleoresin Capsicum und verfügt im Gegensatz zu dem kleineren RSG 3 über eine größere Reichweite von vier Metern. Es wird grundsätzlich gezielt gegen das Gesicht von Einzelpersonen eingesetzt. Das enthaltene Pfefferextrakt wirkt auf Augen, Atemwege und Haut. Die Wirkung ist dabei von Person zu Person unterschiedlich, überwiegend führt es zum Lidschluss, Reiben der Augen, Wegdrehen des Gesichts, Schmerzen, Brennen, Würgereiz und Luftnot. Bezweckt ist eine Herabsetzung des Widerstandes und die Ermöglichung einer Überwältigung und Festnahme. Die Reaktionen reichen von einer sofortigen Wirkung, über eine stark verzögerte Wirkung, einer kurzzeitigen Reaktion, die dann wieder abflacht, bis hin zu gar keiner Wirkung.
46Die zur Sicherung der eingesetzten Beamten vorgesehenen Distanzelektroimpulsgeräte (DEIG) nutzen die elektrospezifische Schmerzinduktion sowie die Stromwirkung auf die Skelettmuskulatur, um auf Distanz durch Applikation hochfrequenter Stromimpulse hoher Spannung bei gleichzeitig niedriger Stromstärke eine allgemeine und vor allem willentlich nicht beeinflussbare tetanische Kontraktion der Skelettmuskulatur bei einer getroffenen Person hervorzurufen. Hierdurch wird die betreffende Person in Abhängigkeit von der getroffenen Körperregion und des Elektrodenabstandes für die Dauer der Stromapplikation teilweise oder vollständig handlungsunfähig. Beim Beschuss mit einem DEIG werden bei dem hier eingesetzten Modell der Firma Axion, Gerätemodell Taser 7, zwei Pfeilelektroden mit einem Gewicht von 4,7 g und einer Geschwindigkeit von bis zu ca. 55 m/s beschleunigt. Am Ende der als Geschosse verwendeten Elektroden befindet sich ein eingehaktes Metallende mit einer Länge von ca. 1,15 cm, das in die Haut bzw. in das Zielmedium eindringt.
47Um eine ganzheitliche Muskelkontraktion einer getroffenen Person zu garantieren, sollte der Elektrodenabstand idealerweise mindestens 30 cm betragen und möglichst am Rücken über die Wirbelsäule angelegt sein. Bei dieser Trefferlage kommt es zu einer willkürlich nicht beeinflussbaren, ganzheitlichen Muskelkontraktion mit einer sofortigen vollständigen Handlungsunfähigkeit für die Dauer der Stromapplikation. Ein kürzerer Abstand der Pfeilelektroden und andere Trefferlokalisationen können zu einer nur partiellen Muskelkontraktion und somit zu einer Teilhandlungsunfähigkeit führen. Die Patronen des durch die Angeklagten verwendeten DEIG T7 sind mit einem 12-Grad- und einem 3,5-Grad-Einsatz erhältlich. Die Wahl der eingesetzten Patrone ist von der Schussentfernung abhängig, wobei die maximale Reichweite auf ca. 7,5 m begrenzt ist.
48Bei der nach dem Einsatzplan des Angeklagten T1 für den Sicherungsschützen vorgesehenen Waffe handelt es sich um eine vollautomatische Maschinenpistole des Herstellers Heckler & Koch, Modell MP5 mit Kaliber 9 mm Luger, die in sämtlichen Streifenwagen zur Ausstattung gehört. Die in Einzel- und auf Knopfdruck auch in Dauerfeuer verschießbare Munition besteht aus Hohlspitz-Vollgeschossen, insofern aus Deformationsgeschossen, deren Kopf sich nach dem Eindringen in den Körper der getroffenen Person vergrößert. Die sich daraus ergebende deutlich größere Wahrscheinlichkeit, dass durch die mit der Deformation verbundene Bremswirkung ein Austreten des Geschosses und die damit einhergehende Gefährdung des Umfeldes verhindert wird, lag der Umstellung von Vollmantel- auf Deformationsgeschosse zugrunde.
49Mit derselben Munition wird die von Polizeivollzugsbeamten als Dienstwaffe getragene halbautomatische Selbstladepistole Walther Modell P99 bestückt. Die MP5 ist insofern bei größeren Distanzen und auch im Nahbereich präziser zu führen.
50Die Aufgabe als Sicherungsschütze mit der MP5 übernahm von sich aus der für den Einsatz der MP5 geschulte Angeklagte C1, um der ebenfalls dafür in Frage kommenden Angeklagten L1 ein längeres Tragen der MP5 und den damit verbundenen Kräfteaufwand zu ersparen. Er nahm die im Streifenwagen mitgeführte Waffe an sich, während die Angeklagte L1 für die Sicherung mittels des stets mitgeführten DEIGs vorgesehen wurde. Von den dann im dritten Streifenwagen eintreffenden Polizeikräften wurde der Angeklagte H1 ebenfalls zur Sicherung als DEIG- Schütze eingeteilt. Die Angeklagte S1 übernahm auf Anweisung des Angeklagten T1 das RSG 8 Reizstoffsprühgerät.
51Mit den oben genannten Einsatzmitteln ausgerüstet begaben sich die Angeklagten S1 und H1 auf Anweisung des Angeklagten T1 zusammen mit der Zeugin KAin P2 zu der zur Straße-02 gelegenen südlichen Grenze des Grundstücks Straße-01 00, um von dort aus einen anderen Blickwinkel auf V1 zu haben und durch den Metallzaun geschützt nötigenfalls das RSG 8 einsetzen zu können. Auf der Straße-02 postierten die drei Beamten sich zunächst hinter einem auf dem Gehsteig befindlichen Stromkasten, von dem aus sie V1 nicht sehen konnten. Dort warteten sie auf weitere Anweisungen, nachdem der Angeklagte T1 sie über Funk darüber informiert hatte, dass zunächst das Ergebnis des weiteren Kontaktaufnahmeversuchs durch die zivilen Einsatzkräfte abgewartet werden sollte.
52Mittlerweile, gegen 16:41:15 Uhr, hatten sich die Zeugen Q1 und B1 erneut, jetzt gemeinsam mit den Zeugen POK Z1, durch den Torbogen in den Innenhof der Jugendeinrichtung begeben. Gemäß den zuvor durch den Angeklagten T1 und den Zeugen A1 mitgeteilten Informationen näherten sie sich dem Standort des V1, von dem die Zeugen M1 und E1 sich inzwischen in den nördlichen Bereich des Innenhofs zurückgezogen hatten. Die ihnen dort durch die Leiterin des zivilen Einsatztrupps, die Zeugin PHKin J1, gestellte Frage, ob jemand aus der Einrichtung besonders guten Kontakt zu V1 habe, verneinten die beiden Betreuungspersonen M1 und E1.
53Wie zuvor besprochen, gaben die zivilen Beamten sich gegenüber V1, den sie nach wie vor an dem oben beschriebenen Standort an der südlichen Kirchenmauer und in unveränderter Haltung - mit dem in Richtung seines Bauches gehaltenen Messer und den Blick zu Boden gerichtet - antrafen, nicht als Polizeibeamte zu erkennen, um eine dadurch befürchtete Verunsicherung des V1 zu vermeiden. Der Zeuge POK Z1, der von seiner am weitesten von der Kirchenmauer entfernten Position V1 zuerst sehen konnte, versuchte aus etwa vier bis fünf Metern Entfernung durch einen kurzen Pfiff und Winken auf sich aufmerksam zu machen. Auch sprach er V1 in deutscher Sprache sinngemäß mit den Worten: „“Hey, hallo, geht es dir gut?“ an, worauf dieser allenfalls mit einem kurzen Blickkontakt reagierte, darüber hinaus aber keine Regung zeigte. Nunmehr ging der Zeuge POK Q1 gegenüber V1 in einem Abstand von etwa drei Metern in die Hocke, um so in den Sichtbereich des nach wie vor zu Boden sehenden V1 zu gelangen und Blickkontakt zu ihm herstellen zu können. In spanischer Sprache fragte der Zeuge Q1 MV1 nach seinem Namen, wie es ihm gehe und ob er spanisch spreche. Auch darauf zeigte V1 keinerlei Reaktion, sondern verharrte unverändert in der oben beschriebenen Haltung.
54Nachdem die Zeugen dem Angeklagten T1 mitgeteilt hatten, dass V1 unverändert keinerlei Reaktion zeige, entschied der Angeklagte T1 sich zum Einsatz des RSG 8. Andere, mit einem weiteren Zuwarten verbundene Maßnahmen, wie beispielsweise die Anforderung eines Sondereinsatzkommandos, hielt er angesichts der sich darstellenden Situation wegen des damit verbundenen Zeitverlustes nicht für das erstrebte Ziel der Vermeidung eines Suizidversuchs geeignet. Mit Blick auf die Haltung des V1 mit einem gegen sich selbst gerichteten, für ernsthafte und tödliche Verletzungen geeigneten Messer und seiner völligen Unzugänglichkeit für eine Kontaktaufnahme rechnete der Angeklagte T1 mit der jederzeit möglichen Umsetzung eines Suizidversuchs. Für die Ernsthaftigkeit eines entsprechenden Willens sprach aus Sicht des Angeklagten T1 auch die am vorangegangenen Wochenende wegen der Suizidalität des V1 erfolgte stationäre psychiatrische Behandlung.
55Nachdem die zivilen Einsatzkräfte das Scheitern der Versuche zur Kontaktaufnahme signalisiert hatten, rückten die uniformierten Polizeibeamten, die sich bereits im Bereich des Torbogens aufgehalten hatten, in den Innenhof nach. Während die Zeugen POK Q1 und POK Z1 sich auf Anweisung des Angeklagten T1 wegen des vorgesehenen Reizmitteleinsatzes aus dem Nahbereich des V1 einige Meter in Richtung der alten Kapelle entfernten, postierte sich die Angeklagte L1 am vorderen rechten Kotflügel des neben der Gebäudeecke geparkten Pkw Smart. Sie wählte diesen etwa drei bis dreieinhalb Meter von V1 entfernten Standort wegen der unverdeckten kompletten Sicht auf ihn und weil sie die Vorstellung hatte, dass ihr das Fahrzeug im Fall eines unverhofften Angriffs durch V1 noch etwas Schutz bieten könne. Auch erschien der Angeklagten L1 bei einer größeren Entfernung zu V1 ein nach einem erfolgreichen Einsatz des Reizsprühstoffs vorzunehmender Zugriff deutlich erschwert. Aus der eingenommenen Position richtete sie das von ihr genutzte DEIG auf den in unveränderter Haltung an der Kirchenmauer lehnenden und ihr die rechte Körperseite zuwendenden V1. Bei der Einrichtung ihres DEIG wählte sie - insoweit entgegen den Herstellervorgaben - anstelle der für die Kurzdistanz anzuwendenden 12-Grad-Patrone die für weitere Entfernungen vorgesehene 3,5-Grad-Patrone. Als die Angeklagte L1 V1 anvisiert hatte, schlug sie dem Angeklagten T1, der in kurzem Abstand von etwa einem Meter nach hinten und rechts versetzt zu ihr Position bezogen und ebenfalls freie Sicht auf V1 hatte, vor, dass es ihr jetzt zur Vermeidung eines Suizidversuchs bereits möglich sei, den DEIG gegen V1 einzusetzen. Dies lehnte der Angeklagte T1 mit der Begründung ab, dass die durch einen DEIG-Einsatz hervorgerufene Muskelverkrampfung die Gefahr berge, dass V1 nach vorn fallen und dabei durch das Messer schwer verletzt werden könne.
56Der Angeklagte C1 hatte sich mit der MP5 hinter der Angeklagten L1 und zu ihr wie auch zu dem Angeklagten T1 nach rechts versetzt in einem Abstand von etwa sechs bis sieben Metern zu V1 vor der ehemaligen Kapelle aufgestellt. Bei dieser Standortauswahl legte er sein Augenmerk darauf, eine gute Sicherungsposition einzunehmen, von der aus er freies Sichtfeld auf V1 und keinen der Kollegen in der Schusslinie hätte. Auch hatte er zu berücksichtigen, dass ein noch weiter von V1 entfernter Standort die Möglichkeit des schnellen Zugriffs nach einem erfolgreichen Reizstoffeinsatz sowie auch die Treffsicherheit negativ beeinflusst hätte.
57Von den übrigen sich im Innenhof aufhaltenden Beamten standen die Zeugen PK M1, POK Q1 und POK Z1 ohne den Angeklagten C1 in dessen Schussbereitschaft zu behindern in dessen Nähe, der Zeuge POK B1 in dem etwa einen Meter betragenden Abstand zwischen der Kirchenmauer und dem PKW Smart an dessen Heck.
58Diese einzelnen Positionierungen der Beamten im Innenhof hatte der Angeklagte T1 nicht im Einzelnen konkret vorgegeben und auch keine Anordnungen zu einer Veränderung der dann eingenommenen Aufstellung erteilt. Insgesamt stellte der Einsatzplan auf die beabsichtigte Entwaffnung des V1 durch den Reizstoffeinsatz ab. Eine alternative Handlungsvorgabe für den Fall, dass dies nicht gelingen sollte, war nicht vorgesehen.
59Um 16:45:45 ordnete der Angeklagte T1 erstmalig über Funk den Einsatz des RSG 8 an. Die mit dem Funkrufnamen 12/32 an die Angeklagte S1 gerichtete Anweisung lautete, dass „vorgerückt und eingepfeffert“ werden sollte, „das volle Programm, die ganze Flasche“. Die Angeklagte S1, die sich zu diesem Zeitpunkt zusammen mit dem Angeklagten H1 und der Zeugin KAin P2, noch auf der Straße-02 hinter dem Stromkasten aufhielt, meldete, die Anweisung aufgrund einer Störung des Funkverkehrs nicht verstanden zu haben. Daraufhin wiederholte der Angeklagte T1 die Anordnung mit nahezu identischem Wortlaut. Die Angeklagten S1 und H1, die sich zusammen mit der Zeugin P2 inzwischen auf dem Gehweg der Straße-02 in Richtung des Zauns bewegten, hatten den Standort des V1 jedoch noch nicht entdeckt. Der Angeklagte H1 antwortete daher, dass aktuell kein Sichtkontakt bestehe und bat um eine Beschreibung des Standortes, woraufhin der Angeklagte T1 angab, dass V1 gebeugt mit einem roten T-Shirt über dem Kopf am Smart sitze. Um 16:46:22 Uhr gab er die Anweisung, an den Zaun heranzutreten und von dort aus zu schießen, was die Angeklagte S1 vier Sekunden später mit „alles klar“ bestätigte.
60Seine oben dargestellten Anweisungen zum Einsatz des RSG 8 brachte der Angeklagte T1 lautstark vor und rief sie wegen des gestörten Funkverkehrs auch in Richtung der Straße-02 zu den dort postierten Beamten. Ob der währenddessen nach wie vor regungslos in seiner Haltung verharrende V1 den insofern akustisch und im Hinblick auf die sich in seiner Nähe postierten uniformierten Beamten auch optisch wahrnehmbaren Beginn eines Polizeieinsatzes in seiner psychischen Verfassung tatsächlich realisierte, war nicht festzustellen.
61Unmittelbar nach ihrer über Funk erfolgten Bestätigung der Anweisung des Angeklagten T1 setzte die Angeklagte S1 ohne vorherige Androhung aus einer Entfernung von etwa drei bis vier Metern das RSG 8 gegen V1 ein, indem sie es mit durch die Gitterstäbe des Zauns ausgestrecktem Arm auf seinen Kopf richtete und für etwa sechs Sekunden den Abzugshebel betätigte, wodurch ca 187 g Reizstoffversprüht wurde. Die Angeklagte S1 war mit der Handhabung eines RSG vertraut, da sie es im Rahmen von Diensthandlungen, wenn auch überwiegend in der kleineren, aber in der Handhabung identischen Form des RSG 3, bereits oft eingesetzt hatte. Auch hegte sie zu keinem Zeitpunkt Bedenken gegen die Anweisung zum Einsatz, zumal sie es als für den Zweck, dass V1 das Messer fallen lassen und so von einer Selbstverletzung abgehalten werden sollte, als geeignet ansah. Darüber hinaus vertraute sie den Anweisungen des Angeklagten T1, da Einsätze unter seiner Leitung und ihrer Mitwirkung in der Vergangenheit komplikationslos verlaufen waren. Von einer vorherigen Androhung des RSG- Einsatzes sah sie entsprechend der Anweisung zum sofortigen Handeln ab, zumal sie für den erstrebten Zweck der Entwaffnung des V1 einen Überraschungseffekt als hilfreich ansah. Zudem war ihr bewusst, dass V1 auf vorherige Ansprache und den lautstarken Einsatzbefehl des Angeklagten T1 nicht reagiert hatte.
62Der bis zur Leerung etwa des hälftigen Flascheninhalts ausgebrachte Reizwirkstoff erreichte den Kopfbereich des V1 nicht mehr als konzentrierter, sondern bereits aufgefächerter Strahl. Die geplante starke Reizung der Schleimhäute trat jedenfalls nicht in dem beabsichtigten Maß ein. Die Tatsache, dass das Haltbarkeitsdatum für den Wirkstoff seit vier Monaten überschritten war, hatte darauf allerdings keinen Einfluss. Auch ohne die geplante starke Wirkung bemerkte V1 offensichtlich den Wirkstoff. Als erstmalige Reaktion aus der zuvor unveränderten Haltung strich er sich über den Kopf. Anschließend richtete er sich auf und begann sich mit schnellen Schritten in Richtung der aus seiner Sicht rechts von ihm im Innenhof postierten Polizeibeamten zu bewegen, wobei er das Messer nach wie vor in der rechten Hand hielt. Wie genau V1 das Messer hielt, konnte nicht festgestellt werden, keinesfalls hielt er es nach vorn gerichtet, vielmehr schwang es im unteren Körperbereich in natürlicher Weise zu seinem schnellen Gehen mit.
63Eine Absicht des V1, die Beamten mit dem Messer zu attackieren, lag dabei nicht vor. Vielmehr kam es ihm darauf an, sich aus dem Einwirkungsbereich des Reizstoffes zu entfernen. Eine andere Fluchtrichtung stand ihm aufgrund seines – wie oben dargestellt – an drei Seiten eingegrenzten Standort nicht zur Verfügung. Unmittelbar hinter und in einigen Metern Abstand links von ihm verhinderten Kirchenmauern eine Flucht. Nach vorn war ein Entkommen schon wegen der Begrenzung durch den Zaun zur Straße-02 nicht möglich, darüber hinaus war von dort aus unmittelbar zuvor der Einsatz des Reizstoffes erfolgt.
64Als V1 sich trotz des RSG8-Einsatzes aufrichtete und, ohne das Messer fallen zu lassen, zu einer Drehbewegung in Richtung der postierten Beamten ansetzte, entschloss sich der Angeklagte H1 das von ihm mitgeführte DEIG einzusetzen. Er hatte sich insoweit etwa zwei Meter weiter westlich von der Angeklagten S1 am Zaun positioniert, von wo aus er zwischen der Bepflanzung freie Sicht auf den V1 hatte. Ein Motiv des DEIG-Einsatzes war für den Angeklagten H1, V1 von einem Suizidversuch abzuhalten. Die ursprüngliche Gefahr, dass dieser wegen der Muskelkontraktion in das Messer fallen könnte, bestand insoweit wegen der geänderten Haltung des jetzt nicht mehr vor den Bauch gehaltenen Messers nicht mehr. Daneben sah der Angeklagte H1 seine im Innenhof postierten Kollegen durch den sich ihnen mit einem Messer nähernden V1 in Leib und Leben gefährdet. Durch die beabsichtigte Wirkung der Muskelkonzen-tration mit Lähmung sollte ein Angriff verhindert und V1 entwaffnet werden.
65Um - nach Auslesung des Geräteprotokolls - 16:46:32 Uhr schoss der Angeklagte H1 mit dem DEIG auf V1. Von den beiden ausgetretenen Pfeilelektroden landete jedoch nur eine in dessen Körper, weshalb ein geschlossener Stromkreis nicht zustandekam und die beabsichtigte lähmende Wirkung ausblieb.
66Nahezu zeitgleich, nach dem Ausleseprotokoll um 16:46:36 Uhr, betätigte auch die Angeklagte L1 von ihrer Position am rechten Kotflügel des Pkw Smart das DEIG. Zu diesem Zeitpunkt befand V1 sich bereits etwa an der Gebäudeecke, insofern noch etwa zwei bis zweieinhalb Meter von ihr entfernt. Auch die Angeklagte L1 ging zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass der nach ihren Informationen psychisch belastete und daher unberechenbare V1 sie mit dem Messer angreifen werde und handelte, um sich zu verteidigen. Es kam zu zwei Körpertreffen im Penis und Unterbauch des V1, die zu einer Stromapplikation von 4,94 Sekunden führten. Aufgrund der fälschlicherweise eingesetzten 3,5-Grad-Patrone drangen die Pfeilelektroden jedoch nur in einem Abstand von ca. 18 cm in den Körper ein. Dies führte zwar zu einer strombedingten Muskelkontraktion und Schmerzinduktion im Bereich der Pfeilelektroden, allerdings nicht zu einer absoluten Handlungsunfähigkeit.
67Unmittelbar darauf, nach dem mit Zeitangaben versehenen verschriftlichen Notrufprotokoll um 16:46:38 Uhr, gab der Angeklagte C1 sechs Einzelfeuer-Schüsse aus der MP5 auf den sich nach wie vor in Richtung der Angeklagten L1 bewegenden und nunmehr die Gebäudeecke passierenden V1 ab. Auch der Angeklagte C1 hatte damit gerechnet, dass V1 aufgrund des RSG 8 - Einsatzes das Messer fallenlassen würde, und ging nunmehr davon aus, dass V1 die Angeklagte L1, einen anderen Kollegen oder ihn selbst mit dem nach wie vor in seiner Hand befindlichen Messer angreifen werde. Er handelte insofern, um eine Gefahr für Leib oder Leben der Kollegen, insbesondere der Angeklagten L1, und sich selbst abzuwenden. Er zielte in V1s Körpermitte, um Treffer zu setzen, und schoss bis V1 stürzte, wobei der Angeklagte C1 tödliche Verletzungen des V1 mindestens billigend in Kauf nahm.
68V1 wurde fünfmal von den abgesetzten Schüssen getroffen, ohne dass die Reihenfolge der Körpertreffer mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden konnte.
69Er erlitt am rechten Arm einen Durchschuss mit Einschusswunde an der Beugeseite des Oberarms und Ausschusswunde an der Streckseite des rechten Ellbogengelenks; über dem rechten Jochbein einen Einschuss mit Ausschussöffnung über dem rechten Unterkieferwinkel; einen Einschuss vor der rechten Schulter mit Schusskanal zur Außenseite des rechten Oberarms, in dessen Unterhautzellgewebe das Projektil steckenblieb; eine Einschusswunde auf der Rückseite der rechten Schulter mit absteigendem Schusskanal und Schussbruch der 5. und 7. Rippe rechts und Durchtritt des Projektils bis in die Brustfellhöhle zwischen 6. und 7. Zwischenrippenraum, wo es steckenblieb. Hiermit ging eine Verletzung des rechten Lungenunterlappens mit Blutung in das umgebende Lungengewebe, eine fetzigrandiger Defekt der rechten Zwerchfellkuppe, der Leberkapsel und ein etwa zwei cm tiefer Lebergewebsdefekt einher, das Projektil wurde in der Brustfellhöhle lokalisiert. Schließlich kam es zu einer Einschusswunde im Bauchbereich unterhalb des Nabels mit absteigendem Schusskanal mit vier Gewebsdefekten in der Gekrösewurzel, Durchschuss einer mittleren Dünndarmschlinge und schussbedingter Verletzung der rechten Beckenschlagader, wobei das Projektil in der oberen rechten Gesäßmuskulatur steckenblieb.
70So getroffen fiel V1 unmittelbar vor der Front des Pkw Smart bäuchlings zu Boden. Der Angeklagte T1, der – ohne einen Schuss abzusetzen - seine Dienstwaffe gezogen hatte, holsterte diese wieder. Während er zu V1 lief, forderte er ihn auf, liegen zu bleiben und meldete laut des Funkverkehrprotokolls um 16:46:42 Uhr den Schusswaffengebrauch an die Leitstelle. Gleichzeitig erteilte er die Anweisung, den bereits während des Notrufs durch den Zeugen P1 durch die Leitstelle georderten und etwas abseits des Geschehens an der Brunnenstraße geparkten Rettungswagen umgehend vorfahren zu lassen. Mit Hilfe des Zeugen POK B1, der von seiner Position zwischen Smart und Kirchenwand unmittelbar eingreifen konnte, fixierte der Angeklagte T1 den sich wehrenden V1 und legte ihm die durch den Zeugen POK Q1 überreichten Handfesseln an. Nachdem V1 hochgehoben und zur Behandlung auf die Rasenfläche verbracht worden war, fand die Angeklagte L1 an der Stelle seines Zusammenbruchs das Küchenmesser, welches sodann sichergestellt und asserviert wurde (Asservat Nr. 32).
71Zu diesem Zeitpunkt trafen die Zeugen T3, T4 und T5, die Besatzung des bereits vor Ort befindlichen Rettungswagens, bei dem verletzten V1 ein. Während der Zeuge T5 das Rettungsfahrzeug im Bereich des Torbogens zum Innenhof parkte, brachten die Zeugen T4 und T3 die bereits vorbereitete Trage mit sogenannter Traumatasche für eine Erstversorgung. Nach einem ersten Bodycheck, bei dem vier Schussverletzungen ohne Blutung nach außen festgestellt wurden, hoben die drei Ersthelfer mit Unterstützung des Zeugen POK Z1 den sich nach wie vor wehrenden V1 auf die Trage und verbrachten ihn zum Rettungswagen, wo in diesem Moment auch der wegen der unklaren Situation vorab gerufene Notarzt, der Zeuge T6, eintraf. Die Vitalwerte des V1 waren zunächst weitestgehend stabil, die erforderliche Sauerstoffzufuhr über eine Maske jedoch wegen des nach wie vor unruhigen Verhaltens des V1, der den Kopf wegdrehte, erschwert. Insofern fixierten im Rettungswagen der Zeuge Z1 sowie die Angeklagte L1 den verletzten V1, um die notwendigen medizinischen Maßnahmen durch Notarzt und Rettungssanitäter zu ermöglichen. Weder die Anlegung eines intravenösen noch eines intraossären Zugangs gelang. V1 wurde für eine Schockraumversorgung im Klinikum Ort-01-Nord angemeldet und neben dem medizinischen Personal in Begleitung der Angeklagten S1 dorthin transportiert.
72Bei seinem Eintreffen im Klinikum war V1 nach wie vor sehr unruhig. Durch das behandelnde Ärzteteam, darunter der Sachverständige Zeuge E4, konnte ein intraossärer Zugang im Bereich des rechten Schlüsselbeins gelegt werden. Nach der vorgenommenen Blutdruckkontrolle zeigte sich eine vitale Bedrohung. Während der weiteren Untersuchungen, darunter die Entfernung von zwei dann sichergestellten Elektrodenpfeilen aus dem Bereich des Bauchs sowie aus der Penisspitze, wurde V1 nach einem Kreislaufzusammenbruch reanimationspflichtig. Nach Anlegung einer Thoraxdrainage und Eröffnung des Bauchraums zeigte sich eine große Blutung im Bauchraum, die durch die oben dargestellte schussbedingte Verletzung der Beckenschlagader verursacht worden war. Als akut lebensgefährlich stellte sich zudem die schussbedingte Verletzung des rechten Lungenflügels dar. Trotz umfangreicher Reanimationsmaßnahmen verstarb V1 um 18.02 Uhr aufgrund des durch den Blutverlust hervorgerufenen Kreislaufversagens.
73Nach Absicherung des engeren Tatortbereichs und Sperrung der Straße-01 Straße sowie der Straße-02 unter Mitwirkung des Zeugen PHK E5 übernahm noch am 08.08.2022 das Polizeipräsidium Ort-17 den Tatort, die Spurensicherung und die weiteren Ermittlungen.
74Die verwendeten Einsatzmittel, das durch die Angeklagte S1 eingesetzte RSG 8 im gesicherten Zustand (Asservat Nr. 10), das durch den Angeklagten H1 verwendete DEIG X41002D68, versehen mit dem Klebeetikett T1 (Asservat Nr. 25), das seitens der Angeklagten L1 verwendete DEIG X410031R9, versehen mit dem Klebeetikett T7 (Asservat Nr. 26), jeweils nebst den zugehörigen Kartuschen, sowie die durch den Angeklagten C1 eingesetzte MP5 Nummer 62-459165 Asservat Nr. 01) wurden am 08.08.2022 gegen 19.30 Uhr in den Räumlichkeiten der Wache Nord in Dortmund sichergestellt. Für das Erscheinungsbild der Einsatzmittel wird auf die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbilder aus dem Spurensicherungsbericht der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle (KTU) des Polizeipräsidiums Recklinghausen vom 18.08.2022, Band II, Blatt 839, 840 der Hauptakte Bezug genommen.
75Im Rahmen der auch unter Einsatz von Metalldetektoren durchgeführten Spurensicherung erfolgte in dem Grünstreifen am Zaun zur Straße-02 sowie auf deren Gehsteig und Fahrbahn die Sicherstellung von sechs Patronenhülsen des Kalibers 9 mm Luger sowie zwei Geschossen dieses Kalibers. Für die Lage der als Spuren 4 bis 7 (Asservate Nr. 16 – 19), 10 und 11 (Asservate Nr. 23 und 24) bezeichneten Hülsen und als Spuren 8 und 9 (Asservate Nr. 20 und 21) bezeichneten Projektile im Einzelnen wird auf die in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbilder aus dem vorgenannten Spurensicherungsbericht Band II, Blatt 846 bis 848 der Hauptakte verwiesen, auf denen die eine entsprechende Nummerierung tragenden Spurentafeln zu sehen sind.
76Ebenfalls im Grünstreifen zwischen Zaun und Kirchenmauer wurde ein DEIG Elektrodenkörper mit Draht und Pfeilelektrode (Asservat Nr. 15), als Spur 3 auf dem Lichtbild Band II, Blatt 845 bezeichnet, sowie ein weiterer Elektrodenkörper mit Draht und Pfeilelektrode neben dem Pkw Smart (Asservat Nr. 24), als Spur 12 auf dem Lichtbild Band II, Blatt 849 der Hauptakte bezeichnet, sichergestellt.
77Anlässlich der Obduktion durch den Sachverständigen F3 wurden die weiteren drei in Oberarm, Brustfellhöhle und Gesäß des Leichnams aufgefundenen Projektile des Kalibers 9mm Luger sichergestellt und asserviert (Asservate Nr. 58 – 60).
78An der Fahrzeugfront des Pkw Smart wurden im Bereich der rechten Frontschürze blutsuspekte Anhaftungen, bezeichnet als Spur 2, (vgl. Lichtbilder Band II, Blatt 844) festgestellt, von denen zur Sicherung molekulargenetischer Spuren Abriebe genommen wurden.
79In den zum Tatzeitpunkt und bis heute vorgesehenen Ausbildungs- und Fortbildungsinhalten für Polizeivollzugsbeamte wird im Hinblick auf mit einem Messer bewaffnete Personen als Erstreaktion das Ziehen der Schusswaffe gelehrt. Bei der fehlenden Möglichkeit eines Zurückweichens, der erkennbaren Angriffsabsicht, der Gefährdung des Beamten oder der Kollegen sowie der potentiellen Gefährdung auch Dritter ist nach den Ausbildungskonzepten der Einsatz der Schusswaffe vorgesehen. Dabei soll im Rahmen eines dynamischen Geschehens auf den Oberkörper oder Hüftbereich gezielt werden, da dies allein eine realistische Chance zu treffen darstellt. Zielrichtung ist es nach der Ausbildung stets, den gegenwärtigen Angriff in der Form abzuwehren, dass die mit einem Messer attackierende Person zu Boden gebracht wird. Insofern bestehen weder hinsichtlich der Anzahl der Schüsse noch zu einem Innehalten nach jedem einzelnen Schuss Vorgaben. Vielmehr entspricht es der Lehre, dass so lange geschossen wird, bis der Angriff beendet ist. Diesem Ziel der Angriffsbeendigung und nicht lediglich der Entwaffnung des Täters wird insofern Priorität eingeräumt. Die Festlegung eines Abstandes, bei dessen Unterschreitung geschossen werden soll, wird insofern nicht vorgegeben. Die bewaffnete Person soll so weit wie möglich eng begleitet, ggf. umstellt werden, um eine Gefährdung Dritter zu verhindern.
80In Bezug auf den Umgang mit suizidgefährdeten Personen gab es im Rahmen der Ausbildung der Angeklagten weder feste Vorgaben noch ein konkret verbindliches Konzept. Erst nach dem hier zugrundeliegenden Vorfall – ab 2023 – wurde gezielt ein neues Trainingskonzept im Hinblick auf den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen von der Bundespolizei entwickelt und im Anschluss in einer Eingangsveranstaltung im Landesamt für die Aus- und Fortbildung der Beamten vorgestellt. Seit Anfang des Lehrgangs 2024 ist das neu ausgearbeitete Konzept zum Umgang mit suizidgefährdeten und psychisch auffälligen Personen mit 16 Unterrichtsstunden vorgesehen. Vorher umfassten die Trainingseinheiten gelegentlich individuelle Sachverhalte im Umgang mit alkoholisierten, dementen oder aggressiven Personen. Eine Wissensvermittlung im Hinblick auf die Arten von psychischen Störungen und Ausnahmesituationen sowie die Vermittlung einer deeskalierenden Kommunikation und entscheidungsbasiertes Szenarientraining war bis zum hier in Rede stehenden Vorfall und damit in der Aus- und Fortbildung der Angeklagten nicht Gegenstand des Unterrichts.
81Auch nach diesem neuen Konzept führen die Beamten weiterhin alle Einsatzmittel mit sich und entscheiden über deren Einsatz nach eigenem Ermessen; konkrete Verpflichtungen oder Verbote bestimmter Einsatzmittel gibt es nach wie vor nicht. Grundsätzlich wird insofern im Hinblick auf die Auswahl des mildesten Mittels die körperliche Gewalt durch Einsatz eines Einsatzmehrzweckstocks, des RSGs und zuletzt der Schusswaffe gelehrt.
82Der Einsatz des RSG wird dabei in der Reihenfolge der Hilfsmittel als milderes, jedoch nicht immer wirksamstes Mittel körperlicher Gewalt dargestellt. Gleichwohl werden das RSG und das RSG 8 mit der präziseren Treffsicherheit auch gegenüber suizidgefährdeten bzw. psychisch auffälligen Personen als grundsätzlich mögliches Einsatzmittel behandelt. In dem Leitfaden, der in Bezug auf suizidgefährdete Personen zum Zeitpunkt der Ausbildung der Angeklagten eher dem Selbststudium zuzuordnen war, gab es insoweit lediglich den Hinweis, dass Personen in psychischen Ausnahmesituationen sich teilweise schmerzunempfindlich zeigten, ungeahnte Kräfte mobilisierten oder keine Reaktion auf das Reizgas erkennen ließen. Gleichwohl war, insbesondere bei Personen mit einem Messer, auch in psychischen Ausnahmesituationen, nach den theoretischen Grundlagen der Einsatz des Reizgases nicht an besondere Anforderungen geknüpft, sondern der erwünschte Erfolg, dass diese bei Einsatz des Reizgases die Augen reiben und das Messer fallen lassen, grundsätzlich als erwartbar und möglich beschrieben. Für den Einsatz des RSG werden neben der Handhabung als solche für den Fall, dass das Einsatzmittel nicht erwartungsgemäß wirkt, auch Folgemaßnahmen trainiert: Ausweichbewegungen, falls die räumlichen Verhältnisse es zulassen, sowie Systemwechsel wie der Umstieg vom RSG auf die Bewaffnung mit einer Schusswaffe.
83Nach den bei Aus- und Fortbildung vermittelten Grundsätzen war der Einsatz des DEIG für den Fall einer mit einem Messer bewaffneten suizidalen Person wegen der hervorgerufenen Muskelverkrampfung und der damit verbundenen Gefahr einer Selbstverletzung der betroffenen Person nicht als erstes Mittel der Wahl anzusehen. Anzumerken ist, dass zur Tatzeit der Einsatz des DEIGs sich noch in der Erprobungsphase befand. Dortmund gehörte insofern zu den Erprobungsorten.
84Inhalt der Ausbildung ist darüber hinaus, dass die Androhung eines Einsatzmittels bei einem drohenden Zeitverlust oder wenn eine dynamische Situation es nicht zulässt, entbehrlich sein kann.
85IV.
86Die unter I. getroffenen Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten, insbesondere zu ihrem jeweiligen beruflichen Werdegang, beruhen auf deren diesbezüglichen in der Hauptverhandlung getätigten Angaben, an denen zu zweifeln die Kammer keinen Anlass gesehen hat. Dass darüber hinaus keiner der Angeklagten strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, ergibt sich aus der Verlesung der sie betreffenden Auskünfte aus dem Bundeszentralregister vom 25.11.2024.
87Die unter III. getroffenen Feststellungen zu der Reiseroute des V1 aus dem Senegal nach Deutschland und zu seinen persönlichen Verhältnissen nach der Einreise beruhen auf seinen diesbezüglichen Angaben gegenüber den zuständigen deutschen Behörden, wie die Zeugin D1 diese in der Hauptverhandlung glaubhaft wiedergegeben hat, sowie aus den verlesenen amtlichen Dokumenten: des Duldungsnachweises des Rhein-Pfalz-Kreises vom 01.05.2022 (Band I, Bl. 55f), der Zuweisungsentscheidung des Landesjugendamtes Ort-15 vom 10.05.2022 an das Jugendamt Rheinland-Pfalz-Kreis für die Inobhutnahme (Band I, Blatt 64f) und die amtliche Meldebestätigung vom 19.05.2022 für die Clearingeinrichtung in Ort-16 (Band I, Blatt 65).
88Dass die sowohl gegenüber den Behörden als auch gegenüber Betreuern in Jugendeinrichtungen getätigten Angaben des V1 zu seinen familiären Verhältnissen, insbesondere zum Tod beider Elternteile und des einzigen Bruders nicht der Wahrheit entsprachen, ergibt sich aus dem Auftreten des Vaters und der Brüder als Nebenkläger in diesem Strafverfahren. Auch ist die Mutter nicht verstorben, wie sich aus dem in der Hauptverhandlung verlesenen Bericht über die Auswertung digitaler Datenträger des KK 11 des Polizeipräsidiums Ort-17 vom 08.09.2022 (Band III, Bl. 1578ff) ergibt. Die Auswertung des sichergestellten Mobiltelefons des V1 enthält u. a. die unter III. dargestellte Voice-chat-Unterhaltung vom 06.08.2022, 14.50 Uhr, mit einer Person namens W3, der Geldleistungen des V1 an dessen Mutter anmahnt.
89Hinsichtlich des unter III. dargestellten Geschehens in der Nacht vom 06. auf den 07.08.2022 stützt die Kammer die dazu getroffenen Feststellungen auf die glaubhaften Angaben der Zeugen E1, PKin N1, F1 und Y2, an denen zu zweifeln die Kammer keinen Anlass gesehen hat.
90Zunächst hat der Zeuge E1 in sich schlüssig und nachvollziehbar dargestellt, dass V1 sich in der Nacht durch einen Mitbewohner im Schlaf gestört fühlte und vor diesem Hintergrund, ohne dass der Zeuge E1 ihn daran hindern konnte, die Einrichtung verließ. Gründe, warum der Zeuge E1 in diesem Zusammenhang falsche Angaben machen sollte, sind nicht ersichtlich, zumal seine Darstellung mit den Angaben der nachfolgend genannten Zeugen PKin N1, F1 und Y2 korrespondiert und sich in das von diesen Zeugen dargestellte weitere Geschehen einfügt.
91Dass V1 nach dem Verlassen der Jugendeinrichtung anschließend die Polizeiwache Nord aufsuchte und dort unter Hinweis auf seine Selbstmordgedanken auch um ärztliche Hilfe bat, ergibt sich aus den Angaben der Zeugin PKin N1, die das unter III. dargestellte Geschehen auf der Polizeiwache Nord glaubhaft berichtet und an deren Angaben zu zweifeln die Kammer keinen Anlass gesehen hat.
92Hinsichtlich des folgenden stationären Aufenthaltes in der G1-Klinik und seines Zustandes dort stützt die Kammer sich auf die Angaben der Zeugin F1, die die Exploration des V1 mit Hilfe des als Dolmetscher fungierenden Zeugen Y2 vorgenommen und den unter III. festgestellten Gesprächsinhalt übereinstimmend mit den Angaben des Zeugen Y2 dargestellt hat. Die Zeugin F1 hatte eine detaillierte Erinnerung an die kurzfristige stationäre Behandlung des V1. Sie hat ihre Diagnose einer depressiven Episode ohne psychotische Symptome und die im Fehlen von Eigen- oder Fremdgefährdung liegenden Gründe für die zusammen mit V1 getroffene Entlassungsentscheidung nachvollziehbar dargestellt Die Kammer sieht keinen Anlass, an den Angaben der Zeugin F1 zu zweifeln.
93Bezüglich des Vortatgeschehens bis zu dem durch den Zeugen P1 abgesetzten Notruf beruhen die dazu getroffenen Feststellungen zunächst auf den Angaben der Mitarbeiter der Einrichtung, den Zeugen P1, A1, M1, P4 und E1. Diese Zeugen haben das Verhalten des V1 am 08.08.2022 übereinstimmend als eher zurückgezogen und teilnahmslos dargestellt. Die an diesem Tag für V1 zuständige Zeugin M1 hat darüber hinaus das aufgrund der vorherigen Behandlung in der G1-Klinik veranlasste Telefonat mit der Zeugin D1 und mit dieser übereinstimmend geschildert, dass V1 bereits zu diesem Zeitpunkt ein – wenn auch deutlich ungefährlicheres - Messer bei sich trug.
94Das zu dem Polizeieinsatz führende Verhalten des V1 an der Kirchenmauer mit dem gegen den eigenen Oberkörper gerichteten Messer wurde ebenfalls von den oben genannten Betreuern, den Zeugen P1, A1, M1 und E1, übereinstimmend dargestellt. Deren Angaben in der Hauptverhandlung waren in sich schlüssig und mit den in diesem Zusammenhang ebenfalls übereinstimmend dargestellten vergeblichen Versuchen, verbalen Kontakt zu V1 aufzunehmen und ihn – auch in französicher Sprache und unter Zuhilfenahme einer ÜbersetzungsApp zum Ablegen des Messers zu bewegen, detailreich. Die Angaben der Zeugen wirkten auch insofern authentisch und glaubhaft, als in ihren Aussagen zu dem Bemühen um Kontaktaufnahme zu V1 die Sorge um ihn in ihrer Verantwortlichkeit als Betreuer zum Ausdruck kam, die letztlich zum Notruf des Zeugen A1 führte. Dies zeugt von eigenem Erleben.
95Darüber hinaus wird die dargestellte Situation des V1 an der Kirchenmauer auch durch die diesbezüglichen Angaben der Zeugen PK Q1, PK Z1 und PK B1 bestätigt, die übereinstimmend die bei ihrem Eintreffen am Tatort insofern unveränderte Position und Haltung des V1 an der Kirchenmauer beschrieben haben. Auch diese Zeugen haben übereinstimmend und detailliert ihre, durch den Zeugen POK Q1 auch in spanischer Sprache vorgebrachten und letztlich erfolglosen Versuche der Kontaktaufnahme zu V1 geschildert. Auch für diese Zeugen war keine Anhaltspunkte für die Annahme von falschen Angaben ersichtlich.
96Die unter III. getroffenen Feststellungen zur Abstimmung des polizeilichen Vorgehens und der Einsatzplanung stützt die Kammer auf die diesbezüglichen Einlassungen der Angeklagten sowie auf die Aussagen der als weitere Polizeibeamte am Einsatz beteiligten Zeugen PK M1, PK Q1, PK Z1, PK B1, KAin P2 und KAin R1. Nach deren übereinstimmenden Angaben wurde nach Übernahme des Einsatzes durch die Leitstelle auf Anweisung des Angeklagten T1 über Funk zunächst die Anschrift Straße-01 00, etwas abseits der Jugendeinrichtung, als Treffpunkt ausgegeben. Dort seien dann die am Einsatz beteiligten Beamten in der unter III. festgestellten Reihenfolge eingetroffen. Aus den übereinstimmenden Aussagen der Angeklagten und der vorgenannten Zeugen ergibt sich sodann die durch den Angeklagten T1 am Treffpunkt bekanntgegebene, wie unter III. festgestellte Einsatzplanung mit dem Aufklärungs- sowie dem Auftrag zum Kontaktaufnahmeversuch durch die zivilen Beamten, die Aufteilung der Einsatzmittel an die Angeklagten S1, H1 L1 und C1 sowie die Anordnung für die Angeklagten S1 und H1 sowie die Zeugen KAin P2, sich auf der Straße-02 zu positionieren. Die Einlassungen der Angeklagten und der vorgenannten Zeugen werden zudem auch durch die Angaben des Zeugen A1 bestätigt, der bei der Einsatzbesprechung zeitweise anwesend war, um die Beamten über die Örtlichkeiten, die bereits erfolgten vergeblichen Kontaktaufnahmeversuche durch die Betreuer und den genauen Standort des V1 zu informieren.
97Die unter III. getroffenen Feststellungen zum Tatgeschehen im engeren Sinne, beginnend mit dem auf Aufforderung des Angeklagten T1 erfolgten Einsatz des RSG 8 durch die Angeklagte S1, die Reaktion des V1, sich mit dem Messer in Richtung der positionierten Beamten zu bewegen, dem folgenden Einsatz der DEIGs durch die Angeklagten H1 und L1 sowie dem Einsatz der MP5 seitens des Angeklagten C1 beruhen auf den korrespondierenden Einlassungen der Angeklagten, die – was das äußere Geschehen anbelangt - mit den Angaben aller am Tatort anwesenden Zeugen, soweit das Geschehen Gegenstand ihrer Wahrnehmung war, übereinstimmen.
98Sämtliche Angeklagte haben innerhalb des den Feststellungen entsprechenden kompletten Tatgeschehens insbesondere ihr jeweiliges eigenes polizeiliches Handeln entsprechend den dazu getroffenen Feststellungen geschildert. Während der Angeklagte T1 den von ihm entworfenen Einsatzplan und seine darauf beruhenden Anordnungen dargestellt hat, haben die übrigen Angeklagten insbesondere jeweils den Einsatz des ihnen zugeteilten Einsatzmittels, die Angeklagte S1 des RSGs 8, die Angeklagten H1 und L1 der DEIGe und der Angeklagte C1 der MP5, wie unter III. festgestellt, eingeräumt.
99Anhaltspunkte für eine falsche Darstellung der äußeren Tatumstände durch die Angeklagten sind nicht ersichtlich, zumal sie ein eigenes Handeln bekunden, das zunächst objektiv einen Straftatbestand erfüllt. Darüber hinaus stimmen die Einlassungen der Angeklagten untereinander sowie mit den Angaben der am Tatort anwesenden Polizeibeamten, der Zeugen POK Q1, POK Z1, PK M1, POK Z1, KAin P2 und KA R1, darüber hinaus auch mit den Angaben der Betreuer der Jugendeinrichtung, den Zeugen A1, M1 und E1 überein. Die miteinander zu vereinbarenden Angaben der Angeklagten und der Zeugen waren in sich schlüssig und plausibel. Sie stützen anhand der Aussagen zu ihnen in der Hauptverhandlung vorgehaltenen Lichtbilder vom engeren Tatort die den Feststellungen zu III. zugrundeliegenden jeweiligen Positionen der Angeklagten sowie der Zeugen zum Vorfallszeitpunkt.
100Die Einlassungen der Angeklagten zum Tatgeschehen korrespondieren zudem mit der in der Hauptverhandlung verlesenen Verschriftlichung der Funkgespräche „Ort-01 Union Teil 1“ (Band II, Blatt 927ff der Hauptakte), einem Auszug aus dem polizeilichen Funkverkehr vom 08.08.2022 in der Zeit von 16:27:44 bis zum 16:48:49 Uhr, in der die entsprechenden, unter III. dargestellten Funksprüche der Angeklagten T1 und S1 von der Anordnung bis zum Einsatz des RSG und sowie des Angeklagten T1 mit der Mitteilung des Schusswaffengebrauchs aufgezeichnet sind.
101Darüber hinaus werden die Angaben der Angeklagten und der oben genannten Zeugen zum Tatgeschehen und dessen zeitliche Einordnung bestätigt durch die in der Hauptverhandlung mittels Wiedergabe in Augenschein genommene Audiodatei (Sonderband Asservat 77 Blatt 457f) des durch den Zeugen P1 getätigten Notruf vom 08.08.2022 und der darüber hinaus verlesenen, mit Uhrzeiten versehenen Verschriftlichung für den Zeitraum von 16:25:35 bis 16:46:58 Uhr (Band IV, Blatt 1784ff). Danach betraten um 16:41:06 Uhr die zivielne Beamten den Innenhof. Für den der für 16:46:38 Uhr sind Schussgeräusche festgehalten (Band IV, Blatt 1784ff). Zu den Zeitangaben, auch zu den Zeitmessungen der DEIGe ist anzumerken, dass diese zwar wenige Sekunden voneinander abweichen können, sich aber im Wesentlichen, bis auf diese geringen Abweichungen, decken.
102Soweit die Zeugen A1 und P4 im Gegensatz zu den Angaben der Angeklagten und der übrigen Zeugenangaben die nach dem Einsatz des RSG 8 erfolgte Bewegung des V1 von seiner ursprünglichen Position an der Kirchenmauer in Richtung der Polizeibeamten als eher langsam und bedächtig dargestellt haben, folgt die Kammer diesen Angaben nicht. Abgesehen davon, dass neben den Angeklagten sämtliche übrigen am Tatort anwesenden Zeugen die Bewegung des V1 als mindestens zügig dargestellt haben, ist auch nur dies lebensnah und plausibel. V1 reagierte, nachdem er über mindestens etwa fünfzehn Minuten seine Position nicht verändert hatte, erstmalig auf den Einsatz des Reizstoffes, aus dessen Einflussbereich er sich entfernen wollte. Mit dieser Motivation ist ein bedächtiges Gehen nicht vereinbar.
103Dass V1, als er nach dem Einsatz des Pfeffersprays seinen Standort verließ, die im Innenhof positionierten Polizeibeamten mit dem Messer tatsächlich nicht attackieren wollte, ergibt sich für die Kammer aus verschiedenen Umständen. V1 hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Fremdgefährdung oder aggressives Verhalten gezeigt. Sowohl in der Clearingeinrichtung in Ort-16, als auch in der Wohngruppe in Ort-01 wurde er als ruhig und häufiger zurückgezogen, dabei aber auch freundlich erlebt. Auch in seiner am Wochenende vor dem Vorfall bereits angespannten psychischen Verfassung reagierte er auf die Störungen des Mitbewohners, die letztlich zum Verlassen des Heims führten, nicht aggressiv, sondern ausweichend. Auch bei der anschließend aufgesuchten Polizeiwache sowie im Rahmen seiner stationären Behandlung agierte V1 eher hilfesuchend. Auch zum Tatzeitpunkt zeigte V1 - obwohl in schlechter psychischer Verfassung - weder auf die Versuche der Betreuer noch der zivilen Beamten zu einer verbalen Kontaktaufnahme eine Reaktion, was gegen ein erhöhtes Aggressionspotential spricht. Erst auf den Einsatz des RSG reagierte V1. Dabei ist es naheliegend, dass er sich in die einzig mögliche Richtung aus dem Einflussbereich des Reizstoffes zu fliehen versuchte. Hinzu kommt, dass ein Grund für einen Angriff auf die in Fluchtrichtung im Innenhof positionierten Beamten, von denen er gerade nicht attackiert worden war, nicht bestand.
104Sowie die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen auf den– wie oben dargestellt und begründet – glaubhaften Einlassungen der Angeklagten beruhen, sind auch die durch sie in subjektiver Hinsicht geschilderten inneren Vorgänge und Motivationslagen für ihr Handeln im Zeitpunkt der ihnen vorgeworfenen Taten jedenfalls nicht zu widerlegen.
105Dies gilt zunächst für den Angeklagten T1, der sich dahingehend eingelassen hat, bei Anordnung des RSG 8 - Einsatzes sei er nach den gescheiterten Versuchen der Kontaktaufnahme zu V1 von einer konkreten Gefahrenlage für dessen Leben ausgegangen und habe zu deren Abwendung ein Einschreiten zu diesem Zeitpunkt für erforderlich gehalten. Die so dargestellte Motivationslage ist aufgrund der äußeren Umstände nachvollziehbar und daher glaubhaft. Dem Angeklagten T1 war die am vorangegangenen Wochenende wegen der Suizidalität erfolgte stationäre psychiatrische Behandlung des V1 bekannt. Vor diesem Hintergrund stellte sich dessen Haltung mit dem unmittelbar vor den Bauch gehaltenen 28cm langen und für die Verursachung lebensgefährlicher Verletzungen geeigneten Messer als ernstzunehmende Suizidalität dar. Dagegen spricht auch nicht, dass V1 seit mindestens 15 Minuten unverändert in dieser Position verharrte, zumal er in diesem Zeitraum auch nicht auf die Versuche einer Kontaktaufnahme durch seine Betreuungspersonen reagiert und sich in einem eher apathischen Zustand gezeigt hatte.
106Dass der Angeklagte T1 nach seinen Angaben davon ausging, dass Mouhamed durch den Einsatz des RSG 8 und die Wirkung des Reizstoffs das Messer fallenlassen würde und dann durch die bereitstehenden Polizeibeamten überwältigt und von einem Suizidversuch abgehalten werden könnte, ist ebenfalls nicht zu widerlegen. Zumindest hatte der Angeklagte T1 in zahlreichen Einsätzen Reizstoff erfolgreich zur Entwaffnung eingesetzt und angeordnet.
107Mit diesen Argumenten ist auch die Einlassung der Angeklagten S1 zu ihren subjektiven Vorstellungen beim Einsatz des RSG 8 jedenfalls nicht zu widerlegen.
108Denn aus den oben genannten Gründen ist nachvollziehbar, dass die Angeklagte S1 nach ihrer Einlassung die Anweisung ihres Dienstgruppenleiters, des Angeklagten T1, zum Einsatz des RSG 8 aufgrund der sich darstellenden Einsatzlage für eine erforderliche Gefahrenabwehr betreffend Leib und Leben des V1 als geboten ansah. Auch ihr stellte sich die Situation so dar, dass ein Jugendlicher ein Messer unmittelbar in Bauchhöhe gegen sich selbst gerichtet hielt und daher aus ihrer Sicht eine akute Selbstgefährdung vorlag. Insofern war ihr aus früheren Einsätzen bekannt, dass der Einsatz des RSG die Möglichkeit der Entwaffnung und des anschließenden Zugriffs ermöglichte, worauf ihr Handeln gerichtet war. Nicht zuletzt stellte sich auch nach dem unter III. dargestellten Ausbildungs- bzw. Fortbildungsstand in der vorliegenden Situation der Einsatz eines RSG als probates Mittel zur Gefahrenabwehr dar und stütze daher die Einschätzung der Angeklagten T1 und S1.
109Der Angeklagte H1 hat sich dahingehend eingelassen, er habe sich, nachdem V1 trotz des RSG 8-Einsatzes - ohne das Messer fallen zu lassen - aufgesprungen sei und sich in Richtung der im Innenhof stehenden Kollegen gewandt habe, zum Einsatz des DEIG entschlossen. Grund dafür sei einerseits die von dem Jugendlichen ausgehende Gefahr für sich selbst gewesen, zumal dieser sich mit dem Messer nach wie vor habe lebensgefährliche Verletzungen zufügen können. Darüber hinaus habe er die im Innenhof postierten Kollegen vor einem Messerangriff, den er für möglich gehalten habe, schützen wollen.
110Auch die Einlassung des Angeklagten H1 ist jedenfalls nicht zu widerlegen.
111Hinsichtlich der Eigengefährdung des V1 war die Gefahr nicht gebannt, da er sich mit dem Messer erhoben hatte und dies jederzeit noch gegen sich selbst einsetzen konnte. Der Einsatz des DEIG zur Beseitigung dieser Eigengefährdung ist plausibel, zumal die in der zuvor durch V1 eingenommenen Position mit dem gegen den Bauch gerichteten Messer bestehende Gefahr schwerer Verletzungen durch einen mit der Muskelverkrampfung durch den DEIG verbundenen Sturz in das Messer so nicht mehr bestand, sondern erheblich minimiert war.
112Auch das daneben vorgetragene Motiv, mit dem DEIG-Einsatz einen Angriff auf die im Innenhof postierten Kollegen abwehren zu wollen, ist nachvollziehbar. V1, dessen Vorhaben und Reaktionen aus der Sicht des Angeklagten H1 nicht einzuschätzen waren, näherte sich zügig mit einem Messer den Beamten, woraus sich nach der äußeren Lage objektive Anhaltspunkte für einen Angriff ergaben. Zur Einschätzung der Lage verblieb dem Angeklagten H1 keine Zeit, da V1 sich in Richtung der Beamten bewegte und möglicherweise auch aufgrund der Bepflanzung hinter dem Zaun sich aus dem Sichtfeld des Angeklagten bewegt hätte.
113Vor diesem Hintergrund ist auch die Einlassung der Angeklagten L1, sie sei als Motiv für den Einsatz ihres DEIGs davon ausgegangen, dass V1 sie mit dem Messer angreifen werde, nicht zu widerlegen.
114Abgesehen davon, dass sich auch für sie der sich zügig mit dem Messer nähernde V1, dessen psychische Verfassung sie nicht einzuschätzen vermochte, als Bedrohung darstellte, war er zum Zeitpunkt der Betätigung des DEIG-Auslösemechanismus durch die Angeklagte L1 nur noch maximal zweieinhalb Meter von ihr entfernt. Für Erwägungen, aufgrund derer die Kammer mit den oben dargestellten Gründen eine Angriffsabsicht des V1 verneint hat, blieb der Angeklagten L1 insofern keine Zeit.
115Diese Argumentation gilt im Wesentlichen auch für den Angeklagten C1, dessen Einlassung, er habe sechs Schüsse aus der MP5 auf V1 abgegeben, da er davon ausgegangen sei, dass in erster Linie die Angeklagte L1, andere im Innenhof postierte Kollegen oder er selbst von V1 mit dem Messer angegriffen würden, nicht zu widerlegen ist.
116Es ist nachvollziehbar, dass ebenso wie für die Angeklagten H1 und L1 auch für den Angeklagten C1 der sich zügig in Richtung der postierten Beamten und nach wie vor das Messer haltende V1 als bedrohliche Situation darstellte. Auch dem Angeklagten C1 verblieb für eine Einschätzung der von V1 ausgehenden Gefahr keine Zeit, da dieser bei Schussabgabe nur noch maximal zweieinhalb Meter von der Angeklagten L1 entfernt war.
117Ebenso wenig ist dem Angeklagten C1 zu widerlegen, dass er die Abgabe von Schüssen auf die Körpermitte des V1 und bis zu dessen Sturz zu Boden zur Abwendung der von ihm ausgehenden Gefahr für notwendig hielt, zumal dies der in Ausbildung und Fortbildung gelehrten Inhalten entspricht.
118Die in diesem Zusammenhang unter III. getroffenen Feststellungen zum Stand der Lehre in Ausbildung und Fortbildung und Einsatztraining im Hinblick auf die Einsatzmittel RSG 8, MP 5 und DEIG sowie auf den Umgang mit psychisch auffälligen bzw. suizidgefährdeten Personen beruhen auf den nachvollziehbaren und kompetenten Darlegungen des beim Landesamt für Aus- und Fortbildung der Polizei NRW tätigen Sachverständigen PHK F4. Dieser ist als Lehrender in der Fortbildung und dem Einsatztraining mit der speziellen Fachverantwortung Schießen/Nichtschießen betraut.
119Die weiteren Feststellungen zur Ausbildung hinsichtlich der Gefahrenabwehr, der Einsatzmittel des RSG 8, des DEIG und der MP 5 sowie der P 99 bzw. P6 ergeben sich aus den Darlegungen des Sachverständigen PHK F5, der als Fachkoordinator der entsprechenden Abteilung beim (…)amt für Aus- und Fortbildung NRW tätig ist und über die erforderliche Sachkunde verfügt.
120Die Feststellungen zur Einsatzlehre, auch im Hinblick auf das polizeiliche Eingriffsrecht nach dem Polizeigesetz und der StPO sowie in Bezug auf suizidgefährdete Personen beruhen auf den sachverständigen Darlegungen des bei der Polizeifachschule Ort-02 tätigen Sachverständigen PD F6.
121Die Kammer sieht keinen Grund, an den ausführlichen und schlüssigen Ausführungen der Sachverständigen zu zweifeln.
122Die unter III. getroffenen Feststellungen zu Wirkweise, Funktionsfähigkeit und Reichweite des durch die Angeklagte S1 genutzten RSG 8 beruhen auf den in sich schlüssigen und widerspruchsfreien Erläuterungen des beim Bundeskriminalamt in Ort-18 tätigen Diplomphysikers WOR A4, an denen zu zweifeln die Kammer keinen Anlass gesehen hat und denen sie folgt.
123Danach sei die Funktionsfähigkeit des asservierten RSG 8, auch bezogen auf eine Entfernung von vier Metern, gegeben, der Flüssigkeitsstrahl verteile sich dann bei Auftreffen auf ein Ziel über eine Fläche von 20 x 30 cm. Die vorgenommene chemische Analyse des Reizstoffes im Vergleich zu einem neuen RSG ohne Überschreitung des Verfallsdatums habe keine Abweichung der Wirkstoffzusammensetzung ergeben. Die festgestellte beim Einsatz des RSG 8 ausgebrachte Reizstoffmenge von 187g hat der Sachverständige insoweit nachvollziehbar anhand des Vergleichs des durch die Angeklagte S1 genutzten RSG mit einem ungenutzten Vergleichsgerät ermittelt.
124Die unter III. festgestellte Zuordnung der zum Tatzeitpunkt genutzten DEIGe, des DEIG X410031R9 mit dem Aufkleber „T7“ zu der Angeklagten L1 als Nutzerin und des DEIG X41002D68 mit dem Aufkleber „T1“ zu dem Angeklagten H1 als Nutzer, beruht auf dem in der Hauptverhandlung verlesenen polizeilichen Vermerk der Polizei Ort-17 vom 21.08.2022, wonach sich diese Zuordnung aus intern geführten Taser-Listen der Polizeiwache Ort-01– Nord ergibt.
125Die Feststellungen zur konkreten Wirkung der durch die Angeklagten H1 und L1 eingesetzten Distanzelektroimpulsgeräte (DEIG) beruhen auf den Darlegungen des Sachverständigen J4, Leiter der Rechtsmedizin Ort-19, der anhand einer Darstellung mittels Beamer seine nachvollziehbaren Ausführungen dargelegt hat. Der Sachverständige hat ein rechtsmedizinisches Gutachten zu den medizinischen Aspekten des Einsatzes der Distanzelektroimpulsgeräte erstellt. Er hat zum Thema „Taser“ habilitiert und zahlreiche Publikationen veröffentlicht, so dass an seiner besonderen Sachkunde keine Zweifel bestehen.
126Desweiteren beruhen die Feststellungen dazu, bei welchem der durch die Angeklagten H1 und L1 verwendeten DEIGs über die Pfeilelektrode ein elektrischer Impuls ausgelöst bzw. ein Stromkreis geschlossen worden ist auf den Darlegungen des Sachverständigen Irion, der beim LKA NRW als Elektroingenieur und Sachverständiger für Brandfragen Elektrik tätig ist. Dieser hat die am Tatort aufgefundenen und asservierten Elektronenkörper und Kartuschen untersucht und dabei die als Spur 2 im Rahmen der Spurensicherung am Tatort neben dem Pkw Smart aufgefundene Pfeilelektrode sowie die im Penis des Getöteten sichergestellte Pfeilelektrode dem durch die Angeklagte L1 verwendeten DEIG „T7“ zugeordnet. Im Hinblick auf die bei diesen Elektronenkörpern punktuelle thermische Schädigung der Isolierung geht der Sachverständige von Spannungsüberschlägen und damit von einem mit diesen Elektroden geschlossenen Stromkreis aus.
127Mit diesem Ergebnis korrespondieren die in der Hauptverhandlung verlesenen Gutachten des Landeskriminalamtes NRW 522-027652 vom 27.10.2022 (Band IV, Blatt 1826ff), wonach an der aus dem Penis des V1 sichergestellten Pfeilelektrode Faserspuren seiner am Tattag getragenen Kleidung detektiert werden konnten. Aus dem Gutachten des LKA NRW 522-027852 vom 28.10.2022 ergaben zudem die nach den gängigen Methoden durchgeführten molekulargenetischen Untersuchungen von Abrieben der neben dem Pkw Smart aufgefundenen Pfeilelektrode, Abrieben von der Frontschürze des Pkw Smart, sowie Abrieben von Griff und Klinge des am Tatort unter dem Körper des V1 aufgefundenen Messers jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:30 Milliarden dem V1 zuzuordnende Blutspuren.
128Die unter III. getroffenen Feststellungen zur Funktionsfähigkeit der durch den Angeklagten C1 eingesetzten MP5 sowie der Zuordnung der aufgefundenen und asservierten Geschosse und Patronenhülsen beruhen auf den nachvollziehbaren Ausführungen des beim LKA NRW tätigen Sachverständigen J5. Nach dessen Angaben waren keinerlei technische Defekte an der Waffe feststellbar. Funktionsstörungen seien beim Vergleichsbeschuss nicht aufgetreten. Der MP5 konnten die in Oberarm und Brustfellhöhle des Leichnams sichergestellten Geschosse sowie die am Zaun und auf der Straße-02 aufgefundenen und asservierten Hülsen eindeutig zugeordnet werden.
129Demgegenüber war keines der aufgefundenen Projektile mit der ebenfalls untersuchten Dienstwaffe Walther P99 des Angeklagten T1, verschossen worden, weswegen eine Schussabgabe durch ihn ausgeschlossen erscheint.
130Die Kammer hat insofern keinen Anlass gesehen, an den in sich schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen zu zweifeln und schließt sich diesen an.
131Die unter III. getroffenen Feststellungen zu den Verletzungen des V1 und der Todesursache beruhen auf den in sich schlüssigen Ausführungen des erfahrenen Sachverständigen für Rechtsmedizin F3, denen die Kammer folgt. Insofern hat der Sachverständige die Ergebnisse der Obduktion anhand der dabei gefertigten und in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Lichtbilder anschaulich erläutert. Als hochwahrscheinliche Todesursache stellte sich nach den plausiblen Erläuterungen des Sachverständigen die mit einem erheblichen Blutverlust einhergehende Verletzung der Beckenschlagader dar. Letale Wirkung konnte daneben auch Verletzung der Lunge mit entsprechender Einblutung und der Bildung einer sogenannten Blut- bzw. Luftbrust entfalten.
132Die Kammer folgt dem Sachverständigen auch insoweit, als dieser eine Reihenfolge der eingetretenen Schussverletzungen aufgrund des dynamischen Geschehens nicht festzustellen vermochte. Dabei war zu berücksichtigen, dass nach den schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen V1 sich aus einer gebeugten Haltung in Bewegung setzte, ohne sich gleich aufzurichten, dann nach einigen Schüssen wieder nach vorn zusammensackte. Von daher kann schon die festgestellte Einschusswunde auf der Rückseite der rechten Schulter sowohl anfangs in der Aufrichtphase als auch bei Zusammensacken aufgrund vorheriger Schüsse entstanden sein.
133Die Feststellungen zu den Gegebenheiten am Tatort hat die Kammer aufgrund des in der Hauptverhandlung verlesenen Tatortbefundberichtes des PP Ort-17 vom 08.08.2022 sowie der Inaugenscheinnahme der darin enthaltenen Lichtbilder (Band II, Blatt 582ff der Hauptakte) getroffen.
134Die Feststellungen zu der Spurensicherung am Tatort und der Sicherstellung der aufgefundenen Projektile, Geschosshülsen und Pfeilelektroden ergeben sich aus der Verlesung des Spurensicherungsberichtes des PP Ort-17 vom 18.08.2022 und der Inaugenscheinnahme der darin enthaltenen Lichtbilder (Band II, Bl. 837ff der Hauptakte).
135V.
136Die Angeklagte S1 war aus rechtlichen Gründen freizusprechen, da sie gerechtfertigt gehandelt hat.
137Die Angeklagte hat den Tatbestand der Körperverletzung im Amt gemäß §§ 340 Abs.1, 223 Abs.1, 224 Abs.1 Nr.2 StGB verwirklicht. Durch den Einsatz des RSG 8 wurde auf den Körper des V1 eingewirkt. Dies ist eine körperliche Misshandlung. Wenn auch nicht festzustellen ist, welche Wirkungen der Einsatz des Reizstoffes konkret verursacht hat, so zeigt die fluchtartige Reaktion des V1, dass der Einsatz zumindest sein körperliches Wohlbefinden beeinträchtigt hat. Die Angeklagte S1 handelte mit Absicht, da sie eine Reaktion des V1 herbeiführen wollte, unabhängig davon, dass der weitergehende beabsichtigte Erfolg, nämlich das Fallenlassen des Messers aufgrund einer erheblichen körperlichen Reizung durch das Reizgas, nicht eingetreten ist. Bei dem RSG 8 handelt es sich um ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs.1 Nr.2 StGB.
138Die Tat war aufgrund der allgemeinen Ermächtigungsgrundlage des § 8 Abs.1 PolG NRW gerechtfertigt.
139Danach kann die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwenden. Die öffentliche Sicherheit umfasst als Schutzgut die Individualrechtsgüter, damit vorrangig den Schutz des Lebens. Dies gilt auch bei einem Suizid. Ausnahmetatbestände hierzu sind nicht ersichtlich.
140Es bestand auch eine konkrete Gefahr für das Leben des V1. Eine solche ist zu bejahen, wenn bei ungehindertem Ablauf des Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden eintritt. Je höher das Schutzgut einzustufen ist, desto geringere Anforderungen sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts zu stellen. Es ist danach eine Prognoseentscheidung zu treffen, wobei es hier bei der identischen Tatsachengrundlage auf die Unterscheidung ex – post / ex – ante nicht ankommt, da es ex – post keine weitergehenden Erkenntnisse gibt. V1 hatte das Messer direkt zum Stich bereit auf den Bauch gerichtet. Er war völlig apathisch und ließ keinen Kontakt zu, so dass für den objektiven Beobachter der Schluss zu ziehen war, dass V1 sich in einer psychischen Ausnahmesituation befand. Die Erkenntnisse über den Aufenthalt in der G1 – Klinik für Jugendpsychiatrie sprachen für eine Selbstmordabsicht. Bei der Prognose war insofern zu berücksichtigen, dass es um das Schutzgut Leben ging. Der lange Zeitablauf zwischen dem Erstkontakt durch die Mitarbeiter der Jugendeinrichtung bis zum Einsatz des RSG 8 sprechen dabei nicht zwingend gegen die Suizidabsicht, zumal V1 gar nicht auf Ansprachen und die äußere Situation (z.B. lauter Funkverkehr) reagierte. Insgesamt ist danach im Rahmen der Prognoseentscheidung die konkrete Gefahr zu bejahen.
141Die Gefahr war auch gegenwärtig. Eine gegenwärtige Gefahr ist gegeben, wenn der Schaden sicher oder höchstwahrscheinlich ist, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Wie dargelegt, hatte V1 das Messer bereits direkt auf seinen Bauch gerichtet. Weitere Zwischenschritte zur Ausführung des Suizids waren nicht mehr erforderlich. Die bis dahin statisch verharrende Lage des V1 hätte jederzeit in eine Ausführung des Stiches umschlagen können. Auch aus objektiver Sicht war damit ein alsbaldiger Schadenseintritt zu erwarten, sofern keine Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Die Angeklagte S1 handelte, wie festgestellt, auch mit dem Willen, den Suizid abzuwenden.
142Die Voraussetzungen des Übermaßverbotes (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im weiteren Sinne) waren auch gewahrt. Der Einsatz des RSG 8 war aufgrund der Wirkungen des Reizstoffes ein geeignetes, wenn auch nicht sicheres Mittel, zur Entwaffnung des V1. Im Rahmen der polizeilichen Einsatzlehre wird der Einsatz des RSG 8 als mögliches Mittel zur Entwaffnung von Tätern mit Messern gelehrt. Der Angeklagten war aus vorherigen Einsätzen bekannt, dass der Einsatz des RSG den beabsichtigten Erfolg herbeizuführen vermag. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Reizstoff grundsätzlich keine erheblichen Folgen beim Betroffenen hat, zumal aufgrund der bereitstehenden Einsatzkräfte eine Behandlung vor Ort (wie z. B. ein Ausspülen der Augen) möglich gewesen wäre. Es handelt sich danach um ein mildes Eingriffsmittel. Der alsbaldige Einsatz war aufgrund der Gefahrenlage erforderlich.
143Mildere Mittel standen nicht zu Verfügung. Der Einsatz eines Sondereinsatzkommandos kam nicht in Betracht. Abgesehen davon, dass der Einsatz bei einem Suizid zu den originären Zuständigkeiten des Schichtdienstes gehört und nicht eines Sondereinsatzkommandos, ist zu berücksichtigen, dass der Einsatz eines Sondereinsatzkommandos zu einem erheblichen Zeitverlust geführt hätte. Aus Sicht der eingesetzten Beamten war aber aufgrund der gegenwärtigen Gefahr ein alsbaldiger Zugriff erforderlich. Zudem ist zu beachten, dass der Einsatz eines Sondereinsatzkommandos in der Regel unter Anwendung körperlicher Gewalt erfolgt und daher kein milderes Mittel darstellt.
144Auch der Einsatz eines Diensthundes stellt kein gegenüber dem Einsatz des RSG milderes Mittel dar, zumal die Gefahr nicht unerheblicher Bisswunden besteht und die Hinzuziehung ebenfalls zu einem Zeitverlust geführt hätte. Darüber hinaus war die Reaktion des V1 auf einen solchen Einsatz (wie auch auf den Einsatz des Sondereinsatzkommandos) nicht absehbar. Beide Vorgehensweisen hätten ebenso möglicherweise die Suizidhandlung auslösen können.
145Die Hinzuziehung eines Psychologen und eines Dolmetschers schied aufgrund des dadurch hervorgerufenen Zeitablaufs ebenfalls aus. Die Benachrichtigung erfordert schon einen nicht unerheblichen Zeitaufwand. Zudem war zu beachten, dass V1 selbst auf die Ansprachen der ihm bekannten Mitarbeiter der Einrichtung nicht reagiert hatte. Der Einsatz von Personen, die V1 völlig unbekannt waren und die zu seiner Person auch keine Informationen hatten, war schon von daher nicht erfolgversprechend. Des Weiteren musste der Schutz unbeteiligter Dritter gewährleistet werden, zumal gar nicht absehbar war, ob diese bereit sind, sich einer mit einem Messer bewaffneten Person überhaupt zur Kontaktaufnahme zu nähern.
146Darüber hinaus musste sich die Angeklagte S1 auch nicht auf etwaig mildere, aber unsichere Alternativen verlassen.
147Angesichts des Schutzgutes Leben und der grundsätzlich nur geringen Folgen des Einsatzes eines RSG 8 war die Maßnahme auch verhältnismäßig.
148Eine Androhung der Maßnahme gemäß §§ 56 Abs.1, 61 Abs.1 PolG NRW war entbehrlich.
149Von der grundsätzlich erforderlichen Androhung kann abgesehen werden, wenn die Umstände sie nicht zulassen oder wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist. Die Angeklagte hat es berechtigt unterlassen, V1 aufzufordern, das Messer fallen zu lassen und den RSG 8 - Einsatz anzudrohen. Ihr war bekannt, dass V1 trotz vorheriger Bemühungen keine Reaktionen gezeigt hatte. Er war nicht ansprechbar. Er wollte oder konnte aufgrund seiner psychischen Verfassung nicht reagieren. Zweck der Androhung ist es, bei dem Betroffenen, eine Reaktion hervorzurufen. Aufgrund der bekannten Umstände war eine solche Reaktion nicht zu erwarten. Zudem gab es vor dem Einsatz lauten Funkverkehr und laute Rufe des Angeklagten T1. Auch insoweit hätte ein aufnahmefähiger bzw. aufnahmewilliger Mensch erkennen müssen, dass sich bald etwas ereignen dürfte. Es erfolgte aber keine Reaktion des V1. Aufgrund der Umstände wäre eine Androhung nicht erfolgversprechend gewesen. Sie war nach Auffassung der Kammer entbehrlich. Zudem war auch nicht absehbar, wie V1 auf eine Aufforderung, das Messer fallen zu lassen, reagiert hätte, sofern er diese verstanden hätte. Mit Blick auf die von ihm eingenommene Haltung wollte V1 das Messer erkennbar einsetzen. Eine Androhung hätte bei ihm dann letztlich den endgültigen Entschluss zum Einsatz des Messers auslösen können. Der Einsatz des RSG 8 ohne Androhung hätte dies verhindern können und war damit zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig. Schließlich wollte die Angeklagte S1 das RSG 8 ohne Androhung einsetzen, um das damit einhergehende Überraschungsmoment nach dem erhofften Fallenlassen des Messers für den dann geplanten Zugriff nutzen zu können.
150Ergänzend ist anzumerken, dass die Angeklagte S1 auch gemäß § 57 Abs.2 PolG NRW in Verbindung mit § 34 StGB wegen rechtfertigen Notstandes gerechtfertigt ist. Die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes sind erfüllt. Sie decken sich im Wesentlichen mit den Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage. Zwecks Vermeidung von Wiederholungen ist auf die Ausführungen zu § 8 Abs. 1 PolG NRW zu verweisen. § 34 StGB setzt jedoch keine förmliche Androhung der Tat zur Abwehr der Gefahr voraus. Eine Androhung erlangt hier Relevanz als milderes und geeignetes Mittel. Deren Eignung ist aber aus den soeben gemachten Erwägungen zur Entbehrlichkeit einer Androhung zu verneinen. Eine Reaktion des V1 war nicht zu erwarten; die Androhung wäre nicht erfolgversprechend gewesen.
151Unabhängig davon hätte bei anderer rechtlicher Beurteilung der Voraussetzungen der Rechtfertigungsgründe die Angeklagte S1 gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 PolG NRW jedenfalls entschuldigt gehandelt. Nach dieser Vorschrift trifft einen Polizeivollzugsbeamten bei einem Handeln auf Anordnung eine Schuld nur, wenn er erkennt oder es nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, dass dadurch eine Straftat begangen wird. Nach den obigen Ausführungen ging die Angeklagte S1 davon aus, dass der durch den Angeklagten T1 angeordnete Einsatz des RSG im Hinblick auf das Vorliegen einer konkreten Gefährdungslage für das Leben des V1 zu dessen Rettung geboten und daher nicht rechtswidrig war.
152Der Angeklagte C1 war aus rechtlichen Gründen freizusprechen, da er sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befand und ihm Fahrlässigkeit auch nicht vorzuwerfen ist.
153Der Angeklagte hat den Tatbestand des Totschlags gemäß § 212 Abs.1 StGB verwirklicht, da er durch die Schüsse den Tod des V1 verursacht hat. Dabei hat er die tödlichen Verletzungen zumindest bewusst und gewollt billigend in Kauf genommen. Bei der Abgabe von sechs Schüssen auf den Oberkörper sind tödliche Verletzungen naheliegend.
154Die Tat war nicht gemäß § 57 Abs.2 PolG NRW in Verbindung mit § 32 StGB durch Notwehr gerechtfertigt, da kein Angriff des V1 vorlag. Wie festgestellt bewegte V1 sich nicht in Richtung der Beamten, um diese ggf. mit dem Messer zu verletzen oder gar zu töten. Er wollte sich aus dem Einwirkungsbereich des Reizstoffes durch Flucht entfernen. Dazu verblieb ihm allein der Weg in Richtung der Beamten, zumal aus dieser Richtung der Reizstoff nicht eingesetzt worden war.
155Der Angeklagte C1 befand sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum. Es handelt sich um einen Tatsachenirrtum, bei dem der Täter sich einen Sachverhalt vorstellt, bei dessen Vorliegen ein existierender Rechtfertigungsgrund greift. Nach der von der Rechtsprechung angewandten eingeschränkten Schuldtheorie entfällt in (analoger) Anwendung des § 16 Abs.1 S.1 StGB jedenfalls eine Strafbarkeit wegen der Vorsatztat. Bei einer Vorwerfbarkeit des Irrtums verbleibt es bei einer Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit, sofern ein entsprechender Tatbestand existiert, hier die fahrlässige Tötung gemäß § 222 StGB. Ein Fahrlässigkeitsvorwurf trifft den Angeklagten jedoch auch nicht.
156Der Angeklagte C1 stellte sich einen Sachverhalt vor, bei dem der Rechtfertigungsgrund der Notwehr gemäß § 32 StGB greift.
157Aus seiner Sicht lag ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des V1 vor. Nach der Vorstellung des Angeklagten stellte sich die Situation so dar, dass sich V1 mit dem Messer bewaffnet in Richtung der Beamten bewegte, um diese zu verletzen oder zu töten. Hierbei handelt es sich um einen Angriff auf Leib und Leben. Der Angriff war auch gegenwärtig, da er bereits begonnen hatte. V1 befand sich maximal zweieinhalb Meter von der Angeklagten L1 entfernt und nur noch wenige Meter von ihm und den weiteren Beamten, auf die er sich zügigen Schrittes mit dem Messer in der Hand zubewegte. Die Situation konnte unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen. Der Angriff war auch rechtswidrig, da zugunsten des V1 kein Rechtfertigungsgrund greift. Die Tat richtete sich aus Sicht des Angeklagten gegen den Angreifer. Die Schussabgabe war erforderlich, um den vorgestellten Angriff abzuwenden. Sie war ein geeignetes Mittel, da sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Angriff unmittelbar unterbindet. Mildere Mittel waren nicht vorhanden. Aufgrund der Kürze der verbleibenden Zeit bis zum Erreichen der Beamten, insbesondere der Angeklagten L1, war nur der sofortige Einsatz der Schusswaffe als einziges Abwehrmittel des Angeklagten erfolgsversprechend. Aus diesem Grunde schied eine Androhung oder ein Warnschuss aus, zumal der Angeklagte wahrgenommen hatte, dass V1 auf Ansprachen nicht reagiert hatte. Die Notwehr war auch geboten. Einschränkungen des Notwehrrechts (wie etwa eine Notwehrprovokation) sind nicht erkennbar. Die räumliche Nähe der Beamten zu V1 war nicht vorwerfbar. Sie war aufgrund des Einsatzplans mit dem Ziel der sofortigen Entwaffnung des V1 nach Einsatz des RSG 8 erforderlich und zudem aufgrund der örtlichen Verhältnisse vorgegeben. Schließlich war zu beachten, dass es aus Sicht des Angeklagten um einen Angriff auf Leib und Leben ging. Es entspricht zudem, wie festgestellt, den polizeitaktischen Vorgaben, dass Schüsse bei einem Messerangriff bis zu dessen Beendigung fortzusetzen sind. Der Angeklagte hat die Schussabgabe sogleich eingestellt, als er eine Reaktion des V1 bemerkte. Das Verhalten des Angeklagten entsprach den Vorgaben der polizeilichen Einsatzlehre. Schließlich handelte der Angeklagte auch subjektiv zur Abwehr des Angriffs auf seine Kollegen (Nothilfe), als auch auf seine Person (Notwehr).
158Der Angeklagte hat sich danach eine Notwehrlage vorgestellt, die tatsächlich nicht bestand.
159Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB kam auch nicht in Betracht. Eine solche Verurteilung setzt voraus, dass der Täter nach seinen individuellen Möglichkeiten den Irrtum hätte erkennen und damit vermeiden können. Der Irrtum war für den Angeklagten unvermeidbar. V1 bewegte sich zügig mit dem Messer in der Hand auf die Beamten zu und war von der Angeklagten L1 noch maximal zweieinhalb Meter entfernt. Auch bei objektiver Betrachtung lässt ein solches Verhalten den Schluss auf einen Angriff zu. Insoweit war zudem zu beachten, dass aufgrund der Kürze der verbleibenden Zeit bis zum Erreichen der Angeklagten L1 für den Angeklagten C1 nur ein sehr kurzer Zeitraum zur Beurteilung der Sachlage verbleib. Der Irrtum war danach für ihn weder zu erkennen noch zu verhindern, zumal eine weiteres Zuwarten, wie sich die Situation entwickeln würde, auch nicht mehr möglich war.
160Die Angeklagte L1 war aus rechtlichen Gründen freizusprechen, da sie sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befand und ihr Fahrlässigkeit nicht vorzuwerfen ist.
161Die Angeklagte hat den Tatbestand der Körperverletzung im Amt gemäß §§ 340 Abs.1, 223 Abs.1, 224 Abs.1 Nr.2 StGB verwirklicht. Durch den Einsatz des DEIGs verhakten sich die Widerhaken der Pfeilelektroden in der Haut des V1 und es kam zumindest zu einer kurzen Schmerzinduktion. Die Angeklagte verursachte damit eine körperliche Misshandlung und eine Gesundheitsbeschädigung bei V1. Sie handelte mit Absicht, da sie zumindest diese Folgen herbeiführen wollte, unabhängig davon, dass der weitergehende beabsichtigte Erfolg einer Kontraktion der Skelettmuskulatur nicht eintrat. Bei dem DEIG handelt es sich um eine Waffe im Sinne des § 224 Abs.1 Nr.2 StGB.
162Zur Rechtfertigung gemäß § 57 Abs.2 PolG in Verbinndung mit § 32 StGB und zu den Voraussetzungen des Erlaubnistatbestandirrtums kann zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die auch hier geltenden Ausführungen zum Angeklagten C1 verwiesen werden.
163Die Angeklagte L1 stellte sich einen Sachverhalt vor, bei dem der Rechtfertigungsgrund der Notwehr gemäß § 32 StGB greift. Auch insoweit kann zwecks Vermeidung von Wiederholungen im Wesentlichen auf die auch hier geltenden Ausführungen zum Angeklagten C1 verwiesen werden. Der Einsatz des DEIG war erforderlich, um den vorgestellten Angriff abzuwenden. Er war grundsätzlich ein geeignetes Mittel, da der Einsatz mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund der Kontraktion der Skelettmuskulatur den Angriff unmittelbar unterbindet, wenn auch hier der Abschusswinkel falsch eingestellt war. Mildere Mittel waren nicht vorhanden. Wegen der Kürze der verbleibenden Zeit bis zum Erreichen der Beamtin war nur der sofortige Einsatz des DEIGs als einziges Abwehrmittel der Angeklagten erfolgsversprechend. Eine Überprüfung des Abschusswinkels war ihr nicht mehr möglich. Ihr verblieb nur der einmalige Einsatz des DEIGs. Die Angeklagte handelte auch subjektiv zur Abwehr des Angriffs auf ihre Person.
164Die Angeklagte L1 hat sich danach eine Notwehrlage vorgestellt, die tatsächlich nicht bestand. Eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 StGB kam auch nicht in Betracht. Der Irrtum war für die Angeklagte unvermeidbar. V1 bewegte sich zügig mit dem Messer in der Hand auf die Beamtin zu und war von ihr noch maximal zweieinhalb Meter entfernt. Auch bei objektiver Betrachtung lässt ein solches Verhalten den Schluss auf einen Angriff zu. Insoweit war zudem zu beachten, dass aufgrund der Kürze der verbleibenden Zeit bis zum Erreichen der Angeklagten L1 für sie nur ein sehr kurzer Zeitraum zur Beurteilung der Sachlage verbleib. Der Irrtum war danach für sie weder zu erkennen noch zu verhindern.
165Der Angeklagte H1 war aus rechtlichen Gründen freizusprechen, da er gerechtfertigt war.
166Der Angeklagte hat den Tatbestand der Körperverletzung im Amt gemäß §§ 340 Abs.1, 223 Abs.1, 224 Abs.1 Nr.2 StGB verwirklicht. Durch den Einsatz des DEIGs verhakten sich ein Widerhaken der Pfeilelektroden in der Haut des V1. Der Angeklagte verursachte damit eine körperliche Misshandlung und eine Gesundheitsbeschädigung bei V1. Der Angeklagte handelte mit Absicht, da er zumindest diese Folgen herbeiführen wollte, unabhängig davon, dass der weitergehende beabsichtigte Erfolg einer Kontraktion der Skelettmuskulatur nicht eintrat. Bei dem DEIG handelt es sich um eine Waffe im Sinne des § 224 Abs.1 Nr.2 StGB.
167Der Einsatz des DEIG war gemäß § 8 Abs.1 PolG NRW gerechtfertigt.
168Zwecks Vermeidung von Wiederholungen kann hier im Wesentlichen auf die auch hier greifenden Ausführungen zur Angeklagten S1 verwiesen werden. Aufgrund der Wirkungen des DEIGs mit der hervorgerufenen Kontraktion der Skelettmuskulatur war der Einsatz ebenfalls ein geeignetes Mittel, dass V1 das Messer fallen lässt und danach überwältigt werden kann. Der Gefahr eines Suizids konnte so wirksam entgegengetreten werden. Da V1 das Messer auch nicht mehr direkt vor dem Körper hielt, war die Gefahr von Verletzungen im Falle eines Sturzes minimiert.
169Eine Androhung war aus den oben genannten Gründen entbehrlich, wobei zudem festzustellen war, dass V1 sich aus dem Schussfeld des Angeklagten bewegte. Die sofortige Anwendung war zur Abwendung der konkreten Gefahr notwendig.
170Der Angeklagte H1 handelte auch mit Rettungswillen. Dass er dabei den DEIG – worauf im Folgenden noch eingegangen wird - auch zur Abwehr eines vermeintlichen Angriffs auf die weiteren Beamten eingesetzt hat (sog. Motivbündel) ist hier unerheblich, da keines der Motive überwiegt und das andere verdrängt.
171Zudem war der Angeklagte auch gemäß § 57 Abs.2 PolG NRW in Verbindung mit § 34 StGB wegen rechtfertigen Notstandes gerechtfertigt. Zwecks Vermeidung von Wiederholungen wird zur Begründung auf die vorherigen Ausführungen zur Strafbarkeit der Angeklagten S1 verwiesen.
172Soweit der Angeklagte H1 auch zur Abwehr eines Angriffs auf die weiteren Polizeibeamten gehandelt hat, befand er sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum. Zwecks Vermeidung von Wiederholungen kann im Wesentlichen auf die Ausführungen zur Angeklagten L1 verwiesen werden. Lediglich die örtlichen Verhältnisse stellten sich für den Angeklagten H1 insofern abweichend dar, als V1 sich von ihm und seiner Position am Zaun weg in Richtung der Beamten bewegte. V1 befand sich aber auch hier maximal zweieinhalb Meter von der Angeklagten L1 entfernt. Dem Angeklagten verblieb damit ebenfalls nur eine sehr kurze Zeitspanne zum einmaligen Einsatz des DEIG. Subjektiv handelte er mit Abwehrwillen (Nothilfe). Der Irrtum war auch für ihn unvermeidbar.
173Der Angeklagte T1 war aus rechtlichen Gründen freizusprechen.
174Der Angeklagte hat sich nicht gemäß § 357 Abs.1 StGB wegen des Verleitens eines Untergebenen zu einer rechtswidrigen Tat im Amt strafbar gemacht.
175Als rechtswidrige Taten kommen nach den Feststellungen nur die Tathandlungen der Angeklagten C1 und L1 in Betracht, da diese beiden Angeklagten, wie zuvor dargestellt, nicht mit Rechtfertigungsgründen gehandelt haben, sondern sich jeweils in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befanden.
176Ein Verleiten im Sinne des § 357 Abs. 1 StGB setzt das vorsätzliche Einwirken auf den Willen zur Tatbegehung eines anderen voraus, insbesondere durch das Hervorrufen des Tatentschlusses. Für die Einsatzplanung war der Angeklagte T1 verantwortlich. Ziel war die Verhinderung des Suizids des V1. Im Rahmen der Einsatzplanung wurden die Einsatzmittel (MP 5, DEIG und RSG 8) zugewiesen. Nur der Einsatz des RSG 8 war im Rahmen der Einsatzplanung als mögliches Mittel dabei konkret vorgegeben. Weitere konkrete Vorgaben durch den Angeklagten T1 erfolgten insofern, als die zivilen Kräfte zunächst die Örtlichkeit erkunden und Kontakt mit V1 aufnehmen sollten. Als dies erfolglos war, gab er die Anweisung zum Vorrücken der uniformierten Beamten, wobei diese, insbesondere die Angeklagten C1 und L1, sich ihre Standorte selbst aussuchten. Lediglich den Angeklagten S1 und H1 gab er die Anweisung zu einer Aufstellung auf der Straße-02. Eine Strafbarkeit des Angeklagten T1 durch Verleiten eines Untergebenen zu einer rechtswidrigen Straftat ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu begründen.
177Der Angeklagten T1 gab dann den Einsatzbefehl zum Einsatz des RSG 8. Wie dargestellt war der Einsatz durch die Angeklagte S1 gerechtfertigt, so dass auch insoweit keine rechtswidrige Tat vorliegt. Der Einsatz des DEIG durch die Angeklagte L1 beruhte dann auf ihrer eigenen Entscheidung. Eine Anweisung des Angeklagten, auch bei der Einsatzplanung, gab es nicht. Vielmehr hatte er im Rahmen des Einsatzes den Vorschlag der Angeklagten L1 auf Einsatz des DEIG sogar abgelehnt. Ein Verleiten zur Tat liegt nicht vor.
178Auch die Bestimmung eines Sicherungsschützen zur Abwehr eines möglichen Messerangriffs vermag kein Verleiten zu begründen. Es handelt sich um eine übliche Maßnahme im Rahmen eines Polizeieinsatzes. Wie dargelegt, hat der Angeklagte C1 dann seine Position entsprechend den Vorgaben der örtlichen Verhältnisse selbständig eingenommen. Die Schussabgabe beruhte auf seiner eigenen Entscheidung. Ein Verleiten scheidet auch insoweit aus.
179Der Angeklagte T1 hat sich auch nicht wegen fahrlässiger Tötung gemäß § 222 StGB oder fahrlässiger Körperverletzung gemäß § 229 StGB zum Nachteil des V1 strafbar gemacht.
180Dem Angeklagten kann eine fehlerhafte Einsatzplanung, die den Fahrlässigkeitsvorwurf begründen könnte, nicht vorgeworfen werden. Der tatbestandliche Erfolg des Todes oder einer Gesundheitsschädigung war bei Anwendung der pflichtgemäßen Sorgfalt weder objektiv vorhersehbar noch vermeidbar. Bei dieser Beurteilung ist auf eine objektive Maßstabsperson abzustellen. Es gelten die Anforderungen, die bei ex – ante Betrachtung an einen besonnenen und gewissenhaften Einsatzleiter in der konkreten Situation zu stellen sind.
181Demgegenüber wäre bei einer ex - post - Betrachtung festzustellen, dass der Einsatzplan keine Alternative für den Fall vorsah, dass der Reizstoff nicht wirkt und V1 das Messer nicht fallen lässt. Die nicht 100 %ig sichere Wirkung war bekannt. Von daher war es nicht fernliegend, dass V1 bei fehlender oder nicht ausreichender Wirkung des RSG 8-Einsatzes seinen Standort fluchtartig verlässt und sich aufgrund der örtlichen Gegebenheiten zwangsläufig in Richtung der Beamten bewegt, die im möglichen Fluchtweg standen. Entsprechende Verteidigungshandlungen der Beamten waren damit auch nicht fernliegend.
182Abzustellen ist aber auf eine ex - ante - Betrachtung. Für die objektive Maßstabsperson stellte sich eine Situation dar, die jederzeit in einen Schaden (d.h. Suizid) umschlagen konnte. Nachdem die Kontaktaufnahme durch Betreuer und zivile Polizeibeamte zu V1 gescheitert war, verblieb nur eine kurze Zeit zur Einsatzplanung des wegen der konkreten Gefahr für V1 nunmehr angezeigten Eingreifens. Mildere oder weitere Einsatzmittel als der RSG – Einsatz standen nicht zur Verfügung. Insoweit kann zwecks Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen zur Strafbarkeit der Angeklagten S1 verwiesen werden. Die Wahl der dichten Aufstellung in Nähe des V1 war zunächst mit Blick auf die geplante Entwaffnung erforderlich, die einen schnellen Zugriff erforderte. Zudem war aufgrund der örtlichen Verhältnisse eine enge Aufstellung vorgegeben. Die enge Aufstellung konnte auch verhindern, dass V1 unkontrolliert flieht und gegebenenfalls Dritte verletzt. Auch insoweit gibt die Einsatzlehre vor, dass bewaffnete Täter möglichst eng begleitet und ggf. umstellt werden sollen, um Angriffe auf Dritte zu verhindern. Damit gab es keine Alternative zur Einsatzplanung des Angeklagten T1. Eine Pflichtverletzung ist nicht zu begründen.
183Selbst wenn man die Einsatzplanung des Angeklagten T1 im Hinblick auf das Fehlen einer Alternative für den Fall, dass der Einsatz des RSG 8 nicht die beabsichtigte Wirkung des Fallenlassens des Messers hervorrufen würde, als Sorgfaltspflichtverstoß ansähe, führt dieser Vorwurf gleichwohl nicht zu einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit des Angeklagten T1. Denn auch bei Annahme einer insofern sorgfaltspflichtwidrigen Einsatzplanung ist ihm der Tod des V1 nicht objektiv zuzurechnen.
184Im Rahmen eines Fahrlässigkeitstatbestandes entfällt der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen einem sorgfaltswidrigen Verhalten und dem Erfolg nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann, wenn derselbe Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten sicher oder möglicherweise eingetreten wäre. Bei der Prüfung einer solchen „hypothetischen“ Kausalität ist allein auf die konkrete Tatsituation abzustellen. Weggedacht werden darf nur das konkrete dem Täter vorwerfbare Verhalten, an seiner Stelle hinzugedacht nur eine solche Bedingung, deren Grund in dem Tatgeschehen selbst unmittelbar angelegt ist, wobei auch das eigenen Verhalten eines Geschädigten zu berücksichtigen ist (Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 222 Rn. 2a m.w.N.).
185Ob es aber einen alternativen, eine Fluchtbewegung des V1 einbeziehenden Einsatzplan mit einer überhaupt an Ort und Stelle durchführbare Einsatztaktik gegeben hätte, bei der V1 nicht auch sicher oder möglicherweise tödlich verletzt worden wäre, vermochte die Kammer nicht festzustellen. Der Angeklagte T1 hatte in seiner Einsatzplanung zugleich das Ziel der Entwaffnung V1s und damit die Verhinderung des Suizids zu verfolgen, als auch die Sicherheit der Beamten und gleichzeitig auch den Schutz unbeteiligter Dritter zu gewährleisten.
186Bei einer gänzlichen Untätigkeit des Angeklagten T1 bestand, wie oben dargelegt, die jederzeitige Möglichkeit des Suizids. Eine mildere Alternative zum Einsatz des RSG bestand zu der Zeit, wie ebenfalls oben dargelegt, auch nicht.
187Ohne den DEIG und den Einsatz des Sicherungsschützen wären die Beamten wiederum einem bewaffnetem und flüchtenden V1 schutzlos ausgeliefert gewesen.
188Die konkrete Aufstellung der Beamten und damit auch deren Nähe zu V1 und die äußerst kurze Reaktionszeit bei einer Fluchtbewegung waren dem geplanten Zugriff und der geplanten Entwaffnung geschuldet. Die räumlichen Gegebenheiten ließen keine andere Aufstellung der Beamten zu, bei denen gleichermaßen ein Zugriff ermöglicht, aber auch eine Fluchtbewegung gefahrlos möglich gewesen wäre. Hätten die Beamten weiter entfernt von V1 und weiter zurückversetzt im Innenhof gestanden, wäre ein Zugriff erschwert worden. Gleichzeitig wäre kein freies Blickfeld auf den sich in der Ecke befindlichen V1 zu gewährleisten gewesen. Hätten die Beamten sich auf der Straße-02 hinter dem Zaun befunden, wäre weder ein Zugriff, noch ein Schutz unbeteiligter Dritter möglich gewesen. Wenn aber mindestens ein Beamter mit freiem Blickfeld und ungehinderter Zugriffsmöglichkeit reagieren können will, bedingen aber die gegebenen engen örtlichen Verhältnisse der Nische und des Innenhofs gleichzeitig immer, dass dieser Beamte sich bei einer Fluchtbewegung V1s angegriffen fühlen könnte und sich in dessen potentiellem Einwirkungsbereich befindet.
189VI.
190Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO.