Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
I.
Das Verfahren wird ausgesetzt.
II.
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1.
Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 101 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV, Art 47 GRCh sowie Art. 2 Nr. 4, Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2014/104/EU, dahin auszulegen, dass es einer Auslegung und Anwendung des Rechts eines Mitgliedsstaates entgegensteht, durch welches einem möglicherweise durch einen - aufgrund Art. 9 der Richtlinie 2014/104/EU bzw. der diesen umsetzenden nationalen Vorschriften mit Bindungswirkung feststehenden - Verstoß gegen Art. 101 AEUV Geschädigten verwehrt wird, seine Ansprüche – insbesondere in Fällen von Massen- oder Streuschäden – an einen zugelassenen Rechtsdienstleister treuhänderisch abzutreten, damit dieser sie gebündelt mit Ansprüchen anderer vermeintlich Geschädigter im Wege einer follow-on-Klage durchsetzt, wenn andere gleichwertige gesetzliche oder vertragliche Möglichkeiten der Bündelung von Schadensersatzforderungen nicht bestehen, insbesondere weil sie nicht zu Leistungsurteilen führen oder aus sonstigen prozessualen Gründen nicht praktikabel bzw. aus wirtschaftlichen Gründen objektiv nicht zumutbar sind, und somit insbesondere die Verfolgung geringfügiger Schäden praktisch unmöglich oder jedenfalls übermäßig erschwert würde?
2.
Ist das Unionsrecht jedenfalls dann in dieser Weise auszulegen, wenn die fraglichen Schadensersatzansprüche ohne eine vorangehende und mit Bindungswirkung im Sinne nationaler, auf Art. 9 der Richtlinie 2014/104/EU beruhender Vorschriften versehenen Entscheidung der europäischen Kommission oder nationaler Behörden im Hinblick auf die vermeintliche Zuwiderhandlung verfolgt werden müssen (sog. „stand-alone-Klage“), wenn andere gleichwertige gesetzliche oder vertragliche Möglichkeiten der Bündelung von Schadensersatzforderungen zur zivilrechtlichen Verfolgung aus den in Frage 1) bereits genannten Gründen nicht bestehen und insbesondere wenn ansonsten eine Verletzung des Art. 101 AEUV überhaupt nicht, also weder im Wege des public enforcement noch des private enforcement, verfolgt werden würde?
3. Wenn mindestens eine der beiden Fragen zu bejahen ist, müssen dann die entsprechenden Normen des deutschen Rechts, wenn eine europarechtskonforme Auslegung ausscheidet, unangewendet bleiben, was zur Folge hätte, dass die Abtretungen jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt wirksam sind und eine effektive Rechtsdurchsetzung möglich wird?
Gründe
2A) Streitgegenstand und maßgeblicher Sachverhalt (Art. 94 lit. a VerfO-EuGH)
3Die Klägerin verlangt mit der am 31. März 2020 erhobenen Klage aus abgetretenem Recht für insgesamt 32 Sägewerksbetriebe Kartellschadensersatz. Sie wirft dem Beklagten vor, unter Verstoß gegen Art. 101 AEUV mindestens im Zeitraum vom 28. Juni 2005 bis zum 30. Juni 2019 die Preise für Nadelstammholz (nachfolgend „Rundholz“) für sich und andere Waldbesitzer in C1 vereinheitlicht zu haben. Die Waldbesitzer boten ihre Ware nicht eigenständig am Markt an, sondern beauftragten den Beklagten damit, für sie die Rundholzvermarktung zu übernehmen. Der Beklagte handelte auf diese Weise mit Abnehmern nicht nur Preise für sein eigenes Rundholz aus, sondern auch für das Rundholz der anderen teilnehmenden Waldbesitzer und bot diese am Markt an.
4Das Bundeskartellamt ermittelte mehrere Jahre wegen dieser Vorgehensweise und erließ im Jahre 2009 eine Verpflichtungszusagenentscheidung nach § 32b GWB gegen den Beklagten (Anlage K 56) sowie auch gegen andere Bundesländer, die in ähnlicher Weise im Holzvertrieb involviert waren. In dieser auch auf Art. 101 AEUV gestützten Verpflichtungszusageentscheidung legte das Bundeskartellamt für das hier beklagte Land konkrete Schwellenwerte für Holzvermarktungskooperationen sowie Maßnahmen zur Verringerung der Marktposition fest (zu Einzelheiten sowie der genauen Fassung des Tenors vgl. Anlage K 56, Tenor S. 2, 9 f.).
5Ab 2012 leitete das Bundeskartellamt gegen das Land D1 eine weitere Untersuchung der Marktverhältnisse für Rundholz ein. Auf der Grundlage der hieraus resultierenden Erkenntnisse erließ das BKartA gegenüber diesem Land eine Aufhebung der Verpflichtungszusagenentscheidung und erließ eine Abstellungsverfügung nach § 32 GWB v. 09.07.2015) (Anlage K 51), die dann allerdings im weiteren Verlauf durch den Bundesgerichtshof aufgehoben wurde. Gegenüber dem im vorliegenden Verfahren beklagten Land C1 existiert kein weiterer Bescheid außer der Verpflichtungszusagenentscheidung nach § 32b GWB aus 2009.
6Im vorliegenden Verfahren nehmen nun 32 Sägewerksbetriebe unterschiedlicher Größenordnung aus Deutschland, Belgien und Luxemburg (nachfolgend „Zedenten“) den Beklagten auf Ersatz der vermeintlichen Schäden, die ihnen seit dem 28. Juni 2005 durch den Bezug von Rundholz aus C1 zu nach ihrer Behauptung kartellbedingt überhöhten Preisen entstanden sind.
7Sie haben jeweils die Klägerin, die als sogenannte Rechtsdienstleisterin über eine Zulassung nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz verfügt (Anlage K 40), mit der Anspruchsdurchsetzung beauftragt und ihre Ansprüche zum Zweck der Durchsetzung an diese abgetreten (Anlagen K 5 bis K 36), wobei – worauf es vorliegend für die Entscheidung des Gesamtstreits nicht ankommt – die Wirksamkeit einiger weniger Abtretungen vor dem Hintergrund umstrittener wirksamer Vertretungsmacht der handelnden Personen vom Beklagten in Zweifel gezogen wird.
8Die Klägerin macht die Ansprüche der Zedenten im eigenem Namen und auf eigene Kosten, aber für Rechnung der Zedenten gebündelt geltend, zunächst außergerichtlich und nun anwaltlich vertreten gerichtlich vor dem Landgericht Dortmund. Im Gegenzug haben die Zedenten ihr für den Erfolgsfall ein Honorar versprochen. Die Klägerin wird bei alledem durch eine im Rechtsdienstleistungsregister eingetragene „qualifizierte Person“ vertreten, einen deutschen Volljuristen, der beide juristische Staatsprüfungen erfolgreich absolviert hat, zum Richteramt befähigt und als Rechtsanwalt zugelassen ist. Die Klägerin hat der Zulassungsbehörde ihr Tätigkeitsfeld und ihre Sachkunde im Einzelnen erläutert und nachgewiesen (hierzu näher Anlage K 145).
9Die Kartellschadensersatzforderung beruht auf mehreren hunderttausend einzelnen Rundholzbezügen der Zedenten. Für jeden einzelnen Zedenten sind Rundholzbezüge in vier- bis fünfstelliger Anzahl zu verzeichnen, welche die Klägerin in Teilen anhand von Rechnungen, ERP-Belegen und Finanzbuchhaltungsdaten belegt (Antrag zu Ziffer 1), in Teilen aber nicht mehr im Einzelnen belegt werden können (Antrag zu Ziffer 2).
10Der Beklagte begründet seinen Klageabweisungsantrag nicht zuletzt damit, dass die Art der Vermarktung Effizienzen generiert habe. Erst durch die gebündelte Rundholzvermarktung sei das Angebot der teilnehmenden Waldbesitzer aktiviert worden, die ihr Holz ansonsten gar nicht an den Markt gebracht hätten. Zudem hätte der gebündelte Holzverkauf die Kontinuität der Rundholzversorgung gewährleistet, die Transport- und Akquisitionskosten verringert und durch Mobilisierung anderweitig nicht marktfähiger Holzmengen die Preise gesenkt. Insgesamt meint der Beklagte, das Rundholzkartell habe die Sägeindustrie gefördert und zugleich den Umweltschutz gestärkt.
11Der Beklagte beruft sich insoweit auf Art. 101 Abs. 3 AEUV und zudem auf einen Immanenz- bzw. Arbeitsgemeinschaftsgedanken. Auch führt er ferner die Wouters-Doktrin an, da er meint, die gebündelte Holzvermarktung habe außerwettbewerblichen Zielen, der Förderung der Holzindustrie und dem Umweltschutz, gedient.
12Die Klägerin macht in Übereinstimmung mit den (aus verfahrensrechtlichen Gründen durch den Bundesgerichtshof aufgehobenen) Feststellungen des Bundeskartellamts geltend, dass diese Rechtfertigungen nur für Kleinwaldbesitzer mit Flächen bis 100 ha, nicht jedoch für größere Waldbesitzer eingreifen (Anlage K 51 Rn. 467 ff.). Gegenstand des Verfahrens ist ausschließlich die zwischen den Parteien umstrittene gebündelte Rundholzvermarktung für größere Waldbesitzer über 100 ha (Klage Rn. 353; Replik Rn. 88, 93, 157, 319, 323, 325, 412; Duplik S. 174).
13Neben diesem genannten Verteidigungsvorbringen stützt sich der Beklagte aber entscheidend darauf, dass die Abtretungen der Sägewerksbetriebe an die Klägerin unter Verstoß gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) erfolgt und daher nichtig sei, weshalb es der Klägerin an der Aktivlegitimation für die Klage fehle.
14B) Nationales Recht und einschlägige nationale Rechtsprechung (Art. 94 lit. b VerfO-EuGH)
15In Deutschland werden insbesondere in Fällen von Massen- und Streuschäden Ansprüche durch sog. Abtretungsmodelle, auch als Sammelklage-Inkasso bezeichnet, verbunden und dann im Klagewege geltend gemacht. Hierbei treten vermeintlich Geschädigte ihre mutmaßlichen Forderungen an einen nach dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) zugelassenen Rechtsdienstleister ab, der diese gebündelt im eigenen Namen und auf eigene Kosten für Rechnung der Zedenten gegen eine (Erfolgs- )Provision geltend macht.
16Diese Vorgehensweise wird durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in verschiedenen Rechtsbereichen, nämlich im Mietrecht, im Hinblick auf die Geltendmachung von Fluggastrechten sowie bei Schadensersatzklagen im Rahmen des sog. Diesel-/Abgasskandals akzeptiert. Im Bereich des Kartellschadensersatzrechts und dort insbesondere in Stand-Alone-Fällen wird das Abtretungsmodell von der Instanzrechtsprechung aber für unzulässig gehalten; der Bundesgerichtshof hatte insoweit noch keine Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
17Gleichwertige alternative Möglichkeiten zur effektiven Durchsetzung von Massen-/Streuschäden in Kartellfällen existieren indes im deutschen Recht aus Sicht der Kammer nicht.
181) Grundsätzliche Anerkennung von Abtretungsmodellen/Sammelklageinkasso im deutschen Recht
19Das deutsche Recht ermöglicht die Abtretung von Forderungen (§ 398 S. 1 BGB = Bürgerliches Gesetzbuch). Die Vorschrift lautet:
20§ 398 BGB Abtretung
211Eine Forderung kann von dem Gläubiger durch Vertrag mit einem anderen auf diesen übertragen werden (Abtretung). 2Mit dem Abschluss des Vertrags tritt der neue Gläubiger an die Stelle des bisherigen Gläubigers.
22Auch durch ein Schadensereignis (beispielsweise ein Kartell) Betroffene dürfen nach dieser allgemeinen Vorschrift ihre vermeintlichen Schadensersatzansprüche abtreten; dies darf auch an einen sog. Inkassodienstleister zum Zwecke der Einziehung geschehen. Inkassodienstleister sind in diesem Zusammenhang zugelassene Rechtsdienstleister, denen eine staatliche Zulassungsbehörde nach Durchführung eines Zulassungsverfahrens eine Inkassoerlaubnis erteilt hat. Kraft dieser Erlaubnis dürfen sie für Rechtsuchende (zum Zweck der Einziehung abgetretene) Forderungen einziehen, § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 RDG i.V.m. § 2 Abs. 2 S. 1 RDG (= Rechtsdienstleistungsgesetz). Die Vorschriften lauten:
23§ 10 RDG Rechtsdienstleistungen aufgrund besonderer Sachkunde
24(1) 1Natürliche und juristische Personen sowie Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit, die bei der zuständigen Behörde registriert sind (registrierte Personen), dürfen aufgrund besonderer Sachkunde Rechtsdienstleistungen in folgenden Bereichen erbringen: 1. Inkassodienstleistungen (§ 2 Abs. 2 Satz 1) […].
25§ 2 RDG Begriff der Rechtsdienstleistung
26[…] (2) 1Rechtsdienstleistung ist […] die Einziehung fremder oder zum Zweck der Einziehung auf fremde Rechnung abgetretener Forderungen, wenn die Forderungseinziehung als eigenständiges Geschäft betrieben wird
272Abgetretene Forderungen gelten für den bisherigen Gläubiger nicht als fremd.
28Besteht keine Inkassoerlaubnis, so ist die Forderungseinziehung verboten und somit nichtig.
29Auch im Übrigen sind Rechtsdienstleistungen erlaubnispflichtig (§ 3 RDG). Dies soll die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen schützen (§ 1 Abs. 1 S. 2 RDG). Die Normen lauten:
30§ 3 RDG Befugnis zur Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen
31Die selbständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen ist nur in dem Umfang zulässig, in dem sie durch dieses Gesetz oder durch oder aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird.
32§ 1 RDG Anwendungsbereich
33(1) 1Dieses Gesetz regelt die Befugnis, in der Bundesrepublik Deutschland außergerichtliche Rechtsdienstleistungen zu erbringen. 2Es dient dazu, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen. […]
34Erteilt wird eine Inkassoerlaubnis durch staatliche Zulassungsstellen auf Antrag nach Durchführung eines Zulassungsverfahrens aufgrund nachgewiesener Sachkunde (§§ 11, 12 RDG). Regelmäßig genügt als Sachkundenachweis ein erfolgreich abgeschlossener Sachkundelehrgang (§ 2 Abs. 1 S. 1 RDV i.V.m. § 4 RDV = Rechtsdienstleistungsverordnung). Alternativ kann die Sachkunde durch eine erfolgreich absolvierte erste Prüfung (d.h. das erste juristische Staatsexamen im Sinne von § 5 des Deutschen Richtergesetzes = DRiG) nachgewiesen werden (§ 2 Abs. 1 S. 2 RDV). Die Vorschriften lauten:
35§ 11 RDG Besondere Sachkunde, Berufsbezeichnungen
36(1) Inkassodienstleistungen erfordern besondere Sachkunde in den für die beantragte Inkassotätigkeit bedeutsamen Gebieten des Rechts, insbesondere des Bürgerlichen Rechts, des Handels-, Wertpapier- und Gesellschaftsrechts, des Zivilprozessrechts einschließlich des Zwangsvollstreckungs- und Insolvenzrechts sowie des Kostenrechts. […]
37§ 12 RDG Registrierungsvoraussetzungen
38(1) Voraussetzungen für die Registrierung sind 1. persönliche Eignung und Zuverlässigkeit; […]
392. theoretische und praktische Sachkunde in dem Bereich oder den Teilbereichen des § 10 Abs. 1, in denen die Rechtsdienstleistungen erbracht werden sollen
403. eine Berufshaftpflichtversicherung mit einer Mindestversicherungssumme von 250 000 Euro für jeden Versicherungsfall. […]
41§ 2 RDV Nachweis der theoretischen Sachkunde
42(1) 1In den Bereichen Inkassodienstleistungen und Rentenberatung wird die nach § 12 Abs. 3 Satz 1 des Rechtsdienstleistungsgesetzes erforderliche theoretische Sachkunde in der Regel durch ein Zeugnis über einen erfolgreich abgeschlossenen Sachkundelehrgang im Sinn des § 4 nachgewiesen.
432Zum Nachweis der theoretischen Sachkunde genügt auch das Zeugnis über die erste Prüfung nach § 5d Abs. 2 des Deutschen Richtergesetzes.
443Die zuständige Behörde kann als Nachweis der theoretischen Sachkunde auch andere Zeugnisse anerkennen, insbesondere das Abschlusszeugnis einer deutschen Hochschule oder Fachhochschule über einen mindestens dreijährigen Hochschul- oder Fachhochschulstudiengang mit überwiegend rechtlichen Studieninhalten, wenn der Studiengang die nach § 11 Abs. 1 oder 2 des Rechtsdienstleistungsgesetzes erforderlichen Rechtskenntnisse vermittelt.
454Insbesondere in Fällen, in denen bei Inkassodienstleistungen Tätigkeiten auf in § 11 Absatz 1 des Rechtsdienstleistungsgesetzes nicht genannten Rechtsgebieten erbracht werden sollen, kann die zuständige Behörde über den Sachkundelehrgang nach Satz 1 hinausgehende Nachweise der theoretischen Sachkunde wie die in den Sätzen 2 und 3 genannten Zeugnisse verlangen.
46§ 4 RDV Sachkundelehrgang
47(1) 1Der Sachkundelehrgang muss geeignet sein, alle nach § 11 Abs. 1 oder 2 des Rechtsdienstleistungsgesetzes für die jeweilige Registrierung erforderlichen Kenntnisse zu vermitteln. 2Die Gesamtdauer des Lehrgangs muss im Bereich Inkassodienstleistungen mindestens 120 Zeitstunden […] betragen. […].
48§ 5 DRiG [Deutsches Richtergesetz] Befähigung zum Richteramt
49(1) 1Die Befähigung zum Richteramt erwirbt, wer ein rechtswissenschaftliches Studium an einer Universität mit der ersten Prüfung und einen anschließenden Vorbereitungsdienst mit der zweiten Staatsprüfung abschließt; die erste Prüfung besteht aus einer universitären Schwerpunktbereichsprüfung und einer staatlichen Pflichtfachprüfung. […]
50§ 5d DRiG Prüfungen, Verordnungsermächtigung
51[…]
52(2) 1Der Stoff der universitären Schwerpunktbereichsprüfung und der staatlichen Pflichtfachprüfung ist so zu bemessen, dass das Studium nach fünf Studienjahren abgeschlossen werden kann.
532In der universitären Schwerpunktbereichsprüfung ist mindestens eine schriftliche Leistung zu erbringen.
543In der staatlichen Pflichtfachprüfung sind schriftliche und mündliche Leistungen zu erbringen; das Landesrecht kann bestimmen, dass Prüfungsleistungen während des Studiums erbracht werden, jedoch nicht vor Ablauf von zweieinhalb Studienjahren.
554Das Zeugnis über die erste Prüfung weist die Ergebnisse der bestandenen universitären Schwerpunktbereichsprüfung und der bestandenen staatlichen Pflichtfachprüfung sowie zusätzlich eine Gesamtnote aus, in die das Ergebnis der bestandenen staatlichen Pflichtfachprüfung mit 70 vom Hundert und das Ergebnis der bestandenen universitären Schwerpunktbereichsprüfung mit 30 vom Hundert einfließt; es wird in dem Land erteilt, in dem die staatliche Pflichtfachprüfung bestanden wurde. […]
56Die so erteilte Inkassoerlaubnis umfasst die außergerichtliche Forderungseinziehung. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist aber anerkannt, dass Inkassodienstleister Forderungen grundsätzlich auch im gerichtlichen Verfahren einziehen dürfen, soweit sie dort anwaltlich vertreten sind (Vgl. BGH, Urteil vom 13. Juni 2022, Az.: VIa ZR 418/21, juris Rn. 11 ff. – financialright; BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, Az.: II ZR 84/20, juris Rn. 20 ff.– Airdeal; BGH, Urteil vom 19. Januar 2022, Az.: VIII ZR 123/21, juris Rn. 39 ff. – Lexfox IX; BGH, Beschluss vom 11. Juni 2013, Az.: II ZR 245/11, juris Rn. 6)
57Inkassodienstleister dürfen grundsätzlich Forderungen auch für mehrere Geschädigte gebündelt in ein und demselben gerichtlichen Verfahren einziehen. (BGH, Urteil vom 13. Juni 2022, Az.: VIa ZR 418/21, juris Rn. 11 ff., 51 ff. – financialright; BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, Az.: II ZR 84/20, juris Rn. 20, 49 ff.– Airdeal). Dies betrifft regelmäßig Modelle, in denen der Inkassodienstleister die Kosten der Forderungseinziehung übernimmt und eine Vergütung seiner Tätigkeit nur im Erfolgsfall erhält; dies wird durch den Bundesgerichtshof ebenfalls für zulässig erachtet (BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, Az.: II ZR 84/20, juris Rn. 48 – Airdeal).
58Rechtsanwälte dürfen demgegenüber „in allen Rechtsangelegenheiten“ tätig werden (§ 3 Abs. 1 BRAO = Bundesrechtsanwaltsordnung). Die Norm lautet:
59§ 3 BRAO Recht zur Beratung und Vertretung
60(1) Der Rechtsanwalt ist der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. […]
61Damit ist das Sammelklage-Inkasso und das dieser Art von Abtretungsmodellen zugrunde liegende Geschäftsmodell von verschiedenen Senaten des Bundesgerichtshofes für eine ganze Reihe von Rechtsbereichen als zulässig anerkannt; in diesem Rahmen sind die Abtretungen von Ansprüchen zum Zwecke der Bündelung für wirksam erachtet worden.
622) Ausnahme: Nationale Gerichte versagen Abtretungsmodellen/Sammelklageinkasso im Kartellschadensersatzrecht die Anerkennung
63Nach Auffassung verschiedener deutscher Gerichte sollen die oben genannten Grundsätze dann nicht gelten, wenn es sich bei den abgetretenen Ansprüchen um Kartellschadensersatzforderungen handelt. Anders als bei sonstigen, der oben genannten BGH-Rechtsprechung zugrunde liegenden Forderungen sollen Inkassodienstleister generell Kartellschadensersatzforderungen nicht einziehen dürfen. Das Landgericht Stuttgart hat dies in einem Parallelverfahren des hiesigen Rechtsstreits damit begründet, dass Kartellschadensersatzrecht unter anderem auch wegen der Fortentwicklung der europäischen Kartellrechtssetzung besonders komplex sei und typischerweise zu Interessenkonflikten führen könne. Zudem seien Inkassodienstleister trotz des gesetzlichen Sachkundenachweises in diesem Bereich typischerweise nicht sachkundig (Vgl. LG Stuttgart, Urteil vom 20. Januar 2022, Az.: 30 O 176/19, juris Rn. 88 ff. – Rundholzkartell D1; LG Mainz, Urteil vom 7. Oktober 2022, Az.: 9 O 125/20 – Rundholzkartell Rheinland-Pfalz, juris; ähnlich zu Schadensersatzfällen aus anderen Kartellverletzungen LG Hannover, Urteil vom 4. Mai 2020, Az.: 18 O 50/16, juris Rn. 171-177 – Zuckerkartell (Kaufland); LG Hannover, Urteil vom 1. Februar 2021, Az.: 18 O 34/17, juris Rn. 296 ff. – Zuckerkartell (CDC); LG Stuttgart, Urteil vom 28. April 2022, Az.: 30 O 17/18, juris Rn. 74 ff. – LKWKartell).
64Nach Auffassung der vorlegenden Kammer ist diese Auffassung jedenfalls dann zutreffend, wenn wie im vorliegenden Fall ein Stand-Alone-Fall gegeben ist. Ein solcher erfordert nämlich eine komplexe Prüfung zahlreicher, nicht in erster Linie dem Zivilrecht zuzuordnender Aspekte, die – wie der vorliegende Fall auch beweist – selbst durch hochspezialisierte Kanzleien mit Unterstützung von Sachverständigen nicht mühelos und direkt in einem ersten Anlauf zu bewältigen sind. In solchen Fällen erscheint unabhängig von der oben zitierten Rechtsprechung des BGH die Grenze der unter dem Begriff der Inkassodienstleistungen des § 2 Abs. 2 RDG denkbaren außergerichtlichen Tätigkeiten, nämlich die auf eine Einziehung von Forderungen bezogene rechtliche Prüfung und Beratung durch einen Sachkundigen im Sinne des §§ 11, 2 RDG i.V.m. §§ 2 und 4 RDV, deutlich überschritten (vgl. auch Hinweisbeschluss vom 8. Juni 2022, Ziff. 29 a).
65Konsequenz hieraus ist nicht nur die Nichtigkeit der Forderungskaufverträge, sondern auch der Abtretungen selbst (§ 134 BGB). Die vorliegende Kartellschadensersatzklage wäre aus diesem Grund wegen fehlender Aktivlegitimation ohne weitere Prüfung in der Sache kostenpflichtig abzuweisen. Eine weitere Konsequenz wäre nach obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. dazu außerhalb des Kartellschadensersatzes etwa OLG Schleswig, Urt. v. 11.01.2022, 7 U 130/21 = MDR 2022, 497 und Urt. v. 22.04.2022, 1 U 36/21 – juris), dass die Klage auch keine verjährungshemmende Wirkung zugunsten der Zedenten hätte, weshalb sie ihre Ansprüche im Anschluss überhaupt nicht mehr durchsetzen können, also auch nicht durch eine im eigenen Recht erhobene Klage. § 134 BGB lautet:
66§ 134 BGB Gesetzliches Verbot
67Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.
683. Fehlende Alternativen zum Abtretungsmodell in Kartellschadensersatzfällen
69Andere zulässige und in gleicher Weise geeignete Möglichkeiten zur Durchsetzung von durch einen Kartellverstoß verursachte Massen-/Streuschäden existieren in Deutschland nicht; insoweit kann zur Begründung zunächst auf den im Verfahren hier ergangenen Hinweisbeschluss vom 8. Juni 2022, Ziff. 29 b) Bezug genommen werden.
70a)
71Die – in Deutschland noch nicht umgesetzte – Verbandsklagerichtlinie ist auf Kartellschadensersatzansprüche nicht anwendbar (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Anhang I Richtlinie 2020/1828). Zudem erfasst sie nur Ansprüche von Verbrauchern, nicht aber von Unternehmen wie etwa im vorliegenden Fall (Vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Nr. 5 und Erwägungsgrund 10 der Richtlinie 2020/1828 sowie dazu Klumpe, WuW 2022, 462, 464; Stadler, ZHR 182 (2018) 623, 627 ff.).
72Selbst wenn – wie es dem aktuellen Referentenentwurf zur Umsetzung der Richtlinie zu entnehmen ist (Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG [Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz – VRUG] vom 16.02.2023, vgl. https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/VRUG.html, zuletzt abgerufen am 20.02.2023) – die Richtlinie in Deutschland dahingehend überschießend umgesetzt wird, dass sowohl Kartellschäden als neben Verbrauchern auch „kleine Unternehmen“ (also nicht einmal „kleine und mittlere Unternehmen“ [KMU] im Sinne der Empfehlung 2003/361/EG ) erfasst sein sollen, würde dies angesichts der harten Grenze zur Bestimmung dieser „kleinen Unternehmen“ noch immer ebenfalls schutzwürdigen und nur unwesentlich größeren Unternehmen die Möglichkeit zur Bündelung von Ansprüchen verwehren.
73b)
74Die nationale Verbandsklage nach § 33 Abs. 4 GWB (= Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen) ist auf Schadensersatzansprüche nicht anwendbar. Die Norm lautet:
75§ 33 GWB Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch
76(1) Wer gegen eine Vorschrift dieses Teils oder gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union verstößt (Rechtsverletzer) oder wer gegen eine Verfügung der Kartellbehörde verstößt, ist gegenüber dem Betroffenen zur Beseitigung der Beeinträchtigung und bei Wiederholungsgefahr zur Unterlassung verpflichtet. […].
77(4) Die Ansprüche aus Absatz 1 können auch geltend gemacht werden von 1. rechtsfähigen Verbänden […] 2. Einrichtungen […].
78c)
79Die Musterfeststellungsklage ist auf Ansprüche von Unternehmen (wie hier) nicht anwendbar (§ 606 Abs. 1 S. 1 ZPO = Zivilprozessordnung) und wäre auch deshalb nicht zielführend, weil sie nicht zu einem Leistungsurteil führt, kraft dessen mögliche Geschädigte Zahlung verlangen könnten. Vielmehr klärt sie – nach bisherigen Erfahrungen oft in einem jahrelangen Verfahren – nur ausgewählte übergeordnete Fragen („Feststellungsziele“). Im Anschluss muss jeder einzelne Geschädigte dann in einem weiteren (abermals regelmäßig jahrelangen) Verfahren seinen konkreten Fall ausfechten. Die erste Entscheidung, das Musterfeststellungsurteil, ist im zweiten Verfahren nur bindend, soweit dieses die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft (§ 613 Abs. 1 S. 1 ZPO). Damit stehen die Zedenten im Ergebnis zeitverzögert wieder vor dem Ausgangsproblem (vgl. Bacher, in: Ahrens (Hrsg.), Der Wettbewerbsprozess, 9. Aufl. 2021, Kap. 86 Rn. 7; Freitag/Lang, ZZP 132 (2019), 329, 357; Klumpe, WuW 2022, 462, 464; Klumpe, NZKart 2019, 405; Krüger/Seegers, BB 2021, 1031, 1033; Mallmann/Erne, NZKart 2019, 77 ff.; Meller-Hannich, Verhandlungen des 72. Deutschen Juristentages, Gutachten, 2018, A 47 ff.; Oster, EuR 2019, 578, 598; Schley, Die Anwendbarkeit von Schiedsvereinbarungen auf Kartellschadensersatzansprüche, 2022, S. 88; Stadler, JZ 2020, 321, 330; Tolksdorf, ZIP 2019, 1401 f.; Weitbrecht, NZKart 2020, 106, 112 Fn. 102; vgl. ferner auch BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, Az.: II ZR 84/20, juris Rn. 44 – Airdeal). Die zitierten Normen lauten:
80§ 606 ZPO Musterfeststellungsklage
81(1) 1Mit der Musterfeststellungsklage können qualifizierte Einrichtungen die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer begehren. […]
82§ 613 ZPO Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils […]
83(1) 1Das rechtskräftige Musterfeststellungsurteil bindet das zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen einem angemeldeten Verbraucher und dem Beklagten berufene Gericht, soweit dessen Entscheidung die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft. […]
84d)
85Eine Forderungsabtretung im Wege eines „echten Factorings“ (also einer vollständigen und nicht bloß fiduziarischen Forderungsübertragung an einen Dritten) ist angesichts der Besonderheiten des Kartellschadensersatzes keine taugliche Option. Zunächst bestehen erhebliche Probleme bei der Kaufpreisermittlung sowie der bilanziellen Bewertung, denn die dafür erforderliche Schadenshöhe ist in Kartellschadensersatzfällen gerade letztlich unbekannt und daher Kernproblem eines jeden Falles. Die Zedenten müssten daher ihre Forderungen aufgrund erheblicher Sicherheitsabschläge für einen Bruchteil des Nennwerts an einen Dritten verkaufen und würden damit letztlich ihre Aussicht auf Kompensation aufgeben, weshalb dies keine effektive Möglichkeit der Forderungsdurchsetzung ist. Der letztlich auf Art. 101 AEUV zurückzuführende europäische Rechtsanspruch auf vollständigen Schadensersatz würde damit vereitelt und seine Durchsetzung praktisch unmöglich. Auch dürften kaum Forderungskäufer oder Prozessfinanzierer zu finden sein, welche bereit wären, die – trotz erheblicher Risikoabschläge im Kaufpreis immer noch – äußerst hohe Summen vorzufinanzieren, zumal angesichts der regelmäßig Jahre andauernden Verfahren (Vgl. dazu etwa Klumpe, WuW 2022, 462, 464; Petrasincu/Unseld, WuW 2022, 384, 388).
86e)
87Auch eine Bündelung von Forderungen im Wege einer Streitgenossenschaft, d.h. einer gemeinschaftlichen Klage einer Vielzahl von Zedenten (§§ 59 ff. ZPO), ermöglicht bei Massen- bzw. Streuschäden keine effektive Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen.
88Es ist zum einen mehr als zweifelhaft, ob es überhaupt zu einer solchen streitgenossenschaftlichen Klage kommen würde, wenn nicht ein Dienstleister als Organisator auftritt, damit sich potentielle Streitgenossen überhaupt zusammenfinden. Dies hat auch der deutsche Gesetzgeber erkannt, weshalb er für Kapitalanleger (nicht aber für Kartellgeschädigte!) eine Form des kollektiven Rechtsschutzes, das Kapitalanleger-Musterverfahren, geschaffen hat.
89Zum anderen führt eine streitgenossenschaftliche Klage nur zu einer rein äußeren Verbindung der Klagen. Inhaltlich sind die Prozessrechtsverhältnisse weiterhin völlig selbstständig, weshalb jeder Streitgenosse den eigenen Prozess unabhängig von den anderen Streitgenossen und mit vollem eigenen Kostenrisiko führt (Vgl. §§ 61, 63 ZPO) und auch dem Risiko der Abtrennung seines Rechtsstreits nach § 145 ZPO ausgesetzt ist. Durch eine solche Abtrennung würde der Rechtsstreit nicht nur wieder vereinzelt, sondern es entstünden auch zusätzliche Kostenrisiken unter dem Gesichtspunkt von Gerichts-, Rechtsanwalts- und eventuellen Sachverständigengebühren (vgl. hierzu etwa OLG Bremen, Beschl. v. 24.09.2013, 2 W 84/13, Rn. 12, juris sowie Klumpe, WuW 2022, 596-604 m.w.N.). In der deutschen Literatur wie auch in der Rechtsprechung des BGH wird daher davon ausgegangen, dass der Weg über die Bildung einer Streitgenossenschaft „wenig zweckmäßig“ ist (so ausdrücklich BGH, Urt. v. 09.05.2005, II ZR 287/02, NJW 2005, 2450, 2453; ausführlich zum Ganzen Krüger/Weitbrecht, in: Fuchs/Weitbrecht, Private Kartellrechtsdurchsetzung, § 19 Rn. 77 ff., Klumpe, WuW 2022, 462, 464 sowie Stancke, WuW 2018, 59, 62).
90Die zitierten Normen lauten:
91§ 59 ZPO Streitgenossenschaft bei Rechtsgemeinschaft oder Identität des Grundes
92Mehrere Personen können als Streitgenossen gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden, wenn sie hinsichtlich des Streitgegenstandes in Rechtsgemeinschaft stehen 10
93oder wenn sie aus demselben tatsächlichen und rechtlichen Grund berechtigt oder verpflichtet sind.
94§ 60 ZPO Streitgenossenschaft bei Gleichartigkeit der Ansprüche
95Mehrere Personen können auch dann als Streitgenossen gemeinschaftlich klagen oder verklagt werden, wenn gleichartige und auf einem im Wesentlichen gleichartigen tatsächlichen und rechtlichen Grund beruhende Ansprüche oder Verpflichtungen den Gegenstand des Rechtsstreits bilden.
96§ 61 ZPO Wirkung der Streitgenossenschaft
97Streitgenossen stehen, soweit nicht aus den Vorschriften des bürgerlichen Rechts oder dieses Gesetzes sich ein anderes ergibt, dem Gegner dergestalt als Einzelne gegenüber, dass die Handlungen des einen Streitgenossen dem anderen weder zum Vorteil noch zum Nachteil gereichen.
98§ 63 ZPO Prozessbetrieb; Ladungen
99Das Recht zur Betreibung des Prozesses steht jedem Streitgenossen zu; zu allen Terminen sind sämtliche Streitgenossen zu laden.
100§ 145 ZPO Prozesstrennung
101(1) 1Das Gericht kann anordnen, dass mehrere in einer Klage erhobene Ansprüche in getrennten Prozessen verhandelt werden, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist. 2Die Entscheidung ergeht durch Beschluss und ist zu begründen. […]
102C) Zweifel an Vereinbarkeit mit Unionsrecht und Zusammenhang mit hiesigem Rechtsstreit (Art. 94 lit. c VerfO-EuGH)
103I.
104Aus den geschilderten Gründen existiert in Deutschland kein dem Sammelklage-Inkasso annähernd gleich geeignetes Werkzeug zur Bündelung und gerichtlichen Geltendmachung von Kartellschadensersatzklagen, insbesondere soweit es sich um Streuschäden handelt. Streuschäden bezeichnen gemeinhin Schäden, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der beim einzelnen Geschädigten eintretende Schaden nur geringfügig ist, allerdings in der Addition sämtlicher Geschädigter eine große Schadenssumme entsteht; wobei allerdings der Schaden des Einzelnen so geringfügig ist, dass er aufgrund eines ungünstigen Verhältnisses von Kostenrisiko und Nutzen in rationaler Apathie aus wirtschaftlicher Vernunft nicht geltend gemacht wird (vgl. zum Ganzen Klumpe, WuW 2022, 462, 463 m.w.N.). Dabei geht die deutsche Literatur davon aus, dass aufgrund der speziellen Kosten- und Risikostrukturen im Kartellschadensersatzprozess in Deutschland selbst die Verfolgung niedriger sechsstelliger Schadenssummen unklug und somit dem Bereich der Streuschäden zuzurechnen sein könne (vgl. dazu Weitbrecht, WuW 2015, 959, 967; Dux-Wenzel/Quaß, DB 2021, 717, 718 sowie zusammenfassend Klumpe, WuW 2022, 462, 463). Damit bietet aber auch solchen Kartellgeschädigten, deren mögliche Schäden beispielsweise mit 200.000 -300.000 € zu beziffern wären, allein das Sammelklageinkasso eine ökonomisch sinnvolle und praktikable Möglichkeit, diese Schäden ersetzt zu verlangen. Dass dies bei geringfügigeren Schäden, wie sie regelmäßig etwa auf der Marktstufe der Verbraucher eintreten, erst recht gilt, liegt auf der Hand. Ohne die Möglichkeit des Sammelklage-Inkasso ist damit großen Gruppen potentieller Kläger die Durchsetzung ihres europarechtlich fundierten Kartellschadensersatzanspruchs in Deutschland praktisch unmöglich.
105Allerdings sieht sich die vorlegende Kammer aufgrund der Regelungen des RDG zumindest in Stand-Alone-Fällen wie dem hier vorliegenden Fall gehalten, von einer Nichtigkeit der Abtretungen auszugehen, weshalb in diesem Falle die vorliegende Klage abzuweisen wäre.
106Der Ausgang des vorliegenden Falles hängt daher entscheidend von der Beantwortung der gestellten Fragen ab. Würde der EuGH zum Ergebnis gelangen, dass das Unionsrecht der geschilderten Auslegung des RDG nicht entgegensteht, so 11
107würde diese Auslegung zur Nichtigkeit der Abtretungen und damit zur Abweisung der gesamten Klage führen.
108Kommt der EuGH hingegen zum Ergebnis, dass die Fragen zu bejahen sind und das Unionsrecht der geschilderten Auslegung des RDG entgegensteht, so wäre, da aus Sicht der Kammer eine unionsrechtskonforme Auslegung als contra legem zum nationalen Recht ausscheidet (vgl. in diesem Sinne die Urteile des EuGH vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C-212/04, EU:C:2006:443, Rn. 110, sowie vom 4. März 2020, Bank BGɣ BNP Paribas, C-183/18, EU:C:2020:153, Rn. 67 und insbesondere EuGH, Urteil vom 06.10.2021, Sumal, C-882/19, ECLI:EU:C:2021:800, Rn. 72), das RDG vorliegend unangewendet zu lassen, weshalb die Abtretungen insoweit als wirksam anzusehen wären.
109II.
110Allerdings hat die Kammer erhebliche Zweifel an der Unionsrechtskonformität des Inkassoverbots für Kartellschadensersatzforderungen, insbesondere in Stand-Alone Fällen. Denn das nach der Rechtsprechung der mit Kartellschadensersatzsachen befassten Gerichte in Deutschland aus dem RDG folgende Inkassoverbot für Kartellschadensersatzforderungen verstößt aus Sicht der Kammer gegen die Richtlinie 2014/104, gegen den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz und gegen den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes.
1111. Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 Var. 3, Art. 3 Richtlinie 2014/104
112Es bestehen zunächst Zweifel daran, dass das Inkassoverbot für Kartellschadensersatzforderungen mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Nr. 4 Var. 3 der Richtlinie 2014/1041 vereinbar ist. Diese hier zeitlich anwendbaren Vorschriften bekräftigen das in ständiger Rechtsprechung anerkannte Recht Geschädigter auf vollständigen Ersatz von Kartellschäden und erstrecken es auf Personen, „die in die Rechte und Pflichten von mutmaßlich Geschädigten eingetreten [sind, Ergänzung der Kammer], einschließlich der Person, die Ansprüche erworben hat“. Aus Sicht der Kammer hatte der Richtliniengeber dabei gerade das hier streitgegenständliche Abtretungsmodell zur Bündelung von Ansprüchen mehrerer Geschädigter vor Augen, während er den kollektiven Rechtsschutz, zu dem das Abtretungsmodell nach dem Verständnis der vorlegenden Kammer gerade nicht zählt, nicht geregelt hat.
113a) Zeitliche Anwendbarkeit der Richtlinie 2014/104
114Die maßgeblichen Normen in Art. 2 Nr. 4, 3 Abs. 1 Richtlinie 2014/104 sind unabhängig von der Frage, ob sie als verfahrensrechtliche Regelungen oder als materiellrechtliche Regelungen anzusehen sind, ausweislich Art. 22 Abs. 2 Richtlinie 2014/104 auf alle Schadensersatzklagen anwendbar, die nach dem 26. Dezember 2014 erhoben wurden.
115Die Klägerin hat die Klage im hiesigen Verfahren am 31. März 2020 erhoben. Zudem liegen der Klage auch Erwerbsvorgänge bis in das Jahr 2020 zugrunde und somit Umsatzgeschäfte, die lange nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 27. Dezember 2016 (Art. 21 Abs. 1 Richtlinie 2014/104) getätigt wurden. Auch bestand das durch die Klägerseite behauptete kartellrechtswidrige Verhalten der Beklagtenseite bis zum 30. Juni 2019. Damit sind in Anwendung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Volvo die materiellrechtlichen Vorschriften der Richtlinie 2014/104 in dieser Situation nicht nur auf den Teil des Kartellzeitraums nach Ablauf der Umsetzungsfrist, sondern auf den gesamten Kartellzeitraum anzuwenden (EuGH, Urteil vom 22. Juni 2022, Rs. C-267/20, ECLI:EU:C:2022:494 Rn. 104 – Volvo/DAF v. RM [LKW-Kartell]).
116Selbst wenn man dies anders sehen wollte, so stellt sich die entsprechende Frage aber für den verbleibenden Zeitraum nach Ablauf der Umsetzungsfrist in gleicher Weise dennoch und ist demnach für das vorliegende Verfahren relevant.
117b) Schutzbefehl der Richtlinie 2014/104 für abgetretene Ansprüche
118Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2014/104 verlangt, „dass jede natürliche oder juristische Person, die einen durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht 12
119verursachten Schaden erlitten hat, den vollständigen Ersatz dieses Schadens verlangen und erwirken kann.“ Zudem stellt Erwägungsgrund 13 der Richtlinie 2014/104 klar, dass dieses Recht auf vollständigen Schadensersatz „ohne Rücksicht darauf [anerkannt ist, Ergänzung durch die Kammer], ob eine unmittelbare vertragliche Beziehung zu dem zuwiderhandelnden Unternehmen besteht, und unabhängig von einer vorherigen Feststellung der Zuwiderhandlung durch eine Wettbewerbsbehörde.“ Dieses Recht auf vollständigen Schadensersatz steht auch demjenigen zu, an den ein Geschädigter seinen Anspruch abtritt. Art. 2 Nr. 4 Var. 3 Richtlinie 2014/104 definiert Schadensersatzklagen ausdrücklich als „eine Klage nach nationalem Recht, mit der ein Schadensersatzanspruch vor einem nationalen Gericht […] von einer natürlichen oder juristischen Person, die in die Rechte und Pflichten des mutmaßlich Geschädigten eingetreten ist, einschließlich der Person, die den Anspruch erworben hat, geltend gemacht wird“.
120Einen diesbezüglichen Umsetzungsspielraum gesteht die Richtlinie 2014/104 den Mitgliedstaaten nicht zu. Anders als etwa bei Art. 2 Nr. 4 Var. 2, der für die Prozessstandschaft einen Vorbehalt enthält, ist ein solcher bei dem hier einschlägigen Art. 2 Nr. 4 Var. 3 bezüglich der Abtretung nicht vorgesehen, denn dort heißt es: „eine Klage nach nationalem Recht, mit der ein Schadensersatzanspruch vor einem nationalen Gericht von einem mutmaßlich Zedenten [Var. 1], von jemandem im Namen eines mutmaßlich Zedenten oder mehrerer mutmaßlich Geschädigter — sofern diese Möglichkeit im Unionsrecht oder im nationalen Recht vorgesehen ist — [Var. 2] oder von einer natürlichen oder juristischen Person, die in die Rechte und Pflichten des mutmaßlich Geschädigten eingetreten ist, einschließlich der Person, die den Anspruch erworben hat [Var. 3], geltend gemacht wird“ (vgl. dazu schon Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU), 2015, Rn. 318, 327, 330).
121c) Abtretungsmodelle unterfallen dem Schutzbefehl der Kartellschadensersatzrichtlinie
122Aus Sicht der Kammer spricht gerade die nachträgliche Hereinnahme der Var. 3 in Regelungen des Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2014/104 dafür, dass Abtretungsmodelle wie das hier streitgegenständliche vom europäischen Gesetzgeber bedacht und als Mittel zur wirksamen Anspruchsdurchsetzung zusätzlich zu der bereits vorgesehenen Regelung zur Prozessstandschaft aus Var. 2 eingefügt wurde (vgl. dazu schon Ashton, Competition Damages Actions in the EU, 2018, para 11.255; Schreiber/Seegers, in: Heaton/Holt (ed.), Private Litigation Guide, 2021, 41, 48; Krüger/Seegers, BB 2021, 1031, 1034; s.a. Makatsch/Bäuerle, in: Stancke/Weidenbach/Lahme, Kartellrechtliche Schadensersatzklagen, 2. Aufl. 2021, Kap. C Rn. 38 Fn. 136).
123Dies stellte letztlich im Wesentlichen eine Klarstellung vor dem Hintergrund dar, dass Abtretungsmodelle in der europäischen Rechtsprechung und Gesetzgebung bereits zuvor bekannt und anerkannt waren (vgl. auch Europäisches Parlament, Collective Redress in Antitrust, 2012, S. 37, abrufbar unter https://tinyurl.com/2p85a2k4; vgl. ferner Oberster Gerichtshof [Österreich], Beschluss vom 14. Februar 2012, Az.: 5 Ob 35/11p. – Aufzugskartell [Abtretungsmodell im Aufzugskartell]; Helsingin käräjäoikeus, Urteil vom 4. Juli 2013, Az.: 11/16750 [Abtretungsmodell im Wasserstoffperoxid-Kartell]; Rechtbank Den Haag, Urteil vom 17. Dezember 2014, Az.: C/09/414499 / HA ZA 12-293, ECLI:NL:RBDHA:2014:15722 [Abtretungsmodell im Paraffinwachskartell])
124Der Schutz des Abtretungsmodells durch die Richtlinie 2014/104 erscheint zudem zur Erreichung der Ziele der Richtlinie erforderlich, denn diese soll „gewährleisten, dass Opfer von Zuwiderhandlungen gegen die EU-Wettbewerbsvorschriften europaweit Zugang zu wirksamen Mechanismen haben, mit denen sie einen Ersatz in voller Höhe für den erlittenen Schaden erhalten können“ (Kommission, Vorschlag Richtlinie 2014/104, COM (2013) 404 final, S. 5.). 13
125Abtretungsmodelle sind in anderen Mitgliedstaaten wie etwa in den Niederlanden, Österreich und Finnland als Möglichkeit zur Anspruchsdurchsetzung anerkannt (vgl. Oberster Gerichtshof, Beschluss vom 14. Februar 2012, Az.: 5 Ob 35/11p. – Aufzugskartell; Gerechtshof Amsterdam, Urteil vom 4. Februar 2020, ECLI:NL:GHAMS:2020:194 Rn. 3.10 ff. – Natriumchlorat-Kartell (CDC); Gerechtshof Amsterdam, Entscheidung vom 10. März 2020, Az.: 200.229.231/01, ECLI:NL:GHAMS:2020:714 – Luftfrachtkartell; Helsingin käräjäoikeus, Urteil vom 4. Juli 2013, Az.: 11/16750 – Wasserstoffperoxid). Ein in Deutschland insoweit bestehendes Verbot würde die wirksame und einheitliche Anwendung des Wettbewerbsrechts beeinträchtigen (vgl. Erwägungsgrund 7 f. Richtlinie 2014/104; Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss, Stellungnahme zur RL2014/104/EU und zur Mitteilung der Kommission zur Ermittlung des Schadensumfangs, 2014, Ziff. 1.1.1.; Kommission, Vorschlag Richtlinie 2014/104, COM(2013) 404 final, S. 11 f.) und könnte zugleich einem unerwünschten Forum Shopping Vorschub leisten (s. Krüger/Seegers, BB 2021, 1031, 1037; Petrasincu/Unseld, NZKart 2021, 280, 286; Stadler, WuW 2018, 189, 190; Stadler, in: van Boom, Litigation, Costs, Funding and Behaviour, 2017, S. 201, 205; zur Vermeidung von Forum Shopping aufgrund der daraus resultierenden Ungleichbehandlung vgl. auch Kommission, Vorschlag Richtlinie 2014/104, COM(2013) 404 final, S. 10 f.).
126Nahezu zeitgleich mit Veröffentlichung der Richtlinie 2014/104 im Amtsblatt hat der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache CDC Hydrogen Peroxide betont, dass das Auftreten einer Inkassodienstleisterin als Klägerin, „deren Zweck es ist, Vermögenswerte zusammenzufassen, die auf Entschädigungsansprüche wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Union gestützt werden, ein Indikator dafür zu sein [scheint], dass es im Fall komplexerer Wettbewerbsverstöße für die Zedenten nicht vernünftig ist, in eigener Person und einzeln gegen die verschiedenen Urheber eines derartigen Verstoßes vorzugehen”. (GA Jääskinnen, Schlussanträge vom 11. Dezember 2014, Rs. C-352/13, ECLI:EU:C:2014:2443 Rn. 29 – CDC Hydrogen Peroxide). Hiermit stellte der Generalanwalt erkennbar klar, dass auch ein starkes rationales Bedürfnis nach einer Zusammenfassung von Klagen im Wege der Inkassozession zu bestehen scheint.
127Schließlich weist auch die Europäische Kommission in ihren Leitlinien zur Schätzung der Schadensabwälzung auf die Möglichkeit des Anspruchserwerbs ausdrücklich hin und stellt klar, dass „Ziel eines solchen Erwerbs“ eben gerade die „Bündelung von Ansprüchen“ sein könne, „welche auch zur Kohärenz bei der gerichtlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen beitragen kann, die mit derselben Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht in Zusammenhang stehen“ (Kommission, Leitlinien für die nationalen Gerichte zur Schätzung des Teils des auf den mittelbaren Abnehmer abgewälzten Preisaufschlags, 2019/C 267/07, Rn. 27). Nach dem Verständnis der vorlegenden Kammer lässt sich hierunter ohne weiteres das streitgegenständliche Abtretungsmodell fassen.
128d) Unterscheidung des Abtretungsmodells vom durch die Richtlinie nicht adressierten kollektiven Rechtsschutz
129Das soeben erläuterte Abtretungsmodell ist zu unterscheiden von „Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes“, zu deren Einführung die Mitgliedstaaten nach Erwägungsgrund 13 der Richtlinie 2014/104 nicht verpflichtet sind.
130Das streitgegenständliche Abtretungsmodell ist kein rein prozessuales Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes in diesem Sinne (vgl. zur Abgrenzung: Kommission, Leitlinien für die nationalen Gerichte zur Schätzung des Teils des auf den mittelbaren Abnehmer abgewälzten Preisaufschlags, 2019/C 267/07, Rn. 27 [Abtretungsmodell] und Rn. 28 [„Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes“]; Krüger/Weitbrecht, in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 19 Rn. 93; Stadler, WuW 2018, 189, 193). Der Erwägungsgrund 13 grenzt die Richtlinie 2014/104 – einschließlich ihrer Regelungen zu abgetretenen Ansprüchen – von 14
131Bestrebungen zur Einführung von Gruppen-, Sammel- oder Verbandsklagen als kollektiven Rechtsschutzverfahren ab. Letztere sind nicht Regelungsgegenstand der Richtlinie 2014/104, sondern einer – taggleich mit dem Entwurf zur Richtlinie 2014/104 erlassenen – Empfehlung der Europäischen Kommission.
132Die Kommission hat mit dieser Empfehlung Verfahren des kollektiven Rechtsschutzes als „ein rechtliches Verfahren, mit dem zwei oder mehr als zwei natürliche oder juristische Personen gemeinsam oder eine zur Erhebung einer Vertretungsklage befugte Einrichtung die Einstellung einer rechtswidrigen Verhaltensweise verlangen können (kollektives Unterlassungsverfahren), oder ii) […] Schadensersatz verlangen können (kollektives Schadensersatzverfahren)“ (Empfehlung der Kommission vom 11. Juni 2013 (2013/396/EU) Ziff. II 3 lit. a) bezeichnet. Um ein solches Verfahren handelt es sich beim Abtretungsmodell erkennbar nicht, denn hier geht es um eine Individualklage des Zessionars, also eines einzigen Klägers, und zwar aus eigenem Recht.
133Es handelt sich folglich weder um mehrere Anspruchsinhaber noch klagt ein Vertreter das Recht Dritter ein; vielmehr beruht das Abtretungsmodell auf herkömmlichen materiell-rechtlichen und zivilprozessualen Instrumenten (vgl. schon Gsell, WuM 2018, 537, 539; Gsell, BKR 2021, 521, 529: Abtretungsmodell als „unechte Sammelklage“; in diese Richtung auch GA Bobek, Schlussanträge vom 14. November 2017, Rs. C-498/16, ECLI:EU:C:2017:863 Rn. 69 – Schrems, der klarstellt, dass die Geltendmachung mehrerer erworbener Ansprüche eines Klägers gegen denselben Beklagten nur „schwierig“ als Sammelklage bezeichnet werden kann; vgl. zur Abgrenzung des Abtretungsmodells von der „Gruppenklage“ auch Bundesministerium für Wirtschaft, Bundesministerium für Justiz, Bundeskartellamt u.a., Gemeinsame Stellungnahme vom 14. Juli 2008, S. 6, abrufbar unter: https://tinyurl.com/2p9mm4s4; sowie Bundesrat, Beschluss vom 4. Juli 2008, BR-Drs. 248/08 (Beschluss) S. 5, abrufbar unter: https://tinyurl.com/2fukppx2; ferner schon Kersting, ZWeR 2008, 252, 263).
1342. Verletzung des Effektivitätsgrundsatzes (Art. 101 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV)
135Es bestehen ferner Zweifel daran, dass das Inkassoverbot für Kartellschadensersatzforderungen mit dem Effektivitätsgrundsatz aus Art. 101 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV vereinbar ist. Wenn „Jedermann“ vollständigen Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihm durch einen Kartellverstoß entstanden ist, so müssen die Mitgliedstaaten die Effektivität dieses Rechts gewährleisten und dürfen es insbesondere nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren. In Deutschland ist aber – wie bereits oben aufgezeigt – eine wirksame private Kartellrechtsdurchsetzung bei Massen- oder Streuschäden nur im Wege des hier streitgegenständlichen Abtretungsmodells möglich. Ohne dieses Werkzeug haben potentiell Geschädigte keine realistische Option, mögliche Ansprüche in praktikabler und effektiver Weise durchzusetzen. Dies gilt erst recht, wenn es sich wie vorliegend um eine Stand-Alone-Situation handelt.
136a) Wirksame Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen unionsrechtlich geboten
137Art. 101 AEUV wirkt unmittelbar zwischen Privaten und begründet für sie Rechte, welche die nationalen Gerichte zu wahren haben. Die praktische Wirksamkeit des Kartellverbots verlangt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, dass „jedermann“ vollständigen Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihm durch einen Kartellverstoß entstanden ist. (st. Rspr.; EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 23, 26 f. – Courage; EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Rs. C-295/04, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 90 f., 95, 100 f. – Manfredi; EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019, Rs. C-435/18, ECLI:EU:C:2019:1069 Rn. 22 – Otis; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021, Rs. C-882/19, ECLI:EU:C:2021:800 Rn. 32 – Sumal; Art. 1 Abs. 1, 3 Abs. 1, 15
138Erwägungsgrund 3 Richtlinie 2014/104; Kommission, Vorschlag Richtlinie 2014/104, COM(2013) 404 final, S. 4).
139Das unionsrechtliche Gebot effektiver Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen dient dabei nicht nur der Kompensation der Geschädigten, sondern auch der Abschreckung potenzieller Kartellanten und damit dem öffentlichen Interesse am Schutz der wettbewerblichen Marktordnung. In den Worten des Gerichtshofs der Europäischen Union erhöht die private Kartellrechtsdurchsetzung „die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und ist geeignet, Unternehmen von [Kartellverstößen, Ergänzung durch die Kammer] abzuhalten“. Die private Kartellrechtsdurchsetzung trägt zur „Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Europäischen Union“ bei (st. Rspr.; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021, Rs. C-882/19, ECLI:EU:C:2021:800 Rn. 35-37 – Sumal; EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019, Rs. C-435/18, ECLI:EU:C:2019:1069 Rn. 24, 26 – Otis; EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 26 ff. – Courage; EuGH, Urteil vom 6. Juni 2013, Rs. C-536/11, ECLI:EU:C:2013:366 Rn. 23 f. – Donau Chemie; EuGH, Urteil vom 14. März 2019, Rs. C-724/17, ECLI:EU:C:2019:204 Rn. 43 ff. – Skanska; EuGH, Urteil vom 28. März 2019, Rs. C-637/17, ECLI:EU:C:2019:263 Rn. 41 – Cogeco; EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021, Rs. C-882/19, ECLI:EU:C:2021:800 Rn. 37 – Sumal; GA Pitruzzella, Schlussanträge vom 15. April 2021, Rs. C-882/19, ECLI:EU:C:2021:293 Rn. 67 – Sumal; GA Jääskinen, Schlussanträge vom 11. Dezember 2014, Rs. C-352/13, ECLI:EU:C:2014:2443 Rn. 124 – CDC; GA Wahl, Schlussanträge vom 6. Februar 2019, Rs. C724/17, ECLI:EU:C:2019:100 Rn. 50 – Skanska; EuG, Urteil vom 28. Januar 2015, Rs. T-345/12, ECLI:EU:T:2015:50 Rn. 84; s.a. EuGH, Urteil vom 17. September 2002, Rs. C-253/00, ECLI:EU:C:2002:497Rn. 30 f. – Muños; vgl. auch bereits: EuGH, Urteil vom 5. Februar 1963, Rs. 26/62, ECLI:EU:C:1963:1 – van Gend & Loos; ähnlich auch BVerfG, Beschluss vom 6. März 2014, Az. 1 BvR 3541/13, juris Rn. 22; BGH, Urteil vom 14. Juli 2015, Az.: KVR 55/14, juris Rn. 19 – Trinkwasserpreise; BGH, Urteil vom 23. September 2020, Az. KZR 4/19, juris Rn. 50 – Schienenkartell V; BGH, Urteil vom 10. Februar 2021, Az. KZR 63/18, juris Rn. 36 – Schienenkartell VI; BGH, Urteil vom 8. August 2022, Az.: KZR 111/18, juris Rn. 131 – VBL-Gegenwert III).
140Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs müssen die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Unionskartellrecht anzuwenden haben, dafür Sorge tragen, dass die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (vgl. insoweit schon den hier im Verfahren ergangenen Hinweisbeschluss vom 8. Juni 2022, Ziff. 29 b); insoweit kann auch die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten durch die höherrangigen unionsrechtlichen Vorgaben eingeschränkt sein (st. Rspr.; EuGH, Urteil vom 20. September 2001, Rs. C-453/99, ECLI:EU:C:2001:465 Rn. 29 – Courage; EuGH, Urteil vom 5. Juni 2014, Rs. C-557/12, ECLI:EU:C:2014:1317 Rn. 24 f. – Kone; EuGH, Urteil vom 14. März 2019, Rs. C-724/17, ECLI:EU:C:2019:204 Rn. 27 – Skanska; EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2019, Rs. C-435/18, ECLI:EU:C:2019:1069 Rn. 25 f.– Otis; GAin Kokott, Schlussanträge vom 22. September 2022, Rs. C-312/21, ECLI:EU:C:2022:712 Rn. 25, 48 – Tráficos Manuel Ferrer; ferner auch BGH, Urteil vom 12. Juli 2016, Az. KZR 25/14, juris Rn. 37 – Lottoblock II; BGH, Urteil vom 20. Januar 2020, Az. KZR 24/17, juris Rn. 30 – Schienenkartell II; BGH, Urteil vom 23. September 2020, Az. KZR 4/19, juris Rn. 52 f. – Schienenkartell V; vgl. zudem Art. 4 Richtlinie 2014/104). Die nationalen Gerichte müssen insoweit nicht nur die „volle Wirkung“ des Unionsrechts gewährleisten und die Rechte schützen, die Art. 101 AEUV den Einzelnen verleiht, sondern auch schon jede Abschwächung, Schmälerung und sogar Gefährdung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts verhindern (EuGH, Urteil vom 13. Juli 2006, Rs. C-295/04 bis C-298/04, ECLI:EU:C:2006:461 Rn. 89 – Manfredi; vgl. außerhalb des 16
141Kartellschadensersatzrechts auch EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, Rs. C-213/89, ECLI:EU:C:1990:257 Rn. 20 – Factortame; EuGH, Urteil vom 9. März 1978, Rs. C-106/77, ECLI:EU:C:1978:49 Rn. 21/23 f. – Simmenthal; siehe auch GA Pitruzella, Schlussanträge vom 8. September 2022, Rs. C- 25/21, ECLI:EU:C:2022:659 Rn. 84 – Repsol; ferner BGH, Urteil vom 28. Juni 2011, Az.: KZR 75/10, juris Rn. 17 – ORWI).
142Dabei dürfen einzelne Elemente nicht isoliert betrachtet werden, sondern es ist zur Gewährleistung der Effektivität zu fragen, ob die nationalen Regelungen betreffend die Möglichkeiten der gemeinsamen Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüche „in ihrer Gesamtheit“ die Ausübung der unionsrechtlich verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 28. März 2019, Rs. C-637/17, ECLI:EU:C:2019:263 Rn. 45 – Cogeco; GAin Kokott, Schlussanträge vom 17. Januar 2019, Rs. C637/17, ECLI:EU:C:2019:32 Rn. 81 – Cogeco; GAin Kokott, Schlussanträge vom 14. Oktober 2004, Rs. C-387/02, ECLI:EU:C:2004:624 Rn. 109 – Berlusconi u.a.; vgl. ferner OLG Karlsruhe, Urteil vom 17. November 2021, Az.: 6 U 56/20 Kart, juris Rn. 210 – Die Freien Brauer; Hauser/Otto, WRP 2020, 812, 814 Rn. 10).
143b) Keine wirksame Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen außerhalb von Abtretungsmodellen
144Wie oben schon ausgeführt, ist in Deutschland das Abtretungsmodell der einzige gangbare Weg für Kartellgeschädigte, ihre Ansprüche bei kartellrechtlichen Massen- oder Streuschäden wirksam durchzusetzen. Andernfalls müsste jeder einzelne Geschädigte seine Ansprüche allein und auf eigene Kosten geltend machen, was regelmäßig aufgrund kaum überwindbarer rechtlicher und tatsächlicher Hindernisse scheitern wird, so dass das Kartellschadensersatzrecht in den genannten Bereichen faktisch leerlaufen würde (zusammenfassend dazu Klumpe, WuW 2022, 462, 463 f.; s.a. Weitbrecht, WuW 2022, 469, 471).
145Die Geltendmachung von Kartellschadensersatzansprüchen ist tatsächlich, ökonomisch und rechtlich komplex und deshalb langwierig, teuer und risikoreich. Dieser hohe Zeit- und Kostenaufwand sowie das Prozessrisiko wirken insbesondere für Verbraucher, aber auch für kleine und mittelständische Unternehmen prohibitiv, weshalb die Ansprüche regelmäßig in rationaler Apathie nicht verfolgt werden (vgl. GA Jääskinen, Schlussanträge vom 11. Dezember 2014, Rs. C-352/13, ECLI:EU:C:2014:2443 Rn. 29 – CDC; Kommission, Weißbuch, KOM (2008) 165 endgültig, S. 4 Rn. 2.1; Europäisches Parlament, Entschließung zum Weißbuch (2008/2154(INI)), 2010/C 117 E/27, Ziff. 4; Commission staff working paper Green Paper, SEC (2005) 1732, para. 45; vgl. ferner BT-Drs. 15/3640 S. 36; Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41, 2004, Rn. 85; Gsell/Meller-Hannich, Gutachten zur Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie, 2022, S. 11; Fuchs, ZWeR 2011, 192, 193; Kersting, NZKart 2022, 309, 311; Klumpe, WuW 2022, 462, 463; Stadler, in: van Boom, Litigation, Costs, Funding and Behaviour, 2017, S. 201, 202; Weber, Kartellschaden, 2021, S. 81; Weitbrecht, in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Binnenmarkt- und Wirtschaftsordnungsrecht, 2021, § 10 Rn. 97; s.a. BT-Drs. 19/27673 S. 32: spricht von rationalem Desinteresse in Bezug auf Klagen gegen das LKW-Kartell; s.a. Antrag der Fraktion der FDP: BT-Drs. 19/30495 S. 13).
146Überwindbar ist dieses rationale Desinteresse erst bei einer gebündelten Durchsetzung von Ansprüchen und der damit einhergehenden Aufteilung der Kosten für Sachverständige und Rechtsberater sowie des (Prozess-)Risikos (GAin Kokott, Schlussanträge vom 29. Juli 2019, Rs. C 435/18, ECLI:EU:C:2019:651 Rn. 88 – Otis; GA Jääskinen, Schlussanträge vom 11. Dezember 2014, Rs. C-352/13, ECLI:EU:C:2014:2443 Rn. 29 – CDC; Kommission, Bericht über die Anwendung der Brüssel-Ia-VO, KOM (2009) 174 endg., Ziff. 3.5; vgl. ferner Monopolkommission, Sondergutachten 41, 2004, Rn. 85; Fuchs, in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 42 f., § 4 Rn. 99; Franck, in: 17
147Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2020, GWB § 33a Rn. 22; Kersting, NZKart 2022, 309, 311; Klumpe, NZKart 2019, 405; Klumpe/Thiede, BB 2016, 3011, 3012; Stadler, WuW 2018, 189, 190; so für entsprechende Konstellationen außerhalb des Kartellschadensersatzrechts auch BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, Az.: II ZR 84/20, juris Rn. 29, 33 – Airdeal; BGH, Urteil vom 13. Juni 2022, Az.: VIa ZR 418/21, juris Rn. 37 – financialright; OLG München, Urteil vom 18. Juli 2022, Az.: 21 U 1200/22, juris Rn. 70, 78 – MyRight).
148Ferner ist zu berücksichtigen, dass insbesondere bei Massen- und Streuschäden im Kartellrecht kein level playing field zwischen den Parteien gegeben ist. Verbrauchern oder auch kleinen und mittleren Unternehmen als möglichen Geschädigten auf der Klägerseite stehen regelmäßig marktmächtige und finanzkräftige Kartellanten gegenüber, für die es regelmäßig insgesamt um immense Beträge geht. Dies macht es für Kartellanten rational, sich gegen jede Einzelklage unter Einsatz erheblicher finanzieller und zeitlicher Ressourcen und womöglich bis zur letzten Instanz zu verteidigen (Commission staff working paper Green Paper, SEC (2005) 1732, para. 193; Morell, JZ 2019 809, 813; Mühlbach/Boos, ZWH 2016, 145, 147, 155; Rentsch, GVRZ 2022, 4 Rn. 25; Stammwitz, Internationale Zuständigkeit bei grenzüberschreitenden Kartelldelikten, 2018, S. 349). Dieses die Rechtsdurchsetzung hindernde Ungleichgewicht kann nur durch die Bündelung der Kräfte auf Seiten der möglichen Geschädigten überwunden werden (vgl. Franck, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2020, GWB § 33a Rn. 22; Kodek, in: Jarolim (Hrsg.), Beschleunigung von Verfahren als Gebot der Stunde, 2016, S. 19, 26; Stadler, VuR 2021, 123, 125; Stadler, JZ 2020, 321, 327; dazu außerhalb des Kartellschadensersatzrechts auch BGH, Urteil vom 13. Juni 2022, Az.: VIa ZR 418/21, juris Rn. 51 f. – financialright).
149Hinzu kommt, dass es einem einzelnen Verbraucher oder auch kleinem oder mittlerem Unternehmen in der Rolle des mutmaßlich Geschädigten kaum möglich ist, durch das Kartell verursachte Schäden anhand seiner limitierten Wahrnehmung des Marktgeschehens und der ihm zur Verfügung stehenden Datenbasis darzulegen und nachzuweisen (Vgl. Kommission, Praktischer Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs, 2013, Rn. 82; Commission staff working Paper Best Practices for the Submission of Economic Evidence and Data Collection, SEC (2011) 1216 final, para. 20; ferner auch Helmdach, Kronzeugeninformationen im kartellrechtlichen Schadensersatzprozess, 2019, S. 52 sowie Weber, Kartellschaden, 2021, S. 82 ff.; vgl. zur strukturellen Unterlegenheit kartellgeschädigter Unternehmer ferner GAin Kokott, Schlussanträge vom 22. September 2022, Rs. C-312/21, ECLI:EU:C:2022:712 Rn. 54 f. – Tráficos Manuel Ferrer).
150Denn erst die Zusammenführung der Daten möglichst vieler Geschädigter über möglichst lange Zeiträume ermöglicht eine sachgerechte ökonomische Schadensanalyse durch die Ermittlung marktweiter Preiseffekte des Kartells, welche Voraussetzung für die Ermittlung des hypothetischen Wettbewerbspreises und damit der individuell erlittenen Schäden sind. Erst dies ermöglicht die Überwindung der für das Kartellschadensersatzrecht typischen Informationsasymmetrie zwischen Kartellanten und mutmaßlich Geschädigten (Vgl. Fuchs, in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 40 f.; Franck, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2020, GWB § 33a Rn. 22; Klumpe, WuW 2022, 462, 463; Weber, Kartellschaden, 2021, S. 292). Zudem ist auch nur auf diesem Wege der finanzielle Aufwand für die Einholung privater Sachverständigengutachten zum Zwecke der Aufbereitung von Daten und Substantiierung von Klagen zu schultern.
151c) Potenzierung der Probleme in Stand-Alone-Fällen
152All diese Probleme stellen sich erst recht in Stand-Alone-Fällen, denn hier kann der einzelne mutmaßlich Geschädigte nicht einmal auf die Entscheidung der Kartellbehörden samt der daraus folgenden Bindungswirkung für den 18
153Kartellschadensersatzprozess zurückgreifen. Vielmehr muss er hier sogar noch den Nachweis des Kartellverstoßes führen. Dass dies faktisch erheblichen Schwierigkeiten unterworfen ist, zeigt sich bereits empirisch daran, dass in der Praxis kaum Stand-Alone-Klagen zu verzeichnen sind (vgl. zu den Beweisschwierigkeiten in solchen Fällen etwa Monopolkommission, Sondergutachten Nr. 41, 2004, Rn. 40; Basedow, EuZW 2006, 97; Bien, NZKart 2012, 12, 14; ferner zur Seltenheit von Stand-Alone-Klagen: Laborde, NZKart 2022, 9, 13; Rengier, WuW 2018, 613, 614; Urlesberger/Ditz, ÖZK 2013, 135, 138; Mäsch, in: Berg/Mäsch, Kartellrecht, 4. Aufl. 2022, GWB § 33a Rn. 1).
154Gleichzeitig ist in Fällen, in denen die Kartellbehörden nicht eingreifen, die private Rechtsdurchsetzung die einzige Option, das auch im Interesse der Allgemeinheit liegende unionsrechtliche Ziel des Schutzes der wettbewerblichen Marktordnung und der Abschreckung potentieller Kartellanten zu erreichen. Damit sind Stand-Alone-Klagen nicht zuletzt auch angesichts beschränkter Behördenkapazitäten für die Kartellrechtsdurchsetzung unerlässlich, weshalb die Position von Stand-Alone-Kläger gegenüber Follow-On-Klägern nicht weiter verschlechtert werden darf (vgl. schon GAin Kokott, Schlussanträge vom 17. Januar 2019, Rs. C-637/17, ECLI:EU:C:2019:32 Rn. 52 – Cogeco; Basedow EuZW 2006, 97; Fuchs, in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 22, 83, 86).
155Seit der Reform des Kartellverfahrensrechts durch die VO 1/20032 setzt das Unionsrecht gezielt auch auf die Eigeninitiative der Marktteilnehmer (Art. 6, Erwägungsgrund 7). Die mit der Ablösung des Systems der Administrativfreistellung durch ein System der Legalausnahmen verbundene Reduzierung der behördlichen Kontrolldichte und das drohende Vollzugsdefizit sollte gerade mit einer verstärkten privaten Kartellrechtsdurchsetzung ausgeglichen werden (vgl. Kommission, Bekanntmachung über die Behandlung von Beschwerden durch die Kommission gemäß Artikel 81 und 82 EG-Vertrag, ABl. EG 2004, Nr. C 101/65, Nr. 12 ff.; Kommission, Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag, 1999/C 132/01, Rn. 99 f.; BT-Drs. 15/3640 S. 35; Bornkamm/Becker, ZWeR 2005, 215 und Fuchs, in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 28). Durch die Möglichkeit einer Anspruchsbündelung werden Stand-Alone-Klagen und damit die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts insgesamt effektiver gemacht. Die Zedenten können ihre Marktbeobachtungen und Informationen teilen und dadurch belastbarer Rückschlüsse auf ein mögliches kartellrechtswidriges Verhalten treffen. Nur über eine Anspruchsbündelung können die marktweiten Preiseffekte eines Kartellverstoßes ermittelt und dargelegt werden (bereits oben Rn. 84 f.). Das ist in Stand-Alone-Fällen umso mehr von Bedeutung, da die Zedenten nicht die Möglichkeit haben, „die für eine Schadensschätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO erforderlichen Anknüpfungstatsachen [für eine Schadensschätzung, Ergänzung der Kammer], namentlich die konkreten Umstände der Absprache und ihrer Umsetzung, regelmäßig schon dem kartellbehördlichen Bußgeldbescheid [zu, Ergänzung der Kammer] entnehmen“ (LG Dortmund, Urteil vom 30. September 2020, Az.: 8 O 115/14 (Kart), juris Rn. 131, LG Dortmund, Urteil vom 4. November 2020, Az.: 8 O 26/16 (Kart), juris Rn. 115; LG Dortmund, Urteil vom 3. Februar 2021, Az.: 8 O 116/14 (Kart), juris Rn. 112; Kühnen, NZKart 2019, 515, 519 f.).
156Nicht zuletzt verhindert eine Anspruchsbündelung auch die mehrfache Durchführung der gleichen Beweisaufnahme und die Gefahr divergierender Entscheidungen mehrerer Gerichte zu ein und denselben komplexen Rechts- und Tatfragen in parallelen Rechtsstreitigkeiten (vgl. Becker, in: Möschel/Bien (Hrsg.), Kartellrechtsdurchsetzung durch private Schadensersatzklagen, 2010, 37, 52; Kodek, in: Jarolim (Hrsg.), Beschleunigung von Verfahren als Gebot der Stunde, 2016, S. 19, 25 f.; Krüger/Weitbrecht, in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private 19
157Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Auflage 2019, § 19 Rn. 24 f. sowie allgemein zur Prozesswirtschaftlichkeit einer objektiven Klagehäufung anstelle einer Vielzahl von Einzelklagen BGH, Urteil vom 14. Dezember 1998, Az.: II ZR 330/97, juris Rn. 13; OLG Braunschweig, Beschluss vom 26. April 2013, Az.: 6 SchH 2/13, juris Rn. 28 ff.; OLG München, Urteil vom 14. Dezember 2012, Az.: 5 U 2472/09, juris Rn. 80).
158d) Praktisch unmögliche private Kartellrechtsdurchsetzung nicht ausnahmsweise gerechtfertigt
159Die Abwägung des Interesses an einer wirksamen Durchsetzung des Unionsrechts (hier Art. 101 AEUV) mit den Zielen der wirksamkeitsbeschränkenden nationalen Norm (hier dem RDG) ergibt ein eindeutiges Überwiegen des Interesses an der Durchsetzung des Unionsrechts.
160Je größer das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des Unionsrechts ausgeprägt ist und je stärker die Verwirklichung des Unionsrechts im Verhältnis zur Bedeutung der gegenläufigen nationalen Norm gefährdet wird, desto eher ist der Effektivitätsgrundsatz verletzt. Einschränkungen des Effektivitätsgrundsatzes durch nationale Regelungen sind hingegen umso eher gerechtfertigt, als sie sich aufgrund ihrer Anerkennung in den Mitgliedstaaten oder durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als allgemeine Grundsätze identifizieren lassen (Vgl. EuGH, Urteil vom 1. Juni 1999, Rs. C-126/97, ECLI:EU:C:1999:269 Rn. 45 – Eco Swiss: EuGH, Urteil vom 17. Juni 2004, Rs. C-30/02, ECLI:EU:C:2004:373 Rn. 22 – Recheio; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht, 2017, S. 64 ff., insbes. 69, 72 f.).
161Vorliegend überwiegt das Interesse an der Durchsetzung des Kartellverbots in Art. 101 AEUV, denn ein freier und unverfälschter Wettbewerb ist für die Verwirklichung des Binnenmarktes unerlässlich. (statt vieler: EuGH, Urteil vom 6. Oktober 2021, Rs. C-882/19, ECLI:EU:C:2021:800 Rn. 35 f. – Sumal; Kommission, Mitteilung zur Ermittlung des Schadensumfangs bei Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 oder Art. 102 AEUV, ABl. EU 2013, C 167/19, Rn. 4; Europäisches Parlament, Entschließung zum Grünbuch (2006/2207(INI)), C 74 E/654, Erwägung B; Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht, 2017, S. 69 und auch das Protokoll Nr. 27, ABl. 2010 C 83, 309; vgl. dazu Kölner Kommentar-KartR/Kersting/Walzel Art. 101 Rn. 517).
162Gleichzeitig kommt der in Rede stehenden Beschränkung einer effektiven Kartellrechtsdurchsetzung großes Gewicht zu, denn wie aufgezeigt ist die Durchsetzung kartellrechtlicher Massen- und Streuschäden im deutschen Recht in erheblichem Maße erschwert, wodurch sowohl die Kompensations- als auch die Präventionsfunktion leerzulaufen droht (vgl. BT-Drs. 17/5956, S. 3; BGH, Urteil vom 10. Februar 2021, Az.: KZR 63/18, juris Rn. 36 – Schienenkartell VI; ferner Fries, AcP (221) 2021, 108, 127; Hoch/Hendriks, VuR 2020, 254, 255; Krüger/Weitbrecht in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 19 Rn. 21 sowie Weber, Kartellschaden, 2021, S. 3). Konsequenter Weise hat das Oberlandesgericht Karlsruhe in einer jüngeren Entscheidung hervorgehoben, dass die unionsrechtlich gebotene praktische Wirksamkeit des Kartellschadensersatzrechts in Deutschland gerade über das Abtretungsmodell gewährleistet wird (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 17. November 2021, Az. 6 U 56/20, juris Rn. 210, 241 – Die Freien Brauer; vgl. zum Ganzen ferner Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie, 2015, Rn. 26; Hartung, AnwBl 2021, 152, 158 f. sowie Krüger/Weitbrecht in: Fuchs/Weitbrecht, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 19 Rn. 102). Der Europäische Gerichtshof hat bereits für das Urheberrecht herausgearbeitet, dass Geschädigte die „in verschiedenen Bereichen des Rechts verbreitet[e]“ Möglichkeit, ihre Schadensersatzansprüche an spezialisierte Unternehmen abzutreten, nicht genommen werden darf, insbesondere wegen der Schwierigkeiten, auf die Geschädigte bei der eigenen Beitreibung dieser Forderungen stoßen können (EuGH, 20
163Urteil vom 17. Juni 2021, Rs. C-597/19, ECLI:EU:C:2021:492 Rn. 77 – M.I.C.M.; GA Szpunar, Schlussanträge vom 17. Dezember 2020, Rs. C-597/19, ECLI:EU:C:2020:1063 Rn. 88). Gründe, die wie im Falle hier Einschränkungen der unionsrechtlichen Ziele und Vorgaben durch das deutsche Inkassoverbot für Kartellschadensersatzansprüche rechtfertigen könnten, sind demgegenüber nicht ersichtlich.
1643. Verletzung des Rechts der mutmaßlich Geschädigten auf effektiven Rechtsschutz
165Zweifel bestehen schließlich, ob das aus dem RDG jedenfalls für stand-alone Klagen folgende Inkassoverbot für Kartellschadensersatzforderungen nicht das Recht eventuell Geschädigter auf effektiven Rechtsschutz verletzt (Art. 47 Abs. 1 GRCh; Art. 6 Abs. 3 EUV, 13 EMRK).
166Das Recht auf effektiven Rechtsschutz verlangt einen wirksamen Rechtsbehelf, der tatsächlich geeignet ist, die unionsrechtlich geschützte Rechtsposition durchzusetzen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache in einem fairen Verfahren, das insbesondere dem Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit entspricht, verhandelt wird. Zudem hat jede Person das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen (Vgl. zum Ganzen EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010, Rs. C-279/09, ECLI:EU:C:2010:811 Rn. 31 – DEB; EuGH, Urteil vom 22. September 1998, Rs. C-185/97, ECLI:EU:C:1998:424 Rn. 24-28 – Coote; EuGH, Urteil vom 15. Juni 2000, Rs. C-13/99 P, ECLI:EU:C:2000:329 Rn. 32 – TEAM; Erwägungsgrund 4 Richtlinie 2014/104; Europäisches Parlament, Entschließung zum Grünbuch (2006/2207(INI)), C 74 E/654, Ziff. 5).
167Zum Mindestgehalt des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gehört dabei, dass der Rechtsbehelf dem Effektivitätsgrundsatz genügen muss (vgl. EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Rs. C-432/05, ECLI:EU:C:2007:163 Rn. 37-43 – Unibet; EuGH, Urteil vom 19. Juni 2003, Rs. C-467/01, ECLI:EU:C:2003:364 Rn. 61 f. – Eribrand; GA Trstenjak, Schlussanträge vom 22. September 2011, Rs. C-411/10, ECLI:EU:C:2011:611 Rn. 161 – N.S.; s.a. GAin Kokott, Schlussanträge vom 22. Januar 2009, Rs. C-75/08, ECLI:EU:C:2009:32 Rn. 28 – Mellor). Dazu gehört auch, dass Rechtsuchende nicht durch übergroße finanzielle Risiken von einer Rechtsdurchsetzung abgeschreckt werden. Das nationale Recht darf demnach nicht ausschließlich solche Rechtsbehelfe zur Verfügung stellen, durch die sich der Rechtsuchende der Gefahr aussetzt, dass er sich infolge der Klage in einer ungünstigeren Lage befindet, als er sich befände, hätte er von der Klage abgesehen. (EuGH, Urteil vom 15. April 2008, Rs. C-268/06, ECLI:EU:C:2008:223 Rn. 51 – Impact; EuGH, Urteil vom 21. November 2002, Rs. C-472/00, ECLI:EU:C:2002:705 Rn. 34 – Cofidis; EuGH, Urteil vom 25. November 2008, Rs. C-455/06, ECLI:EU:C:2008:650 Rn. 47 – Heemskerk; EuGH, Urteil vom 24. März 2009, Rs. C-445/06, ECLI:EU:C:2009:178 Rn. 63 – Danske Slagterier; ferner Heinze, Schadensersatz im Unionsprivatrecht, 2017, S. 75). Diese Anforderungen sind aber nicht erfüllt, wenn eventuell Geschädigten zur Durchsetzung von Massen- und vor allen Dingen Streuschäden mit dem Abtretungsmodell der einzig effektive Rechtsbehelf genommen würde und ihnen nur die Möglichkeit offen stünde, ihre Schäden im Wege einzelner Klagen zu verfolgen. Selbst wenn sie dies in Überwindung des „rationalen Desinteresses“ täten, müssten sie für ökonomische Gutachter und spezialisierte Rechtsberater Kosten aufwenden, die regelmäßig außer Verhältnis zum Streitwert im jeweiligen Einzelverfahren stehen. In Stand-Alone-Verfahren müssten sie ferner sogar unter entsprechendem Kostenaufwand den Kartellverstoß als solchen zunächst identifizieren, sodann ausrecherchieren und schließlich im Prozess darlegen und beweisen.
168Eine Rechtfertigung für diesen Eingriff in das Recht auf effektiven Rechtsschutz ist nicht ersichtlich. Eine Rechtfertigung kommt ausnahmsweise in Betracht, „sofern [der Eingriff] tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entspr[icht] und nicht einen 21
169im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstell[t], der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet. (EuGH, Urteil vom 18. März 2010, Rs. C-317/08, C-318/08, C-319/08 und C-320/08, ECLI:EU:C:2010:146 Rn. 63 – Alassini; Ergänzungen durch die Kammer). Diese Voraussetzungen sind hier schon deshalb nicht erfüllt, da jedenfalls mildere Mittel als das völlige Inkassoverbot zum Schutz der Rechtsuchenden, des Rechtsverkehrs und der Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen denkbar wären, weshalb es jedenfalls nicht erforderlich ist. Zudem erscheint das Recht auf effektiven Rechtsschutz in seinem Wesensgehalt berührt, da möglichen Geschädigten letztlich jeder effektive Rechtsschutz verwehrt bleibt.
170.
171Nach alledem war das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die o.g. Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.