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Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand:
2Die Parteien streiten über die Regressfähigkeit von Sozialhilfeleistungen.
3Der Kläger ist ein überörtlicher Träger von Sozialhilfe, die Beklagte eine Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 03.05.1978 auf der B239 ereignete, erlitt die Hilfeempfängerin Frau A (*03.xx.1971) gesundheitliche Schäden, für deren Folgen der Kläger Sozialhilfeleistungen erbringt.
4In der Vergangenheit regulierte die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgänger Regressansprüche teilweise gegenüber dem Kläger mit einer Haftungsquote von 80 %, die zwischen den Parteien unstreitig ist. Bei den bislang regulierten Leistungen handelte es sich um solche im Zusammenhang mit der Tätigkeit der Hilfeempfängerin in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Die D Versicherungsgruppe, eine Rechtsvorgängerin der Beklagten, erklärte mit Schreiben vom 17.11.1987 gegenüber dem damaligen Leistungsträger, dem Arbeitsamt B, dass die unfallbedingten und übergangsfähigen Regressansprüche spezifiziert und belegt aufzugeben sein sollten, diese würden sodann mit einer Haftungsquote von 80 % reguliert (Anlage K7, Bl. 168 d.e-A.).
5Die Hilfeempfängerin Frau A unterzeichnete am 18.02.1992 eine Vergleichs- und Abfindungserklärung für die Rechtsvorgängerin der Beklagten. In der in Kopie als Anlage 2 zum Schriftsatz vom 15.03.2021 (Bl. 75 d.e-A.) vorgelegten Erklärung heißt es auszugsweise:
6„Hierdurch erkläre ich mich für alle Ersatzansprüche die von mir oder meinen Rechtenachfolgern und von den durch mich gesetzlich vertretenen, durch das Schadenereignis mitbetroffenen Personen gegen C oder gegen sonstige Dritte sowie gegebenenfalls in der Kfz-Haftpflicht gegen die D Versicherung AG aus dem vorgenannten Schadenereignis jemals geltend gemacht werden könnten, gegen Zahlung des Abfindungsbetrages von DM 180.000,00 / in Worten Einhundertachtzigtausend für vollständig abgefunden.
7(…)
8Ausgenommen sind Ansprüche, die auf SVT übergegangen sind einschließlich LArb.Amt.. (…)
9Diese Abfindungserklärung erstreckt sich nicht nur auf die mir bekannten, sondern auch auf etwaige spätere Folgen, und zwar auch auf solche, die heute noch nicht erkennbar oder vorauszusehen sind.“
10Mit Schreiben vom 13.12.1994 erklärte die G Versicherung AG als Rechtsvorgängerin der Beklagten gegenüber dem Kläger, für den gegenständlichen Unfall mit einer Haftungsquote von 80 % zu haften und dementsprechend gegenüber dem Kläger die unfallbedingten und übergangsfähigen Regressansprüche zu regulieren (Anlage K3, Bl. 165 d.e-A.). Auf die weiteren Schreiben vom 22.03.1995, 24.04.1997, 02.06.1998 und vom 19.11.1999 (Anlagen K5-6, K8-9, Bl. 166ff. d.e-A.) wird Bezug genommen.
11Inzwischen erbringt der Kläger unfallbedingt weitere Leistungen an die Hilfeempfängerin, nämlich Sozialhilfe für das Ambulante Betreute Wohnen. Diese Leistungen wurden aufgrund eines rechtskräftigen Sozialhilfebescheids vom 22.09.2017 in der Zeit vom 16.05.2017 bis zum 01.04.2020 erbracht. Wegen des Inhalts wird auf die in Kopie vorgelegten Bescheide und die Kostenaufstellung (Anlagen K1 und K2, Bl. 10-21 d.e-A.) Bezug genommen. Die Sozialhilfe im Rahmen des Amulanten Betreuten Wohnens wird durch den Kläger für die Zeit ab dem 16.05.2017 und darüber hinaus bis heute erbracht. Weitere Kosten werden auch in der Zukunft unfallbedingt erbracht werden.
12Eine Erstattung dieser Leistungen lehnte die Beklagte außergerichtlich unter Berufung auf die Abfindungserklärung ab. In ihrem Schreiben vom 17.07.2020 heißt es auszugsweise:
13„Wir stellen unsere Haftungserklärung wie folgt klar: Wir erstatten Ihrer Mandantin LWL-Inklusionsamt Soziale Teilhabe gemäß der Haftungsquote 80 % aller Aufwendungen für die Hilfeempfängerin A (geb. 03.xx.1971), die auf dem gegenständlichen Unfall vom 01.05.1978 beruhen. Dies gilt nur insoweit als die Ansprüche von Frau A im Jahre 1992 im Zuge der vorbehaltlosen Abfindung der Direktansprüche nicht rechtwirksam abgegolten wurden.“
14Der Kläger begehrt nun die Erstattung der weiteren Sozialleistungen im Bereich des Ambulanten Betreuten Wohnens und vertritt diesbezüglich die Rechtsauffassung, er habe einen Anspruch auf Kostenersatz auf der Grundlage unfallbedingter Aufwendungen nach § 3 Pflichtversicherungsgesetz a.F., § 115 VVG. Die Differenzierung zwischen den Leistungen in der Werkstatt für behinderte Menschen und dem Ambulanten Betreuten Wohnen durch die Beklagte sei erkennbar willkürlich. Bei beiden Leistungen handele es sich um vermehrte Bedürfnisse und Leistungen zur Teilhabe, für welche die Beklagte aufgrund ihrer Haftungserklärungen und ihres bisherigen Regulierungsverhaltens regresspflichtig sei. Soweit sich die Beklagte auf die Abfindungserklärung aus dem Jahre 1992 beruft, vertritt der Kläger unter Verweis auf § 116 SGB X die Rechtsauffassung, die Hilfeempfängerin habe zu diesem Zeitpunkt nicht wirksam über Ansprüche disponieren können.
15Der Kläger beantragt,
161. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 22.361,05 € zu zahlen für Leistungen an die Hilfeempfängerin Frau A (*03.xx.1971) im Leistungszeitraum vom 16.05.2017 bis zum 01.04.2020, nämlich im Zusammenhang mit Sozialhilfeleistungen „Betreuung im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens“ nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit,
172. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm über die Haftungserklärung der Beklagten vom 25.06.2019 / 17.07.2020 hinausgehend auf der Basis einer Haftungsquote von 80 % alle Aufwendungen zu erstatten, die der Kläger für die Hilfeempfängerin Frau A (*03.xx.1971) aus Anlass und begründet durch die Folgen des Verkehrsunfalls vom 01.05.1978 auf der B 238 bei E erbringt, insbesondere Aufwendungen für Leistungen, die im Zusammenhang mit der Versorgung der Hilfeempfängerin im für „Betreuung im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens“ erbracht werden.
18Die Beklagte beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Sie beruft sich auf den Abfindungsvergleich aus dem Jahr 1992 und vertritt diesbezüglich die Rechtsansicht, die Hilfeempfängerin habe zu diesem Zeitpunkt über die streitgegenständlichen Ansprüche verfügen und auf diese verzichten können. Der Forderungsübergang sei nicht nach § 116 SGB X erfolgt, vielmehr gelte § 90 BSHG a.F. wegen des Unfallzeitpunkts. Die Leistungen des Klägers im Zusammenhang mit der Werkstatt für behinderte Menschen seien als Teil der Arbeitsverwaltung zu sehen, von der Ausnahme des Abfindungsvergleichs umfasst und deshalb von ihr – der Beklagten – reguliert worden. Bei den streitgegenständlichen Ansprüchen für das Ambulante Betreute Wohnen handele es sich hingegen um Leistungen eines Sozialhilfeträgers, die Ausnahme des Vergleichs beziehe sich jedoch lediglich auf Sozialversicherungsträger und das (damalige) Landesarbeitsamt. Im Übrigen erhebt die Beklagte die Einrede der Verjährung, falls der Kläger hinsichtlich der streitgegenständlichen Leistungen als Rechtsnachfolger des Landesarbeitsamtes anzusehen wäre.
21Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst dazu überreichten Anlagen Bezug genommen.
22Entscheidungsgründe:
23Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
24Dem Kläger stehen die geltend gemachten Regressansprüche weder aus § 3 Pflichtversicherungsgesetz a.F., § 115 VVG i.V.m. den Haftungserklärungen der Beklagten noch aus anderen ersichtlichen Rechtsgrundlagen zu, da die Hilfeempfängerin Frau A am 18.2.1992 wirksam nach § 397 Abs. 1 BGB auf diese verzichtet hat und verzichten konnte, weil es an einer vorherigen Überleitungsanzeige gem. § 90 BSHG a.F. an den Kläger fehlt. Im Einzelnen:
25I.
26Der Kläger ist nicht bereits zum Unfallzeitpunkt am 03.05.1978 infolge eines gesetzlichen Forderungsübergangs gem. § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X Inhaber etwaiger Ansprüche der Frau A geworden.
27Nach dieser Vorschrift und heutigem Recht findet zwar grundsätzlich ein gesetzlicher Forderungsübergang (cessio legis) zugunsten der Sozialhilfe statt. Allerdings ist insofern für das streitgegenständliche Unfallereignis vom 03.05.1978 die Stichtagsregelung des § 120 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu beachten, wonach für Unfallereignisse vor dem 30.06.1983 das bis dahin geltende Recht weiter gilt. Für die Stichtagsregelung kommt es auf den Tag des Schadensereignisses an, nicht auf dessen Abwicklung. Maßgeblich ist das Verletzungsgeschehen, auch wenn der dadurch verursachte Schaden erst später eingetreten ist (vgl. nur BGH, Urteil vom 13.02.1996 – VI ZR 318/94, zit. n. Juris, Rdn. 9).
28Der dem § 116 SGB X zugrunde liegende Rechtsgedanke der Legalzession war zuvor gesetzlich in § 1542 Reichsversicherungsordnung (RVO) verankert. Diese Vorschrift sah den Übergang der Forderung im Rahmen der Sozialversicherung vor, allerdings nicht zugunsten der Sozialhilfeträger. Für Träger der Sozialhilfe galt das besondere Erfordernis des § 90 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) a.F., wonach die Forderung erst durch eine Überleitungsanzeige auf den Sozialhilfeträger überging. Die Vorschrift des § 90 BSHG a..F. findet sich inzwischen in gleichlautender Formulierung in § 93 SGB XII, der nach seinem Abs. 4 jedoch nachrangig gegenüber den §§ 115, 116 SGB X gilt (vgl. zu den Einzelheiten des bisherigen Rechts: Schlaeger/Bruno in: Hauck/Noftz, SGB, 08/18, § 116 SGB X, Rdn. 20; BeckOK SozR/von Koppenfels-Spies SGB X § 116 Rdn. 1).
29Vor diesem Hintergrund ist für den Forderungsübergang der Ansprüche der Hilfeempfängerin aus dem Verkehrsunfall vom 03.05.1978 auf den Kläger als Sozialhilfeträger nicht § 116 Abs. 1 S. 1 SGB X, sondern § 90 BSHG a.F. maßgeblich. Etwaige Ansprüche der Frau A gegenüber der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin gingen demzufolge entgegen der klägerischen Auffassung nicht unmittelbar zum Unfallzeitpunkt am 03.05.1978 auf den Kläger oder andere Sozialhilfeträger über. Vielmehr war der Forderungsübergang von einer schriftlichen Überleitungsanzeige gem. § 90 Abs. 1 BSHG a.F. abhängig.
30II.
31Eine solche nach § 90 BSHG a.F. erforderliche Überleitungsanzeige vor der Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 18.2.1992 hat der Kläger nicht dargetan.
32Nachdem das Gericht im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 24.08.2021 hierzu gem. § 139 Abs. 2 ZPO einen Hinweis erteilt hat, legte der Kläger ein Schreiben der Rechtsvorgängerin der Beklagten vom 17.11.1987 (Anlage K7, ursprünglich bezeichnet als Anlage K3, Bl. 168 d.e-A.) vor. Hierbei handelt es sich allerdings um ein Schreiben an das Landesarbeitsamt F, den damaligen Leistungsträger, und nicht an den Kläger. In diesem Schreiben nimmt die Rechtsvorgängerin der Beklagten Bezug auf ein Regressanmeldungsschreiben des Landesarbeitsamts vom 12.11.1987 und bestätigt in diesem Schreiben, dass alle unfallbedingten und übergangsfähigen Regressansprüche gegenüber dem Landesarbeitsamt reguliert werden sollten.
33Selbst wenn man in dem in Bezug genommenen Regressanmeldungsschreiben vom 12.11.1987 eine Überleitungsanzeige des Landesarbeitsamts F erkennen wollte, könnte der Kläger aus einer solchen Überleitungsanzeige keinen Forderungsübergang für sich ableiten, da es sich bei ihm um einen anderen Sozialleistungsträger handelt und die streitgegenständlichen Leistungen für das Ambulant Betreute Wohnen eine andere Leistungsgewährung darstellen, als die Leistungen im Rahmen der Werkstatt für behinderte Menschen.
34Der Verwaltungsakt in Gestalt einer Überleitungsanzeige nach § 90 BSHG a.F. wirkt zeitlich nicht unbegrenzt in die Zukunft. Aus der strengen Anbindung an eine konkrete Leistungsgewährung (§ 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG a.F.) folgt das Bestimmtheitsgebot der Überleitungsanzeige. Die Wirkung der Überleitungsanzeige endet, wenn für die Leistungen ein Zuständigkeitswechsel eintritt und ein anderer Leistungsträger für die Leistungen zuständig wird. Gewährt ein anderer Sozialhilfeträger die neue Hilfe, so gilt die Überleitungsanzeige für ihn nicht (zu der gleichlautenden Vorschrift des § 93 SGB XII im Ergebnis übereinstimmend: Armbruster in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 93 SGB XII (Stand: 01.02.2020), Rdn. 170 m.w.N.; Kirchhoff in: Hauck/Noftz, SGB, 02/15, § 93 SGB XII, Rdn. 93; BeckOK SozR/Weber SGB XII § 93 Rdn. 56; Bieritz-Harder/Conradis/Thie, Sozialgesetzbuch XII, 12. Auflage 2020, Rdn. 55).
35Vor diesem Hintergrund kann sich der Kläger nicht auf eine etwaige Überleitungsanzeige des Landesarbeitsamtes berufen, wobei eine solche – trotz des gerichtlichen Hinweises – bereits nicht genauer durch den Kläger dargelegt wurde, sondern nur in dem vorgelegten Schreiben angedeutet wird. Die weiteren, mit nachgelassenem Schriftsatz vom 22.09.2021 vorgelegten Erklärungen der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängern sind zwar teilweise an den Kläger adressiert, entstammen jedoch sämtlich der Zeit nach der Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 18.2.1992.
36III.
37Ein späterer Forderungsübergang auf den Kläger durch Überleitungsanzeige gem. § 90 BSHG a.F. scheitert daran, dass die Hilfeempfängerin Frau A im Rahmen der Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 18.02.1992 der Rechtsvorgängerin der Beklagten weitergehende Ersatzansprüche gemäß § 397 Abs. 1 BGB erlassen hat.
381.
39Nach § 397 Abs. 1 BGB kann der Gläubiger auf einen Anspruch verzichten, wobei hierfür ein formloser Erlassvertrag erforderlich ist (vgl. MüKoBGB/Schlüter, 8. Aufl. 2019, BGB § 397 Rdn. 1). Der Zugang der Annahmeerklärung des Schuldners wird regelmäßig nach der Verkehrssitte (§ 151 S. 1 Alt. 1 BGB) entbehrlich sein, der Annahmewille muss dann aber nach außen betätigt werden (m.w.N. BeckOK BGB/Dennhardt BGB § 397 Rdn. 16).
40Die Vergleichs- und Abfindungserklärung der Hilfeempfängerin Frau A vom 18.02.1992 stellt eine Erklärung im Sinne des § 397 Abs. 1 BGB dar, da diese dort erklärte, gegenüber der Rechtsvorgängerin der Beklagten für alle Ersatzansprüche durch das Schadensereignis vollständig abgefunden worden zu sein, worin ein eindeutiger Verzichtswille zu erkennen ist. Die Verzichtserklärung nahm die Rechtsvorgängerin der Beklagten auch spätestens durch Zahlung der Abfindungssumme an.
41Zu diesem Zeitpunkt befanden sich mögliche Schadensersatzansprüche im Rahmen der streitgegenständlichen Sozialhilfeleistungen auch noch in den Händen von Frau A als Geschädigte aus dem Unfallereignis vom 03.05.1978, da – wie bereits dargestellt – nach dem hier maßgeblichen § 90 Abs. 1 BSHG a.F. ohne Überleitungsanzeige kein gesetzlicher Forderungsübergang auf den Sozialhilfeträger stattfindet.
422.
43Der erklärte Verzicht umfasste auch die streitgegenständlichen Ansprüche im Zusammenhang mit den Sozialhilfeleistungen für das Betreute Ambulante Wohnen. Zu diesem Ergebnis kommt das Gericht infolge einer Auslegung (§§ 133, 157 BGB) der Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 18.02.1992 anhand des Wortlauts der Erklärung, der Begleitumstände und der Interessenlage der Parteien.
44Dabei hat die Auslegung nach den §§ 133, 157 BGB unter Berücksichtigung der aus ihnen entwickelten Auslegungsgrundsätzen zu erfolgen, wobei zunächst von dem Wortlaut der Erklärung auszugehen ist. Über den Wortsinn hinaus sind auch die außerhalb des Erklärungsaktes liegenden Begleitumstände in die Auslegung einzubeziehen, soweit sie einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Auch späteres Verhalten der Parteien kann zumindest als Indiz für die Auslegung von Bedeutung sein. Zu berücksichtigen ist auch und vor allem die Interessenlage und der mit dem Rechtsgeschäft verfolgte Zweck (vgl. m.w.N. Ellenberger in Palandt, BGB, 80. Aufl. 2021, § 133, Rdn. 1, 15-18). Nach § 133 BGB ist bei der Auslegung einer Willenserklärung der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des verwendeten Ausdrucks zu haften (ebd. Rdn. 7).
45Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sollten die streitgegenständlichen Ansprüche im Zusammenhang mit Leistungen von Sozialhilfe nicht von dem Verzicht ausgenommen sein.
46a.
47Schon der Wortlaut der Erklärung spricht dafür, dass lediglich Ansprüche ausgenommen sein sollten, die auf Sozialversicherungsträger oder das (damalige) Landesarbeitsamt übergegangen sind. Denn bei dem Kläger handelt es sich zum einen nicht um einen Sozialversicherungsträger, sondern um einen Sozialhilfeträger. Zum anderen sollte die Ausnahme nach seinem Wortlaut lediglich bereits übergegangene Ansprüche umfassen, was nach der früheren Rechtslage (siehe oben unter I.) für Sozialhilfeträger gerade nicht der Fall war.
48Es lässt sich auch nicht erkennen, dass die Parteien bzw. Frau A bei der Formulierung SVT (Sozialversicherungsträger) nicht nur von der buchstäblichen Bedeutung des Wortes ausgehen wollten, sondern entgegen der Formulierung sämtliche Träger von Sozialleistungen und somit auch Träger von Sozialhilfe gemeint hätten. Für diese weite und über den Wortlaut hinausgehende Auslegung könnte zwar zunächst sprechen, dass einem juristischen Laien regelmäßig nicht die genaue Differenzierung zwischen Sozialhilfe- und Sozialversicherungsträgern bekannt sein wird und er auch unter dem Begriff Sozialversicherungsträger sämtliche Sozialleistungsträger verstehen kann, wobei bereits fraglich erscheint, ob diese Betrachtungsweise hier maßgeblich ist, da die Formulierung der Verzichtserklärung erkennbar durch die Rechtsvorgängerin der Beklagten vorgegeben wurde. Eindeutig gegen die Einbeziehung (späterer) Ansprüche zugunsten der Sozialhilfeträger spricht aber jedenfalls die Formulierung „Ansprüche, die (…) übergegangen sind (…).“, wonach eindeutig klargestellt wird, dass nur bereits übergegangene Ansprüche von dem Verzicht ausgenommen sein sollten. Auch der juristisch nicht vorgebildete Erklärende wird diese Formulierung dahingehend verstehen müssen, dass Ansprüche, die erst zu einem zukünftigen Zeitpunkt übergehen könnten, nicht umfasst sein sollten. Dies gilt insbesondere für solche Ansprüche, die nicht automatisch übergehen würden, sondern von einem weiteren Tätigwerden – wie etwa einer Überleitungsanzeige eines Sozialhilfeträgers – abhängen würden.
49b.
50Zu einer abweichenden Auslegung gelangt das Gericht auch nicht unter Einbeziehung der Begleitumstände und des bisherigen Regulierungsverhaltens der Rechtsvorgänger der Beklagten. Dabei hat das Gericht sehr wohl gesehen, dass auch zeitlich nach der Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 18.02.1992 Regressleistungen gegenüber Sozialhilfeträgern und dem Kläger erbracht wurden.
51(1)
52Zunächst erscheint die vorgenommene Differenzierung der Beklagten in Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und Teilhabe am Sozialen Leben dem Gericht entgegen der Rechtsauffassung des Klägers nicht willkürlich, sondern lässt sich vielmehr mit der früheren Rechtslage begründen.
53Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beruhen nach heutigem Recht auf den §§ 49ff. SGB IX, waren zum Zeitpunkt Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 18.02.1992 jedoch nicht in SGB IX (2001) oder SGB III (1998) geregelt, sondern fanden sich als berufsfördernde und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation in § 58 AFG a.F. (siehe zu Entstehungsgeschichte und Vorgängervorschriften des § 49 SGB IX Luik in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 49 SGB IX, Rdn. 24 und Schubert/Schaumberg in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl., § 114 SGB III Rdn. 4). Nach früherem Recht oblagen gem. § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AFG a.F. der (damaligen) Bundesanstalt für Arbeit Leistungen zur beruflichen Eingliederung von Behinderten, Sozialhilfeleistungen durch die Sozialhilfeträger waren nach § 2 Abs. 1 BSHG a.F. nachrangig. Auch nach heutigem Recht (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX) kann die Bundesagentur für Arbeit Träger von Leistungen im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben (§ 5 Nr. 2 SGB IX) sein.
54Im Gegensatz dazu waren Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§ 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG a.F.), wie erweiterte Hilfe in Form der Gewährung von Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung oder einer Tageseinrichtung für Behinderte (§ 43 Abs. 1 BSHG a.F.) nach damaligem Recht nicht im Arbeitsförderungsgesetz (AFG), sondern in den Vorschriften der §§ 40ff. BSHG a.F. geregelt und oblagen somit nicht der (damaligen) Bundesanstalt für Arbeit nach dem AFG, sondern den Sozialhilfeträgern nach § 1 Abs. 1, 96ff. BSHG (a.F.).
55Insofern ist für das Gericht nachvollziehbar, dass die Beklagte den Kläger hinsichtlich der Leistungen für die Tätigkeit der Hilfeempfängerin in einer Werkstatt für behinderte Menschen als Rechtsnachfolger des (damaligen) Landesarbeitsamtes ansieht und diese Leistungen weiterhin reguliert, die Leistungen im Bereich des Ambulanten Betreuten Wohnens jedoch als Teil des Leistungssprektrums der früheren und heutigen Sozialhilfe ansehen will.
56(2)
57Nichts anderes folgt aus dem bisherigen Regulierungsverhalten der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgänger, wobei bereits zweifelhaft erscheint, ob das Regulierungsverhalten der Beklagten für die Auslegung der damaligen Erklärung der D Versicherungsgruppe überhaupt herangezogen werden kann.
58Jedenfalls ist zwischen den Parteien aber unstreitig, dass Leistungen für die Tätigkeit der Hilfeempfängerin in einer Werkstatt für behinderte Menschen von der Beklagten bislang unbeanstandet reguliert wurden, die Aufforderung zur Regulierung der Leistungen im Rahmen des Ambulant Betreuten Wohnens, gewährt für die Zeit ab dem 16.05.2017, durch die Beklagte jedoch von vorneherein abgelehnt worden ist. Die Beklagte oder ihre Rechtsvorgänger haben demgemäß bislang keine Leistungen durch Sozialhilfeträger im Bereich des Ambulanten Betreuten Wohnens reguliert, um die es in diesem Rechtsstreit geht.
59Auch ergibt sich weder aus der vorgelegten Korrespondenz der Parteien, dass sich die Beklagte bzw. ihre Rechtsvorgänger zur Regulierung von Leistungen im (früheren) Bereich zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft verpflichtet fühlten, noch, dass bislang Leistungen in diesem Bereich reguliert wurden. Dem Schreiben vom 13.12.1994 (Anlage K3, Bl. 165 d.e-A.) kann nichts derartiges entnommen werden. In dem Schreiben vom 22.03.1995 (Anlage K5, Bl. 166 d.e-A.) geht es um den Grad der Behinderung der Hilfeempfängerin im Zusammenhang mit der Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt. Dem Schreiben vom 19.11.1999 (Anlage K6, Bl. 167 d.e-A.) lag offenbar eine Diskussion um die Haftungsquote der Rechtsvorgängerin der Beklagten zugrunde.
60(3)
61Schließlich ergibt sich auch unter Berücksichtigung der Interessenlage der an der Vergleichs- und Abfindungserklärung beteiligten Parteien – hier Frau A und die Rechtsvorgängerin der Beklagten – kein anderes Ergebnis.
62Bereits die damalige Rechtslage und die zum Erklärungszeitpunkt geltenden Einzelbestimmungen sahen in § 1542 RVO und § 127 AFG a.F. eine cessio legis zugunsten der Sozialversicherungsträger und der Arbeitsverwaltung vor, für die Sozialhilfeträger hingegen in Abweichung von der heutigen Rechtslage gerade nicht (siehe hierzu: Schlaeger/Bruno in: Hauck/Noftz, SGB, 08/18, § 116 SGB X, Rdn. 20; BeckOK SozR/von Koppenfels-Spies SGB X § 116 Rdn. 1).Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass für einen Übergang auf Sozialhilfeträger auch nach dem 18.02.1992 eine Überleitungsanzeige nach § 90 BSHG a.F. erforderlich gewesen wäre, bestand die Interessenlage der Rechtsvorgängerin der Beklagten darin, eine endgültige Klärung zukünftiger Regressgläubiger zu erreichen. Diese Auslegung wird auch durch den Wortlaut der Erklärung getragen, da die Ausnahmebestimmung lediglich solche Ansprüche ausnehmen will, die bereits „übergegangen sind“. Der zukünftige Anspruchsübergang auf Sozialhilfeträger sollte nach dem Wortlaut somit nicht umfasst sein und widersprach zumindest dem Willen der Rechtsvorgängerin der Beklagten.
63Aber auch ein entgegenstehendes Interesse der Erklärenden – hier Frau A – lässt sich nicht erkennen, denn der Verzicht auf (zukünftige) Schadensersatzansprüche im Leistungsspektrum der Sozialhilfe wurde durch die Vergleichs- und Abfindungserklärung vom 18.02.1992 in Höhe von 180.000,00 DM kompensiert. Durch die Zahlung der Rechtsvorgängerin standen der Hilfeempfängerin somit finanzielle Mittel zu Verfügung, die zunächst dazu führen würden, dass die Sozialhilfe nach altem (§ 2 Abs. 1 BSHG a.F.) und neuem (§ 2 Abs. 1 SGB XII) Recht nachrangig wäre und sich Frau A zunächst durch den Einsatz ihres Vermögens selbst helfen konnte.
643.
65Der am 18.02.1992 erklärte Verzicht der Hilfeempfängerin Frau A stellt auch keinen Verstoß gegen die guten Sitten dar, wobei die rechtshindernde Einwendung der Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB durch das Gericht grundsätzlich von Amts wegen zu berücksichtigen war (so etwa MüKoBGB/Armbrüster BGB § 138 Rdn. 295).
66Dabei kann eine Verzichtsvereinbarung im Zusammenhang mit Sozialhilfeleistungen zwar im Einzelfall nach § 138 BGB sittenwidrig und nichtig sein. Allerdings kann eine solche nicht stets schon dann als sittenwidrig angesehen werden, wenn sie eine Belastung des Sozialhilfeträgers zur Folge hat. Erforderlich ist vielmehr, dass der Verzicht in Kenntnis der bestehenden oder sich bereits abzeichnenden künftigen Hilfebedürftigkeit geschieht und zugleich die Absicht nachweisbar ist, Leistungen der Sozialhilfe zu beziehen, wobei dies vorwiegend in Fallgruppen mit erbrechtlichen Gestaltungen oder familienrechtlichen Unterhaltsansprüchen angenommen wird (vgl. m.w.N. Armbruster in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 93 SGB XII (Stand: 01.02.2020), Rdn. 68-88).
67Derartige Umstände sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Hilfeempfängerin verzichtete im Jahr 1992 auch nicht etwa ohne jede Gegenleistung auf die streitgegenständlichen Ansprüche, sondern erhielt im Rahmen der Vergleichs- und Abfindungserklärung 180.000,00 DM für den erklärten Verzicht. Darüber hinaus steht auch der streitgegenständliche Bezug von Sozialhilfeleistungen ab dem Jahr 2017 in keinem zeitlichen Zusammenhang zu der rund 25 Jahre zuvor abgegebenen Verzichtserklärung.
68IV.
69Zuletzt lässt sich ein Anspruch des Klägers auch nicht aus dem bisherigen Regulierungsverhalten oder der Haftungserklärung der Beklagten vom 17.07.2020 (Anlage K4, Bl. 85 d.e-A.) ableiten.
70Sofern sich der Kläger diesbezüglich in seinem nachgelassenen Schriftsatz vom 22.09.2021 darauf bezieht, die Beklagte habe sich in der vorgenannten Haftungserklärung verpflichtet, alle Aufwendungen zu erstatten, stellt er hierbei durch sein Zitat die Aussage der Beklagten lediglich in verkürzter Form dar. In dem Schreiben vom 17.07.2020 nimmt die Beklagte nämlich im nächsten Satz nach der durch den Kläger zitierten Passage ausdrücklich eine Einschränkung für solche Ansprüche vor, die nicht im Zuge der Abfindungserklärung aus dem Jahre 1992 wirksam abgegolten wurden. Insofern vertrat die Beklagte auch zuletzt in ihrem Schreiben vom 17.07.2020 ihre Rechtsauffassung aus dem hiesigen Rechtsstreit und hat in diesem Schreiben keineswegs sämtliche Ansprüche ausnahmslos anerkannt.
71Gleiches gilt auch für das bisherige rein tatsächliche Regulierungsverhalten der Beklagten oder ihrer Rechtsvorgänger, da sich die Regressleistungen – wie bereits dargestellt – erkennbar nur auf die Tätigkeit der Hilfeempfängerin in einer Werkstatt für behinderte Menschen bezogen.
72V.
73Aus den vorgenannten Gründen kann der Kläger auch nicht die mit Klageantrag zu 2) geltend gemachte Feststellung zukünftiger Regressansprüche verlangen.
74VI.
75Das Urteil beruht hinsichtlich der Kosten auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 2 ZPO.
76Der Streitwert wird auf 40.000,00 EUR festgesetzt.