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Für Recht erkannt:
I.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.409.750,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von neun Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz vom 06.06.2020 bis zum 21.04.2021 zu zahlen, Zug-um-Zug gegen Lieferung und Übereignung von 450.000 mangelfreien Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe „FFP2 Masken“ der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) zu den zwischen den Parteien am 03.04./07.04.2020, am 07.04./09.04.2020 und am 07./09.04.2020 geschlossenen drei Verträgen über die Lieferung von Schutzausrüstung (siehe jeweils Tatbestand auf S. 4 f. dieses Urteils).
II.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 46 Prozent und die Beklagte zu 54 Prozent.
IV.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand:
2Die Parteien streiten um Zahlungsansprüche der Klägerin aus einem von ihr mit der Beklagten im Rahmen der COVID-19-Pandemie geschlossenen Vertrag über die Lieferung von Atemschutzmasken.
3Im Rahmen eines sogenannten Open-House-Verfahrens, bei dem der öffentliche Auftraggeber nicht nur mit einem oder einer von Anfang an bestimmten Anzahl von Unternehmen einen Liefer- oder Dienstleistungsvertrag abschließt, sondern zu vorher vorgegebenen Konditionen mit allen interessierten Unternehmen kontrahieren will, veröffentlichte die Beklagte am 27.03.2020 die Auftragsbekanntmachung mit der Referenznummer 000-0000-0001 im „Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union“ für das europäische öffentliche Auftragswesen sowie in dessen Online-Version „Tenders Electronic Daily“ zur Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung. Beigefügt waren u.a. die Aufforderung zur Angebotsabgabe, das Angebotsformular, das Vertragsformular über die Lieferung von Schutzausrüstung, die Leistungsbeschreibung und die Teilnahmebedingungen (vgl. zu den Unterlagen Anl. B1).
4Ziffer II.1.4) der Auftragsbekanntmachung lautete – nach erfolgter Berichtigung/Bekanntmachung über Änderungen oder zusätzliche Angaben am 08.04.2020 – wie folgt:
5„[…] Das Vertragssystem beginnt ab sofort zu laufen und endet mit Ablauf des 8.4.2020. Zu berücksichtigten ist jedoch, dass spätester Liefertermin der 30.4.2020 innerhalb der üblichen Geschäftszeiten der A Stiftung & Co. KG […] ist.“
6Auch die Teilnahmebedingungen enthielten unter Ziff. III. einen Hinweis auf den genannten Liefertermin zum 30.04.2020.
7Der „Gegenstand des Vertrages“ ist in dem Vertragsformular über die Lieferung von Schutzausrüstung (Anlage 4 der Vergabeunterlagen) unter § 1 S. 1 zunächst wie folgt definiert:
8„Gegenstand des Vertrages ist die Lieferung von Produkten folgender Produktgruppe(n):
91. FFP2 Masken Menge in Stück: Klicken Sie hier, um Text einzugeben.
102. OP-Masken Menge in Stück: Klicken Sie hier, um Text einzugeben.
113. Schutzkittel Menge in Stück: Klicken Sie hier, um Text einzugeben.“
12Der Auftragnehmer konnte insoweit lediglich die zu liefernde Stückzahl eingeben.
13§ 2 Ziffer 2.1 lautet unter der Überschrift „Vertragsbestandteile“ wie folgt:
14„Folgende Unterlagen und Bestimmungen sind in Ergänzungen der Regelungen dieses Vertrages Bestandteile des Vertragsverhältnisses:
15a. die Leistungsbeschreibung mit den Stückpreisen für die einzelnen Produktgruppen Anlage 1“
16(einen entsprechenden Buchstaben b. weist das Vertragsdokument nicht auf)
17§ 3 Ziffer 3.1 lautet wie folgt:
18„Die von dem AN zu liefernden Produkte einer Produktgruppe i. S. d. § 1 dieses Vertrags werden durch die Leistungsbeschreibung (Anlage 1) näher bestimmt.“
19In § 3 Ziffer 3.2 heißt es zur Lieferung:
20„Die Lieferung der Produkte hat an die A Stiftung & Co. KG […] während der üblichen Geschäftszeiten zu erfolgen; […]. Die Lieferung ist der A Stiftung & Co. KG in Textform mit einer Frist von mindestens drei Kalendertagen vor dem Liefertermin anzukündigen. Spätester Liefertermin ist der 30.04.2020 innerhalb der Geschäftszeiten gemäß S. 1. Bei Nichteinhaltung des spätesten Liefertermins entfallen die gegenseitigen Pflichten der Vertragspartner; eine verspätete Lieferung stellt keine Erfüllung des Vertrages durch den AN dar (absolutes Fixgeschäft).“
21§ 5 bestimmt in Bezug auf die Zahlung:
22„5.1 Der AG zahlt die vereinbarte Vergütung bargeldlos binnen einer Woche nach erfolgter Lieferung und Eingang einer den Vorschriften des Umsatzsteuerrechts entsprechenden Rechnung bei der A Stiftung & Co. KG […] auf das von dem AN angegebene Konto.
235.2 Jede Zahlung erfolgt unter dem Vorbehalt des Anspruchs auf Rückerstattung wegen nicht oder mangelhaft erbrachter Leistungen. Der AN kann sich gegenüber einer berechtigten Rückforderung des AG nicht auf den Wegfall der Bereicherung berufen. Ist der Zahlungseingang bei dem AG nicht innerhalb von 7 Kalendertagen nach Zugang eines Rückforderungsschreibens festzustellen, befindet sich der AN spätestens ab diesem Zeitpunkt mit seiner Rückzahlungsverpflichtung in Verzug und hat an den AG Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB zu zahlen.“
24§ 6 Ziff. 6.1 hat folgenden Inhalt:
25„Für Sach- und Rechtsmängelansprüche gelten die gesetzlichen Vorschriften, soweit nachfolgend nichts anderes bestimmt ist.“
26Ziff. 6.2 regelt dann eine Untersuchungs-/Rügeobliegenheit des Auftraggebers bei offen zutage tretenden Mängeln.
27Ferner heißt es unter § 7 Ziffer 7.1 des Vertrages:
28„Der Vertrag tritt mit Zuschlagserteilung des AG auf das im Open-House-Verfahren abgegebene Angebot des AN in Kraft und endet mit Ablauf des 30.04.2020. Die durch eine innerhalb der Vertragslaufzeit erfolgte Lieferung begründeten Rechte und Pflichten des AN und AG bestehen nach Vertragsschluss fort.“
29Gegenstand der Ausschreibung war ausweislich der Leistungsbeschreibung die Lieferung von Schutzmasken („FFP2 Masken“) zu einem Stückpreis von 4,50 Euro netto, von OP-Masken zu einem Stückpreis von 0,60 Euro netto sowie Schutzkitteln zu einem Stückpreis von 3,25 Euro netto. Im Hinblick auf sogenannte FFP2 Masken wurde folgendes festgehalten:
30„FFP2 Masken
31Beschreibung:
32Atmungsaktives Design, das nicht gegen den Mund zusammenfällt (z.B. Entenschnabel, becherförmig)
33Versehen mit einer Metallplatte an der Nasenspitze
34Kann wiederverwendbar* (aus robustem Material, das gereinigt und desinfiziert werden kann) oder Einwegartikel sein
35Normen/Standards:
36- Atemschutzgerät "N95" gemäß FDA Klasse II, unter 21 CFR 878.4040, und CDC NIOSH, oder "FFP2" gemäß EN 149
37Verordnung 2016/425 Kategorie III
38oder gleichwertige Normen, auch KN95 (CHN)“
39Die Klägerin gab unter dem 03.04.2020 ein Angebot über die Lieferung von 100.000 „FFP2 Masken“ und hier nicht streitgegenständlicher OP-Masken ab (erster Vertrag, laufende Zuschlagnummer 119), am 07.04.2020 über die Lieferung weiterer 200.000 „FFP2 Masken“ (zweiter Vertrag, laufende Zuschlagnummer 339) und ebenfalls am 07.04.2020 über die Lieferung weiterer 300.000 „FFP2 Masken“ (dritter Vertrag, laufende Zuschlagnummer 397) (vgl. Unterlagen Anl. B3, Bl. 1088). Die Beklagte, vertreten durch die Generalzolldirektion, erteilte mit Schreiben vom 07.04.2020 und 09.04.2020 der Klägerin den Zuschlag für die drei Angebote über insgesamt 600.000 „FFP2 Masken“ (Anl. K4, Bl. 358 bis Anl. K5, Bl. 362). Das streitgegenständliche Auftragsvolumen belief sich daher bei einem Preis von 4,50 Euro zzgl. Mehrwertsteuer pro Schutzmaske auf einen Gesamtbetrag in Höhe von 2.700.000,00 Euro netto bzw. 3.213.000,00 Euro brutto.
40Die Anlieferungen der Masken wurden im Auftrag der Beklagten durch die A Stiftung & Co. KG (nachfolgend „A“) sowie die im fortgeschrittenen Stadium des Open-House-Verfahrens involvierte B GmbH (nachfolgend: „B“) koordiniert. Nach Ankündigung einer Anlieferung durch den Auftragnehmer wiesen die Logistiker der geplanten Anlieferung eine oder mehrere Avisierungsnummern zu und teilten die Lieferadresse mit.
41Eine größere Zahl von Auftragnehmern, die ihre Lieferung pünktlich bis zum 27.04.2020 um 23:59 Uhr avisiert hatten, erhielt einen Anlieferslot für einen Zeitpunkt nach dem 30.04.2020 zugeteilt.
42Die Klägerin hatte der Beklagten mit E-Mail vom 19.04.2020 Lieferungen für den 30.04.2020 avisiert (Anl. B12). Ihr wurden daraufhin von A zwei Slots für das Lager in C (erster und zweiter Vertrag, Avis-Nummer D00001, später nach Beklagtenvortrag aufgespalten in E und F, anschließend erneut vereinheitlicht zu Avis-Nummer D00001E) sowie ein Slot für das Lager in K/L (dritter Vertrag, Avis-Nummer G000002 – H001) zugewiesen. Unter dem 29.04.2020 bat die Klägerin hinsichtlich des dritten Vertrages wegen Lieferschwierigkeiten um eine Anlieferung jedenfalls von 150.000 Masken erst am 05.05.2020. Die Beklagte teilte mit, dass dies nur zugelassen werden könne, wenn dies „aus auftraggeberseitigen logistischen Gründen zwingend erforderlich ist“ und „unsere Auftragnehmer die Lieferung vertragsgemäß angekündigt haben und die Lieferung ansonsten auch bis zu dem spätesten Liefertermin möglich gewesen wäre“. Mit Schreiben vom 29.04.2020 teilte die Beklagte mit, dass es keine Fristverlängerung geben werde, aber die Klägerin gerne Verhandlungen über einen gesonderten Vertrag außerhalb des OH-Verfahrens aufnehmen könne (Mailwechsel Anl. K6a und K85-87, Bl. 2071-2078).
43Die Klägerin lieferte am 30.04.2020 unter den vorgenannten Avis-Nummern 300.000 KN95-Schutzmasken des Herstellers „I“ an das Lager von A in C, allerdings nur 150.000 des Herstellers „J“ an das Lager von B in K/L (Lieferdokumentation Anl. B4). Die Beklagte akzeptierte diese Teillieferung.
44Unter dem 30.04.2020 stellte die Klägerin der Beklagten die Rechnungen 01 (535.500,00 Euro, 100.000 Masken, erster Vertrag), 02 (1.071.000,00 Euro, 200.000 Masken, zweiter Vertrag) und 03 (1.606.500,00 Euro, 150.000 gelieferte und 150.000 ausstehende Masken, dritter Vertrag). Die Rechnungen wiesen folgenden Passus auf: „Bis zum vollständigen Begleichen dieser Rechnung verbleibt die Ware in unserem Eigentum“ (Anl. B97, Bl. 2342).
45Die Beklagte zahlte zunächst nicht. Hintergrund war eine Prüfung der angelieferten Ware durch die TÜV NORD CERT GmbH (im Folgenden „TÜV"). Dabei lief das Prüfungsverfahren vor dem Hintergrund, dass es zur Zeit des Ausbruchs der COVID-Pandemie nicht genügend Schutzmasken gab, die das Konformitätsbewertungsverfahren, an dessen Ende eine CE-Kennzeichnung vergeben wird, vollständig durchlaufen hatten und auf dem deutschen Markt verkehrsfähig gewesen wären, wie folgt ab: Die Zentralstelle der Länder für Sicherheitstechnik (nachfolgend: „ZLS“) passte das von der europäischen Norm EN 149 vorgesehene Prüfverfahren auf Grundlage der am 13.03.2020 von der EU-Kommission herausgegebenen „Empfehlung der Europäischen Kommission 2020/403 über Konformitätsbewertungs- und Marktüberwachungsverfahren im Kontext der COVID-19-Bedrohung“ (Anl. B18) an und erstellte infolgedessen den Prüfgrundsatz für Corona SARS-Cov-2 Pandemie Atemschutzmasken (nachfolgend „CPA-Prüfgrundsatz“). Die Beklagte entschied sich sodann, das Prüfverfahren auf Basis des CPA-Prüfgrundsatzes zu modifizieren und insbesondere auf diejenigen Kriterien zu beschränken, die ihrer Auffassung nach für die Verwendung der Schutzmasken insbesondere im medizinischen Bereich essentiell waren (nachfolgend „modifizierter CPA-Prüfgrundsatz Rev. 1 vom 26.03.2020“, Anl. B19). Diese Modifikation erfolgte durch das BMG in Abstimmung mit dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte („BfArM"). Zur Durchführung der erforderlichen Prüfung benannte die Beklagte den TÜV einschließlich einer Gesellschaft der TÜV Nord Gruppe, der M GmbH & Co. KG (M).
46Die Beklagte führte im Rahmen dieses Prüfverfahrens nach dem von ihr entwickelten modifizierten CPA-Prüfgrundsatz Rev. 1 vom 26.03.2020 zunächst eine Sensorikprüfung in Form einer sog. Sicht- und Anlegeprüfung durch, im Rahmen derer der TÜV u.a. Passform (Dichtsitz), Befestigung der Fixierbänder und Nasenbügel etc. begutachtete. Hieran schloss sich im Falle des Bestehens der Prüfung – an anderen Prüfexemplaren – eine Laborprüfung durch M im Auftrag des TÜV an, die neben Elementen, die bereits Gegenstand der Sensorikprüfung waren (z.B. Dichtsitz der Schutzmasken und Stabilität der Bänder im Rahmen einer sog. Anlegeprüfung), insbesondere die Prüfung des Atemwiderstandes und des Filterdurchlasses der Schutzmasken umfasste. Im Rahmen der Atemwiderstandsprüfung wird gemessen, wie sehr die Atmung des Trägers aufgrund der Dichtigkeit der Maske beeinträchtigt wird, und bei der Filterdurchlassprüfung, ob die Schutzmasken die Anforderungen an die Dichtigkeit als Schutz gegen den Durchlass von schädlichen Partikeln (hier Tröpfchen oder Aerosole als Träger der Corona-Viren) erfüllen.
47Dabei unterscheiden sich die Standards der europäischen Norm EN 149 für FFP2 Masken und der chinesischen Norm für KN95 Masken sowohl im Hinblick auf den zulässigen Durchlassgrad, als auch die bei den Filterdurchlasstests anzuwendenden Prüfbedingungen. Während FFP2-Schutzmasken gemäß Ziffer 7.9.2 der EN 149 bei einem Luftstrom von 95 l/min einen Durchlassgrad von maximal 6 % aufweisen müssen, dürfen chinesische KN95-Schutzmasken bei einem Luftstrom von 85 l/min den Durchlassgrad von 5 % nicht überschreiten. Auch werden FFP2-Schutzmasken sowohl mit paraffinölhaltigen Aerosolen als auch mit Natriumchlorid getestet, wohingegen bei KN95-Schutzmasken lediglich Prüfungen mit Natriumchlorid zulässig sind. Bei der Auswertung der Durchlassprüfung implementierte die Beklagte infolge des Umstandes, dass KN95 Schutzmasken bei TÜV-Prüfungen einem anderen Luftfluss ausgesetzt werden, als für KN95-Masken vorgesehen ist, einen Toleranzbereich von einem Filterdurchlassgrad von 15 %, innerhalb dessen die Masken nicht zum Gegenstand von Mängelansprüchen gemacht wurden. Für die Zusammenstellung der zu prüfenden Stichprobe entnahm der TÜV grundsätzlich Verpackungseinheiten von unterschiedlichen Paletten, die abhängig vom Hersteller eine unterschiedliche Anzahl von Exemplaren enthielten. Im Rahmen der Sensorik- und Laborprüfung untersuchten TÜV bzw. M anhand von drei bis zehn Exemplaren, ob die Schutzmasken den Anforderungen genügten.
48Die Beklagte modifizierte das Prüfverfahren auf Basis des CPA-Prüfgrundsatzes unter dem 02.06.2020 erneut (nachfolgend „modifizierter CPA-Prüfgrundsatz Rev. 2 vom 02.06.2020“).
49Bereits mit Schreiben vom 11.05.2020 hatte die Beklagte hinsichtlich der 450.000 gelieferten Schutzmasken den Rücktritt unter Berufung auf Mängel erklärt und Abholung verlangt (Anl. B9).
50Mit Schreiben ihrer vormaligen Prozessbevollmächtigten vom 14.05.2020 forderte die Klägerin die Beklagte zur Kaufpreiszahlung auf die drei Rechnungen vom 30.04.2020 bis spätestens zum 22.05.2020 auf (Anl. K7).
51Mit Schreiben vom 22.05.2020 erklärte die Beklagte gegenüber der Klägerin erneut den Rücktritt hinsichtlich aller gelieferten Masken unter Hinweis auf behauptete Mängel der gelieferten Masken, nämlich hinsichtlich der Nichterfüllung des Sollwerts für den Durchlassgrad (Anl. B10). Hierzu fügte sie den Prüfbericht der M Nr. 0001N vom 07.05.2020 (Anl. K6 = Anl. B7) und den Prüfbericht der M Nr. 0002N vom selben Tag (Anl. B8) bei. Zugleich forderte sie die Klägerin zur Abholung der Masken auf.
52Der Bericht 0001N wies aus:
53„4. Durchlass-Prüfung (Mittelwert Prüflinge 1-2)
54Aerosol-Konzentration nach Maske – Reingas C2 [mg/m3] 1,5
55Aerosol-Konzentration vor Filter – Rohgas C1 [mg/m3] 6,7
56Durchlassgrad P [%] 22,1
57Sollwertabgleich: P1-2 <= 6%
58Beurteilung: nicht bestanden“
59Der Bericht 0002N wies aus:
60„4. Durchlass-Prüfung (Mittelwert Prüflinge 1-2)
61Aerosol-Konzentration nach Maske – Reingas C2 [mg/m3] 5,3
62Aerosol-Konzentration vor Filter – Rohgas C1 [mg/m3] 9,2
63Durchlassgrad P [%] 57,5
64Sollwertabgleich: P1-2 <= 6%
65Beurteilung: nicht bestanden“
66Die Klägerin holte 150.000 Masken (dritter Vertrag) in der Folge ohne Anerkennung einer Rechtpflicht wieder ab.
67Mit Schreiben vom 05.06.2020 boten die damaligen Bevollmächtigten der Klägerin unstreitig „zur gütlichen Einigung in der Angelegenheit und im Interesse beider Parteien […] – ohne Anerkennung jeglicher Rechtspflicht und ohne jedes Präjudiz –“ u.a. die Nachlieferung der insgesamt 450.000 ausgelieferten, aber von der Beklagten beanstandeten Masken an und baten um „Angabe eines Lieferzeitraums und -orts“ (vgl. Bl. 7 des Schriftsatzes vom 16.02.2024, insoweit in Anl. K7a noch nicht enthalten, aber von beiden Parteien als Anl. B111 bzw. Anl. K150 vollständig vorgelegt).
68Die Parteien führten sodann außergerichtliche Einigungsgespräche.
69Die Klägerin hatte hinsichtlich des ersten und zweiten Vertrages insgesamt 320.000 Masken des Herstellers I Co. Ltd. bestellt und 20.000 Masken zur eigenen Prüfung zurückbehalten, die aus derselben Produktion stammten und dieselbe LOT-Nummer (001) auf der Verpackung trugen (Anl. K11). Diese ließ sie durch M prüfen; die Prüfung erfolgte unstreitig auch mit NaCl. Der Bericht von M vom 19.06.2020, ergänzt im Juli 2020, mit der Nummer APS 0000001 wies aus, dass drei Prüflinge bei Prüfung mit NaCl und 85 l/min Gesamtvolumenstrom Durchlassgrade in Prozent von 13,10, 10,65 und 17,80 aufgewiesen hätten.
70Die Beklagte erstattete der Klägerin zwischen Juli 2020 und März 2021 Teilbeträge auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten und Verzugszinsen für den Zeitraum bis 22.05.2020.
71Unter dem 04.09.2020 wies der Prüfbericht 001 der M, der nach dem modifizierten CPA-Prüfgrundsatz Rev. 2 vom 02.06.2020 „in Anlehnung an GB 2626-2006“ durchgeführt wurde, aus (Anl. K12a):
72„4.2 Durchlass-Prüfung (Maximalwert Prüflinge 1-2) / filter penetration (maximum value of test samples 1-2)
73Durchlassgrad P / Degree of penetration P [%] 14,05
74Sollwertabgleich / target value comparison: Pmax < 5%
75Beurteilung / Evaluation: nicht bestanden“
76Unter dem 12.02.2021 wies der Prüfbericht 002 der M, der nach dem modifizierten CPA-Prüfgrundsatz Rev. 2 vom 02.06.2020 „in Anlehnung an EN 149“ durchgeführt wurde, aus (Anl. B13, Bl. 1200):
77„4.1 Durchlass-Prüfung (Maximalwert Prüflinge 1-2) / filter penetration (maximum value of test samples 1-2)
78Durchlassgrad P / Degree of penetration P [%] 9,70
79Sollwertabgleich / target value comparison: Pmax <= 6%
80Beurteilung / Evaluation: nicht bestanden“
81Die Klägerin behauptet, die gelieferten Masken seien mangelfrei gewesen. Die Masken müssten lediglich die Anforderungen an solche des Typs KN95 erfüllen. Die von der Beklagten verlangte „Sortenreinheit“ sei vorliegend gegeben, aber auch schon gar nicht geschuldet. Die von M durchgeführte Prüfung sei ungeeignet gewesen, zumal sie nicht mit NaCl durchgeführt worden sei. Jedenfalls gelte das von der Beklagten postulierte „Null-Toleranz-Prinzip“ nicht, insbesondere da eine absolut identische Filterleistung auf der gesamten Fläche des Materials der Schutzmaske technisch bedingt nicht herstellbar sei. Die Klägerin bestreitet die Identität der von ihr gelieferten und der von M bzw. vom Sachverständigen getesteten Schutzmasken. Vorsorglich bestreitet sie auch mit Nichtwissen, dass die Beklagte die gelieferten Masken ordnungsgemäß gelagert habe; in jedem Fall wirke sich die erhebliche Lagerdauer aber nachteilig auf die Qualität aus. Jedenfalls sei ein etwaiger Mangel für sie nicht erkennbar gewesen, da die Hersteller jeweils Zertifikate und Testberichte mitgeliefert hätten (Anl. B81-82, Anl. K104-111 und Bl. 1611/2407).
82Sie ist der Ansicht, die Beklagte hätte nach der vertraglichen Vereinbarung oder § 377 HGB, jedenfalls aber nach § 241 Abs. 2 BGB i.V.m. § 242 BGB, unverzüglich rügen müssen. Jedenfalls sei der Rücktritt ohne vorherige Nachfristsetzung gemäß § 323 Abs. 1 BGB unwirksam, zumindest aber verwirkt. Auch aus § 440 BGB folge nichts Anderes.
83Hinsichtlich der noch nicht gelieferten Masken müsse ihr Gelegenheit zur Lieferung eingeräumt werden, da ein Fixgeschäft nicht vorliege. Die Beklagte sei unter Gleichbehandlungsgrundsätzen verpflichtet gewesen, ihr eine Anlieferung am 05.05.2020 zu ermöglichen.
84Die Beklagte sei auch hinsichtlich der nicht gelieferten 150.000 Masken im Annahmeverzug gewesen und daher auch insoweit zur Zahlung der angefallenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verpflichtet.
85Die Klägerin hat mit der Klageschrift vom 28.03.2021, der Beklagten zugestellt am 22.04.2021, zunächst im Wege der Teilklage (bezogen auf je 50.000 gelieferte Masken hinsichtlich der drei Verträge und weitere 50.000 der nicht gelieferten Masken bezüglich des dritten Vertrages) beantragt, die Beklagte zu verurteilen,
861. an sie 535.500,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von neun Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23.05.2020 zu zahlen;
872. ihr 50.000 Masken des Typs N 95 gern. FDA Klasse II, unter 21 CFR 870.4040 und CDC NIOSH oder des Typs FFP2 gern. EN 149 Verordnung 2016/425 Kategorie III oder des Typs KN95 im Rahmen einer Erstanlieferung abzunehmen und binnen sieben Tagen nach Abnahme an die Klägerin 267.750,00 EUR zu zahlen;
883. ihr weitere 50.000 Masken des Typs N 95 gern. FDA Klasse II, unter 21 CFR 870.4040 und CDC NIOSH oder des Typs FFP2 gern. EN 149 Verordnung 2016/425 Kategorie III oder des Typs KN95 abzunehmen und binnen sieben Tagen nach Abnahme an die Klägerin 267.750,00 EUR zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus diesem Betrag in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23. Mai 2020;
894. sie von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.320,00 Euro freizustellen.
90Mit Schriftsatz vom 04.12.2023, korrigiert durch Schriftsatz vom 02.01.2024, hat die Klägerin die Klage erweitert und macht nunmehr Kaufpreiszahlung hinsichtlich der gesamten Vertragsvolumina geltend.
91Die Klägerin beantragt nunmehr,
92(a) die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.606.500,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23. Mai 2020 zu zahlen;
93(b) die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.606.500,00 Euro zu zahlen Zug um Zug gegen Abnahme von 300.000 Stück Masken des Typs N 95 gem. FDA Klasse II, unter 21 CFR 878.4040 und CDC NIOSH oder des Typs FFP2 gem. EN 149 Verordnung 2016/425 Kategorie III oder gleichwertiger Normen, auch KN95 (CHN); nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 803.250,00 Euro seit dem 23. Mai 2020 und aus 803.250,00 Euro seit dem 11. Mai 2020; hilfsweise für die letztgenannten 803.250,00 Euro seit dem 1. Juni 2020;
94(c) festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Abnahme der in Antrag Nr. 2 genannten 300.000 Stück Masken im Annahmeverzug befindet;
95(d) die Beklagte zu verurteilen, sie von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.320,00 Euro freizustellen.
96Die Beklagte beantragt,
97die Klage abzuweisen.
98Des Weiteren hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 29.04.2022 im Wege der Eventualwiderklage unter der Bedingung, dass der Rücktritt aus anderen Gründen als der Mangelfreiheit der Schutzmasken unwirksam ist und zusätzlich die Beklagte bezüglich der streitgegenständlichen Schutzmasken zur Zahlung des Kaufpreises verurteilt wird, ohne dass die Klägerin Zug-um-Zug zur Ersatzlieferung verpflichtet wird, beantragt,
99(a) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 100.000 verkehrsfähige und mangelfreie FFP2-Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des zwischen den Parteien am 3. April 2020 geschlossenen Vertrages mit der laufenden Zuschlagsnummer 119 über die Lieferung von 100.000 FFP2 Schutzmasken und 500.000 OP-Masken zu liefern;
100(b) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 200.000 verkehrsfähige und mangelfreie FFP2-Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des den Parteien am 7. April 2020 geschlossenen Vertrages mit der laufenden Zuschlagsnummer 339 über die Lieferung von 200.000 FFP2 Schutzmasken zu liefern;
101(c) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 150.000 verkehrsfähige und mangelfreie FFP2-Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des zwischen den Parteien am 7. April 2020 geschlossenen Vertrages mit der laufenden Zuschlagsnummer 397 über die Lieferung von 300.000 FFP2 Schutzmasken zu liefern;
102(d) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 150.000 verkehrsfähige und mangelfreie FFP2-Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des zwischen den Parteien am 7. April 2020 geschlossenen Vertrages mit der laufenden Zuschlagsnummer 397 über die Lieferung von 300.000 FFP2 Schutzmasken zu liefern.
103Weiter hat die Beklagte höchst vorsorglich für den Fall, dass es auf die vorbezeichneten Eventualwiderklageanträge ankommen sollte, weil die Bedingungen aus der Eventualwiderklage vom 29. April 2022 erfüllt sind und die Kammer die Eventualwiderklageanträge aus der Eventualwiderklage vom 29. April 2023 für nicht auslegungsfähig und unzulässig halten sollte, beantragt,
104(i) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 100.000 mangelfreie Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des zwischen den Parteien am 3. April 2020 geschlossenen Vertrages über die Lieferung von 100.000 FFP2 Schutzmasken und 500.000 OP-Masken zu liefern;
105(ii) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 200.000 mangelfreie Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des den Parteien am 7. April 2020 geschlossenen Vertrages über die Lieferung von 200.000 FFP2 Schutzmasken zu liefern;
106(iii) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 150.000 mangelfreie Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des zwischen den Parteien am 7. April 2020 geschlossenen Vertrages über die Lieferung von 300.000 FFP2 Schutzmasken zu liefern;
107(iv) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 150.000 mangelfreie Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des zwischen den Parteien am 7. April 2020 geschlossenen Vertrages über die Lieferung von 300.000 FFP2 Schutzmasken zu liefern.
108Mit Schriftsatz vom 20.02.2024 hat die Beklagte hinsichtlich der vorbezeichneten Widerklageanträge zu Ziff. 1 und 2 äußerst hilfsweise beantragt,
109(A) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 100.000 mangelfreie Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des zwischen den Parteien am 03.04.2020 geschlossenen Vertrages über die Lieferung von 100.000 FFP2 Schutzmasken und 500.000 OP-Masken zu liefern Zug-um-Zug gegen Herausgabe der von der Klägerin unter der Avisnummer D00001F (nunmehr D00001E) gelieferten und bei der Beklagten noch lagernden mangelhaften Schutzmasken (derzeitiger Lagerort: B GmbH, O-Str. 00, 00001 P);
110(B) die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 200.000 mangelfreie Schutzmasken entsprechend der Beschreibung der Produktgruppe "FFP2-Masken" der Anlage 1 (Leistungsbeschreibung) (Anlagenkonvolut B 1 der Klageerwiderung) des den Parteien am 07.04.2020 geschlossenen Vertrages über die Lieferung von 200.000 FFP2 Schutzmasken zu liefern Zug-um-Zug gegen Herausgabe der von der Klägerin unter der Avisnummer D00001E gelieferten und bei der Beklagten noch lagernden mangelhaften Schutzmasken (derzeitiger Lagerort: B GmbH, O-Str. 00, 00001 P).
111Unter der Bedingung, „dass das Gericht feststellt, dass die Klage jedenfalls überwiegend abzuweisen ist“ beantragt die Beklagte schließlich im Wege der weiteren Eventualwiderklage,
112(A) festzustellen, dass der Klägerin kein Anspruch auf Zahlung in Höhe von 267.750,00 Euro für die Lieferung weiterer 50.000 KN95 Schutzmasken aus dem zwischen den Parteien am 03.04.2020 zustande gekommenen Vertrag mit der laufenden Zuschlagsnummer 119 über die Lieferung von 100.000 FFP2 Schutzmasken und 500.000 OP-Masken zusteht;
113(B) festzustellen, dass der Klägerin kein Anspruch auf Zahlung in Höhe von 803.250,00 Euro für die Lieferung weiterer 150.000 KN95 Schutzmasken aus dem zwischen den Parteien am 07.04.2020 zustande gekommenen Vertrag mit der laufenden Zuschlagsnummer 339 über die Lieferung von 200.000 FFP2 Schutzmasken zusteht;
114(C) festzustellen, dass der Klägerin kein Anspruch auf Lieferung weiterer 100.000 KN95 Schutzmasken sowie Zahlung eines entsprechenden Kaufpreises in Höhe von 535.500,00 Euro aus dem zwischen den Parteien am 07.04.2020 zustande gekommenen Vertrag mit der laufenden Zuschlagsnummer 397 über die Lieferung von 300.000 FFP2 Schutzmasken zusteht;
115(D) festzustellen, dass der Klägerin kein Anspruch auf Lieferung weiterer 100.000 KN95 Schutzmasken sowie Zahlung eines entsprechenden Kaufpreises in Höhe von 535.500,00 Euro aus dem zwischen den Parteien am 07.04.2020 zustande gekommenen Vertrag mit der laufenden Zuschlagsnummer 397 über die Lieferung von 300.000 FFP2 Schutzmasken zusteht;
116(E) festzustellen, dass die Klägerin verpflichtet ist, der Beklagten die Aufwendungen zu ersetzen, die ihr im Zusammenhang mit der Lagerung der noch bei der Beklagten befindlichen unter der Avisnummer D00001E gelieferten, mangelhaften Schutzmasken seit dem 30.05.2020 bis zum Zeitpunkt der Abholung der Schutzmasken durch die Klägerin tatsächlich entstanden sind und künftig noch entstehen werden;
117(F) festzustellen, dass sich die Klägerin seit dem 30.05.2020 mit der Abholung der noch bei der Klägerin befindlichen, unter der Avisnummer D00001E gelieferten, mangelhaften Schutzmasken in Annahmeverzug befindet;
118(G) die Klägerin zu verurteilen, die unter der Avisnummer D00001E gelieferten Schutzmasken am Austauschort B GmbH, O-Str. 00, 00001 P, abzuholen.
119In der mündlichen Verhandlung vom 28.02.2024 hat die Beklagte die vorgenannten Anträge zu Ziff. 1 bis 4 hinsichtlich der weiteren Eventualwiderklage für erledigt erklärt. Dem hat die Klägerin widersprochen, sodass die Beklagte insoweit nunmehr beantragt,
120festzustellen, dass sich die vorgenannten weiteren Eventualwiderklageanträge zu Ziff. 1 bis 4 erledigt haben.
121Die Klägerin beantragt,
122die Eventualwiderklagen abzuweisen.
123Die Beklagte behauptet, die von der Klägerin gelieferten Masken seien mangelhaft. Die Masken hätten den vorgeschriebenen Filterdurchlassgrad in der Prüfung der M erheblich verfehlt. Die M habe ihre Prüfungen mit Natriumchlorid vorgenommen. Es gelte das Null-Toleranz-Prinzip; eine nicht den Anforderungen genügende Maske mache die gesamte Lieferung mangelhaft. Bei den Untersuchungen hätten sich auch verschiedene Baumuster gezeigt, wegen der somit fehlenden Sortenreinheit werde hinsichtlich der ersten beiden Verträge ebenfalls der Rücktritt erklärt (Anl. B13-14). Den Teilrückritt erklärt die Beklagte auch im Hinblick auf die nicht gelieferten 150.000 Maske hinsichtlich des dritten Vertrages. Die gelieferten Schutzmasken seien mit den getesteten identisch und ordnungsgemäß gelagert worden. Auch die Lagerungsdauer habe allenfalls marginale Auswirkungen auf die Qualität der Masken.
124Auch habe die Klägerin unzulässigerweise unter Eigentumsvorbehalt geliefert.
125Sie ist der Ansicht, nicht gegen Rügeobliegenheiten aus dem Vertrag, § 377 HGB oder anderen Vorschriften verstoßen zu haben. Der Rücktritt ohne vorherige Nachfristsetzung sei gemäß §§ 376 HGB, 323 Abs. 2 BGB möglich gewesen, jedenfalls aber nach § 440 BGB. Dies folge aus dem Zweck des Vertrages, den bei mangelhaften Masken bestehenden Gesundheitsgefahren und dem logistischen Aufwand einer Nachlieferung. Ferner sei das Vertrauensverhältnis gestört, weil die Klägerin mit den Anl. K81-82 gefälschte Zertifikate vorgelegt habe. Die Ausstellerin dieser Zertifikate sei zu keinem Zeitpunkt berechtigt gewesen, Atemschutzmasken für die EU bzw. nach Maßgabe des EU-Rechts zu zertifizieren oder Konformität mit dem Standard EN 149 zu attestieren (Anl. B102-103). Die Klägerin habe durch die Nutzung von gefälschten Zertifikaten die Beklagte täuschen wollen und führe dies im Prozess fort. Auch stelle die Markierung der Masken mit dem CE-Kennzeichen einen Verstoß gegen produktrechtliche Vorgaben für Schutzmasken dar, die Klägerin ignoriere insoweit basale Vorgaben. Das Rücktrittsrecht sei auch nicht nach § 242 BGB verwirkt.
126Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kaufpreiszahlung gegen Lieferung der fehlenden 150.000 Masken hinsichtlich des dritten Vertrages. Soweit sie, die Beklagte, auch nach dem 30.04.2020 noch Lieferungen einzelner Lieferanten zugelassen habe, sei dies zur Abfederung der Anlieferungsspitze geschehen und die Lieferanten hätten jeweils die kommunizierten Bedingungen erfüllt bzw. habe es sich um berechtigte Sonderfälle gehandelt.
127Mit Schriftsatz vom 29.04.2022, ergänzt durch Schriftsatz vom 20.02.2024, hat die Beklagte unter Aufrechterhaltung ihrer Ansicht, dass der erklärte Rücktritt wirksam sei, ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 320 BGB bezüglich der von ihr gerügten Mängel hilfsweise unter der Bedingung geltend gemacht, dass sie bezüglich der streitgegenständlichen Schutzmasken zur Zahlung des Kaufpreises verurteilt wird, ohne dass die Klägerin Zug-um-Zug zur Ersatzlieferung verpflichtet wird.
128Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 16.12.2021 in Verbindung mit dem Beschluss vom 03.06.2022 durch Sachverständigengutachten des Herrn Dr.-Ing. Q, der die Beweisfragen zunächst mit Gutachten vom 28.03.2023 schriftlich begutachtet und dieses Gutachten dann in der mündlichen Verhandlung vom 28.02.2024 mündlich erläutert hat.
129Entscheidungsgründe:
130A.
131Der Klageantrag zu Ziff. 1 ist zulässig und teilweise begründet.
132Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 1.606.500,00 Euro aus § 433 Abs. 2 BGB i.V.m. dem Open-House-Vertrag (nachfolgend: "OH-Vertrag") hinsichtlich der ersten beiden Verträge vom 03.04./07.04.2020 und vom 07.04./09.04.2020, allerdings nur Zug um Zug gegen Lieferung mangelfreier 300.000 Masken.
133I.
134Der Anspruch ist zunächst in Höhe von 1.350.000,00 Euro netto zzgl. 19 % MwSt. = 1.606.500,00 Euro brutto entstanden.
135Die Klägerin hat unter dem 03.04.2020 und 07.04.2020 Angebote über die Lieferung von insgesamt 300.000 „FFP2“-Schutzmasken abgegeben; die Beklagte hat darauf am 07.04.2020 und am 09.04.2020 den Zuschlag für „FFP2“-Masken erteilt. „FFP2“-Masken im Sinne des Vertrages sind aber auch KN95-Masken, da sie nach den Vertragsunterlagen als gleichwertig angesehen werden. Nachdem die Lieferung nach Avisierung vom 19.04.2020 zum zugeteilten Lieferslot am 30.04.2020 beim Lager C unter der Avis-Nr. D00001 erfolgt ist und die Klägerin mit Rechnung vom gleichen Tag den vereinbarten Kaufpreis in Rechnung gestellt hat, ist der Kaufpreisanspruch gemäß § 5 Ziffer 5.1 des Vertrages eine Woche später fällig geworden.
136II.
137Der Kaufpreisanspruch ist nicht untergegangen.
1381.
139Die Forderung in Höhe von 1.606.500,00 EUR ist nicht durch den von der Beklagten unter dem 11.05. bzw. 22.05.2020 erklärten Rücktritt gemäß §§ 437 Nr. 2, 434, 323 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, 346 Abs. 1 BGB untergegangen.
140In diesem Zusammenhang kann zunächst dahinstehen, ob die streitgegenständlichen Masken tatsächlich mangelhaft waren oder nicht. Gleiches gilt für die Frage, ob der erklärte Eigentumsvorbehalt vertragswidrig war und ob sich die Beklagte redlicher Weise darauf stützen kann. Zumindest konnte die Beklagte nicht den Rücktritt vom Kaufvertrag erklären, ohne die Klägerin zuvor im Sinne von § 323 Abs. 1 BGB zur Nachbesserung aufgefordert zu haben.
141a)
142Eine Nachfristsetzung war nicht gemäß § 3 Ziff. 3.2 des OH-Vertrages entbehrlich.
143Die Parteien haben mit dieser Klausel die Rechtsfolgen eines absoluten Fixgeschäfts nur für den Fall vereinbart, dass bis zum Stichtag 30.04.2020 überhaupt keine Lieferung erfolgt. Für den davon abzugrenzenden Fall, dass bis zu diesem Tag die Anlieferung der geschuldeten Ware zwar erfolgt, diese sich aber als mangelhaft herausstellte, sollten dagegen die gesetzlichen Mängelgewährleistungsvorschriften gelten. An der bisher vertretenen, abweichenden Rechtsauffassung hält die Kammer nach nochmaliger Beratung in der aktuellen Besetzung nicht mehr fest. Die Vorschrift hält auch einer AGB-Kontrolle stand.
144aa)
145Die Klausel soll für den Fall der nicht rechtzeitigen Lieferung die Rechtsfolgen eines absoluten Fixgeschäfts herbeiführen und nicht etwa nur die eines relativen Fixgeschäfts.
146Die Annahme einer irrtümlichen Falschbezeichnung und damit einer übereinstimmenden Parteivereinbarung eines relativen Fixgeschäfts begegnet insoweit Bedenken, als die Beklagte in § 3 Ziff. 3.2 a.E des OH-Vertrags in Klammern nicht nur von einem absoluten Fixgeschäft spricht, sondern auch eine Art Legaldefinition des von ihr gewählten Begriffs aufstellt: „Bei Nichteinhaltung des spätesten Liefertermins entfallen die gegenseitigen Pflichten der Vertragspartner; eine verspätete Lieferung stellt keine Erfüllung des Vertrages durch den AN dar“. Dies stellt gerade die übliche Rechtsfolge eines (im Gesetz gar nicht ausdrücklich geregelten) absoluten Fixgeschäftes dar.
147Unter einem absoluten Fixgeschäft versteht man einen Vertrag, bei dem die Leistungszeit derart wichtig ist, dass die Leistung nur zu einem bestimmten Zeitpunkt, danach aber überhaupt nicht mehr erbracht werden kann, weil sie jetzt eine völlig andere wäre, mit der der Leistungszweck des Gläubigers nicht mehr verwirklicht werden kann. In diesen Fällen bedeutet eine Verzögerung der Leistung über den hier meist kurz bemessenen Erfüllungszeitraum hinaus Unmöglichkeit der Leistung im Sinne von § 275 BGB (MüKo-BGB/Ernst, 9. Aufl. 2022, § 275 Rn. 58).
148Vorliegend ist es zwar zutreffend, dass die Beklagte auch nach dem 30.04.2020 noch ein Interesse an der Lieferung von Schutzausrüstung gehabt haben dürfte, also tatsächlich keine Unmöglichkeit eingetreten ist und damit an sich auch kein absolutes Fixgeschäft vorlag. Die Beklagte wollte über die vorgenannte Regelung aber erkennbar die Rechtsfolgen herbeiführen, die ansonsten nach § 275 Abs. 1 BGB bei rechtlicher Unmöglichkeit wegen Nichterreichbarkeit des beabsichtigten Zwecks der geschuldeten Leistung eingetreten wären. Dieser Erklärungswille ist auch unzweifelhaft zum Ausdruck gekommen, indem der Stichtag an den verschiedensten Stellen der Ausschreibung immer wieder herausgestellt und betont worden ist, dass mit dem Verstreichenlassen keine nachträgliche Erfüllung mehr möglich sein solle.
149Dass mit der Klausel tatsächlich (nur) die Voraussetzungen von § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB vereinbart werden sollten, ist dagegen mit dem Wortlaut nicht zu vereinbaren. Wie bereits dargestellt, passt schon die in § 3 Ziff. 3.2 des OH-Vertrages festgelegte Rechtsfolge nicht. Insbesondere würden ihr die Vereinbarungen, dass „die gegenseitigen Pflichten der Vertragspartner“ entfallen sollen und dass „eine verspätete Lieferung […] keine Erfüllung des Vertrages durch den AN dar[stellt]“, entgegenstehen. Beim relativen Fixgeschäft kann zwar eine Rücktrittserklärung ohne Nachfristsetzung erklärt werden, dies muss aber nicht geschehen; die Vertragspflichten würden im letzten Fall unverändert fortbestehen und nicht – wie in der Klausel vorgesehen – automatisch entfallen. Selbst für den Fall, dass § 376 HGB einschlägig sein sollte, könnte der dort vorgesehene Automatismus durch eine sofortige Erklärung des Gläubigers abgewendet werden. Gerade dieser in der Klausel unmissverständlich vorgesehene und ohne Modifikation des Vertrages auch nicht abwendbare Automatismus bezüglich der Rechtsfolgen ist dem relativen Fixgeschäft fremd.
150bb)
151Die Klausel ist im Hinblick auf das Zusammenspiel mit den weiteren Regelungen im Vertrag allerdings nicht dahingehend auszulegen, dass sie auch für den Fall der fristgerechten, aber mangelhaften Lieferung eingreifen sollte.
152Zwar ist zu berücksichtigen, dass es für eine Partei, aus deren Sicht der Vertrag mit einer Lieferung zu einem fixen Termin stehen und fallen soll, in der Praxis oftmals keinen gravierenden Unterschied macht, ob ihr am Stichtag gar keine oder eine mangelhafte Ware zur Verfügung steht. In beiden Fällen wäre der von ihr bis zu diesem Stichtag benötigte Leistungserfolg nicht eingetreten und würde eine Nachlieferung oder Nachbesserung keinen Sinn mehr ergeben. Nach der gesetzlichen Regelung in § 323 Abs. 1 BGB besteht ein Rücktrittsgrund unabhängig von der Frage, ob der Schuldner die Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß erbracht hat. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass für den Käufer in der Regel die fristgerecht mangelfreie Lieferung wesentlich ist (vgl. dazu BeckOK-BGB/Faust, 69. Edition, Stand 01.02.2024, § 440 Rn. 24, auch mit einem Beispiel für eine Ausnahme). Soweit § 323 Abs. 5 S. 2 BGB für den Fall, dass die Leistung (bewirkt, aber) nicht vertragsgemäß bewirkt wird, die zusätzliche Rücktrittsschwelle der Erheblichkeit vorsieht (MüKo-BGB/Ernst, § 323 Rn. 3), wäre letztere wegen der oftmals fehlenden Verkehrsfähigkeit der Masken bei Mängeln regelmäßig zu bejahen.
153Gegen ein solches Verständnis im vorliegenden Fall spricht allerdings zunächst der Wortlaut des § 3 Ziff. 3.2. Dort wird der 30.04.2020 wiederholt als spätester Liefertermin benannt. Dagegen wird an keiner Stelle ausgeführt, dass er auch der späteste Termin für eine mangelfreie Lieferung sein soll. Dies hätte nahegelegen, wenn es der Beklagten als Klauselverwenderin darum gegangen wäre, gerade auch sämtliche Schlechterfüllungen der nicht fristgerechten Lieferung gleichzustellen.
154Stattdessen hat sie im Vertrag unter § 6 Ziff. 6.1 für Sach- und Rechtsmängel ausdrücklich auf die gesetzlichen Vorschriften verwiesen. Diese sehen über die Verweisung in § 437 BGB grundsätzlich das Recht des Verkäufers zur zweiten Andienung vor. Hätte nun § 3 Ziff. 3.2 tatsächlich zur Folge haben sollen, dass nicht nur eine ausbleibende, sondern auch eine mangelhafte Lieferung zum Ablauf des 30.04.2020 die gegenseitigen Pflichten der Vertragspartner zum Untergang bringt, wäre der Anwendungsbereich von § 6 Ziff. 6.1 auf mangelhafte Lieferungen beschränkt gewesen, die so zeitig vor dem 30.04.2020 erbracht worden wären, dass auch die Nacherfüllung noch bis zu diesem Stichtag hätte vollzogen werden können. Gleichzeitig wäre aber die Beklagte – außer bei offen zutage tretenden Mängeln i.S.v. Ziff. 6.2 – nicht einmal verpflichtet gewesen, den Mangel derart schnell zu ermitteln und anzuzeigen, dass dem Verkäufer eine Nachbesserung bis zum 30.04.2020 überhaupt noch möglich gewesen wäre. Der praktische Anwendungsbereich von § 6 Ziff. 6.1 wäre damit so gut wie auf Null begrenzt worden.
155Ebenfalls gegen eine solche Auslegung spricht § 7 Ziff. 7.1 S. 2 des OH-Vertrages. Danach sollten die durch eine innerhalb der Vertragslaufzeit erfolgte Lieferung begründeten Rechte und Pflichten der Vertragsparteien auch nach dem Ablauf der Vertragslaufzeit fortbestehen. Dies ergibt hinsichtlich der Pflicht der Beklagten zur Kaufpreiszahlung zwar ohne weiteres Sinn, da diese frühestens eine Woche nach Lieferung und damit oftmals erst nach dem 30.04.2020 fällig werden sollte; die entsprechende Rechtsfolge wird über § 5 Ziff. 5.1 aber bereits unmissverständlich geregelt. Hinsichtlich der Pflicht der Klägerseite hätte eine Auslegung dahingehend, dass nur eine mangelfreie Lieferung eine „innerhalb der Vertragslaufzeit erfolgte Lieferung“ darstellt, dagegen zur Folge, dass die Hauptleistungspflicht der jeweiligen Verkäufer auf Lieferung mangelfreier Ware durch Erfüllung untergegangen wäre. Die Klausel könnte sich damit allenfalls auf vertragliche Nebenpflichten beziehen. Dafür, dass für einen derart kleinen zusätzlichen Anwendungsbereich eigens eine eigene Regelung aufgenommen werden sollte, gibt es keine Anhaltspunkte.
156Im Zusammenspiel mit der Regelung in § 6 Ziff. 6.1 wird vielmehr deutlich, dass die Beklagte bei der Vertragsgestaltung von einer Zweiteilung der Folgen einer Leistungsstörung ausging: Bei Nichtlieferung bis zum 30.04.2020 sollten die vertraglichen Pflichten vollständig entfallen; der Vertrag sollte gewissermaßen nicht mehr existent sein. Bei Schlechterfüllung, konkret bei Lieferung mangelhafter Gegenstände, dies jedoch innerhalb der Frist, sollte dagegen das kaufrechtliche Gewährleistungsrecht zur Geltung kommen. Hiermit deckt sich auch die öffentlich aufrufbare und der Kammer bekannte Antwort der Bundesregierung vom 01.10.2020 auf eine Kleine Anfrage von Bundestagsabgeordneten und der FDP-Fraktion (BT-Drs. 19/23045, S. 6), dort auf Frage 17: „Bei Nichteinhaltung des spätesten Liefertermins im OHV entfielen die gegenseitigen Pflichten der Vertragspartner (Fixgeschäft). Lieferten Anbieter mangelhafte Ware, findet gemäß des Open-House-Vertrages grundsätzlich das allgemeine Gewährleistungsrecht Anwendung.“.
157Die Beklagte kann auch nicht mit dem Einwand gehört werden, dass bei einer derartigen Auslegung derjenige Lieferant, der eine offensichtlich mangelhafte Ware oder sogar ein Aliud liefert, möglicherweise bessergestellt wird als derjenige, der eine mangelfreie Sache verspätet anliefert, weil nur der erste Lieferant eine zweite Chance zur Erfüllung erhalte. Mag diese Rechtsfolge auch unbillig erscheinen und von dem Rechtsgedanken des Leistungsstörungsrechts des BGB abweichen, so ist sie doch auf die gerade von der Beklagten als Klauselverwenderin gewählte Formulierung zurückzuführen. Es hätte ihr bei der Gestaltung des OH-Vertrages freigestanden, auf die Formulierung zum absoluten Fixgeschäft einerseits und den ausdrücklichen Verweis auf das Gewährleistungsrecht andererseits zu verzichten. Stattdessen ist allen Formulierungen der Erklärungswille zu entnehmen, dass bei fristgerechten Lieferungen doch das Gewährleistungsrecht zum Tragen kommen soll. Hieran muss sich die Beklagte, die diese Klausel selbst den Vertragspartnern gestellt hat, festhalten lassen.
158cc)
159§ 3 Ziff. 3.2 des OH-Vertrages ist nicht überraschend im Sinne von § 305c BGB.
160aaa)
161Einer Klausel muss, soll sie durch die negative Einbeziehungskontrolle ausgeschieden werden, neben der objektiven Ungewöhnlichkeit ein subjektives Element, konkret ein „Überrumpelungs- oder Übertölpelungseffekt“ innewohnen. Der Vertragspartner muss auf Grund der erheblichen Diskrepanz zwischen der beachtlichen Kundenerwartung und dem tatsächlichen Regelungsgehalt der Klausel im Zeitpunkt des Vertragsschlusses überrascht werden, weil er mit der durch sie eingeführten Regelung vernünftigerweise nicht habe rechnen müssen (BeckOK-BGB/H. Schmidt, 69. Edition, Stand 01.02.2024, § 305c Rn. 18 m.w.N.).
162bbb)
163Eine Überrumpelung der jeweiligen Vertragspartner des Open-House-Vertrages nach § 305c BGB lässt sich angesichts der eindeutigen, mehrfachen und hinsichtlich der optischen Vertragsgestaltung nicht im Ansatz verborgenen Regelung nicht erkennen.
164Dabei sind auch die Besonderheiten des hier streitgegenständlichen Vertragsschlusses im Open-House-Verfahren zu berücksichtigen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei gerade keine individuellen Vertragsverhandlungen geführt werden. Die potentiellen Vertragspartner werden ausschließlich über die Bekanntmachungen des öffentlichen Auftraggebers über den Inhalt des beabsichtigten Liefervertrages informiert. Alleine aufgrund eines dann abgegebenen Angebots war die Beklagte – die Erfüllung der Teilnahmebedingungen unterstellt – verpflichtet, den Zuschlag zu erteilen. Für individuelle Zusatzverhandlungen mit den einzelnen Lieferanten bestand damit überhaupt keine Möglichkeit. Mangels vergleichbarer Ereignisse vor der Covid19-Pandemie konnten die Lieferanten auch nicht auf Grundlage früherer Lieferverhältnisse von „üblichen“ Bedingungen ausgehen; dem gesamten Ausschreibungs- und Lieferprozess lag vielmehr die Einzigartigkeit der damaligen Ausnahmesituation zugrunde. Jegliche Erwartung der interessierten Lieferanten konnte damit ausschließlich durch die in den Bekanntmachungsunterlagen enthaltenen Beschreibungen geweckt werden. Es wird aber bereits in der Rubrik „Kurze Beschreibung“ zum Umfang der Beschaffung mitgeteilt, dass spätester Liefertermin der 30.04.2020 sei. Die Angabe wird unter „Beschreibung der Beschaffung“ wiederholt. Auch in den Teilnahmebedingungen erfolgt zum Ablauf des Zulassungsverfahrens ein entsprechender unmissverständlicher Hinweis. Sämtliche Lieferanten waren also bereits durch die entsprechenden deutlichen Hinweise in den vorvertraglichen Dokumenten auf den spätesten Liefertermin und auch auf dessen Relevanz hingewiesen worden. Das gesamte Open-House-Verfahren war erkennbar durch einen im Einzelnen vorgegebenen zeitlichen Ablaufplan gekennzeichnet.
165Ebenfalls nicht unberücksichtigt bleiben darf, dass im Vertrag selbst die Information zur besonderen Wichtigkeit der Frist in unmittelbarer Nähe zum spätesten Liefertermin enthalten ist. Bei letzterem handelt es sich um einen essentiellen Bestandteil der Pflichten des Lieferanten, sodass unterstellt werden kann, dass ein Interessent die entsprechende Regelung gerade nicht AGB-typisch überlesen, sondern vielmehr für seine Entscheidung, ob er ein Angebot abgibt, beachten und ggf. sogar aktiv suchen wird.
166Der Fall ist daher auch nicht vergleichbar mit dem Aluminiumkapsel-Fall des BGH (BGH, Urt. v. 17.01.1990, VIII ZR 292/88 = NJW 1990, 2065). Dort ergab sich die Fixabrede aus den rückseitig auf die Auftragsbestätigung aufgedruckten AGB des Käufers, ohne dass der Vertrag oder die ihn begleitenden Umstände überhaupt einen Anhaltspunkt für eine irgendwie geartete zeitliche Begrenzung gegeben hätten. Insbesondere waren die entsprechenden Lieferfristen, denen nur aufgrund der AGB eine abweichende Bedeutung zukommen sollte, gerade nicht in unmittelbarer Nähe zur Klausel festgehalten worden. Anders als in der zuvor beschriebenen Ausnahmesituation der kurzfristigen Notwendigkeit einer Beschaffung von Schutzausrüstung in exorbitanten Mengen im April 2020 konnten die Vertragspartner im Aluminiumkapsel-Fall zudem von einem üblichen und vielfach vergleichbar getätigten Geschäft ausgehen und damit redlicher Weise eine konkrete Erwartung betreffend eine als branchenüblich zu bezeichnende Vertragsabwicklung haben.
167ccc)
168Die Klausel benachteiligt mit ihrem vorstehend ausgeführten konkreten Regelungsgehalt den jeweiligen Lieferanten als Vertragspartner der Beklagten als Verwenderin auch nicht unangemessen und entgegen den Geboten von Treu und Glauben, § 307 Abs. 1 BGB.
169So ist im Rahmen der durchzuführenden Interessenabwägung – auch aus dem damaligen Blickwinkel der sich auftürmenden Pandemie und daraus resultierender besonderer Eilbedürftigkeit bei der Beschaffung – durchaus ein schutzwürdiges Interesse der Beklagten an dieser Rechtsfolge zu erkennen. Die Beklagte versuchte, soviel Schutzausrüstung wie irgendwie möglich in möglichst kurzer Zeit zu erlangen und hat hierfür mit dem Open-House-Verfahren ein Vorgehen gewählt, bei dem sie – abgesehen von der Vorgabe abstrakter Zulassungsvoraussetzungen zum Verfahren im Rahmen der Teilnahmebedingungen – keinerlei Entscheidungsmöglichkeiten mehr hinsichtlich der Wahl ihrer Vertragspartner hatte. Jedem Anbieter, der die abstrakten Teilnahmebedingungen erfüllte, die entsprechenden Vertragsbedingungen akzeptierte und ein Angebot abgab, musste automatisch der Zuschlag erteilt werden. Jegliche Prüfung auf Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit war der Beklagten damit von Beginn an verwehrt. Es liegt auf der Hand, dass damit das Risiko einherging, auch Verträge mit solchen Anbietern abschließen zu müssen, die die versprochene Lieferung dann doch nicht erbringen konnten. Zugleich hatte die Beklagte einen gigantischen Logistikapparat vorzuhalten, um sämtliche Lieferungen, deren Anzahl und Volumina bis drei Tage vor Fristablauf nicht sicher feststanden, abarbeiten zu können. Auch hatte die Beklagte ein Bedürfnis nach schneller Abwicklung der Anlieferungen und Weitergabe an die bedürftigen Stellen. Hierauf gründet sich ein schützenswertes Interesse an einer Regelung, nach der solche Vertragspartner, die es nicht einmal geschafft haben, innerhalb der Vertragslaufzeit überhaupt eine Bereitschaft und/oder Tauglichkeit zur Vertragserfüllung nachzuweisen, automatisch von dem weiteren Verfahren ausgeschlossen werden. Anderenfalls hätte die Beklagte jeden säumigen Vertragspartner mahnen und zur Nacherfüllung auffordern bzw. sicherstellen müssen, auch bei einer verspäteten Lieferung die erforderliche Logistik bereitzuhalten. Selbst bei Annahme eines relativen Fixgeschäfts hätte die Beklagte jedem säumigen Vertragspartner gegenüber den Rücktritt erklären müssen. Auf Seiten der Beklagten lag zudem ein Bedürfnis dafür vor, die Fixgeschäftsabrede durch AGB formelhaft zu regeln. Ihr blieb im Open-House-Verfahren auch gar nichts anderes übrig, da Individualabreden schon nach dem gesamten Ablauf weder vorgesehen noch möglich waren.
170Bei einer Gesamtschau aller Umstände ist zudem festzustellen, dass die Nachteile der Fixabrede durch Vorteile auf Seiten der Verwendungsgegner angemessen kompensiert werden: Einerseits bot das Vorgehen im Open-House-Verfahren die Möglichkeit eines schnellen und reibungslosen Abschlusses großvolumiger Kaufverträge, bei denen der Lieferant selbst über die Menge und Zusammensetzung des Kaufgegenstandes (Stückzahl, Art der Schutzausrüstung – also Schutz-, OP-Maske und/oder Schutzkittel) entscheiden und sichergehen konnte, dass der Vertrag zu diesen Konditionen zustande kommen würde. Eine Überprüfung der Lieferanten auf ihre Zuverlässigkeit oder besondere Erfahrung war dem Vertragsschluss – wie erörtert – nicht vorgeschaltet. Durch die Vereinbarung einer fixen und sehr kurz bemessenen Zahlungsfrist von nur einer Woche ab Lieferung stand den Lieferanten zudem – jedenfalls bei mangelfreier Lieferung – bereits ab Fälligkeit der Zahlung ein Anspruch auf Verzugszinsen zu, sollte die Zahlung nicht fristgemäß erfolgen.
171Trotz der automatisch eintretenden und gravierenden Rechtsfolge der Klausel bei verspäteter Lieferung ist in der Praxis auch keine erhebliche Benachteiligung des Auftragnehmers gegenüber der Situation zu sehen, wie sie bei einem (nur) relativen Fixgeschäft bestanden hätte. Letzteres ist im Gesetz in § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB ausdrücklich geregelt und damit gerade nicht per se als benachteiligend einzuordnen. Es hat zur Folge, dass ein Rücktritt ohne vorherige Fristsetzung zulässig ist, ohne dass es sich dabei um eine vollkommen vom gesetzlichen Leitbild abweichende Vereinbarung handeln würde. Zwar ist die vorherige Nachfristsetzung und das daraus resultierende Recht des Verkäufers zur zweiten Andienung der gesetzliche Regelfall (§§ 434, 437 Nr. 1, 439, 323 BGB). Allerdings sieht das Gesetz seit der Schuldrechtsreform Abweichungen von diesem Grundsatz vor, lässt diese also ausdrücklich zu. Das war unter der früheren Rechtslage (zur Zeit der Aluminiumkapsel-Entscheidung des BGH) gerade nicht der Fall (so auch OLG Bamberg, Urt. v. 05.03.2021, 3 U 68/20, juris, Rn. 107). Rechtsfolge eines absoluten Fixgeschäfts ist nun, dass der Erfüllungsanspruch automatisch untergeht und unter Umständen ein Schadensersatzanspruch an dessen Stelle tritt. Zumindest aber hat der säumige Vertragspartner ab dem Moment des Fristablaufs die Sicherheit, dass er von der Gegenseite nicht mehr auf Erfüllung in Anspruch genommen werden kann. Wäre stattdessen bloß die Entbehrlichkeit einer Fristsetzung nach § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB fingiert worden, hätte es die Beklagte – für sie aus damaliger Sicht möglicherweise sogar günstiger – in der Hand gehabt, bei nicht fristgerechter ordnungsgemäßer Lieferung entweder tatsächlich zurückzutreten oder – bei fortbestehendem Ausrüstungsbedarf und/oder Interesse an der Beibehaltung des vereinbarten Kaufpreises sowie der sonstigen Bedingungen über den 30.04.2020 hinaus – auf einer (zeitnahen) Nacherfüllung zu bestehen. Der Auftragnehmer wäre dadurch zumindest vorübergehend in eine Art Schwebezustand versetzt worden und gezwungen gewesen, die Lieferbemühungen fortzuführen und zu hoffen, dass ihm die Lieferung vor Zugang der Rücktrittserklärung gelingt. Dies verdeutlicht, dass die Rechtsfolge des absoluten Fixgeschäfts nicht zwingend benachteiligender sein muss als die eines – vom Gesetzgeber ausdrücklich geregelten – relativen Fixgeschäfts.
172Die hier streitgegenständliche Vertragsgestaltung unterscheidet sich von der Sachlage, wie sie der Entscheidung des BGH im Aluminiumkapsel-Fall (BGH, Urt. v. 17.01.1990, VIII ZR 292/88 = NJW 1990, 2065) zugrunde lag, auch dadurch, dass die Wirkung der Fixabrede aus den bereits dargestellten Gründen lediglich die Lieferung der angebotenen Ware an sich, nicht aber die Lieferung mangelfreier Ware umfassen sollte. Ein Verkäufer, der die Frist einhalten kann und bei dem sich später herausstellt, dass die Ware nicht ordnungsgemäß war, kann sich damit durchaus auf das Recht der zweiten Andienung berufen und damit seinen Kaufpreisanspruch durch ordnungsgemäße Nachbesserung erhalten. Er behält die Möglichkeit, seinen Zulieferer zur Nachlieferung mangelfreier Masken anzuhalten. Anderenfalls hätte er – zumindest für den Fall, dass er seinerseits seinem Zulieferer eine zweite Lieferchance hätte einräumen müssen – das hohe Risiko getragen, die bestellten Masken letztlich bezahlen zu müssen, ohne sie seinerseits an die Beklagte weiterveräußern zu können.
173Durch diese Reduzierung des Verkäuferrisikos einerseits und die vorbeschriebenen Vorteile andererseits ist – anders als bei „normalen“ Fixabreden – keine unangemessene Benachteiligung gegeben.
174dd)
175Die Regelung in § 3 Ziff. 3. 2 des OH-Vertrages ist damit zwar wirksam, greift im vorliegenden Fall aber nicht ein.
176aaa)
177Eine Schlechtleistung, konkret die Mangelhaftigkeit der Kaufsache, unterfällt aus den vorstehenden Erwägungen unter a) bb) schon nicht dem Anwendungsbereich der Klausel.
178bbb)
179Der in der Rechnung aufgenommene Eigentumsvorbehalt der Klägerin führt für sich betrachtet ebenfalls nicht zur Einschlägigkeit der Klausel.
180Ein solcher Eigentumsvorbehalt war bereits nicht vertragswidrig. In der Ausschreibung und im Vertrag findet sich hierzu keine ausdrückliche Regelung, insbesondere kein Verbot eines Eigentumsvorbehalts. Laut Vertrag hatte die „Lieferung“ bis spätestens zum 30.04.2020 zu erfolgen. Mit der Wortwahl „Lieferung“ ist jedoch vom Wortlaut her eine bloße Besitzverschaffung gemeint, also eine Übergabe. Der Duden gibt hierzu als Synonyme an: „Abgabe, Anlieferung, Ausgabe, Aushändigung“. Ein Eigentumsübergang wird damit weder impliziert noch vorausgesetzt. Der Vertrag greift auch den Wortlaut des § 433 Abs. 1 BGB (Übergabe und Eigentumsverschaffung) nicht auf, sodass nichts für eine Vertragswidrigkeit des Vorbehalts spricht. Zudem liegt die Vereinbarung eines Eigentumsvorbehalts immer nahe, wenn der Verkäufer die Kaufsache übergibt, bevor der Käufer sie bezahlt (BeckOK-BGB/Faust, § 449 Rn. 11) und ist dies für die Beklagte auch günstiger, als wenn eine reine Übergabe ohne Eigentumsübertragung unter Vorbehalt erfolgen würde, weil sie bereits mit Lieferung aufschiebend bedingt Eigentum erwirbt.
181Jedenfalls könnte die Beklagte ihren Rücktritt nicht auf den in der Rechnung erwähnten Eigentumsvorbehalt stützen, da ihr ein solches Vorgehen gemäß § 242 BGB verwehrt wäre. Hier ist der Rechtsgedanke des § 162 Abs. 1 BGB (treuwidrige Verhinderung des Bedingungseintritts) zu berücksichtigen. Die Beklagte hat sich vertraglich zu einer Zahlung binnen einer Woche ab Lieferung und Rechnungsstellung verpflichtet (vgl. § 5 des OH-Vertrags) und sich die Rückforderung des gezahlten Betrags vorbehalten. Hätte sie den Kaufpreis zunächst, wie vertraglich geschuldet, an die Klägerin gezahlt, hätte sie den Bedingungseintritt für den Eigentumsübergang längst herbeigeführt.
182b)
183Eine Entbehrlichkeit der Nachfristsetzung folgt auch nicht aus § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB.
184aa)
185Die Vorschrift ist einschlägig, wenn der Schuldner die Leistung bis zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer im Vertrag bestimmten Frist nicht bewirkt, obwohl die termin- oder fristgerechte Leistung nach einer Mitteilung des Gläubigers an den Schuldner vor Vertragsschluss oder auf Grund anderer den Vertragsabschluss begleitenden Umstände für den Gläubiger wesentlich ist. Erforderlich sind eine vertragliche Frist- oder Terminvereinbarung und dass die termin- oder fristgerechte Leistung (1. Alt.) nach einer Mitteilung des Gläubigers an den Schuldner vor Vertragsschluss oder (2. Alt.) auf Grund anderer den Vertragsschluss begleitenden Umstände für den Gläubiger wesentlich ist, also, dass das Geschäft mit der Einhaltung oder Nichteinhaltung der Lieferzeit stehen oder fallen soll (vgl. MüKo-BGB/Ernst, § 323 Rn. 121).
186bb)
187Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
188Eine vertragliche Terminvereinbarung ist mit dem 30.04.2020 zwar unstreitig getroffen worden. Es fehlt allerdings an der zweiten Voraussetzung, wonach die termin- oder fristgerechte Leistung entweder nach einer Mitteilung des Gläubigers an den Schuldner vor Vertragsschluss oder auf Grund anderer den Vertragsschluss begleitenden Umstände – und damit für den Schuldner erkennbar – für den Gläubiger wesentlich gewesen sein muss.
189So ist bereits dargestellt worden, dass die hierfür in Frage kommende entsprechende Regelung in § 3 Ziff. 3.2 des OH-Vertrages nebst den entsprechenden Hinweisen während der Ausschreibung die Rechtsfolgen eines absoluten Fixgeschäfts bei Nichteinhaltung des 30.04.2020 anordnet, allerdings nur im Zusammenhang mit einer Nichtleistung. Dass sie auch bei einer Schlechtleistung gelten soll, ist ihr bereits nicht eindeutig zu entnehmen; aufgrund der weiteren Regelungen in § 6 Ziff. 6.1 und § 7 Ziff. 7.1 sowie der Begleitumstände musste der Vertragspartner aus den erwähnten Gründen vielmehr davon ausgehen, dass dann das allgemeine Gewährleistungsrecht einschließlich des Rechts zur zweiten Andienung gelten sollte.
190§ 3 Ziff. 3.2 sowie die weiteren Hinweise auf den spätesten Liefertermin im Zusammenhang mit der Ausschreibung und dem Vertragsschluss müssen demnach auch bei der Prüfung von § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB so verstanden werden. Es würde einen unvereinbaren Widerspruch darstellen, wenn die Regelung einerseits nur die Nichtleistung betreffen und damit eine Zweiteilung der Rechtsfolgen bei nicht vertragsgemäßer Lieferung zwischen Nicht- und Schlechtleistung bewirken, aber andererseits für den Schuldner erkennbar machen soll, dass für den Gläubiger die Fristeinhaltung derart wichtig ist, dass der Vertrag auch bei fristgerechter, aber mangelhafter Leistung fallen soll.
191c)
192Auch aus § 440 BGB bzw. § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB folgt nichts Anderes.
193aa)
194Gemäß § 440 Satz 1 Var. 3 BGB ist ein Rücktritt auch ohne Nachfristsetzung möglich, wenn dem Käufer die ihm zustehende Art der Nacherfüllung unzumutbar ist. Dies ist – anders als im Rahmen von § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB – allein aus der Perspektive des Käufers zu bestimmen. Dabei kann sich die Unzumutbarkeit der Nacherfüllung aus der Person des Verkäufers, aus der Art des Mangels oder aus den mit der Nacherfüllung verbundenen Begleitumständen ergeben. Die bloße Tatsache, dass die Nacherfüllung Zeit benötigt, während der der Käufer die Sache nicht nutzen kann, führt jedoch nicht zur Unzumutbarkeit. Denn aus dem Erfordernis der Nachfrist folgt gerade, dass der Käufer diese Zeit prinzipiell in Kauf nehmen muss (vgl. hierzu BeckOK-BGB/Faust, § 440 Rn. 39 ff.). Derartige Umstände hat die Beklagte nicht dargelegt.
195aaa)
196Dies gilt zunächst für die beklagtenseits behauptete Fälschung der von der Klägerin vorgelegten Zertifikate. Ungeachtet der Verspätung dieses erst mit Schriftsatz vom 20.02.2024 erstmals vorgebrachten und von der Klägerin bestrittenen Vortrags sieht die Kammer schon keinen Anhaltspunkt für diese Behauptung der Beklagten. Denn selbst wenn die Zertifikate tatsächlich gefälscht wären, würde dies nicht zum Nachweis einer Täuschung der Beklagten durch die Klägerin genügen. In diesem Fall spricht nichts gegen den Vortrag der Klägerin, dass sie ebenfalls einem wohl täuschungsbedingten Irrtum über die grundsätzliche Qualität der von dem von ihr ausgewählten Hersteller hergestellten Masken und über die Echtheit der Zertifikate unterlegen wäre. Das würde indes keinen fristlosen Rücktritt nach § 440 BGB rechtfertigen. Insbesondere ist ein einmaliger Irrtum der Klägerin kein Anlass für die Beklagte, generell an der Zuverlässigkeit der Klägerin zu zweifeln, zumal die Klägerin ihre Lieferkette im Rahmen der strikten Vorgaben des OH-Vertrages innerhalb kürzester Zeit etablieren musste.
197bbb)
198Selbst wenn der im M-Bericht vom 12.02.2021 und auf Bl. 14 des Sachverständigengutachtens (zur Frage der Identität noch sogleich) gut erkennbar auf den Maskenumverpackungen der zu den ersten beiden Verträgen gelieferten Masken aufgebrachte CE-Aufdruck (ohne die Nummer einer benannten Stelle) gegen regulatorische Vorgaben zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs verstoßen haben sollte, würde dies jedenfalls keinen fristlosen Rücktritt begründen. Die Ausführungen unter aaa) würden dann entsprechend gelten.
199ccc)
200Soweit die Beklagte im Übrigen zu § 440 BGB ausführt, deckt sich die Argumentation in weiten Teilen mit der Begründung, die für die Annahme eines relativen Fixgeschäfts angeführt werden. Insbesondere vermögen weder die vorgebrachten Gesundheitsgefahren noch die Störung des Betriebsablaufs durch Nachlieferungen und auch nicht die „Gesamtschau der Umstände“ eine Unzumutbarkeit der Nachfristsetzung zu begründen. Denn jedenfalls eine kurze Fristsetzung wäre der Beklagten auch unter den besonderen Umständen der pandemiebedingten Beschaffung großer Mengen an Schutzausrüstung zumutbar gewesen. Dass sie nicht über die zur Abwicklung von Nachlieferungen erforderlichen logistischen Kapazitäten verfügt hätte, wird bereits dadurch widerlegt, dass sie bis dato noch Masken einlagert, die Gegenstand von vor der Kammer geführten Verfahren sind. Auch der mit einer Nachlieferung verbundene Aufwand kann kein anderes Ergebnis begründen. Denn die Beklagte hat sämtliche angelieferten Masken binnen kurzer Zeit einer stichprobenartigen Überprüfung durch den TÜV bzw. M unterzogen. Dass TÜV und M nicht auch noch für etwaige – nach kurzer Nachfristsetzung – gelieferte Masken hätten beauftragt werden können, erschließt sich nicht, zumal gerade im vorliegenden Verfahren seitens der Beklagten unstreitig noch Nachtestungen durch M veranlasst wurden.
201bb)
202Die vorherige Fristsetzung zur Nacherfüllung war auch nicht gemäß § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB entbehrlich. Aus den bereits dargelegten Gründen fehlt es an „besonderen Umständen“, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt rechtfertigen. Vielmehr gebietet die Abwägung der Interessen jedenfalls die Setzung einer kurzen Nachfrist zur Nachlieferung.
2032.
204Auch § 376 HGB führt nicht zu einem Erlöschen des Anspruchs auf die Primärleistung.
205Diese Vorschrift ist für das vorliegende Vertragsverhältnis zwar grundsätzlich einschlägig, da sie lediglich ein einseitiges Handelsgeschäft voraussetzt und die Klägerin – ein Formkaufmann – den Vertrag im Rahmen ihres Geschäfts geschlossen hat.
206Inhaltlich ist § 376 HGB allerdings darauf ausgerichtet, ein relatives Fixgeschäft abweichend zu § 323 Abs. 2 Nr. 2 BGB zu regeln (vgl. BeckOK-HGB/Schwartze, 41. Edition, Stand 01.01.2024, § 376 Rn. 1; MüKo-HGB/Grunewald, 5. Aufl. 2021, § 376 Rn. 6). Ein solches liegt aus den obenstehenden Gründen jedoch gar nicht vor. Vielmehr ist den Klauseln in § 6 Ziff. 6.1 und § 7 Ziff. 7.1 S. 2 unmissverständlich zu entnehmen, dass für den Fall der rechtzeitigen, aber mangelhaften Lieferung das Vertragsverhältnis gerade unverändert fortbestehen und über Gewährleistungsansprüche abgewickelt werden sollte. Für die in § 376 HGB vorgesehenen Rechtsfolgen, die gerade nach dem Ablauf der Frist, hier also des 30.04.2020, greifen würden, insbesondere die Beschränkung auf Rücktritt und Schadenersatz, ist damit kein Raum.
207III.
208Der Zahlungsanspruch der Klägerin ist auch fällig. Insbesondere ist die Klägerin nicht im Hinblick auf einen etwaigen Nacherfüllungsanspruch der Beklagten zur Vorleistung verpflichtet. Denn eine Vorleistungspflicht sah der Vertrag in § 5 Ziffer 5.1 nur für den primären Anspruch auf „Lieferung“ vor. Diesen hat die Klägerin mit Lieferung der Masken erfüllt. Dass diese Vorleistungspflicht darüber hinaus auch auf etwaige Sekundäransprüche, insbesondere den an die Stelle des Erfüllungsanspruchs tretenden Nachlieferungsanspruch, durchschlagen sollte, lässt sich dem Vertrag nicht entnehmen. Vielmehr verweist § 6 Ziffer 6.1 für die Behandlung von Sach- und Rechtsmängelansprüchen auf die „gesetzlichen Vorschriften“, sofern nichts Anderes bestimmt ist. Die gesetzlichen Regelungen kennen aber keine Vorleistungspflicht des nacherfüllungspflichtigen Verkäufers.
209IV.
210Eine Verurteilung der Beklagten erfolgt allerdings nur Zug-um-Zug, § 322 BGB. Der Beklagten steht ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 320 Abs. 1 BGB zu, welches sie gegen den Zahlungsanspruch einwenden kann.
2111.
212Die von der Beklagten aufgestellte Bedingung für die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts ist gegeben. Die Beklagte wäre nämlich ansonsten – unabhängig von der Frage der Mangelhaftigkeit der ausgelieferten Masken – uneingeschränkt zur Kaufpreiszahlung zu verurteilen, weil der Rücktritt bereits mangels Nachfristsetzung unwirksam ist.
2132.
214Die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts nach § 320 Abs. 1 BGB unter Berufung auf einen Anspruch auf Nacherfüllung ist grundsätzlich möglich. Geforderte und zurückbehaltene Leistung müssen im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen; bei allen nicht synallagmatisch verknüpften Pflichten kommt allein § 273 BGB in Betracht. Am Gegenseitigkeitsverhältnis nehmen aber auch jene Sekundäransprüche teil, die an die Stelle synallagmatischer Primärpflichten treten, so auch Nacherfüllungsansprüche aus § 439 BGB (vgl. BeckOK-BGB/H. Schmidt, § 320 Rn. 12 m.w.N.).
2153.
216Die Beklagte ist hinsichtlich der von ihr zurückgehaltenen Leistung – dem Kaufpreisanspruch – auch nicht vorleistungspflichtig, was zum Ausschluss der Einrede des nicht erfüllten Vertrages führen würde. Denn auf diese kann sich nur der nicht vorleistungspflichtige Schuldner berufen, § 320 Abs. 1 BGB.
217Der Vertrag sieht in §§ 3 und 5 lediglich eine Vorleistungspflicht des Verkäufers bezüglich seiner primären Vertragspflicht vor: Er hat die vertraglich vereinbarte Menge an Schutzausrüstung zunächst zu liefern; erst an diese Lieferung knüpft der Vertrag die Fälligkeit der Zahlungspflicht der Beklagten, die erst sieben Tage nach Lieferung und Rechnungstellung zu erfüllen ist. Damit statuiert der Vertrag eine sogenannte beständige Vorleistungspflicht des Lieferanten.
218Indes kann den Regelungen der §§ 3 und 5 des Vertrages, insbesondere nicht den Ziffern 5.1 und 5.2 eine weitere – gestaffelte – Vorleistungspflicht der Beklagten nach Erfüllung der primären Leistungspflicht durch den Lieferanten entnommen werden (a.A. LG Bonn, 20. Zivilkammer, Urt. v. 12.07.2023, 20 O 49/22, juris, Rn. 101). Insbesondere ergibt sich aus der Regelung zur Fälligkeit des Kaufpreises in § 5 Ziffer 5.1 des Vertrages nicht, dass die Beklagte unabhängig von einer etwaigen Mangelhaftigkeit zur Kaufpreiszahlung verpflichtet wäre. Das würde gleichzeitig bedeuten, dass sie Mängelansprüche erst dann geltend machen könnte, nachdem sie den Kaufpreis bezahlt hätte. Letztlich wäre sie dann auch zur Bezahlung offensichtlich mangelhafter Masken verpflichtet, ohne dass sie den dann auch offensichtlich bestehenden Nacherfüllungsanspruch einredeweise geltend machen könnte. Ein derartiges Verhältnis von Nacherfüllungs- und Zahlungsanspruch kann auch nicht dem Wortlaut oder Sinn und Zweck des § 5 Ziffer 5.2 entnommen werden. Darin ist zwar bestimmt, dass die Zahlung des Kaufpreises unter Vorbehalt einer Rückforderung wegen „nicht oder mangelhaft erbrachter Leistung“ steht. Dies steht aber in erkennbarem Zusammenhang mit der Absicht, mögliche Einwände gegen einen Rückforderungsanspruch nach § 814 BGB auszuschließen. Dies steht auch nicht im Widerspruch zu der Auffassung des Oberlandesgerichts Köln in dessen Beschluss vom 24.05.2022 (Az. 15 U 116/21), wonach „§ 5.1 des Kaufvertrags dahin auszulegen [ist], dass die Fälligkeit der Vergütung nur von der Lieferung als solcher, nicht aber von der Lieferung mangelfreier Ware abhängig ist“. Denn damit bezieht sich das Oberlandesgericht nur auf die Fälligkeit der Vergütung, nicht jedoch auf die davon zu unterscheidende Durchsetzbarkeit des Anspruchs.
2194.
220Der einredeweise geltend gemachte Anspruch auf Nachlieferung mangelfreier Masken hat seine Grundlage in den §§ 437 Nr. 1, 439 BGB.
221a)
222Ausreichend für ein Zurückbehaltungsrecht ist, dass der Beklagten überhaupt ein Anspruch auf Nacherfüllung gemäß § 439 BGB zusteht, und sie deutlich macht, dass sie im Hinblick auf diesen die Kaufpreiszahlung zurückhält. Wie die Klägerin einem etwaigen Anspruch nachkommt, insbesondere welchen nach der Leistungsbeschreibung zulässigen Standard nach welcher Norm die neuen Masken aufweisen, unterliegt zunächst einmal ihrer Entscheidung. Bis zur Nachlieferung ist die Beklagte gemäß § 320 BGB berechtigt, die Zahlung des noch offenen Teils des Kaufpreises ohne nähere Konkretisierung alleine unter Hinweis auf den ihr vermeintlich zustehenden Nacherfüllungsanspruch zu verweigern.
223b)
224Aufgrund des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die von der Klägerin gelieferten Masken im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB mangelhaft sind, da der nicht auszuräumende Verdacht einer Mangelhaftigkeit besteht.
225aa)
226Bereits der auf konkreten Tatsachen beruhende, nicht auszuräumende Verdacht eines Mangels kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Sachmangel im Sinne des § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB a.F. anzusehen sein. Dies hat der Bundesgerichtshof für den Kauf von Lebensmitteln, die zur Weiterveräußerung bestimmt sind, angenommen (etwa zum Verdacht auf Dioxinbelastung von Tierfutter ausführlich: BGH, Urt. v. 22.10.2014, VIII ZR 195/13, juris, Rn. 42 ff.). Maßgeblich ist, dass sich der Verdacht eines Mangels – in der zitierten Entscheidung der Verdacht der toxischen Belastung von Tierfutter – durch dem Käufer zumutbare Maßnahmen nicht beseitigen lässt und daher die nach dem Vertrag vorausgesetzte Verkäuflichkeit der Ware entfallen ist. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang klargestellt, dass auch ein Verdacht, der erst nach Gefahrübergang entsteht, einen Sachmangel im Sinne von § 434 BGB darstellt, wenn er auf Tatsachen beruht, die vor Gefahrübergang gegeben waren, jedoch nicht erkannt worden sind (BGH, a.a.O., Rn. 44).
227Diese Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall übertragbar. Denn einerseits sind die hier im Streit stehenden Kaufsachen – Schutzmasken zum Schutz vor Covid 19 – von besonderer Bedeutung für die Gesundheit des Endverbrauchers, zu deren Schutz sie gerade bestimmt sind. Andererseits sind etwaige Mängel des Produktes, die etwa die Filterleistung betreffen, für den Anwender nicht erkennbar. Liegen unter diesen Umständen nun Tatsachen vor, die den Verdacht begründen, dass sich die gekauften Masken nicht zu der vertraglich vorausgesetzten Verwendung eignen bzw. nicht den Anforderungen des Vertrages entsprechen, so begründet dies einen Mangel der gesamten Lieferung. Denn dem Käufer ist es nicht zumutbar, die Gesamtmenge auf Mängel zu prüfen, um etwaige mangelfreie Exemplare von mangelhaften zu separieren. Dies ist schon deshalb nicht möglich, da die Mangelhaftigkeit der Masken hinsichtlich ihrer Filterleistung – wie bereits erörtert – äußerlich nicht erkennbar ist und etwaige Tests – selbst wenn die Maske sie bestehen sollte – zu deren Unbrauchbarkeit führen. Vor diesem Hintergrund machen Zweifel an der Wirksamkeit der Masken diese im Endeffekt unverkäuflich. Dies stellt bei einem auf Weitergabe der Masken an Dritte gerichteten Vertrag einen Mangel dar.
228Dies vorausgeschickt, ist der Beklagten der ihr obliegende Beweis gelungen, dass im vorliegenden Fall Tatsachen vorliegen, die einen Mangelverdacht aufgrund von bereits im Gefahrübergang vorliegenden Tatsachen hinsichtlich der gelieferten Gesamtmenge begründen.
229bb)
230Die Kammer ist davon überzeugt, dass die im Rahmen der M-Berichte vom 07.05.2020, 19.06.2020, 04.09.2020 sowie vom 12.02.2021 und schließlich die von dem Sachverständigen Dr. Q geprüften Schutzmasken tatsächlich der Lieferungen der Klägerin zu den ersten beiden Verträgen (Avis-Nummern D00001E-F) entstammen.
231Ausweislich der Ausführungen im Sachverständigengutachten hatte der Sachverständige die Möglichkeit, aus Paletten auszuwählen, auf denen sich Kartons befanden, von denen einer augenscheinlich noch eine zur klägerischen Lieferung gehörende Lieferdokumentation angeheftet trug (vgl. Bl. 7 der Anl. B4 = Bl. 1110 d.A. einerseits und Bl. 8 des Gutachtens andererseits). Die Masken waren in Plastikbeuteln zu je 10 Stück mit Beipackzettel abgepackt. Ausweislich der Beschriftung dieser Plastikbeutel sind es Masken des Herstellers I. Diese sind mit Lageranweisungen, Herstell- und Ablaufdatum sowie „LOT 001“ beschriftet und tragen ein CE-Zeichen sowie einen Hinweis auf die EN 149 (Bl. 14-16 des Gutachtens). Der Hersteller und die LOT-Nummer sind also mit den Angaben der Klägerin zu den von ihr gelieferten Masken identisch. Auf den Lichtbildern in den M-Berichten – insbesondere auch in dem seitens der Klägerin beauftragten M-Bericht vom 19.06.2020 – sind augenscheinlich gleiche Folienverpackungen und Einzelmasken abgebildet. Dass das alles bei einer Verwechslung der Masken – wie sie die Klägerin behauptet – Zufall sein soll, ist auszuschließen.
232Die Klägerin hat nicht schlüssig dargelegt, weshalb vor diesem Hintergrund Zweifel daran bestehen, dass die dem Sachverständigen zu den Avisnummern D00001E-F präsentierten Masken nicht diejenigen sind, die die Klägerin geliefert hatte. Dass sich an den Kartons Zettel mit Bezeichnungen von Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) befanden (Bl. 9 des Gutachtens), an die die Masken versandt werden sollten, begründet kein anderes Ergebnis. Eine Verwechslung der Masken impliziert das nicht, zumal nichts dafür ersichtlich ist, dass diese tatsächlich bereits an die jeweiligen KVen versandt wurden. Soweit die Avisnummer D00001 in E-F untergliedert und dann wieder zu D00001E vereinigt wurde, ist darauf hinzuweisen, dass nur die Klägerin zu Avisnummer D00001 geliefert hat. Eine Vermischung mit anderen Lieferungen ist daher schon deshalb nicht anzunehmen.
233cc)
234Der entsprechenden Prüfung ist zugrunde zu legen, dass sich alle Masken der Lieferung zu Avis-Nummern D00001E-F an den Vorgaben der GB2626 für den Standard KN95 und zusätzlich an den Vorgaben der EN149 für den Standard FFP2 messen lassen müssen. Dies stellt eine geschuldete Eigenschaft der Kaufsache dar.
235Die Leistungsbeschreibung in den Open-House-Vergabeunterlagen ist so zu verstehen, dass der Verkäufer Masken liefern muss, die zumindest einem der dort genannten Standards (also beispielsweise FFP2 nach EN149 oder KN95 nach GB2626) entsprechen. Die Ausschreibung hat es dem Verkäufer überlassen, welche Art von Maske er liefern möchte, solange sie einen der genannten Standards nach den zitierten oder gleichwertigen Normen erfüllt.
236Wenn sich dann aber der Verkäufer dazu entschließt, eine Maske mit Bezugnahme auf eine bestimmte Norm zu liefern, so muss er dafür geradestehen, dass gerade dieser Standard eingehalten wird. Weist die Maske – wie hier – Bezeichnungen nach mehreren Normen auf, müssen diese Standards demnach auch kumulativ eingehalten werden. Dies gilt bereits, wenn sich die Bezeichnung – wie hier in Form des CE-Zeichens und der Nennung der EN149 – nur auf den Folienverpackungen befindet, da davon ausgegangen werden kann, dass die Masken zumindest in diesen Gebinden in den Verkehr gebracht werden.
237Dies kann zwar nicht aus § 434 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 b) BGB [bzw. § 434 Abs. 1 S. 3 BGB a.F.] geschlossen werden, weil der Aufdruck auf der Folienverpackung die Kaufentscheidung nicht rückwirkend beeinflussen konnte und damit die Ausnahme nach S. 3 eingreift. Es handelt sich aber um eine objektive Anforderung im Sinne einer Beschaffenheit, die bei Sachen derselben Art üblich ist und die der Käufer erwarten kann. Mit der Lieferung eines Produkts, welches den entsprechenden Aufdruck enthält, hat der Verkäufer für einen objektiven Dritten an der Stelle des Warenempfängers nicht den Eindruck erweckt, dass die Masken (nur) irgendeinen der vertraglich zulässigen Standards einhalten, sondern vielmehr, dass sie (zumindest auch) den genannten Standard erfüllen. Es war für den jeweiligen Verkäufer auch erkennbar, dass die Masken in den allgemeinen Verkehr, konkret in verschiedene Einrichtungen des Gesundheitswesens und anderer Bereiche gelangen sollten. Ein Verwender, der über die näheren Hintergründe der ursprünglichen Beschaffung des Produkts nicht informiert wäre, würde aber anhand des Aufdrucks mit Recht darauf vertrauen, dass die Vorgaben des aufgedruckten Standards nach der konkret benannten Norm auch eingehalten werden. Wenn die Masken einmal in den Verkehr gebracht sind, weiß niemand mehr, was ursprünglich Vertragsinhalt des Open-House-Vertrages war. Stattdessen geht jeder davon aus, dass der Aufdruck auf den Masken und/oder auf den Kartons maßgeblich ist. Nach allgemeiner Lebenserfahrung kann auch davon ausgegangen werden, dass das Vertrauen in eine Maske nach der europäischen Norm EN149 höher ist als in eine nach chinesischen Maßstäben. Dementsprechend kann nicht davon ausgegangen werden, es werde den betroffenen Verkehrskreisen, die später in den Besitz der Maske gelangen, gleichgültig sein, welchem Standard sie genügt, solange nur irgendeine der genannten Normen aus der – den Endnutzern nicht bekannten – Leistungsbeschreibung eingehalten wird. Die Beklagte als Käuferin wäre folglich daran gehindert, die Masken so wie verpackt weiterzureichen.
238Dies bedeutet hier, dass sich die Masken an den Vorgaben der EN149 für den Standard FFP2 und auch an den Vorgaben der GB2626 für den Standard KN95 messen lassen müssen.
239dd)
240Aufgrund des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass konkrete Tatsachen vorliegen, die den Verdacht begründen, dass die von der Klägerin gelieferten Masken jedenfalls die vertraglich vereinbarten Grenzwerte zum Filterdurchlass nach der Norm EN 149 nicht einhalten.
241Dies steht aufgrund der in sich schlüssigen, widerspruchsfreien und in der Sache überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen in seinem schriftlichen Gutachten sowie in der Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 28.02.2024 fest, denen die Kammer uneingeschränkt folgt. Die Kammer ist insbesondere davon überzeugt, dass der Sachverständige die Versuche den einschlägigen Vorgaben gemäß durchgeführt hat und die erhaltenen Ergebnisse valide sind. Der Sachverständige verfügt nach Überzeugung der Kammer über die erforderliche Sachkunde und hat ein geeignetes Prüflabor ausgewählt. Soweit die Klägerin mit ihrem Schriftsatz vom 24.07.2023 (konkretisiert in den dortigen Ergänzungsfragen 10-11) Auskunft dazu verlangt, ob einzelne in den einschlägigen Prüfnormen vorgegebenen Prüfbedingungen vom Prüflabor im Einzelnen eingehalten worden seien, die in den dem Gutachten beigefügten Prüfberichten nicht explizit aufgeführt sind, geschieht dies ins Blaue hinein. Berichtspflichten bestehen insoweit, wie der Sachverständige ausgeführt hat, nicht (vgl. Bl. 12-14 des Sitzungsprotokolls vom 28.02.2024). Es ist kein Anhalt dafür ersichtlich, dass es insoweit zu Fehlern gekommen wäre, wie auch der Sachverständige in seiner Anhörung ausgeführt hat. Bei dem ausdrücklich für eine Prüfung nach EN 149 herangezogenen Prüflabor handelt es sich um ein nach ISO/IEC 17025 von der portugiesischen Akkreditierungsstelle zertifiziertes Prüflabor, wie den als Anlage dem Gutachten beigelegten Prüfberichten entnommen werden kann (vgl. jeweils auf jeder Seite das Symbol oben rechts und den Hinweis am Ende der Seite in der deutschen Fassung: „Die Ergebnisse in diesem Prüfbericht werden gemäß der mit Ihnen schriftlich gemäß Auftragsbestätigung getroffenen Vereinbarung in vereinfachter Weise gemäß ISO/IEC 17025:2017 dargestellt.“). Wie der Sachverständige in seinem Schreiben vom 17.06.2022 (Bl. 1985 d.A.) und in seiner Anhörung (Bl. 16 des Sitzungsprotokolls vom 28.02.2024) ausgeführt hat, können Prüflabore ein Qualitätsmanagement betreiben oder – insoweit höherwertig – nach DIN 17025 zertifiziert oder akkreditiert sein. Dass die konkrete Situation hinsichtlich des ausgewählten Prüflabors dem Sachverständigen in seiner mündlichen Anhörung ad hoc nicht mehr erinnerlich war, ändert an der aktenkundigen objektiven Geeignetheit des Prüflabors nicht. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass er das Prüflabor in der Weise ausgewählt habe, dass er bei verschiedenen, mit dem Verfahrensstoff bisher nicht befassten Laboren eine Prüfung nach EN 149 angefragt, und nach Kostengesichtspunkten ausgewählt habe. Er habe sich konkret für ein international tätiges Labor mit einer gewissen Reputation entschieden (vgl. Bl. 15-16 des Sitzungsprotokolls vom 28.02.2024). Das genügt mangels entgegenstehender Anhaltspunkte den an den Sachverständigen zu stellenden Überwachungsanforderungen. Entgegen der Auffassung der Klägerin durfte der Sachverständige auch die Untersuchungen nach EN 149 an dieses Prüflabor auslagern, ohne die Versuchsdurchführung persönlich zu überwachen. Insoweit hat der Sachverständige in seiner Anhörung ausgeführt, dass eine persönliche Überprüfung und Begleitung von Prüflaboren durch Sachverständige nach seiner Erfahrung nicht üblich sei und Prüflabore oft auch von Nichtmitarbeitern während der Prüfung nicht betreten werden dürften (Bl. 17-18 des Sitzungsprotokolls vom 28.02.2024). Sein Vorgehen bewegt sich damit im Rahmen des Beschlusses der Kammer vom 03.06.2022, mit dem die Kammer zur dortigen Ziff. 5 ausgeführt hat, dass die Akkreditierung eines Prüflabors, dessen sich der Sachverständige bediene, nicht erforderlich sei, soweit es aus seiner Sicht über die erforderliche Fachkunde verfüge und nicht aus anderen Gründen ungeeignet sei.
242Schließlich hat der Sachverständige auch nicht die Auswertung und Gesamtbeurteilung dem Labor überlassen. Zur Einordnung der vom Labor ermittelten Versuchsergebnisse hat er in seiner Anhörung Ausführungen gemacht.
243Der Sachverständige hat bei der Prüfung nach EN149 festgestellt, dass der Filterdurchlassgrad bei allen der getesteten neun Prüflinge bei der Verwendung von Natriumchlorid deutlich über 6 %, nämlich von 20,24 % bis 54,75 % und bei durchschnittlich 34,18 % lag. Ferner hat der Sachverständige auch bei Testung an neun weiteren Masken nach EN 149 mit Paraffinöl Werte in dieser Größenordnung erzielt, nämlich von 17,19 % bis 59,66 % (Durchschnittswert: 46,46 %). Damit waren die Vorgaben nach EN149 in allen Fällen deutlich verfehlt.
244Die Ergebnisse legen auch den Verdacht nahe, dass die gesamte Lieferung unter diesem Mangel leidet. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich tatsächlich um eine uneinheitliche Gesamtmenge an Prüflingen handelt.
245Es bedarf auch keiner Auseinandersetzung mit der Frage, ob die an achtzehn Exemplaren gefundenen Ergebnisse statistisch betrachtet eine hinreichende Grundlage darstellen, um mit Sicherheit auf den Zustand der Gesamtmenge (300.000) schließen zu können. Denn der Beklagten oblag im vorliegenden Verfahren nicht der Beweis dafür, dass sämtliche gelieferte Masken mangelhaft sind. Wie bereits dargestellt, ist ausreichend, dass der nicht ausräumbare Verdacht besteht, dass auch die weiteren, von dem Sachverständigen nicht geprüften Masken unter diesem Mangel leiden. Dieser Verdacht besteht hier, da sich schon bei der Prüfung einer relativ kleinen Menge einer Gesamtmenge, für deren Inhomogenität dem Sachverständigen keine Anhaltspunkte auffielen (vgl. Bl. 10-11 des Sitzungsprotokolls vom 28.02.2024), eine erhebliche Überschreitung der zulässigen Filterdurchlasswerte ergeben hat.
246Dieser Mangelverdacht lässt sich nicht durch zumutbare Maßnahmen beseitigen. Denn es ist der Beklagten weder möglich noch zumutbar, sämtliche Einzelstücke der gelieferten Gesamtmenge auf ihren Filterdurchlass hin zu überprüfen. Ferner ist es auch nicht möglich, den Mangelverdacht auf bestimmte, abgrenzbare Teilmengen der gelieferten Gesamtmenge zu beschränken, da die Umverpackungen alle ein augenscheinlich einheitliches Bild bieten und somit jede Maske einzeln begutachtet werden müsste. Hinzukommt, dass die Masken, wie die Klägerin wusste, zum Einsatz in einem besonders sensiblen Bereich, nämlich dem Gesundheitsschutz, bestimmt waren. Auch vor diesem Hintergrund berechtigt bereits der bloße, sachverständig bestätigte Verdacht zur Annahme eines Mangels der Gesamtlieferung.
247ee)
248Die Kammer ist aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme zudem davon überzeugt, dass die von der Klägerin gelieferten Masken auch zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs mangelhaft im Sinne des § 434 BGB in der bis zum 31.12.2021 geltenden Fassung waren, da die den Mangelverdacht begründenden Tatsachen bereits zu diesem Zeitpunkt vorlagen. Das Ergebnis der gutachterlichen Prüfung lässt hinreichend valide Rückschlüsse auf den in § 434 Abs. 1 BGB vorgesehenen Zeitpunkt zu.
249(1)
250Nach § 434 Abs. 1 BGB kommt es für die Frage der Mangelhaftigkeit auf den Zeitpunkt des Gefahrübergangs an. Der Verkäufer trägt also das Risiko einer Verschlechterung der Kaufsache zwischen Vertragsschluss und Gefahrübergang und kann bei Vertragsschluss vorhandene Mängel noch bis zum Gefahrübergang beseitigen. Mängel, die nach Gefahrübergang eintreten, liegen dagegen nicht im Anwendungsbereich des Gewährleistungsrechts. Entscheidend ist, dass der Mangel bei Gefahrübergang vorliegt, unabhängig davon, ob er schon zu diesem Zeitpunkt erkennbar ist (BeckOK-BGB/Faust, § 434 Rn. 23, 26).
251(2)
252Es ist jedenfalls nachgewiesen, dass die Masken zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs nicht die ausreichende Qualität aufwiesen, um zumindest bis zum Ende der vereinbarten Mindesthaltbarkeit die vorgeschriebenen Grenzwerte einzuhalten.
253Kann ein Käufer beweisen oder wird zu seinen Gunsten vermutet, dass der eingetretene Funktionsverlust seine Ursache in der Qualität der Kaufsache hat, so begründet dies dann einen Mangel, wenn eine bessere Qualität, sprich eine längere Haltbarkeit vertraglich geschuldet war. So können die Parteien eine bestimmte Haltbarkeit vereinbaren. In der Praxis kommen derartige Vereinbarungen allerdings kaum vor. Anzunehmen haben wird man sie allerdings in denjenigen Fällen, in denen der Hersteller eines Produkts (regelmäßig aufgrund einer gesetzlichen Vorgabe) ein Mindesthaltbarkeitsdatum angibt; dann wird diese Mindesthaltbarkeit entlang der Handelskette jeweils im Verhältnis Verkäufer-Käufer regelmäßig konkludent mitvereinbart sein (Bach/Wöbbeking, NJW 2020, 2672 Rn. 12, 13).
254Diese Überlegungen sind auch bei Lieferungen wie im vorliegenden Fall heranzuziehen. So ist in den einschlägigen Normen festgelegt, dass Schutzmasken der vorliegenden Art ein Mindesthaltbarkeitsdatum (z.B. „Ende der Lagerzeit“, „storage life cycle“) ausweisen müssen.
255Bestehen die vom Sachverständigen geprüften Masken die Prüfungen, so kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass sie auch zum Zeitpunkt der Lieferung (= Gefahrübergang) die geschuldeten Eigenschaften hatten. Fallen sie durch, obwohl das Mindesthaltbarkeitsdatum noch nicht abgelaufen ist, wird der Rückschluss zulässig sein, dass die Masken bei Gefahrübergang nicht die nötige Qualität aufwiesen, um zumindest das Mindesthaltbarkeitsdatum zu erreichen. Fallen sie erst nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums durch, ist im Einzelfall eine Gesamtabwägung durchzuführen, ob dennoch eine hinreichende Überzeugung der Kammer gewonnen werden kann, dass die Werte auch schon bei Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums die entsprechende Grenze überschritten haben. Belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie schnell eine Verschlechterung im ungünstigsten Fall ggf. fortschreiten dürfte, fehlen – wie auch vom Sachverständigen ausgeführt – zwar; insbesondere ist nicht erkennbar, dass eine konkrete Rückrechnung von Werten auf einen bestimmten Zeitpunkt möglich wäre. Heranzuziehende Kriterien sind – im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 28.02.2024 – dagegen der Zeitraum, der seit Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums vergangen ist, wie groß die Überschreitung der zulässigen Werte ausfällt und wie homogen die Messergebnisse ausfallen. Ebenfalls relevant können erkennbar unsachgemäße Lagerbedingungen oder ein ungeeigneter sonstiger Umgang mit den Prüfexemplaren sein.
256Die Kammer ist bei einer Gesamtbetrachtung der Testergebnisse und aller Rahmenbedingungen im Sinne von § 286 ZPO davon überzeugt, dass die getesteten Masken auch schon bei Gefahrübergang keine ausreichende Qualität aufwiesen, um wenigstens das Ablaufdatum mehr als einen Monat nach der Prüfung unbeschadet zu erreichen.
257Vorliegend sind die Masken der Avis-Nummern D00001E-F, wie auch der Sachverständige festgehalten hat, mit einer Verwendbarkeitsdauer („EXP“) bis April 2023 gekennzeichnet (Bl. 15 des Gutachtens). Die Testung erfolgte im Februar und März 2023 und damit gut einen Monat vor Ablauf der Verwendbarkeitsdauer.
258Soweit von Klägerseite eingewandt wird, dass die konkreten Lagerbedingungen, unter denen die Masken in der Sphäre der Beklagten aufbewahrt worden sind, nicht feststünden, kann dies dahinstehen, da keine konkreten Anhaltspunkte für eine offenkundig unsachgemäße Verwahrung (z.B. Durchfeuchtung der Kartons) vorliegen. Darauf hat auch der Sachverständige hinsichtlich der von ihm geprüften Testexemplare hingewiesen, zumal er diese in einem ordnungsgemäß verpackten Zustand vorgefunden habe und er offenbar auch die für ihn erkennbaren Bedingungen im Präsentationsbereich im Zeitpunkt der Stichprobenziehung nicht für problematisch erachtet hat („subjektiv Standardraumklima“, Bl. 13 des Gutachtens).
259Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Klägerseite auch nicht dargelegt hat, dass die Masken überhaupt besonderen Lagerbedingungen unterliegen mussten. Insbesondere befand sich auf den Plastikbeuteln der streitgegenständlichen Masken ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen zur Avisnummer D00001E-F nur der Hinweis „Store in a dry area at room temperature and do not wash the mask with water“ (vgl. Bl. 15 des Gutachtens). Fehlt es aber an konkreten Hinweisen, dann muss – jedenfalls die nicht aus anderen Gründen erkennbar verderbliche oder sonst sensible – Ware jedoch zumindest solche Eigenschaften aufweisen, dass sie auch ungünstigere Umgebungsbedingungen (z.B. höhere Temperaturen, wie sie beim Zurücklassen in einem PKW auftreten können oder höhere Feuchtigkeit, wie sie bei der Lagerung im Keller vorzufinden sein kann) unbeschadet überstehen.
260Auffällig ist hier, dass die von dem Sachverständigen geprüften Exemplare den nach EN149 zulässigen Filterdurchlassgrad von sechs Prozent noch vor Ablauf der Verwendbarkeitsdauer massiv überschreiten. Zwar kann nicht per se ausgeschlossen werden, dass die elektrostatische Ladung eines Maskenvlieses, welche für den Partikelrückhalt verantwortlich sein soll, irgendwann eine kritische Grenze unterschreitet und dann ein verhältnismäßig abrupter Abfall der Filterleistung zu verzeichnen ist. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Prüfberichte der M, die zwischen 2020 und 2021 erstellt wurden, ebenfalls erhebliche Fehlleistungen aufwiesen (durchgehend zwischen 9,7 % und 22,1 %) – unabhängig von der zwischen den Parteien streitigen Frage, ob dort mit Natriumchlorid oder mit Paraffinöl getestet worden ist. Dies spricht dafür, dass ein erheblicher Anteil der Masken – aus welchen Gründen auch immer – bereits produktionsbedingt nur eine unzureichende Filterleistung aufwies. Dies begründet den Verdacht, dass auch die weiteren Masken der Lieferung in gleicher Weise mangelhaft sind, was bedeutet, dass sie bereits bei Gefahrübergang nicht so beschaffen waren, dass sie bis zum Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums die Grenzwerte zur Filtereffizienz einhalten konnten.
2615.
262Der Beklagten ist es nicht wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens verwehrt, die Einrede des nichterfüllten Vertrages zu erheben.
263a)
264Dies gilt auch im Hinblick auf den Einwand fehlender eigener Vertragstreue.
265Zwar kann die Einrede nur erfolgreich erheben, wer selbst am Vertrag festhält und erfüllungsbereit ist („Vertragstreue des Schuldners“). An der Vertragstreue fehlt es, wenn der Schuldner es schlechthin ablehnt, die eigene Leistung zu erbringen. Erforderlich ist eine unmissverständliche, endgültige und ernstliche Weigerung, den Vertrag durchzuführen (BeckOK-BGB/H. Schmidt, § 320 Rn. 14). Ein solcher Ausschluss ist aber nur in Ausnahmefällen anzunehmen. Er kommt in Betracht, wenn ein Fall der Erfüllungsverweigerung des Schuldners, der die Einrede geltend macht, vorliegt oder der Schuldner ohnehin jedes Interesse an der konkreten Vertragsdurchführung verloren hat (BeckGK-BGB/Rüfner, Stand 01.01.2024, BGB § 320 Rn. 76 ff.). Denn der Sinn und Zweck des § 320 BGB liegt darin, die Erfüllung der gegenseitigen Ansprüche der Vertragspartner sicherzustellen. Daher dient der § 320 BGB in erster Linie der Erzwingung der geschuldeten Gegenleistung des Vertragspartners. Es soll sich auch derjenige endgültig von dem Vertrag lossagen und die Annahme der Gegenleistung schlechthin ablehnen, der (unberechtigt) Rechte geltend macht, die auf die Beendigung des Vertrages zielen, so neben Kündigung oder Geltendmachung von Schadensersatz statt der Leistung auch ein Rücktritt (Staudinger/Schwarze (2020), § 320 Rn. 38).
266So liegt der Fall hier allerdings nicht. Die Beklagte verteidigt sich gegen das Zahlungsbegehren der Klägerin zwar in erster Linie mit dem erklärten Rücktritt. Hilfsweise macht sie das Zurückbehaltungsrecht geltend, soweit die Kammer die Rechtsansicht der Beklagten hinsichtlich des Vorliegens eines relativen Fixgeschäftes und der Möglichkeit, ohne Fristsetzung zurückzutreten, nicht teilen sollte. Bei der gleichzeitigen Berufung auf den Rücktritt und das Zurückbehaltungsrecht im Prozess und der eindeutigen Festlegung, welcher Einwand hauptsächlich und welcher hilfsweise geltend gemacht werden soll, ist dies weder treuwidrig noch widersprüchlich, wenn dadurch die Gegenleistung nicht schlechthin abgelehnt wird (vgl. BeckGK-BGB/Rüfner, § 320 Rn. 78 m.w.N.). Ohnehin führt die Erfüllungsverweigerung nicht zu einem endgültigen Verlust der Einrede. Wenn der Schuldner seine Leistung (Zug um Zug gegen Erbringung der Gegenleistung) doch noch anbietet und damit von der Erfüllungsverweigerung Abstand nimmt, steht ihm die Einrede wieder zu (BeckGK-BGB/Rüfner, § 320 Rn. 62).
267Dem steht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung (BGH, Urteil vom 04.07.2002 – I ZR 313/99 = NJW 2002, 3541 (3542); Urteil vom 17.07.2013 – VIII ZR 163/12 = NJW-RR 2013, 1458) nicht entgegen. Den vorgenannten Entscheidungen lag revisionsrechtlich jeweils der Sachverhalt zugrunde, dass seitens des Gläubigers deutlich gemacht worden ist, er wolle nicht am Vertrag festhalten. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte jedoch durch das hilfsweise geltend gemachte Zurückbehaltungsrecht deutlich zu erkennen gegeben, dass sie zwar von der Berechtigung ihres Rücktritts ausgehe, für den Fall jedoch, dass die Kammer dies anders sehen sollte, zur Erfüllung des Kaufpreisanspruchs grundsätzlich bereit sei, wenn auch nur Zug um Zug gegen Erhalt einer mangelfreien Gegenleistung. Dies kann anders als in den vorgenannten Entscheidungen zumindest nicht als endgültige Erfüllungsverweigerung und damit nicht als eigene Vertragsuntreue angesehen werden.
268b)
269Der Beklagten ist es auch nicht verwehrt, die Einrede nach § 320 BGB geltend zu machen, weil sie sich zugleich mit der Kaufpreiszahlung in Verzug befunden hätte.
270Sobald eine Partei einmal in Verzug geraten ist, kann sie nicht mehr die Einrede des nicht erfüllten Vertrages nach § 320 erheben (MüKo-BGB/Emmerich, § 320 Rn. 44). Ein solcher Verzug ist hier jedoch nicht festzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bereits der bloße Bestand der Einrede aus § 320 BGB einen Verzug des einredeberechtigten Vertragsteils, des sog. Schuldners, ausschließt (MüKo-BGB/Emmerich, § 320 Rn. 55). Da zugunsten der Beklagten mit Ablieferung mangelhafter Ware ein Nacherfüllungsanspruch entstanden ist, konnte eine Woche später bezüglich der Kaufpreiszahlung zwar Fälligkeit, aber kein Verzug eintreten.
271V.
272Der Zinsanspruch ist teilweise begründet.
273Die Klägerin kann Verzugszinsen gemäß §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB verlangen, allerdings nur für den Zeitraum vom vorgerichtlichen Schriftsatz ihrer damaligen Prozessbevollmächtigten vom 05.06.2020 bis zur Zustellung der Klageschrift vom 28.03.2021 am 22.04.2021, mithin entsprechend § 187 Abs. 1 BGB vom 06.06.2020 bis zum 21.04.2021.
274Im Unterschied zu § 273 BGB verhindert bei § 320 BGB nach allgemeiner Ansicht schon der Bestand des Einrederechts, nicht erst seine Geltendmachung, den Eintritt des Schuldnerverzugs (BeckOK-BGB/H. Schmidt, § 320 Rn. 25 m.w.N.). Auch Zinsen ab Rechtshängigkeit sind nicht geschuldet, da die Zinspflicht erst mit dem Wegfall der Einrede beginnt, weil der Anspruch bis dahin nicht durchsetzbar ist (BeckOK-BGB/Lorenz, § 291 Rn. 6). Infolge dieser verzugsausschließenden Wirkung des § 320 BGB kann der Schuldner nur in Verzug gesetzt werden, wenn zuvor oder zugleich die Einredewirkungen (vorläufig) beseitigt werden, indem der Gläubiger die ihm obliegende Leistung in einer den Annahmeverzug begründenden Weise anbietet. Die bloße Bereitschaft des Gläubigers zur Erbringung der Gegenleistung reicht für den Eintritt des Schuldnerverzugs nicht aus, weil die Einrede des nicht erfüllten Vertrags ausdrücklich von der Bewirkung der Gegenleistung abhängig ist (§ 320 Abs. 1 S. 1 BGB) und der Schuldner die Leistungsbereitschaft des Gläubigers nicht ohne weiteres zu erkennen vermag. Notwendig ist daher grundsätzlich ein tatsächliches Angebot des Gläubigers (MüKo-BGB/Ernst, § 286 Rn. 33). Die verzugsausschließende Wirkung tritt dann aber nicht für die Vergangenheit ein (vgl. BeckOGK/Rüfner, § 320 Rn. 92).
275Die ursprünglich verzugshindernde Wirkung des Anspruchs auf Nacherfüllung entfiel mit dem außergerichtlichen Schriftsatz vom 05.06.2020. In diesem ist ein wörtliches, unbedingtes Angebot auf Austausch aller angelieferten und von der Beklagten beanstandeten Masken i.S.v. § 295 BGB zu sehen. Dieses genügte, denn die Nachlieferung von Masken war von der Zuteilung von Lieferslots seitens der Beklagten abhängig, mithin einer Handlung der Gläubigerin, § 295 S. 1 Var. 2 BGB. Gleichzeitig forderte die Klägerin mit diesem Schriftsatz die Beklagte auf, ihr Lieferslots zuzuteilen und somit die erforderliche Handlung i.S.v. § 295 S. 2 BGB vorzunehmen.
276Mit Zustellung der Klageschrift vom 28.03.2021 am 22.04.2021 lebte die verzugshindernde Wirkung des Nacherfüllungsanspruchs allerdings wieder auf. Denn der Annahmeverzug endet u.a., wenn er Schuldner sein Angebot nicht aufrechterhält oder sogar ausdrücklich zurücknimmt (vgl. BeckGK-BGB/Dötterl, § 293 Rn. 138; Staudinger/Feldmann, § 293 Rn. 32). Auf Bl. 160 der Klageschrift hat die Klägerin ausgeführt, sie biete rein vorsorglich „erneut und ausdrücklich an, etwaig mangelhaft gelieferte Masken im Wege der Nachbesserung auszutauschen“ (Bl. 213 d.A.). Diese Erklärung ist – in der Zusammenschau mit dem weiteren Inhalt der Klageschrift, insbesondere auch dem unbedingten Klageantrag – nicht mehr als unbedingtes, uneingeschränktes Angebot zu verstehen, da die Klägerin sich ausdrücklich nur auf „etwaig mangelhaft gelieferte Masken“ bezieht, während sie die Mangelhaftigkeit der gesamten Lieferung gerade in Abrede gestellt hat. Darin liegt ein „actus contrarius“ zu dem vorgerichtlich durch die damaligen Bevollmächtigten vergleichsweise unterbreiteten Nachlieferungsangebot. Die Beklagte durfte nach Zustellung der Klageschrift davon ausgehen, dass die Klägerin nicht mehr uneingeschränkt bereit war, alle beanstandeten Masken zu ersetzen. Die vorgenannte Einschränkung auf „etwaig mangelhaft gelieferte Masken“ hat die Klägerin auch im weiteren Verlauf des Verfahrens bis zuletzt nicht fallengelassen. Die im Rahmen des Rechtsgesprächs vorgebrachte Erklärung des Klägervertreters in der letzten mündlichen Verhandlung (Bl. 20 des Sitzungsprotokolls vom 28.02.2024) ist lediglich als Hinweis auf die bisherigen Nachlieferungsangebote zu verstehen, so dass sie nicht als neues Angebot unbedingter Nachlieferung angesehen werden kann.
277Teilzahlungen der Beklagten auf die Verzugszinsen sind auf diesen Zinsanspruch nicht anzurechnen, da sie ausweislich des Gesamtzusammenhangs nur die Zeit bis zur Rücktrittserklärung am 22.05.2020 und damit einen hier nicht streitgegenständlichen Anspruch betreffen.
278B.
279Der Klageantrag zu Ziff. 2 ist zulässig und teilweise begründet.
280Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung, allerdings nur von 803.250,00 Euro aus § 433 Abs. 2 BGB i.V.m. dem Open-House-Vertrag (nachfolgend: "OH-Vertrag") hinsichtlich der zum dritten Vertrag vom 07.04./09.04.2020 tatsächlich gelieferten 150.000 Masken und auch dies nur Zug um Zug gegen Lieferung mangelfreier Masken.
281Hinsichtlich der weiteren 150.000 Masken besteht kein Anspruch.
282I.
283Der Anspruch ist zunächst in voller Höhe von 1.606.500,00 Euro brutto (300.000 Masken) entstanden.
284Die Klägerin hat unter dem 07.04.2020 ein Angebot über die Lieferung von insgesamt 300.000 „FFP2“-Schutzmasken abgegeben; die Beklagte hat darauf am 09.04.2020 den Zuschlag für „FFP2“-Masken erteilt.
285II.
286Der Kaufpreisanspruch ist allerdings in Höhe von 803.250,00 Euro hinsichtlich der nicht bis zum 30.04.2020 gelieferten 150.000 Masken untergegangen; im Übrigen, also in Höhe weiterer 803.250,00 Euro, besteht er fort.
2871.
288Unstreitig hat die Klägerin die später nicht angelieferten 150.000 Masken am 19.04.2020 für den 30.04.2020 avisiert. Ebenfalls unstreitig hat die Beklagte die Anlieferung der betroffenen Masken unter der Avis-Nummer G000002 für den 30.04.2020 bestätigt.
2892.
290Dieser Liefertermin ist anschließend auch nicht mehr durch eine weitere Vereinbarung geändert worden. Das Angebot einer Abbedingung des dem OH-Vertrag zu entnehmenden spätesten Lieferdatums über den 30.04.2020 hinaus, das in der Bitte der Klägerin um Verschiebung der Anlieferung jedenfalls von 150.000 Masken vom 29.04.2020 liegt, hat die Beklagte nicht angenommen. Sie hat vielmehr darauf verwiesen, dass dies nur möglich sei, wenn das aus auftraggeberseitigen Gründen zwingend erforderlich sei, und nur die Verhandlung eines gesonderten Liefervertrages angeboten.
2913.
292Die Klägerin hat am 30.04.2020 nicht geliefert, sodass entsprechend dem Charakter des OH-Vertrages als absolutes Fixgeschäft (siehe dazu die obigen Ausführungen) die vertraglichen Pflichten insoweit untergingen.
2934.
294Der Umstand, dass die Beklagte vielfach gegenüber anderen Lieferanten eine spätere Lieferung akzeptiert haben soll, führt zu keinem anderen Ergebnis.
295Dabei ist zu beachten, dass es sich vorliegend nicht um den Fall handelt, dass Verhalten im Rahmen desselben Rechtsverhältnisses zu einem Widerspruch führt, was den in Rechtsprechung und Literatur genauer aufgearbeiteten Fall widersprüchlichen Verhaltens bildet (vgl. etwa Beck-OGK/Kähler, § 242 Rn. 1293), sondern um die besondere Konstellation, dass die Beklagte mit einer Vielzahl von Lieferanten gleich formulierte Verträge über den gleichen Vertragsgegenstand geschlossen hat. Es handelt sich also um verschiedene eigenständige Rechtsverhältnisse. Es liegt schon aufgrund dieser Besonderheit kein Erklärungsverhalten gegenüber einer Lieferantin vor, das zeitlich aufeinander folgt, sondern um zeitlich paralleles Handeln. Eine Kenntnis davon ist bei den klagenden Lieferanten daher schon der Natur der Sache nach nicht zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sie selbst ihr Verhalten noch daran ausrichten konnten, sondern – wie auch der Vortrag im Verfahren zeigt, der auch vom Nachtragen neu erlangter Erkenntnisse auf Seiten der Klägerin geprägt ist – erst retrospektiv. Auf erst später, nach ihrem eigenen Handeln gewonnene Erkenntnisse, konnte die Klägerin daher naturgemäß ihr eigenes früheres vertragliches Handeln nicht ausrichten.
296Die Beklagte war auch nicht aufgrund von Art. 3 GG abstrakt verpflichtet, alle Lieferanten gleich zu behandeln. Dabei ist zu beachten, dass es sich zwar um gleichartig gestaltete Verträge handelt, jedoch dennoch jeder Vertrag individuelle Besonderheiten aufweist, da nicht nur eine verschiedene Anzahl von Masken geliefert wurde, sondern auch die Anliefervorgänge sich unterschieden je nach Logistikunternehmen und genutztem Lager sowie insbesondere Masken verschiedener Hersteller und Spezifikationen angeliefert wurden. Aus den vor der Kammer verhandelten Verfahren ist der Kammer auch bewusst, dass die Beklagte sehr verschiedene Einwände bezüglich der von ihr als mangelhaft zurückgewiesenen Lieferungen macht. Dies impliziert Besonderheiten der einzelnen Fälle, die auch das sich anschließende Verhalten der Parteien bedingen und so zu unterschiedlichen Entwicklungen führen können. Daher ist in vielen Bereichen schon keine im Wesentlichen gleiche Grundkonstellation gegeben, die zu einer strikten Gleichbehandlung führen müsste.
2975.
298Im Übrigen, das heißt hinsichtlich weiterer 803.250,00 Euro, ist die Forderung aus den obigen Erwägungen mangels Nachfristsetzung nicht durch den seitens der Beklagten erklärten Rücktritt untergegangen. Die Beklagte hat die Teillieferung – insoweit in konkludenter Abänderung der vertraglichen Vereinbarungen zu Gunsten der Klägerin – widerspruchslos angenommen.
299III.
300Der Zahlungsanspruch von 803.250,00 Euro ist auch fällig. Wie gezeigt, ist die Klägerin nicht vorleistungspflichtig.
301IV.
302Eine Verurteilung der Beklagten erfolgt allerdings nur Zug-um-Zug, § 322 BGB. Der Beklagten steht auch insoweit ein Zurückbehaltungsrecht gemäß § 320 Abs. 1 BGB zu, welches sie gegen den Zahlungsanspruch einwenden kann.
303Der einredeweise geltend gemachte Anspruch auf Nachlieferung mangelfreier Masken hat seine Grundlage in § 437 Nr. 1, 439 BGB.
304Aufgrund des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass auch die zur Avisnummer G000002 von der Klägerin gelieferten Masken im Sinne von § 434 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB mangelhaft sind, da der nicht auszuräumende Verdacht einer Mangelhaftigkeit besteht.
3051.
306Die Kammer ist davon überzeugt, dass die im Rahmen des M-Berichts vom 07.05.2020 und die von dem Sachverständigen Dr. Q geprüften Schutzmasken tatsächlich der Lieferungen der Klägerin zu dem dritten Vertrag (Avis-Nummer G00002) entstammen.
307Ausweislich der Ausführungen im Sachverständigengutachten waren die von der Klägerin übersandten Masken in Beuteln zu je 5 Stück mit Beipackzettel abgepackt, vier dieser Beutel, mithin insgesamt 20 Masken, wiederum in einem Pappkarton (Bl. 14 des Gutachtens). Ausweislich der Beschriftung der Beipackzettel sind es Masken des Herstellers J, Ltd. Diese sind ferner mit Herstell- und Ablaufdatum beschriftet und tragen einen Hinweis auf die EN 149 (Bl. 19 des Gutachtens). Der Hersteller ist also mit den Angaben der Klägerin zu den von ihr gelieferten Masken identisch. Auf den Lichtbildern in dem M-Bericht sind augenscheinlich gleiche Pappkartons und Einzelmasken abgebildet. Eine Verwechselung ist damit aus Sicht der Kammer ausgeschlossen.
3082.
309Der entsprechenden Prüfung ist wegen der in den Folienbeuteln mitgelieferten Beipackzettel, die u.a. auch das Ablaufdatum enthalten und daher mit den Masken aufbewahrt werden dürften, zugrunde zu legen, dass sich alle Masken der Lieferung an den Vorgaben der GB2626 für den Standard KN95 und zusätzlich an den Vorgaben der EN149 für den Standard FFP2 messen lassen müssen. Diese enthalten gleichermaßen einen Hinweis auf die GB2626 wie auch auf die EN149.
3103.
311Aufgrund des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass konkrete Tatsachen vorliegen, die den Verdacht begründen, dass die von der Klägerin gelieferten Masken jedenfalls die vertraglich vereinbarten Grenzwerte zum Filterdurchlass nach der Norm EN 149 nicht einhalten.
312Der Sachverständige hat bei der Prüfung nach EN149 festgestellt, dass der Filterdurchlassgrad bei allen der getesteten neun Prüflinge bei der Verwendung von Natriumchlorid deutlich über 6 %, nämlich von 37,24 % bis 54,79 % und bei durchschnittlich 42,49 % lag. Ferner hat der Sachverständige auch bei Testung an neun weiteren Masken nach EN 149 mit Paraffinöl Werte in dieser Größenordnung erzielt, nämlich von 42,84 % bis 57,07 % (Durchschnittswert: 47,62 %). Damit waren die Vorgaben nach EN149 in allen Fällen deutlich verfehlt.
3134.
314Die Kammer ist bei einer Gesamtbetrachtung der Testergebnisse und aller Rahmenbedingungen im Sinne von § 286 ZPO davon überzeugt, dass die getesteten Masken auch schon bei Gefahrübergang keine ausreichende Qualität aufwiesen, um wenigstens das Ablaufdatum knapp elf Monate vor der Prüfung unbeschadet zu erreichen.
315Vorliegend sind die Masken der Avis-Nummer G000002, wie auch der Sachverständige festgehalten hat, mit einer Verwendbarkeitsdauer („Validity Date“) von zwei Jahren gekennzeichnet, zu berechnen ab dem Herstellungsdatum (18.04.2020) (Bl. 19 des Gutachtens und Bl. 19 des Sitzungsprotokolls). Die Testung erfolgte im Februar und März 2023 und damit knapp elf Monate nach Ablauf dieser Verwendbarkeitsdauer.
316Zwar kann nicht per se ausgeschlossen werden, dass die elektrostatische Ladung eines Maskenvlieses, welche für den Partikelrückhalt verantwortlich sein soll, irgendwann eine kritische Grenze unterschreitet und dann ein verhältnismäßig abrupter Abfall der Filterleistung zu verzeichnen ist. Berücksichtigt man aber den immerhin in Anlehnung an EN149 erstellten Prüfbericht der M vom 07.05.2020, der ebenfalls ganz erhebliche Fehlleistungen aufwies (57,5 %), und dass die Masken bei Testung durch den Sachverständigen konstant maximal 10 Prozent vom Durchschnittswert abweichende Werte aufwiesen, mithin die erheblichen Abweichungen alle getesteten Masken in gleicher Weise betreffen, ist auszuschließen, dass die Masken die Grenzwerte zum Ablauf des Haltbarkeitsdatums eingehalten haben. Dies spricht dafür, dass ein erheblicher Anteil der Masken – aus welchen Gründen auch immer – produktionsbedingt nur eine Filterleistung von etwa 50 Prozent aufwies. Dies begründet den Verdacht, dass auch die weiteren Masken der Lieferung in gleicher Weise mangelhaft sind, das bedeutet, bereits bei Gefahrübergang nicht so beschaffen waren, dass sie bis zum Ablauf des Haltbarkeitsdatums die Grenzwerte zur Filtereffizienz einhalten. Hinsichtlich der Lagerbedingungen ist hier zu berücksichtigen, dass diese nach Abholung der Masken wieder im Verantwortungsbereich der Klägerin liegen.
317V.
318Der Zinsanspruch ist teilweise begründet, nämlich für die Zeit vom 06.06.2020 bis zum 21.04.2021. Auf die obigen Erwägungen wird Bezug genommen.
319C.
320Aus den vorstehenden Gründen ist die von der Klägerin mit dem zulässigen Klageantrag zu Ziff. 3 begehrte Feststellung des Annahmeverzugs hinsichtlich der 300.000 Masken des dritten Vertrages unbegründet.
321D.
322Der Anspruch auf Freistellung von Rechtsanwaltskosten, den die Klägerin mit dem zulässigen Klageantrag zu Ziff. 4 geltend macht, ist ebenfalls unbegründet. Denn zum Zeitpunkt des erstmaligen Tätigwerdens ihrer vormaligen Bevollmächtigten war die Beklagte, wie gezeigt, nicht in Verzug.
323E.
324Über die von der Beklagten erhobene erste Eventualwiderklage ist nicht zu entscheiden. Denn es ist nur eine der kumulativ formulierten Bedingungen eingetreten. Zwar ist der Rücktritt der Beklagten aus anderen Gründen als der Mangelfreiheit der Schutzmasken unwirksam, nämlich mangels Fristsetzung. Allerdings hat die Beklagte vorausgesetzt, dass sie zusätzlich bezüglich der streitgegenständlichen Schutzmasken zur Zahlung des Kaufpreises verurteilt wird, ohne dass die Klägerin Zug-um-Zug zur Ersatzlieferung verpflichtet wird. Eine solche Zug-um-Zug-Verurteilung hat die Kammer aber ausgesprochen.
325Gleichfalls steht die hilfsweise umformulierte erste Eventualwiderklage nicht zur Entscheidung an, denn diese stand u.a. unter denselben Bedingungen, die wie gezeigt nicht eingetreten sind.
326Schließlich ist auch über die äußerst hilfsweise umformulierte erste Eventualwiderklage nicht zu entscheiden. Denn auch diese ist so zu verstehen, dass sie nur unter den vorgenannten Bedingungen zur Entscheidung gestellt sein soll, die, wie gezeigt, nicht eingetreten sind.
327F.
328Schließlich ist auch über die weitere Eventualwiderklage der Beklagten nicht zu entscheiden. Diese war unter der Bedingung erhoben, „dass das Gericht feststellt, dass die Klage jedenfalls überwiegend abzuweisen ist“. Es kann dahinstehen, ob diese Bedingungen dahingehend auslegungsfähig ist, dass mehr als 50 Prozent der Klageforderung abgewiesen werden, da auch dies, wie gezeigt, nicht der Fall wäre.
329Die Kammer versteht die Erledigungserklärung der Beklagten aus der mündlichen Verhandlung vom 28.02.2024 hinsichtlich der Anträge zu 1 bis 4 bei verständiger Auslegung entsprechend §§ 133, 157 BGB so, dass auch diese unter der vorbezeichneten Bedingung erhoben sind und dementsprechend nicht zur Entscheidung anstehen. Denn mit der einseitigen Erledigungserklärung, bei der es sich um eine zulässige Antragsänderung im Sinne von § 264 Nr. 2 ZPO handelt, verfolgt der diese Umstellung vornehmende Widerkläger sein Kosteninteresse hinsichtlich von ihm als erledigt angesehener Widerklageanträge. Ein solches Kosteninteresse kann aber nur bestehen, wenn die Eventualwiderklageanträge tatsächlich zur Entscheidung anstünden, was, wie ausgeführt, nicht der Fall ist.
330G.
331Nebenentscheidungen:
332I.
333Die Kosten waren gemäß § 92 Abs. 1 S. 1 Var. 2 ZPO verhältnismäßig zu teilen, sodass die Klägerin 46 Prozent und die Beklagte 54 Prozent der Kosten zu tragen haben.
3341.
335Hinsichtlich der Hauptforderung war zu berücksichtigen, dass die Klägerin auch insoweit hinsichtlich des streitigen Teils unterliegt, als ihrem Antrag nur Zug-um-Zug gegen Nacherfüllung entsprochen worden ist. Deshalb sind die Kosten nach einem fiktiven Gebührenstreitwert zu verteilen, der sich zusammensetzt aus dem Gebührenstreitwert der Klageforderung und dem zu schätzenden wirtschaftlichen Wert des Zurückbehaltungsrechtes. Die Kammer setzt als Wert für das Zurückbehaltungsrecht insgesamt 450.000,00 Euro an, da FFP2-Masken derzeit für unter 1,00 Euro pro Stück zu erwerben sind und weder eine rechtskraftfähige noch eine vollstreckbare Entscheidung über das Zurückbehaltungsrecht ergeht (vgl. BeckOK-ZPO/Jaspersen, 52. Edition, Stand 01.03.2024, § 92 Rn. 29). Soweit die Klägerin mit Schriftsatz vom 20.03.2024 insoweit neuen Vortrag hält, konnte die Kammer diesen nicht mehr berücksichtigen (§ 296a ZPO). Denn der der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 28.02.2024 gewährte Schriftsatznachlass bezog sich ausdrücklich nicht auf neuen Tatsachenvortrag, der nicht durch die gegnerischen Schriftsätze veranlasst worden ist (vgl. Bl. 23 des Sitzungsprotokolls vom 28.02.2024).
3362.
337Die Kostenquoten waren vorliegend nach dem wechselseitigen Obsiegen und Unterliegen, orientiert an einem aus für erledigt erklärten Nebenforderungen und noch streitigen Haupt- (unter Berücksichtigung des Zurückbehaltungsrechts, s.o.) und Nebenforderungen gebildeten fiktiven Streitwert zu bestimmten. Dies entspricht dem grundsätzlichen Vorgehen in einer Situation wechselseitigen Obsiegens und Unterliegens wenn – wie hier – die Summe der Nebenforderungen (1.117.091,19 Euro = 1.113.771,19 Euro Verzugszinsen vom 11.05.2020 (bezüglich 803.250,00 Euro aus Antrag zu Ziff. 2) bzw. vom 23.05.2020 bis zum Tag der mündlichen Verhandlung zzgl. 3.320,00 Euro hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten) jedenfalls mehr als 10 Prozent (478.009,12 Euro) des fiktiven Streitwerts (4.780.091,19 Euro = 3.213.000,00 Euro Hauptforderungen zzgl. 1.117.091,19 Euro Nebenforderungen zzgl. 450.000,00 Euro Zurückbehaltungsrecht) beträgt (vgl. OLG Köln, Urt. v. 02.09.2020, I-20 U 266/2, juris, Rn. 67; Thomas/Putzo/Hüßtege, § 92 Rn. 2).
3383.
339Setzt man das Unterliegen der Klägerin von insgesamt 2.199.099,52 Euro (803.250,00 Euro Hauptforderung zzgl. 1.117.091,19 Euro Nebenforderungen ohne die von der Klägerin erstrittenen Zinsen von 171.241,67 Euro zzgl. 450.000,00 Euro wegen der Zug-um-Zug-Verurteilung) zum fiktiven Gesamtstreitwert ins Verhältnis (4.780.091,19 Euro, s.o.), so ergibt sich eine Unterliegensquote der Klägerin von 46 Prozent.
340II.
341Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in § 709 S. 1 und 2 ZPO.