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Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Witten vom 16.02.2021 (2 C 681/20) wie folgt geändert und neu gefasst:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der ersten Instanz trägt die Klägerin.
Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
2I.
3Von der Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 544 Abs. 2 Nr. 1, 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
4II.
5Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung hat in der Sache Erfolg.
6Die Klägerin hat – entgegen der Ansicht des Amtsgerichts – keinen Anspruch Zahlung in Höhe von 1.439,60 Euro gegen die Beklagte.
7Der Klägerin stand zwar zunächst ein Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Anzahlung in Höhe von 1.439,60 Euro zu. Dieser Anspruch ist indes gemäß § 389 BGB durch Aufrechnung erloschen.
81.
9Die Klägerin hatte einen Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Anzahlung in Höhe von 1.439,60 Euro gemäß §§ 651h Absatz 5, 346 BGB gegen die Beklagte. Gemäß § 651h Abs. 5 BGB hat der Reiseveranstalter den Reisepreis unverzüglich zu erstatten, wenn er infolge eines Rücktritts hierzu verpflichtet ist.
10Zwischen den Parteien ist vorliegend ein Reisevertrag im Sinne des § 651a BGB zustande gekommen. In diesem Rahmen hat die Klägerin eine Anzahlung in Höhe von 1.439,60 Euro geleistet.
11Die Klägerin hat mit E-Mail vom 22.06.2020 den Rücktritt vom Reisevertrag erklärt. Eine Rücktritterklärung im Sinne des § 651h BGB ist formfrei möglich, muss aber als einseitig empfangsbedürftige Willenserklärung zumindest den Willen des Erklärungen erkennen lassen, das Vertragsverhältnis beenden zu wollen, ohne dass es insoweit der Verwendung des Wortes „Rücktritt“ bedarf (vgl. Tonner, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 651a Rn. 11). Vorliegend hat die Klägerin mit E-Mail vom 22.06.2020 zwar nicht den „Rücktritt“, sondern die „Kündigung“ des Vertrages gemäß § 651 l BGB aufgrund von Reisemängeln erklärt. Insoweit kann aber dahinstehen, ob diese Erklärung angesichts ihres eindeutigen Wortlautes noch als Rücktrittserklärung ausgelegt werden kann. Denn jedenfalls hat die Beklagte als Reaktion auf das Kündigungsschreiben eine Stornorechnung erstellt und mithin die Rechtsfolgen des Rücktritts im Sinne des § 651h BGB ausgelöst. Trotz der Falschbezeichnung sind die Parteien daher übereinstimmend von einem Rücktritt der Klägerin im Sinne des § 651h BGB ausgegangen, so dass zumindest ein natürlicher Konsens zwischen ihnen vorliegt – die Falschbezeichnung der Gestaltungserklärung ist daher unbeachtlich (vgl. Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2018, § 155 Rn. 7).
122.
13Der Anspruch der Klägerin auf Rückzahlung der geleisteten Anzahlung ist gemäß § 389 BGB erloschen.
14a) Die Beklagte hat infolge des Rücktritts der Klägerin gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung, die vorliegend unstreitig 25 Prozent des Reisepreises, mithin 1.799,50 Euro beträgt. Mit dieser Forderung hat die Beklagte mit Stornorechnung vom 23.07.2020 konkludent die Aufrechnung gegen den Rückzahlungsanspruch der Klägerin erklärt, in dem sie erklärt hat, die geleistete Anzahlung der Klägerin in Höhe von 1.439,60 Euro auf ihren Anspruch in Höhe von 1.799,50 Euro anzurechnen.
15b) Der Anspruch der Beklagten auf eine angemessene Entschädigung ist auch nicht gemäß § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB ausgeschlossen. Gemäß § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB kann der Reiseveranstalter keine Entschädigung verlangen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Umstände sind unvermeidbar und außergewöhnlich, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich hierauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. Gemäß Erwägungsgrund 31 der Richtlinie (EU) 2015/2302 gehören hierzu insbesondere erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie der Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel.
16Soweit die Klägerin ihren Rücktritt auf die Ausbreitung der Corona-Pandemie im Jahr 2020 stützt, so stellt eine entsprechende Pandemielage grundsätzlich einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des § 651 h Abs. 3 BGB dar.
17Indes hat die Klägerin im vorliegenden Fall nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit dargetan, dass die von ihr gebuchte Pauschalreise durch die Corona-Pandemie erheblich beeinträchtigt seien wird.
18Ob eine Reise durch einen außergewöhnlichen Umstand erheblich beeinträchtigt sein wird, ist im Rahmen einer Prognoseentscheidung zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung zu ermitteln. Dabei genügt es, wenn hierfür eine erhebliche Wahrscheinlichkeit besteht; es muss nicht überwiegend wahrscheinlich sein, dass sich das Risiko verwirklicht (vgl. BGH, Urteil vom 15.10.2002 - X ZR 147/01; Harke, in: beckGK, Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, Stand: 01.05.2021, § 651h Rn. 47); so kann beispielsweise bei extremen Wetterlagen eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 25 Prozent bereits ausreichend aus, um eine entsprechende Gefährdungsprognose zu bejahen (vgl. BGH, a.a.O.). Ob sich dieser Wahrscheinlichkeitsgrad, wie teilweise vertreten wird, auch auf ein in jeder Hinsicht höchst dynamisches Pandemiegeschehen übertragen lässt, erscheint zweifelhaft, kann aber letztlich dahinstehen, denn das Vorliegen einer Pandemie ist für sich genommen nicht ausreichend, um ohne weiteres einen Rücktritt von einer Pauschalreisen zu jedem Zeitpunkt, insbesondere weit vor dem Reiseantritt, ohne Anfall von Entschädigungszahlungen zu rechtfertigen (vgl. AG München, Urteil vom 27.10.2020 - 159 C 13380/20). Vielmehr sind im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung die konkreten Umstände des jeweiligen Falles unter Berücksichtigung der Gegebenheit zum Zeitpunkt der Rücktrittserklärung zu berücksichtigen. Es handelt sich dabei um eine Prognoseentscheidung, für die es auf eine ex-ante-Betrachtung ankommt. Unerheblich ist es daher, wenn sich im Nachhinein eine Betroffenheit der späteren Reise von außergewöhnlichen Ereignissen ergibt und sich der Rücktritt ex-post darauf stützen ließe (vgl. Staudinger/Achilles-Puyol in: Schmidt, COVID-19, 2. Auflage 2020, § 7 Reiserecht Rn. 24).
19Ein starkes Indiz für eine erhebliche Beeinträchtigung sind dabei die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes (vgl. AG München, a.a.O.; Führich, NJW 2020, 2137). Liegen diese nicht vor, schließt das die Annahme eines außergewöhnlichen Umstandes allerdings nicht generell aus. Vielmehr genügt zur dahingehenden Einordnung bereits eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine gesundheitsgefährdende Ausbreitung (vgl. Staudinger/Achilles-Puyol, a.a.O., § 7 Reiserecht Rn. 26). Gerade bei Ereignissen, von denen im Ernstfall die Gefahr des Todes oder erheblicher Gesundheitsschäden ausgehen, genügt es, dass bei unvoreingenommener Betrachtung ein konkretes Risiko besteht.
20Diesen Maßstab zugrunde gelegt hat die Klägerin nicht dargelegt, dass zum Zeitpunkt der Kündigung am 22.06.2021 im Rahmen einer Prognoseentscheidung davon ausgegangen werden konnte, dass die vom 15.08.2020 bis zum 29.08.2020 stattfindende Flusskreuzfahrt in Frankreich erheblich beeinträchtigt seien würde.
21aa) Soweit die Klägerin vorträgt, dass die Durchführung der Reise infolge der aktuellen Geschehnisse um die COVID-19-Pandemie und dem weltweiten Infektionsanstieg unzumutbar gewesen sei und aufgrund der beengten Örtlichkeiten im Bus und auf dem Schiff eine erhöhte Ansteckungsgefahr bestanden habe, so vermag dieser Vortrag die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer erheblichen Beeinträchtigung der Reise nicht zu begründen.
22Im Rahmen der zu treffenden Prognoseentscheidung ist aber zunächst der gewichtige Umstand zu berücksichtigen, dass das Corona-Virus einen potentiell tödlichen Verlauf nehmen kann und es zum Zeitpunkt der Kündigung weder eine Impfung noch eine Therapie für die Erkrankung gab. Angesichts des hohen potentiellen Risikos und des eingeschränkten Wissensstands über Folgen, Ausbreitung und Infektionsrisiko des Virus dürfen daher an den Grad der Wahrscheinlichkeit keine allzu hohen Anforderungen gestellt werden. Weiterhin handelte es sich bei der streitgegenständlichen Reise um eine Flusskreuzfahrt, die auch regelmäßige Busfahrten vorsah, so dass die Klägerin davon ausgehen konnte, sich auf engem Raum mit den Mitreisenden zu befinden, was durchaus ein erhöhtes Ansteckungsrisiko begründet.
23Indes kann aber auch die jeweilige Entwicklung der Pandemie im Kündigungszeitpunkt gerade nicht unberücksichtigt bleiben, um die geforderte Prognoseentscheidung zu treffen. Im vorliegenden Fall war dabei maßgeblich zu berücksichtigen, dass sich das Infektionsgeschehen zum Zeitpunkt der Kündigung am 22.06.2020 im Vergleich zu den Vormonaten erheblich abgeflacht hatte. Der Inzidenzwert an diesem Tag lag in Deutschland laut Auskunft des Robert-Koch-Instituts bei 3,9 (687 Neuinfektionen) und damit stabil auf einem niedrigen Niveau (22.05.2020: 745 Neuinfektionen). Gegenüber dem Vormonat war sogar ein deutlicher Rückgang an Infektionen zu verzeichnen (22.04.2020: 2237 Neuinfektionen). Dass zum Zeitpunkt der Kündigung ein erhebliches Infektionsrisiko am Reiseziel, d.h. in Frankreich, bestand, hat die Klägerin nicht vorgetragen. Vielmehr wurden am 15.06.2020 und damit kurz vor der Kündigung sämtliche Reisebeschränkungen für Frankreich sowie die bis dato bestehende Reisewarnung aufgehoben. Aus der Aufhebung der Reisewarnungen und Einreisebeschränkungen ergibt sich, dass das Auswärtigen Amt zu diesem Zeitpunkt von einem geringen – und eben keinem erheblichen – Risiko einer Gesundheitsgefährdung ausgegangen ist.
24Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass das Auswärtige Amt am 27.08.2020 eine Reisewarnung für einen Teil des Reisegebietes ausgesprochen hat, so ist dieser Umstand im Rahmen der ex-ante zum Zeitpunkt der Kündigungserklärung am 22.06.2020 zu treffenden Prognoseentscheidung nicht zu berücksichtigen.
25Aufgrund des niedrigen und in der Tendenz abfallenden Infektionsgeschehens und der Aufhebung sämtlicher Reisewarnungen kurz vor der Kündigungserklärung konnte die Klägerin bei ihrer ex-ante zu treffenden Prognoseentscheidung nicht davon ausgehen, dass die erst in etwa acht Wochen stattfindende Reise im Hinblick auf gesundheitliche Risiken erheblich beeinträchtigt seien würde, sondern wäre vielmehr gehalten gewesen, die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens abzuwarten, zumal vorliegend keine Umstände ersichtlich oder vorgetragen worden sind, die eine Kündigung bereits zu diesem Zeitpunkt erfordert hätten.
26bb) Die Behauptung der 60-jährigen Klägerin, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen zu der Corona-Risikogruppe zu gehören, ist vorliegend nicht entscheidungserheblich. Die Frage, ob ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne des § 651h Abs. 3 BGB vorliegt, ist vielmehr objektiv und damit unabhängig von der subjektiven Konstitution der Reisenden zu bestimmen.
27Für eine solche Auslegung der Norm spricht zunächst deren Wortlaut, wonach außergewöhnliche Umstände solche sind, die am Ort des Reiseziels auftreten. Maßgeblich für die Bestimmung einer erheblichen Beeinträchtigung sind mithin allein die Umstände vor Ort und nicht die Frage, ob die Reise für die Reisende aufgrund ihrer Konstitution beeinträchtigt sein wird.
28Hierfür spricht auch der Erwägungsgrund 31 der Richtlinie (EU) 2015/2302, der als außergewöhnliche Umstände unter anderem schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus oder erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel aufzählt. Genannt werden mithin ausschließlich Ereignisse, die nicht der Sphäre einer der Vertragsparteien zuzuordnen sind, sondern von außen auf die Lebensverhältnisse der Allgemeinheit oder einer unbestimmten Vielzahl von Personen einwirken (vgl. BGH, NJW 2017, 2677).
29Eine entsprechende Auslegung der Norm ist auch im Hinblick auf die vom Gesetzgeber im Falle des Vorliegens eines außergewöhnlichen Umstandes intendierte Risikoverteilung sachgerecht. Der Umstand, dass der Reiseveranstalter in diesem Fall keine Entschädigung verlangen kann, der Reisende aber spiegelbildlich hierzu gemäß § 651n Abs. 1 Nr. 3 BGB auch keinen Schadensersatzanspruch hat, trägt dem Umstand Rechnung, dass es unangemessen wäre, Störungen der allgemeinen Lebensverhältnisse zulasten einer Partei ausschlagen zu lassen. Ist das Reiseziel etwa infolge einer Naturkatastrophe nicht erreichbar, kann deshalb weder der Veranstalter den Reisepreis noch der Reisende Schadensersatz wegen ihrer Nichtdurchführung verlangen. Demgegenüber bestehen entsprechende Ersatzansprüche dann, wenn eine Partei aufgrund eines Umstandes vom Vertrag zurücktritt, der in ihrer Risikosphäre liegt, so z.B. wenn der Reiseveranstalter ein notwendiges Betriebsmittel verliert oder der Reisende die Reise aufgrund von Krankheit nicht antreten kann (vgl. BGH, NJW 2017, 2677).
30Ausgehend von diesem gesetzgeberischen Grundgedanken stellt Umstand, dass die Klägerin aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt ist, keine Störung der allgemeinen Lebensverhältnisse dar. Vielmehr ist dieser Umstand ihrer persönlichen Risikosphäre zuzuordnen und mithin im Rahmen des § 651h Abs. 3 BGB nicht zu berücksichtigen.
31cc) Auch die angekündigten Einschränkungen auf der Reise vermögen einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des § 651h BGB nicht zu begründen. Soweit die Beklagte angekündigt hat, dass aufgrund der Corona-Pandemie tägliche Menüs statt eines Buffets serviert würden, in öffentlichen Bereichen des Schiffes eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen sei, das Unterhaltungsangebot und die Nutzung der Lounge eingeschränkt und die SPA-Angebote reduziert werden müssten, so begründen diese Maßnahmen keine erheblichen Einschränkungen im Sinne des § 651 h Abs. 3 BGB. Erheblich ist eine Einschränkung nur dann, wenn aus Sicht eines Durchschnittsreisenden der vertraglich vorgesehene Nutzen der Reise als Ganzes in Frage gestellt wird (vgl. Sprau, in: Palandt, BGB, 78. Auflage 2019, § 651h Rn. 12). Im vorliegenden Fall ist dabei zu berücksichtigen, dass unstreitig der gesamte Reiseverlauf einschließlich der vertraglich vereinbarten Landgänge und Ausflüge so stattfinden sollten wie geplant. Im Übrigen – insbesondere im Hinblick auf die geänderte Verpflegung und die eingeschränkte Nutzbarkeit des SPA`s – liegen zwar Beeinträchtigungen vor, diese stellen aber nach Auffassung der Kammer nicht den Nutzen der Reise als Ganzes in Frage und überschreiten daher nicht die Erheblichkeitsschwelle des § 651h Abs. 3 BGB.
32III.
33Mangels Hauptanspruch hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf die geltend gemachte Zinsforderung.
34IV.
35Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
36Der Streitwert wird auf 1.439,60 Euro festgesetzt.