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Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 7.500,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit dem 26.01.2022 zu bezahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin weitere zukünftige Schäden, welche im direkten oder indirekten Zusammenhang mit der von der Beklagten hergestellten und der Klägerin am 06.06.2017 eingesetzten Kupferspirale (Q. V., Lotnummer N01) stehen, zu ersetzen.
Die Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 919,87 € zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
2Die Klägerin macht gegenüber der Beklagten insbesondere Schmerzensgeldansprüche wegen verschiedener Folgen des Einsatzes eines Intrauterinpessars zur Schwangerschaftsverhütung (im Folgenden: IUP) geltend.
3Die Beklagte vertreibt als Herstellerin mit Sitz in Spanien über den deutschen Vertreiber R. IUP. Hierunter waren auch IUP des Typs Q..
4Der Klägerin wurde am 06.06.2017 von der Frauenärztin Dr. N. O. in der Praxisgemeinschaft, P.-straße N13, R. ein von der Beklagten hergestelltes IUP Q. V. eingesetzt.
5Bei einigen IUP des Typs Q. V. kam es gehäuft zu einem Bruch eines oder beider waagerechten Seitenarme. In einer Warnmeldung der Beklagten vom 25.9.2019 (Anlage K2, Blatt 42 ff d.A.) heißt es auszugsweise:
6[…]
7Betroffene Lotnummern: N02 / N03 / N04 / N05 / N06 / N07 / N01 / N08 / 0217 / N09 / N10
8[…]
9Zusammenfassung:
10Es wurde festgestellt, dass es zum Zeitpunkt der Extraktion des Intrauterinpessars des Modells Q. häufiger zum Bruch der waagrechten Seitenarme (eines oder beider) gekommen ist. Die diesbezüglich durchgeführte technische Untersuchung hat ergeben, dass dieser Bruch auf einen Fabrikationsfehler des vom Zulieferer gelieferten Ausgangsmaterial, aus welchem oder Rahmen des IUP besteht, zurückzuführen ist. Die Mischung aus Polymer und Bariumsulfat (das Material, welches das Produkt für Röntgenstrahlen undurchlässig macht und damit die Sichtbarmachung des IUP auf dem Röntgenbild ermöglicht) wurde im richtigen Verhältnis hergestellt, jedoch ist die Dispergierung nicht in der korrekten Form erfolgt. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass es zur zufälligen Bildung von Bariumsulfat-Agglomeraten an besonders kritischen Stellen des Rahmens gekommen ist und aufgrund der erhöhten Sprödigkeit des Materials somit zum Bruch führen konnte.
11[…]
12Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) veranlasste für Deutschland am 20.12.2019 eine Warnmeldung für von der Beklagten hergestellte IUP mit den genannten Lotnummern (Anlage K1, Bl. 40 ff. d.A.). In dieser Meldung heißt es auszugsweise:
13Brüche der Seitenarme bei Intrauterinpessaren (IUP)
14Bei den betroffenen Produkten handelt es sich um Intrauterinpessare (IUP) zur Schwangerschaftsverhütung, umgangssprachlich auch Kupferspiralen genannt.
15Das BfArM hatte aufgrund eingegangener Meldungen zum Fehlerbild „Brüche der Seitenarme“ dem Hersteller mitgeteilt, dass es den unverzüglichen Rückruf der betroffenen Chargen für geboten erachtet. Der Hersteller ist dieser Empfehlung nachgekommen.
16[…]
17Aufgrund der Tatsache, dass die IUPs auch ohne den Versuch der Entfernung unbemerkt brechen können, hält das BfArM im Ergebnis der behördlichen Risikobewertung die eigenverantwortlich getroffenen korrektiven Maßnahmen des Herstellers nicht für angemessen. Wir halten es daher für geboten, dass der Hersteller über seine bisherigen Maßnahmen hinausgehend, die Frauenärztinnen bzw. -ärzte mittels Kundeninformationsschreiben dazu anhält, die Trägerinnen aktiv einzubestellen, um eine Aufklärung sicherzustellen, die korrekte Lage des IUPs zu prüfen und individuell die beste medizinische Entscheidung zu treffen.
18Basierend auf unserer Bewertung empfehlen wir allen Trägerinnen von IUPs des Herstellers I., ihre jeweilige behandelnde Ärztin bzw. ihren Arzt aufzusuchen und die korrekte Lage des IUPs prüfen zu lassen. Wir bitten alle Trägerinnen und/oder die behandelnden Gynäkologinnen bzw. Gynäkologen, Vorkommnisse in Zusammenhang mit IUP auf den dafür vorgesehenen Formblättern an das BfArM zu melden.
19Die Klägerin erfuhr zunächst von einer Freundin, dass Spiralen des ihr eingesetzten Typs auch von dem Fehler betroffen waren. Am 09.03.2020 informierte die behandelnde Frauenärztin die Klägerin darüber, dass die ihr eingesetzte Spirale von der Warnmeldung erfasst sei und daher eine Gefahr bestehe, dass beim Ziehen des IUP die Seitenarme brechen könnten.
20Im Rahmen einer gynäkologischen Untersuchung am 26.08.2020 sollte die Spirale der Klägerin durch die Frauenärztin Dr. N. O. entfernt werden. Dabei brachen beide Ärmchen der Spirale ab und verblieben im Uterus der Klägerin. Die behandelnde Ärztin klärte die Klägerin über das weitere Vorgehen auf. Es sollte zunächst abgewartet werden, ob die Ärmchen während der Monatsblutung auf natürlichem Wege den Uterus verlassen würden. Für den Fall, dass das nicht geschehen würde, würde eine Operation unter Vollnarkose zur Gebärmutterausschabung erforderlich werden.
21In der Folgezeit löste sich nur ein zersplitterter Seitenarm des IUP auf natürlichem Wege aus dem Uterus der Klägerin. Der zweite Seitenarm des IUP verblieb im Uterus der Klägerin. Aus diesem Grund unterzog sich die Klägerin am 21.12.2020 einer operativen Hysteroskopie mit anschließender Abrasio (Gebärmutterausschabung), bei der die übrig gebliebenen zersplitterten Teile des zweiten Seitenarms entfernt wurden. Im Zuge dieser Operation wurde ihr ein neues IUP (Y. N11) eingelegt.
22Die Klägerin forderte die Beklagte mit Schreiben vom 12.01.2022 unter Fristsetzung bis zum 26.01.2022 erfolglos zur Zahlung von Schmerzensgeld sowie Anwaltskosten, insgesamt 11.119,79 €, auf.
23Die Klägerin ist der Ansicht, dass das Landgericht Aachen für den Rechtsstreit international zuständig ist.
24Die Klägerin behauptet, dass das ihr eingesetzte IUP mit der Lotnummer N01 und der Identifikationsnummer N12 von dem in den Warnmeldung angegebenen Fabrikationsfehler betroffen gewesen sei. Sie ist der Ansicht, dass sich die Fehlerhaftigkeit der konkret eingesetzten Spirale bereits aus dem Serienschaden des betreffenden IUP sowie dem bei ihr eingetretenen typischen Schadensbild ergebe.
25Aufgrund des Fabrikationsfehlers seien die beiden Seitenärmchen bei der Entfernung am 26.08.2020 abgebrochen.
26Sie ist weiter der Ansicht, dass ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 10.000,00 € angemessen sei. Hierzu behauptet die Klägerin, dass sie bereits aufgrund der Mitteilung, dass das ihr eingesetzte IUP gebrochen sei, Ängste und alltagspräsente Sorgen gehabt habe. Ferner habe sie nach der Extraktion und dem Abbruch der Seitenarme des IUP stetige Ängste aufgrund der potenziellen Folgen des Verbleibs der Bruchstücke des IUP im Uterus sowie der potenziell erforderlichen Ausschabung der Gebärmutter unter Vollnarkose gehabt, dies insbesondere auch mit Blick auf die Belehrungen ihrer Frauenärztin, wonach das Risiko bestanden habe, dass die Spiralteile durch die Eileiter in den Bauchraum weiterwandern könnten oder die Gebärmutterwand durchstoßen könnten, so dass dies zu einer aufwendigen Operation führen könnte. Unmittelbar vor der dann erforderlich gewordenen Operation sei sie in einem panikartigen Zustand mit extremer Nervosität und hoher emotionaler Anspannung gewesen. Sie habe dadurch vor der Operation einen Weinkrampf erlitten und habe durch das medizinische Fachpersonal betreut werden müssen. Im Anschluss an die Ausschabung hätten sich die Ängste aufgrund möglicher Folgen fortgesetzt. Ferner habe sie starke Unterleibsschmerzen durch die OP gehabt, die mit langanhaltenden Blutungen einhergegangen seien. Bis Heiligabend 2020 sei sie krankgeschrieben gewesen und aufgrund der Feiertag ohne weitere Krankschreibung erst am 03.01.2021 wieder zur Arbeit gegangen. Auch jetzt noch leide sie unter der psychologischen Belastung aufgrund möglicher Folgen für die Geburtsfähigkeit sowie des Eintretens möglicher Spätfolgen.
27Die Klägerin beantragt,
28die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens in Höhe von 10.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit dem 26.01.2022 zu bezahlen,
29festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr weitere zukünftige Schäden welche im direkten oder indirekten Zusammenhang, mit der von der Beklagten hergestellten und der Klägerin am 06.06.2017 eingesetzten Kupferspirale (Q. V., Lotnummer N01) stehen, zu ersetzen,
30die Beklagte weiter zu verurteilen, ihr vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 1.119,79 € zu erstatten.
31Die Beklagte beantragt,
32die Klage abzuweisen.
33Die Beklagte rügt die internationale Zuständigkeit des Landgerichts Aachen.
34Sie bestreitet, dass das der Klägerin eingesetzte IUP Q. V. von einem Fabrikationsfehler betroffen gewesen sei. Die angegebene LOT-Nummer stimme nicht mit der ebenfalls mitgeteilten Identifikationsnummer überein.
35Sie ist zudem der Ansicht, dass die Rechtsprechung des EuGH zu Serienschäden bei Medizinprodukten hier keine Anwendung finde, da die Rechtsprechung nur für Produkte mit besonderen Gefährdungspotentialen gelte, die bei dem Einsatz von IUP nicht gegeben seien.
36Die Beklagte bestreitet auch die Kausalität zwischen einem etwaigen Fabrikationsfehler und dem Brechen der Ärmchen. Denn die maximale Anwendungsdauer des IUP sei zum Zeitpunkt der Entfernung bereits überschritten gewesen.
37Die Beklagte bestreitet zudem, dass die Klägerin die von ihr behaupteten Folgen in der konkret vorgetragenen Intensität und in dem Ausmaß erlitten hat. Ferner seien die Ängste und Sorgen der Klägerin vor möglichen Folgen unbegründet gewesen.
38Im Übrigen sei auch das geltend gemachte Schmerzensgeld weit übersetzt. Die Beklagte ist hierzu der Ansicht, dass die Extraktion am 26.08.2020 bei der Bemessung des Schmerzensgeldes außer Acht bleiben müsse.
39Die Kammer hat die Klägerin persönlich angehört. Zum Inhalt der Anhörung wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15.05.2023 (Bl. 590 ff. d.A.) Bezug genommen.
40Zum Sach- und Streitstand im Übrigen wird auf die seitens der Parteivertreter zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen ergänzend Bezug genommen.
41Entscheidungsgründe
42Die zulässige Klage hat in der Sache in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
43I.
44Die Klage ist zulässig.
45Die Deutsche Gerichtsbarkeit ist für den grenzüberschreitenden Sachverhalt nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zuständig. Die EuGVVO ist für den streitgegenständlichen Fall mit grenzüberschreitendem Bezug zu den Mitgliedstaaten Deutschland und Spanien anwendbar (Art. 288 S. 2 AEUV). Die allgemeine Zuständigkeit für Klagen mit Bezug zu mehreren Mitgliedsstaaten im Anwendungsbereich der EuGVVO richtet sich nach Art. 5 Abs. 1, 63 Abs. 1 EuGVVO, die vorliegend eine Zuständigkeit der Spanischen Gerichte begründen würden. Vorliegend ergibt sich die besondere Zuständigkeit der Deutschen Gerichtsbarkeit aus Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Nach der Rechtsprechung des EuGH zu der entsprechenden Vorgängerregelung des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a. F., ist die besondere Zuständigkeitsregelung für unerlaubte Handlungen auch auf Produkthaftungsfälle anzuwenden (EuGH C-189/08 Zuid-Chemie, NJW 2009, 3501; EuGH C-45/13 Kainz, EuZW 2014, 232). Art. 7 Nr. 2 EuGVVO stellt auf das Gericht des Ortes ab, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht. Der EuGH hat in einer grundlegenden Entscheidung die Auslegung des Schadenseintrittsortes dahingehend präzisiert, dass einerseits auf den Ort des dem Schadenseintritt zu Grunde liegenden ursächlichen Ereignisses (Handlungsort) abgestellt werden kann sowie auf den Ort, an dem der Schaden letztlich eingetreten ist (Erfolgsort) (EuGH C-189/08 Zuid-Chemie, NJW 2009, 3501; EuGH C-12/15 Universal, NJW 2016, 2167). Der Handlungsort bestimmt sich nicht nach dem Ort, an dem das Produkt in Verkehr gebracht wurde, sondern nach dem Ort, an dem das Schadensereignis im Herstellungsprozess seine Ursache hat (EuGH C-45/13 Kainz, EuZW 2014, 232). Der EuGH hat ferner ausgeführt, dass für die besondere Zuständigkeitsregelung sowohl Handlungs- als auch Erfüllungsort nach Wahl des Klägers maßgeblich sein können. Soweit die Beklagte in den Anlagen zur Klage Urteile erstinstanzlicher Gerichte anführt, die aus der Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 2014 (EuGH C-45/13 Kainz, EuZW 2014, 232) folgern, dass für Ansprüche aus Produkthaftung nunmehr allein der Handlungsort maßgeblich sei, ist dem nicht zu folgen. Denn die genannte Entscheidung verhält sich nicht zu der Frage des Erfüllungsortes. Dieser hatte letztlich für die vom EuGH entschiedene Rechtsfrage keinerlei Bedeutung (vgl. KG Berlin, Urteil vom 27. Mai 2019 – 20 U 115/17 –, Rn. 15, juris)). Entsprechend ist auch hier nach Wahl der Klägerin auf den Erfolgsort abzustellen. Der Erfolgsort der Schadensverwirklichung ist der Ort, an dem das auslösende Ereignis konkret seine schädigende Wirkung entfaltet (EuGH C-189/08 Zuid-Chemie, NJW 2009, 350). Das ist beim Einsetzen einer vermeintlich fehlerhaften Spirale der Ort, an dem die Spirale eingesetzt wurde, da erst hierdurch die potenziellen Schäden in Gang gesetzt werden. Mithin ist dies der Behandlungsort in der Frauenarztpraxis Dr. N. O., P.-straße N13, R.
46Art. 7 Nr. 2 EuGVVO begründet neben der internationalen auch die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Aachen (Thode/Vorwerk/Wolf, ZPO, Brüssel Ia-VO Art. 7 Rn. 67).
47Die Klägerin hat ferner auch ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO in Bezug auf ihren Klageantrag zu 2) durch nicht ausschließbare zukünftige Folgeschäden.
48II.
491.Die Klägerin hat gegen d Beklagte einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe von 7.500,00 € aus §§ 1 Abs. 1 S. 1 ProdHaftG i. V. m. § 8 S. 2 ProdHaftG, §§ 823, 253 Abs. 2 BGB .
50Das anzuwendende materielle Recht richtet sich nach der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des europäischen Parlaments und Rates vom 11. Juli 2007, da der vorliegende Sachverhalt eine Verbindung zum Recht verschiedener Staaten aufweist und zwischen den Parteien kein Vertragsverhältnis besteht. Gemäß Art. 5 Abs. 1a) der VO EG Nr. 864/2007 beurteilt sich der vorliegende Sachverhalt nach dem deutschen Recht, da das Produkt von der Beklagten in Deutschland in Verkehr gebracht worden ist und die Klägerin in Deutschland ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
51Nach § 1 Abs. 1 ProdHaftG ist der Hersteller eines fehlerhaften Produktes verpflichtet, dem Geschädigten Schadensersatz zu leisten, wenn durch den Fehler des Produkts eine Person in ihrer Gesundheit verletzt wird. Gemäß § 8 S. 2 ProdHaftG erfasst die Ersatzpflicht auch einen Schaden, der nicht Vermögensschaden ist.
52Das von der Beklagten hergestellte Produkt wies einen Fehler auf. Gemäß § 3 Abs. 1 ProdHaftG weist ein Produkt ein Fehler auf, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise erwartet werden kann.
53Die Fehlerhaftigkeit des IUP ist hier auf einen Fabrikationsfehler zurückzuführen. Ein Fabrikationsfehler liegt vor, wenn ein einzelnes Produkt denjenigen Anforderungen nicht genügt, die sich der Hersteller selbst auferlegt hat, wenn es also den für die Produktserie definierten Sicherheitsstandard verfehlt (MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, ProdHaftG § 3 Rn. 42). Davon ist vorliegend auszugehen.
54Das der Klägerin am 06.06.2017 eingesetzte IUP litt unter einem Fabrikationsfehler. Für das Vorliegen der Tatsache, dass das Produkt fehlerhaft war, trägt die Klägerin im Grundsatz die Darlegungslast und Beweislast (§ 1 Abs. 4 S. 1 ProdHaftG). Die Beklagte selbst hat jedoch für die von ihr hergestellten Produkte mit den Lotnummern N02 / N03 / N04 / N05 / N06 / N07 / N01 / N08 / 0217 / N09 / N10 eine Warnmeldung herausgegeben und auf die Brüchigkeit durch die fehlerhafte Dispersion hingewiesen.
55Das der Klägerin am 06.06.2017 eingesetzte IUP ist mit der Lotnummer N01 von diesem Fabrikationsfehler betroffen. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 5. März 2015 – C-503/13 und C-504/13 –, juris) können alle Produkte einer Gruppe oder Serie als fehlerhaft eingestuft werden, ohne dass ein Fehler des konkreten betreffenden Produkts nachgewiesen zu werden braucht, wenn ein Fehler der Produkte derselben Produktgruppe oder Produktionsserie festgestellt wird und dies medizinische Geräte – wie Herzschrittmacher und implantierbaren Cardioverten Defibrillatoren – betrifft, bei denen die Anforderungen an ihre Sicherheit, die die Patienten zu erwarten berechtigt sind, in Anbetracht ihrer Funktion und der Situation besonderer Verletzlichkeit der diese Geräte nutzenden Patienten besonders hoch ist und der potenzielle Mangel an Sicherheit mit einer anormalen Potenzialität eines Personenschadens einhergeht (EuGH, Urteil vom 5. März 2015 – C-503/13 und C-504/13 –, Rn. 39 f. , juris)
56Diese Rechtsprechung ist auch hier im Falle eines IUP anzuwenden. Dass bei einem Medizinprodukt, das wie vorliegend in den Körper eines Menschen eingesetzt wird, ein Bruchstück häufig nur operativ entfernt werden kann, trägt schon durch die Notwendigkeit einer Operation unter Vollnarkose durch die Narkotisierung ein erhöhtes Risiko für Personenschäden in sich.
57Der Vortrag der Beklagten, Lotnummer und Identifikationsnummer passten nicht zusammen, stellt die Fehlerhaftigkeit der der Klägerin eingesetzten Spirale nicht in Frage. Zunächst ist festzustellen, dass die Bescheinigung der Gynäkologin Dr. O. (Anlage K3) für das eingesetzte IUP die Lotnummer N01 ausweist. Ob und inwiefern die in dieser Bescheinigung dokumentierte Identifikationsnummer die Zugehörigkeit zu einer von dem Fabrikationsfehler betroffenen Charge in Frage stellt, teilt die Beklagte nicht mit. Es kann daher nicht beurteilt werden, ob das IUP nicht auch nach der Identifikationsnummer einer betroffenen Charge angehört.
58Der bei der Klägerin eingetretene Schaden ist auch kausal auf den Produktfehler zurückzuführen. Hierfür trägt die Klägerin grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast (§ 1 Abs. 4 S. 1 ProdHaftG). Die hierauf zielende Behauptung hat die Beklagte indes nicht hinreichend substantiiert in Frage stellen können.
59Hierbei ist zunächst maßgeblich, dass für die klägerische Behauptung der Umstand streitet, dass sich im Fall der Klägerin genau das Risiko verwirklicht hat, vor dem durch die Beklagte selbst gewarnt wurde. Auch bei der Klägerin sind bei dem Versuch, die Spirale herauszuziehen, die Seitenarme abgebrochen und im Körper verblieben. Der hier in Rede stehende Produktfehler war danach zum einen generell abstrakt geeignet, den eingetretenen Gesundheitsschaden zu verursachen, zudem hat sich hier das insoweit typische Risiko verwirklicht. Hinzu kommt, dass der Bruch der Seitenarme des IUP nach dem von der Beklagten selbst eingereichten Aufklärungsbogen „Thieme Compliance, Einlegen und Wechsel eines Intrauterinpessars" offenbar nicht zu den bekannten Risiken bei fachgerechter Verwendung zählt. Im Abschnitt Komplikationen / Folgeerscheinungen werden die bekannten Risiken ausführlich in zwölf Unterpunkten beschrieben; der Bruch des IUP wird dort nicht genannt. Solche Aufklärungsbögen werden von den Verlagen nicht zuletzt wegen des hohen Haftungsrisikos der medizinischen Einrichtungen im Zusammenhang mit den sie treffenden Aufklärungspflichten (§ 630e BGB) regelmäßig sorgfältig unter Auswertung der fachmedizinischen Erkenntnisse der Zeit erstellt (vgl. LG Berlin, Urteil vom 03.03.2023, Az.: 17 O 4/22, Bl. 573 ff. d.A.). Bei dieser Sachlage reicht das einfach Bestreiten der Beklagten nicht aus, die hierdurch indizierte Kausalität in Frage zu stellen, ohne dass Anhaltspunkte für einen alternativen Geschehensablauf bestehen oder aufgezeigt werden.
60Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vortrag der Beklagten, die maximale Anwendungsdauer des IUP sei bei der Extraktion am 26.08.2020 um zwei Monate und 20 Tage überschritten worden. Mit Blick auf die gerichtsbekannten Terminsvorläufe der Fachärzte ist eine zwingend taggenaue Einhaltung der maximalen Tragefrist eines IUP nicht mit den Anforderungen an seine Sicherheit vereinbar. Dementsprechend spricht die seitens der Beklagten als Anlage B10 vorgelegte Patienteninformation hinsichtlich der Tragedauer lediglich von einer Empfehlung, wobei es hier auch nicht um das Versagen des contraceptiven Schutzes, sondern um ein Zerbrechen des Produktes mit schwerwiegenden Folgen geht. Soweit die Beklagte zudem auch auf die Wirkung des Säuregehalts des Menstruationsblutes und der Gebärmutterflüssigkeit auf die Stabilität des Materials verweist, stellt dies nicht die grundsätzliche Sicherheit des als Medizinprodukt zugelassenen IUP in Frage. Die hier mit Blick auf die empfohlene Gesamttragedauer in Rede stehende geringe Überschreitung der empfohlenen Tragefrist kann – ohne dass sich die Haftung der Beklagten aus einem anderen Grund ergäbe – nicht ihren Grund in einem besonderen Säuregehalt der Gebärmutterflüssigkeit der Klägerin haben, zumal für die zivilrechtliche Haftung ohnehin eine kumulative Gesamtkausalität ausreichend ist (vgl. BGHZ 174, 205, Rn. 11; BGH Urteil vom 10.05.1990, IX ZR 113/89 Rn. 22 – jeweils zitiert nach juris).
61Die Höhe der von der Beklagten der Klägerin geschuldeten billigen Entschädigung in Geld i.S.d. § 8 Satz 2 ProdHaftG bemisst die Kammer mit 7.500 00 €.
62Hinsichtlich der hierfür relevanten Umstande konnte sich die Kammer aufgrund des als unstreitig zu behandelnden Sachverhalts und den glaubhaften Angaben der Klägerin im Termin am 15.05.2023 ein tragfähiges Bild machen. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang der Maßstab des § 287 ZPO, wonach sekundäre Folgen lediglich als überwiegend wahrscheinlich erscheinen müssen.
63Die Klägerin hat im März 2020 von ihrer Frauenärztin die Nachricht über die Fehlerhaftigkeit des ihr eingesetzten IUPs erhalten. Am 26.08.2020 sind bei dem Versuch, das IUP zu entfernen, die Seitenarme des IUP im Uterus abgebrochen und dort verblieben. Die sich anschließende Ungewissheit, die schließlich in der operativen Entfernung des Restes eines Seitenarmes aus der Gebärmutter mündete, beschreibt die Klägerin als „eine ziemliche Achterbahnfahrt“. Es sei auch sehr belastend gewesen, in dieser Zeit unter anderem stets das Periodenblut zu untersuchen, um etwaige Bruchstücke der Ärmchen zu finden. Sie sei der Zeit extrem besorgt gewesen, wie es mit dem dann verbliebenen Ärmchen in der Gebärmutter weitergehen würde. Bei einer Kontrolluntersuchung im November 2020 habe der zweite Arm in der Gebärmutter schnell lokalisiert werden können, sodass ihr die Frauenärztin sofort die Überweisung zur Operation ausgestellt habe. Bei einer belastenden Wartezeit bis zum 21.12.2020 hat sich die Klägerin der festgestellten Operation in Vollnarkose unterziehen müssen, wobei mit Blick auf die vielen kleinen Plastikteilchen neben der Ausschabung auch eine Spülung der Gebärmutter notwendig geworden sei. Die anschaulichen Schilderungen der Klägerin stehen nicht ist Frage. So hat sie unumwunden erklärt, dass die Operation damals gut verlaufen sei. Es verbleibe indes die Sorge, ob das Risiko von Fehlgeburten erhöht oder die Möglichkeit, schwanger zu werden, erschwert sei. Körperliche Probleme aufgrund der in ihrem Uterus befindlichen Bruchstücke habe sie nicht gehabt. Besondere Unterleibschmerzen habe sie nach der Operation etwa 3 bis 5 Tage gehabt. Insgesamt hat die Anhörung das schriftsätzlich vorgetragene Bild bestätigt, welches nach dem Ermessen der Kammer zu dem hier ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrag führt.
64Der Zinsanspruch ergibt sich aus dem Gesetz (§§ 286, 288 BGB). Insbesondere hat sie mit Schreiben vom 12.01.2022 zur Zahlung bis zum 26.01.2022 aufgefordert, so dass jedenfalls ab dem 26.01.2022 Verzug eingetreten ist.
652.Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich zu befürchtender weiterer zukünftiger Schäden welche im Zusammenhang mit der von der Beklagten hergestellten bei der Klägerin eingesetzten Kupferspirale stehen gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG.
663.Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Ersatz ihrer vorgerichtlichen Anwaltskosten berechnet nach einem Gegenstandswert von 7.500,00 EUR in Höhe von brutto 919,87 € gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG, wobei keine Bedenken gegen den Ansatz einer Geschäftsgebühr Nr. 2300, 1008 VV RVG von 1,5 bestehen und wegen des Haftungsgrundes auf die vorstehenden Ausführungen Bezug genommen werden kann.
674.Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 709 ZPO.
68Eine Kostenbeteiligung nach § 92 ZPO trifft die Klägerin hier nicht, denn die Abweichung der Entscheidung zum Schmerzensgeld von ihrem Klageantrag ist lediglich der gerichtlichen Ermessensausübung zuzuschreiben und nicht darauf, dass die Partei mit einem wesentlichen Bemessungsgesichtspunkt beweisfällig geblieben ist oder dass eine Einwendung des Beklagten durchgreift (z.B. Mitverschulden) (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 4. Juni 2020 – 22 U 34/19 –, Rn. 83, juris)
69Streitwert: 12.500,00 €
70(Klageantrag zu 1: 10.000,00 €) (Klageantrag zu 2: 2.500,00 €)