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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids, insbesondere ob der Beklagte sein Auswahlermessen fehlerfrei ausgeübt hat.
2Der Kläger ist der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer der Ende des Jahres 2015 gegründeten B GmbH (im Folgenden: GmbH).
3Zunächst war der Kläger gemeinsam mit Herrn C an der GmbH beteiligt und hielt 51 % der Gesellschaftsanteile. Mit notariell beurkundetem Vertrag vom 30.08.2018 übertrug Herr C seinen 49 %-igen Gesellschaftsanteil an der GmbH auf den Kläger. Zugleich gab Herr C seine bis dahin bestehende Stellung als Prokurist der GmbH auf. Die Geschäftsführung hatte der Kläger über den gesamten Zeitraum allein inne.
4Der Kläger gab zuletzt für das Jahr 2016 eine Körperschaft- und Umsatzsteuererklärung ab. Ab dem ersten Quartal 2020 gab er auch keine Umsatzsteuervoranmeldungen mehr ab.
5Bereits mit Schreiben vom 11.07.2019 hatte der Beklagte Herrn C angehört, ob dieser als Haftungsschuldner für Steuerrückstände der GmbH in Anspruch genommen werden könne. Es sei die Pflicht zur Abgabe der Umsatzsteuererklärung 2016 verletzt worden. Herr C habe Einzelprokura gehabt. Daraufhin teilte Herr C – anwaltlich vertreten – mit, er sei als Prokurist von der Geschäftsführung nicht mit der Gesamtleitung der Gesellschaft und Verantwortung für das Unternehmen in jeglicher Hinsicht betraut gewesen, insbesondere nicht mit der Finanzbuchführung der GmbH. Er habe in zeitlicher und sachlicher Hinsicht keinen umfassenden Überblick über das Vermögen der GmbH und deren Verbindlichkeiten gehabt, insbesondere nicht über den Stand der Erfüllung der steuerlichen Pflichten der GmbH. Er sei zudem seit dem 30.08.2018 auch nicht mehr Gesellschafter.
6Für die Jahre 2016 bis 2018 führte der Beklagte auf Grundlage der Prüfungsanordnung vom 23.04.2020 eine Außenprüfung bei der GmbH durch, die mit Prüfungsbericht vom 20.01.2021, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird, abschloss. In der Folge erließ der Beklagte am 25.03.2021 geänderte Körperschaftsteuer- und Umsatzsteuerbescheide 2016 bis 2018. Die hieraus resultierenden Nachforderungen waren zunächst am 29.04.2021 fällig. Aufgrund eines Bekanntgabefehlers gab der Beklagte die vorgenannten Änderungsbescheide am 28.09.2021 erneut an die GmbH bekannt und stellte die Nachforderungsbeträge nunmehr zum 02.11.2021 fällig.
7Über das Vermögen der GmbH wurde auf Antrag des Beklagten vom 16.07.2021 aufgrund eines entsprechenden Beschlusses des Amtsgerichts D am ….12.2021 im Verfahren unter dem Aktenzeichen … IN …/21 wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung das Insolvenzverfahren eröffnet. Im Insolvenzverfahren wurden Forderungen des Beklagten wegen Körperschaft- und Umsatzsteuer 2016 bis 2020 in Höhe von insgesamt 97.416,66 EUR nebst Zinsen über 2.588,- EUR und Säumniszuschlägen in Höhe von 6.521,50 EUR gegenüber der GmbH zur Tabelle angemeldet und durch den Insolvenzverwalter – nach vorläufigem Widerspruch – zur Insolvenztabelle festgestellt. Die GmbH hatte gegen diese Forderungen keinen Widerspruch erhoben.
8Bereits vor der Feststellung durch den Insolvenzverwalter zur Insolvenztabelle, nämlich mit Bescheid vom 16.07.2021, hatte der Beklagte den Kläger – nachdem dieser mit Verfügung vom 06.05.2021 dazu angehört worden war – für Steuerrückstände der GmbH wegen Körperschaft- und Umsatzsteuer der Jahre ab 2016 nach § 34 der Abgabenordnung (AO) in Haftung genommen.
9Der Haftungsbescheid wurde wie folgt begründet:
10Der Kläger habe als Geschäftsführer für eine Tilgung der Steuerrückstände sorgen müssen. Er, der Beklagte, habe den Kläger zur Mitwirkung aufgefordert, welche Forderungen anderer Gläubiger vorrangig befriedigt worden seien. Dieser Aufforderung sei der Kläger nicht nachgekommen. Der Grundsatz der anteiligen Tilgung könne daher nicht angewandt werden. Es sei davon auszugehen, dass der GmbH im Haftungszeitraum ausreichend Mittel zur Verfügung gestanden hätten.
11In Bezug auf die rückständigen Umsatzsteuern für das erste Quartal 2020 bis einschließlich des ersten Quartals 2021, die auf Schätzungen beruhten, resultiere die Pflichtverletzung des Klägers aus der Nichtabgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen. Auf eine Zahlungspflichtverletzung komme es insoweit nicht an. Der Kläger habe seine Pflicht zur rechtzeitigen Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen sowie zur Entrichtung der rückständigen Steuern mindestens grob fahrlässig verletzt.
12Haftungszeitraum sei der 22.11.2018 (Fälligkeit des ältesten Rückstands) bis zum 16.07.2021. Zu einer eingetretenen Zahlungsunfähigkeit sei nichts vorgetragen.
13Da sich keine Anhaltspunkte ergeben hätten, dass im Haftungszeitraum neben dem Kläger noch eine weitere Person die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft zu erfüllen hatte, werde nur der Kläger zur Haftung herangezogen.
14Die Inanspruchnahme der GmbH habe nicht zum Erfolg geführt. Deshalb sei der Haftungsbescheid ermessensgerecht.
15Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftungsbescheid und insbesondere die Anlage zum Haftungsbescheid Bezug genommen.
16Mit seinem hiergegen am 06.08.2021 erhobenen Einspruch hatte der Kläger unter anderem die Höhe der Steuerschulden der GmbH bestritten, ohne dies jedoch näher zu substantiieren.
17Der Kläger hatte im Einspruchsverfahren die Aussetzung der Vollziehung beantragt. Nachdem der Beklagte die Vollziehung nur zum Teil ausgesetzt hatte, stellte er einen Antrag auf gerichtliche Aussetzung der Vollziehung. Dieser Antrag war in geringem Umfang erfolgreich (Beschluss vom 22.02.2022 im Verfahren 12 V 2960/21). In Höhe eines Haftungsbetrags von 99.998,26 EUR wurde der Antrag abgelehnt. Die Ablehnung des Antrags in Bezug auf diesen Haftungsbetrag wurde wie folgt begründet:
18- Der Kläger habe teils – wie es sich aus dem Betriebsprüfungsbericht vom 02.01.2021 ergebe – fehlerhafte und teils gar keine Erklärungen bzw. Voranmeldungen zur Körperschaft- und Umsatzsteuer abgegeben und damit seine Pflicht als Geschäftsführer, rechtzeitig richtige Steuererklärungen abzugeben und die fälligen Ansprüche zu erfüllen, verletzt und damit grob pflichtwidrig gehandelt. Dabei sei es unerheblich, dass die Steuernachforderungen aufgrund der Außenprüfung erst nach dem Erlass des Haftungsbescheides mit Bescheid vom 28.09.2021 festgesetzt und erst am 02.11.2021 fällig geworden seien, weil eine Haftungsinanspruchnahme lediglich die Entstehung der der Haftung zugrundeliegenden Steuern voraussetze (Verweis auf § 191 Abs. 3 Satz 4 AO). Der Kläger habe auch keine substantiierten Einwendungen gegen die Steuerforderungen gegenüber der GmbH erhoben.
19- Diese Pflichtverletzungen seien ursächlich für einen Haftungsschaden in Höhe von insgesamt 99.998,26 EUR. Aus dem Grundsatz der anteiligen Tilgung ergebe sich keine Haftungsquote von unter 100 %. Zwar sei die Pflichtverletzung dann nicht ursächlich für den Steuerausfall, wenn die Steuer auch bei rechtzeitiger Erklärung oder Anmeldung nicht hätte entrichtet werden können. Der Kläger habe indes bei der Ermittlung der Haftungsquote nicht mitgewirkt und Anhaltspunkte für eine geringere Haftungsquote seien nicht ersichtlich. Da die Steuererklärungen nicht oder mit falschem Inhalt abgegeben worden seien und dem Kläger als Geschäftsführer insoweit eine grob fahrlässige Verletzung seiner Sorgfaltspflichten vorzuwerfen sei, komme es nicht auf die Vermögenssituation der GmbH im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung oder Fälligkeit an.
20- Ermessensfehler seien bei summarischer Prüfung nicht ersichtlich. Der Beklagte habe insbesondere sein Entschließungsermessen zutreffend ausgeübt. Da der Kläger der alleinige Geschäftsführer der GmbH sei, seien Fehler im Auswahlermessen nicht erkennbar.
21Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss vom 22.02.2022 Bezug genommen.
22Der Beklagte hatte die dem Haftungsbescheid zugrundeliegenden Steuerforderungen bereits am 02.02.2022 zur Insolvenztabelle angemeldet. Die GmbH hat der Anmeldung nicht widersprochen. Demgegenüber hat der Insolvenzverwalter der Anmeldung zwar zunächst widersprochen, die Forderungen aber nach Prüfung am 20.04.2022 zur Tabelle festgestellt.
23Mit Einspruchsentscheidung vom 25.08.2022 wurde dem Einspruch des Klägers insoweit stattgegeben, als das Finanzgericht die Vollziehung des Haftungsbescheids ausgesetzt hat; im Übrigen wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Begründung der Einspruchsentscheidung, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, entsprach im Wesentlichen der Begründung des gerichtlichen Beschlusses vom 22.02.2022 im Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung.
24Mit der dagegen gerichteten Klage (Eingang bei Gericht: 22.09.2022) verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und trägt zur Begründung vor.
25Der Beklagte habe ohne Überprüfung der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Er habe lediglich mit Schreiben vom 07.04.2021 beim Amtsgericht D angefragt, ob schon ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH anhängig sei.
26Zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids (16.07.2021) habe es weder fällige noch rückständige Steueransprüche gegeben, weshalb die Inanspruchnahme des Klägers ermessenswidrig gewesen sei. Diese Rechtswidrigkeit werde nicht durch Zeitablauf geheilt.
27Überdies hätte Herr C als potentieller Haftungsschuldner neben dem Kläger in Anspruch genommen werden können. Dieser habe seit dem 01.01.2016 Einzelprokura gehabt und sei ermächtigt gewesen, den täglichen Geschäftsbetrieb der GmbH zu führen (…, Erstellung und Bezahlung von Rechnungen, Kontrolle des Zahlungsverkehrs). Er habe sich auch um die steuerlichen Belange der GmbH gekümmert und in diesem Zusammenhang der E mbH Vollmacht erteilt. Die Einzelprokura sei erst am 05.09.2018 erloschen. Bis zum 04.09.2018 sei Herr C im Namen der GmbH aufgetreten und habe als Verfügungsberechtigter der GmbH die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters, die er rechtlich in der Zeit vom 01.01.2016 bis zum 04.09.2018 erfüllen konnte und tatsächlich erfüllt hat, gehabt (§ 35 in Verbindung mit § 34 AO).
28Dem Kläger sei bekannt, dass Herr C Forderungen des Finanzamts beglichen habe; er wisse nicht, ob es sich dabei um Steuerforderungen (aufgrund ihm zugerechneter verdeckter Gewinnausschüttungen) oder um Haftungsforderungen gehandelt habe.
29Im Haftungsbescheid sei nicht dargelegt, weshalb Herr C nicht in Anspruch genommen werde; entweder habe der Beklagte sein Auswahlermessen nicht erkannt oder er habe versäumt, es zu begründen. Bereits wegen dieses Begründungsmangels sei der Haftungsbescheid formell rechtswidrig.
30Es sei zudem zu beanstanden, dass die Rechtsprechungsgrundsätze zur Zweigliedrigkeit von Ermessensentscheidungen in Haftungsfällen (Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen der Inanspruchnahme auf der ersten Stufe und Ermessensentscheidung auf der zweiten Stufe) missachtet worden seien.
31Der Kläger habe bereits vorgetragen, dass Herr C als Prokurist für die kaufmännische Abwicklung und Dokumentation aller Geschäftsvorfälle zuständig gewesen sei.
32Soweit Herr C dies bestritten habe, sei dies eine wahrheitswidrige, durch die Befragung der E mbH widerlegbare Antwort. Möglicherweise gebe es auch weitere Schriftsätze an den Beklagten, die Herr C unterschrieben habe.
33Die Frage des Auswahlermessens sei nicht Gegenstand des auf Aussetzung der Vollziehung gerichteten Verfahrens vor dem Finanzgericht gewesen.
34Herr C sei faktischer Geschäftsführer gewesen. So werde im Bericht über die Umsatzsteuersonderprüfung bei der GmbH vom 13.12.2016 unter Tz. 2.1 festgestellt: Herr C habe das Gewerbe bei der Stadt F angemeldet und sei als „treibende Kraft“ im Unternehmen tätig gewesen. Er habe auch die steuerlichen Berater „empfohlen/beigebracht“. Er habe zudem das dem Beklagten von der GmbH erteilte SEPA-Lastschriftmandat neben dem Kläger mitunterschrieben.
35Weiterhin nehme er (nach seiner, des Klägers, Kenntnis) widerspruchslos hin, dass die Betriebsprüfung ihm als Prokurist verdeckte Gewinnausschüttungen im Umfang seiner Gesellschaftsanteile zurechne. Dies sei als Eingeständnis seiner Rolle als faktischer Geschäftsführer zu werten, weil er sich diese Vorteile nur als Geschäftsführer habe verschaffen können. Zudem habe der Beklagte in seinem Schreiben an Herrn C vom 11.07.2019 die Vorschrift des § 35 AO nicht erwähnt und zudem den Haftungszeitraum auf die Zeit vom 10.02.2017 bis 05.09.2018 begrenzt. Eine solche lückenhafte Prüfung der Haftungsinanspruchnahme könne nicht als ernsthaft durchgeführt angesehen werden.
36Der Kläger beantragt,
37den Haftungsbescheid vom 16.07.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.08.2022 aufzuheben;
38hilfsweise, die Revision zuzulassen.
39Der Beklagte beantragt,
40die Klage abzuweisen.
41Es seien keine Ermessensfehler zu erkennen. Der Haftungsinanspruchnahme stehe nicht entgegen, dass die Steuerforderungen gegen die B GmbH aufgrund der Außenprüfung erst nach dem Erlass des Haftungsbescheides vom 16.07.2021 festgesetzt und erst am 02.11.2021 fällig geworden seien, weil die Haftungsinanspruchnahme lediglich voraussetze, dass die der Haftung zugrundeliegenden Steuern bereits entstanden und der Steueranspruch noch nicht erloschen sei.
42Soweit der Kläger – erstmals im Klageverfahren – behaupte, dass Herr C, der vom 14.01.2016 bis 05.09.2018 als Prokurist der GmbH im Handelsregister eingetragen gewesen sei, sich um die steuerlichen Belange der GmbH gekümmert habe, und deshalb die Auffassung vertrete, dieser sei auch als Haftender nach § 69 AO in Frage gekommen, werde darauf hingewiesen, dass eine Haftung des Herrn C vor Erlass des Haftungsbescheides geprüft und aus den folgenden Erwägungen verworfen worden sei:
43Eine Prokura erstrecke sich in der Regel nicht auf die Erfüllung steuerlicher Pflichten. Eine Beauftragung mit steuerlichen Aufgaben sei (auch nachdem der Beklagte bereits im Jahr 2019 eine Haftungsinanspruchnahme des Herrn C geprüft habe) nicht ersichtlich gewesen und eine Haftungsinanspruchnahme des Herrn C daher nicht ernsthaft in Betracht gekommen. Im streitgegenständlichen Haftungsbescheid vom 16.07.2021 sei zutreffend nur der Kläger in Anspruch genommen worden; es sei ausdrücklich im Haftungsbescheid ausgeführt worden, dass sich Anhaltspunkte für weitere Haftungsschuldner nicht ergeben hätten. Hiergegen habe sich der Kläger weder im Einspruchsverfahren noch im bereits abgeschlossenen Verfahren 12 V 2960/21 vor dem Finanzgericht (FG), sondern erstmals im Klageverfahren gewandt.
44Die Behauptung des Klägers, Herr C habe die E mbH bevollmächtigt, die GmbH steuerlich zu betreuen und vertreten, sei unzutreffend. Denn (nur) der Kläger habe diese am 12.01.2017 bevollmächtigt. Überdies könne sich aus der Behauptung, dass Herr C die E mbH zur Vertretung bevollmächtigt habe, keine generelle Bevollmächtigung zur Erledigung sämtlicher steuerlicher Angelegenheiten herleiten.
45Herr C sei gegenüber ihm, dem Beklagten, lediglich bei der Mitteilung der Kontonummer bzw. der Mitzeichnung des Lastschrifteinzugs der GmbH neben dem mitzeichnenden Kläger aufgetreten. Auch aus dem Betriebsprüfungsbericht vom 20.01.2021 gehe hervor, dass der Kläger (und nicht Herr C) Ansprechperson für die steuerlichen Angelegenheiten der GmbH gewesen seien.
46Zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Pflichtverletzungen habe Herr C seine Stellung als Prokurist im Übrigen bereits seit Längerem aufgegeben (Erlöschen der Prokura am 05.09.2018).
47Die Sache ist am 23.09.2024 vor dem Berichterstatter erörtert und am 15.04.2025 vor dem Senat mündlich verhandelt worden. Auf das Protokoll und die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Beklagte hat den Kläger zu Recht als Haftungsschuldner in Anspruch genommen und sein ihm eingeräumtes Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
49Nach § 191 Abs. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme durch Haftungsbescheid ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zweigliedrig. Das Finanzamt hat auf der ersten Stufe zunächst zu prüfen, ob in der Person, die es heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweiligen Haftungsvorschrift erfüllt sind. Dabei handelt es sich um eine durch das Gericht voll überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamts an, ob (Entschließungsermessen) und ggf. wen (Auswahlermessen) es als Haftenden in Anspruch nehmen will. Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 FGO auf Ermessensfehler überprüfbar (BFH, Urteil vom 13.04.1978 V R 109/75, BStBl II 1978, 508 Rz 10; BFH, Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593 Rz 12 ff.; FG Münster, rechtskräftiges Urteil vom 29.08.2019 5 K 4028/16 U, juris Rz 18).
50Weder die Prüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen (dazu I.) noch die Ermessensausübung (dazu II.) sind zu beanstanden.
51I.
52Was die Haftungsvoraussetzungen angeht, verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen im Beschluss vom 22.02.2022 im Verfahren 12 V 2960/21 und schließt sich diesen an. Insofern besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit, zumal der Kläger mit seinen (ohnehin unsubstantiierten) Einwendungen nach § 166 AO ausgeschlossen ist, nachdem sämtliche dem Haftungsbescheid zugrunde liegenden Steuerforderungen vom Insolvenzverwalter zur Tabelle festgestellt worden sind und der Kläger dieser Forderungsanmeldung als gesetzlicher Vertreter der GmbH ihnen hätte widersprechen können, dies aber nicht getan hat (vgl. BFH, Urteil vom 27.09.2017 XI R 9/16, BStBl II 2018, 515 Rz 25 ff.). Im Übrigen kommt es nicht darauf an, ob der Haftungsbescheid vor den entsprechenden Steuerbescheiden erlassen wird; die Rechtsfolge des § 166 AO knüpft allein an den Eintritt der Bestandskraft der Steuerbescheide an, weshalb es unerheblich ist, wann diese erlassen wurden.
53II.
54Auch die Ermessensausübung durch den Beklagten ist nicht zu beanstanden.
551. Bei der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners handelt es sich gemäß § 191 Abs. 1 Satz 1 AO um eine Ermessensentscheidung („kann“).
56Die Ermessensentscheidung der Finanzbehörde kann nach § 102 Satz 1 FGO von dem Gericht nur daraufhin überprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Das Gericht ist dabei nicht befugt, eigenes Ermessen anstelle des Ermessens der Finanzverwaltung auszuüben.
57Weiter ist eine Ermessensentscheidung nur dann als rechtmäßig anzusehen, wenn das Finanzamt den erheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat. Daraus folgt umgekehrt, dass die Ermessensentscheidung fehlerhaft ist, wenn die Behörde bei ihrer Entscheidung Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art, die nach dem Sinn und Zweck der Ermessensvorschrift zu berücksichtigen wären, außer Acht lässt (BFH, Urteil vom 12.12.1996 VII R 53/96, BFH/NV 1997, 386 Rz 16; FG Rheinland-Pfalz, rechtskräftiges Urteil vom 29.10.2009 5 K 1776/08 juris Rz 34, mit weiteren Nachweisen).
58Grundsätzlich ist für die Prüfung, ob der Ermessensgebrauch rechtswidrig war, auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen (BFH, Urteil vom 12.08.2009 XI R 4/08, BFH/NV 2010,393 Rz 29; BFH, Beschluss vom 16.06.2005 VII B 295/04, BFH/NV 2005, 1748 Rz 4; FG Düsseldorf, Urteil vom 24.10.2024 8 K 1894/20 H, juris Rz 271; Revision eingelegt, Az. des BFH: VII R 29/24). Den in diesem Zeitpunkt bekannten beziehungsweise erkennbaren Sachverhalt muss die Finanzverwaltung in ihrer Entscheidung zudem ausgewertet haben (FG Hamburg, rechtskräftiges Urteil vom 02.11.2010 1 K 82/02, Entscheidungen der Finanzgerichte– EFG – 2011, 598 Rz 21; FG Mecklenburg-Vorpommern, rechtskräftiges Urteil vom 16.09.2004 1 K 228/02, juris Rz 42).
592. Nach dieser Maßgabe liegen keine Ermessensfehler vor.
60a) Mit Blick auf das Entschließungsermessen wird auf die Ausführungen im Beschluss vom 22.02.2022 verwiesen, denen sich der Senat anschließt. Diesbezüglich rügt auch der Kläger keine Ermessensfehler.
61b) Es liegen auch keine Ermessensfehler im Hinblick auf das Auswahlermessen vor. Der Kläger hat insoweit erstmals im Klageverfahren geltend gemacht, dass Herr C als Prokurist und/oder als faktischer Geschäftsführer als weiterer Haftungsschuldner in Betracht gekommen wäre.
62aa) Der Vortrag einer faktischen Geschäftsführerschaft des Herrn C kann der finanzgerichtlichen Überprüfung der Ermessensentscheidung schon deshalb nicht zugrunde gelegt werden, weil er im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung dem Beklagten nicht bekannt war (vgl. BFH, Urteil vom 22.10.2024 VIII R 18/21, BStBl II 2025, 108 Rz 31 f.). Vor diesem Hintergrund muss mangels Entscheidungserheblichkeit auch dem (ohnehin unsubstantiierten) Beweisantrag des Klägers nicht nachgegangen werden, der nicht auf die Kenntnis oder ein Kennenmüssen des Beklagten, sondern auf ein Tätigwerden des Herrn C außerhalb der Kenntnissphäre des Beklagten bezogen ist.
63Dieser Umstand – sein Zutreffen unterstellt – oder die Möglichkeit dieses Umstands war auch für den Beklagten nicht erkennbar; vielmehr bestand nach der Anhörung im Jahr 2019 und dem Nichtauftreten des Herrn C gegenüber dem Finanzamt kein Anlass für den Beklagten, einer möglichen Haftung weiter nachzugehen. Insofern hat der Beklagte auch keinen Sachaufklärungsfehler begangen.
64bb) Auch mit Blick auf die Stellung des Herrn C als Prokurist hat der Beklagte keine Ermessensfehler begangen und insbesondere seine Pflicht zur vollständigen Sachaufklärung und zur Begründung der Ermessensentscheidungen nicht verletzt.
65Das Finanzamt muss hinsichtlich aller möglichen weiteren Haftungsschuldner ermitteln, ob deren Inanspruchnahme in Betracht kommt (BFH, Urteil vom 07.04.1992 VII R 104/90, BFH/NV 1993, 213 Rz 16). Wie intensiv das Auswahlermessen von der Behörde zu begründen ist, ist allerdings eine Frage des Einzelfalls und davon abhängig, welche für die Behörde ersichtlichen besonderen Umstände auf Seiten des jeweiligen Gesamtschuldners bestehen, die für oder gegen seine Inanspruchnahme sprechen und die deshalb in die Ermessenserwägung und dementsprechend in die schriftliche Begründung des betreffenden Verwaltungsakts einfließen müssen (BFH, Urteil vom 02.12.2003 VII R 17/03, BFHE 204, 380 Rz 25). Zur Sachaufklärung und zur Begründung des Auswahlermessens besteht insbesondere Anlass, wenn der in Anspruch genommene Haftungsschuldner auf einen möglichen oder tatsächlichen weiteren Haftungsschuldner hinweist (vgl. BFH, Urteil vom 04.10.1988 VII R 53/85, BFH/NV 1989, 274 Rz 14) oder dem Finanzamt unabhängig von einem Vortrag des in Anspruch Genommenen die Umstände, die die mögliche Existenz eines weiteren Haftungsschuldners begründen, bekannt sind (vgl. BFH, Urteil vom 07.04.1992 VII R 104/90, BFH/NV 1993, 213 Rz 18 f.; FG Münster, rechtskräftiges Urteil vom 03.03.2016 1 K 2243/12 L, Zeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht – ZinsO – 2016, 1760 Rz 135 ff.).
66Im Streitfall hat der Beklagte seinen Sachaufklärungs- und Begründungspflichten genüge getan. Die Begründung des Haftungsbescheids lässt erkennen, dass er sich seines Auswahlermessens bewusst war, seine Ermittlungen aber keine Anhaltspunkte dafür ergeben haben, dass neben dem Kläger „noch eine andere Person die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft zu erfüllen hatte“. Vor dem Hintergrund, dass der Kläger selbst einen umfassenden Einblick in die Rolle des Herrn C und in die Verteilung der (insbesondere steuerlichen) Aufgaben und Pflichten hatte, war eine tiefergehende Begründung nicht erforderlich. Hätte der Kläger noch im Verwaltungsverfahren auf eine mögliche Inanspruchnahme des Herrn C verwiesen, hätte die Inanspruchnahme weiter untersucht und die Nichtinanspruchnahme eingehender begründet werden müssen. Allein die (dem Beklagten bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung bekannten) Tatsachen, dass Herr C als Prokurist bestellt war und dass es Anlass zu Vermutung gab, dass die weitere (unleserliche), neben der Unterschrift des Klägers auf dem Lastschrifteinzugsmandat angebrachte Unterschrift dem Prokuristen zuzuordnen, waren kein hinreichender Anlass, weitere Ermittlungen anzustellen und in der Begründung niederzulegen. Daher war auch insoweit mangels Entscheidungserheblichkeit dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag nicht nachzugehen. Da die Voraussetzungen für die Haftung eines Prokuristen insbesondere von dessen Pflichtenstellung und dessen Befugnissen in steuerlichen Angelegenheiten, die wesentlich durch den im Innenverhältnis zugeteilten Aufgabenbereich bestimmt wird (vgl. BFH, Beschluss vom 23.04.2007 VII B 92/06, BStBl II 2009, 622 Rz 8), abhängen, musste der Beklagte mit Blick auf einen in Steuersachen nicht nach Außen in Erscheinung getretenen Prokuristen (vgl. zum gegenteiligen Fall FG Münster, rechtskräftiges Urteil vom 03.03.2016 1 K 2243/12 L, ZInsO 2016, 1760 Rz 135 ff. ) keine dahingehenden Ermittlungen anstellen, zumal dem Kläger diese Innenvereinbarungen als Geschäftsführer bekannt waren und er seinerseits aufgrund der Ausführungen in der Begründung des Haftungsbescheids, es habe keine Anhaltspunkte für weitere Personen gegeben, die die steuerlichen Pflichten der GmbH zu erfüllen hatten, Anlass hatte, auf eine mögliche Inanspruchnahme des Herrn C hinzuweisen.
67cc) Eine mögliche Haftungsinanspruchnahme des Herrn C kommt schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt in Betracht, dass ausnahmsweise Tatsachen, die (trotz fehlerfreier Sachaufklärung durch das Finanzamt) erst im Klageverfahren bekannt werden, dazu führen können, dass dem Finanzamt eine fehlerhafte Ausübung des Auswahlermessens vorgeworfen werden kann (siehe dazu FG Münster, Urteil vom 19.12.2022 4 K 1158/20 L, EFG 2023, 377 Rz 56 ff. mit einer umfassenden Darstellung der Rechtsprechung des BFH; Revision anhängig unter VII R 4/23). Denn nach der Rechtsprechung des BFH, der der Senat sich anschließt, kann eine trotz fehlerfreier Sachaufklärung nachträglich bekannt gewordene Tatsache, die nur für die Ermessenserwägungen und nicht auch für die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftungsinanspruchnahme bedeutsam ist, keinen Ermessensfehler begründen (BFH, Urteil vom 20.09.2016 X R 36/15, BFH/NV 2017, 593 Rz 13). Nur wenn eine solche Tatsache sich auf beide Stufen (Haftungsvoraussetzungen und Ermessensgebrauch) auswirkt, können neue Tatsachen der Ermessensentscheidung nachträglich „den Boden entziehen“. Die vom Kläger vorgetragenen Umstände zur Stellung des Herrn C haben aber auf die Haftungsvoraussetzungen im Hinblick auf seine Inanspruchnahme keinen Einfluss.
68III.
69Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
70IV.
71Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Denn es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung unter Anwendung allgemein anerkannter Rechtsprechungsgrundsätze.
72… … …