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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Kindergeld hat.
2Die Klägerin ist mit B verheiratet. Die Ehegatten sind Eltern von acht Kindern (C, geb. am xx.xx.2009; D, geb. am xx.xx.2010; E, geb. am xx.xx.2012; F, geb. am xx.xx.2014; G, geb. am xx.xx.2026; H, geb. am xx.xx.2017; K, geb. am xx.xx.2019; L, geb. am xx.xx.2021).
3Die Klägerin und ihr Ehemann sind niederländische Staatsangehörige und wohnten ursprünglich in den Niederlanden. Im Dezember 2019 sind sie zusammen mit ihren Kindern in die grenznahe Stadt X umgezogen. Der Ehemann arbeitet weiterhin in den Niederlanden bei der dort ansässigen Firma Z. Er bezieht nach eigenen Angaben einen Netto-Lohn von ca. 2.500,00 € pro Monat. Weiterhin bezieht der Kindesvater aufgrund seiner Berufstätigkeit in den Niederlanden die niederländischen Familienleistungen „kinderbijslag“ (für alle Kinder 2.315,00 € pro Quartal) und „kindgebonden budget“ (für alle Kinder 8.296,00 € für das Jahr 2022). Die Stadt X gewährt dem Kindesvater Wohngeld (vgl. Wohngeldbescheid der Stadt X vom xx.xx.2020 für den Zeitraum vom 01.01.2020 bis 31.12.2020 über 341,00 € monatlich; Wohngeldbescheid vom xx.xx.2022 für den Zeitraum vom 01.04.2022 bis 31.03.2023 über 609,00 € monatlich). Weiterhin erhält die Klägerin Kinderzuschlag nach § 6a des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) (Bescheid der Familienkasse vom xx.xx.2022 über 1.313,00 € monatlich).
4Am 02.01.2020 stellte die Klägerin erstmals einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld (Kindergeldakte Bl. 1ff.). Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12.08.2020 für den Zeitraum von Dezember 2019 bis Februar 2020 ab; mit weiterem Bescheid vom selben Tag lehnte die Beklagte den Kindergeldanspruch auch für den Folgezeitraum ab März 2020 ab (Kindergeldakte Bl. 91ff.). Die hiergegen gerichteten Einsprüche der Klägerin wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidungen vom 19.11.2020 als unbegründet zurück (Kindergeldakte Bl. 178). Daraufhin hat die Klägerin zwei selbständige Anträge auf Gewährung von Prozesskostenhilfe beim Finanzgericht Münster eingereicht, die unter den Aktenzeichen 13 K .../20 und 13 K .../20 geführt wurden. Die Verfahren sind durch Beschluss vom 18.12.2020 verbunden worden. Mit Beschluss vom 23.04.2021 hat der 13. Senat die Prozesskostenhilfe antragsgemäß bewilligt. Jedoch hat die Klägerin im Nachgang nicht Klage erhoben.
5Am 17.12.2021 reichte die Klägerin die Anlage Kind für ihr am xx.xx.2021 geborenes Kind L bei der Beklagten ein (Kindergeldakte Bl. 220). Auf Nachfrage der Beklagten reichte die Klägerin am 14.01.2022 einen Antrag auf Kindergeld ein, mit welchem sie die Gewährung von Kindergeld für sämtliche Kinder rückwirkend ab dem 01.07.2021 beantragte (Kindergeldakte Bl. 262).
6Mit Bescheid vom 25.01.2022 lehnte die Beklagte den Kindergeldantrag für das Kind L mit Wirkung ab Dezember 2021 ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 oder 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) nicht erfüllt seien. Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass sie und ihr Ehemann über einen Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügten. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin fristgemäß Einspruch ein (Kindergeldakte Bl. 298). Mit Einspruchsentscheidung vom 28.11.2022 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück (Kindergeldakte Bl. 369).
7Daraufhin hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, dass sie Anspruch auf deutsches Kindesgeld habe, wobei dieses um die in den Niederlanden gewährten, vorrangigen Familienleistungen zu kürzen sei. Die Regelung in § 62 Abs. 1a Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. den Regelungen des FreizügG/EU verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004. Insbesondere sei es unzulässig, Unionsbürgern nur dann einen Kindergeldanspruch zu gewähren, wenn sie über ausreichende Existenzmittel verfügten. Da für inländische Staatsangehörige der Kindergeldanspruch nicht an die Prüfung des Einkommens geknüpft sei, dürfe dies auch bei Unionsbürgern nicht geschehen. Der Umstand, dass dem Kindesvater Wohngeld durch die Stadt X gewährt werde, lasse nicht darauf schließen, dass er und die Kindesmutter nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten. Der Begriff „ausreichende Existenzmittel“ sei nicht deckungsgleich mit dem Lebensbedarf nach dem SGB II.
8Die Inanspruchnahme des deutschen Kindergelds sei auch nicht rechtsmissbräuchlich. Der Kindesvater gehe einer Arbeitstätigkeit in den Niederlanden nach. Ein Missbrauch könne allenfalls dann vorliegen, wenn überhaupt keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgegangen würde und ein Umzug nach Deutschland erfolgt wäre, um höhere Kindergeldzahlungen als in den Niederlanden zu erlangen.
9Die Klägerin beantragt,
10den Ablehnungsbescheid vom 25.01.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.11.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin ab Dezember 2021 Kindergeld in der gesetzlichen Höhe für ihr Kind L zu gewähren.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Sie ist der Auffassung, dass der Kindergeldanspruch der Klägerin nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen sei. Da der Ehemann der Klägerin in den Niederlanden arbeite, könne ein Kindergeldanspruch nur bestehen, wenn die Klägerin und ihr Ehemann die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU erfüllten. Dies sei indes nicht der Fall. Die Beklagte ist weiterhin der Auffassung, dass § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG mit dem europäischen Recht vereinbar sei. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 01.08.2022 in der Sache C-411/20 habe sich nur mit der Frage beschäftigt, ob während der ersten drei Monate des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat ein Kindergeldanspruch besteht.
14Der Rechtsstreit ist am 01.03.2024 vor dem Berichterstatter erörtert worden; auf das Protokoll wird Bezug genommen.
Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung durch die Beklagte ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten gem. § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
16Die allgemeinen Voraussetzungen der Kindergeldgewährung gem. §§ 62ff. i.V.m. § 32 EStG sind unstreitig erfüllt, da die Klägerin ihren Wohnsitz in Deutschland hat und das Kind L das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Der Kindergeldanspruch ist jedoch nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen.
17I. Wenn die Staatsangehörige eines anderen EU-Mitgliedstaates – wie hier die Klägerin – ihren Wohnsitz in Deutschland hat, verfügt sie gem. § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG grundsätzlich nur dann über einen Anspruch auf Kindergeld, wenn sie sich nach den Regelungen des FreizügG/EU berechtigt in Deutschland aufhält.
18Berechtigt halten sich nach den Regelungen der § 2 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 3 FreizügG/EU insbesondere all jene Unionsbürger auf, die in Deutschland einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit nachgehen oder hier eine Berufsausbildung absolvieren. Nicht erwerbstätige Unionsbürger sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Weiterhin können Familienangehörige gem. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. §§ 3, 4 FreizügG/EU über eine abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung verfügen, wenn sie einen anderen Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, der sich seinerseits nach den Regelungen des Freizügigkeitsgesetzes berechtigt in Deutschland aufhält.
19Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4, 5 EStG besteht diesbezüglich ein eigenes Prüfungsrecht der Familienkassen; lehnt die Familienkasse eine Kindergeldfestsetzung in diesem Fall ab, hat sie ihre Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen.
20II. Unter Berücksichtigung der vorstehend dargestellten Regelungen des FreizügG/EU muss die Klägerin als nicht freizügigkeitsberechtigt angesehen werden. Ihr Kindergeldanspruch ist daher gem. § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen.
211. Die Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin ergibt sich nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 und § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.
22Zwar ist der Ehemann der Klägerin – wie von § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU vorausgesetzt – als Arbeitnehmer tätig; die Klägerin hat ihn nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU nach Deutschland begleitet. Jedoch ist der Tatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU in der Person des Ehemanns deshalb nicht erfüllt, weil dieser seine Arbeitstätigkeit nicht in Deutschland, sondern weiterhin in den Niederlanden ausübt. Es kann daher nicht festgestellt werden, dass der Ehemann der Klägerin – wie von § 2 Nr. 1 FreizügG/EU vorausgesetzt – sich „als Arbeitnehmer“ in Deutschland aufhält, vielmehr hält er sich hier allein zu Wohnzwecken auf.
23Das vorstehend dargelegte Verständnis des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU entspricht auch den Regelungen der zugrundeliegenden Richtlinie 2004/38/EG. Nach Artikel 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG verfügt jeder Unionsbürger über ein Aufenthaltsrecht im anderen Mitgliedstaat, wenn er „Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat“ ist. Diese Voraussetzung erfüllt der Ehemann der Klägerin nicht, da er nicht Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat Deutschland ist. Soweit die Klägerin sinngemäß geltend macht, dass eine Arbeitstätigkeit in den Niederlanden eine Freizügigkeitsberechtigung in Deutschland begründen könne, findet dies nach Auffassung des Senats keine Grundlage in Artikel 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG.
242. Die Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU (ggf. in Verbindung mit § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU). Nach diesen Bestimmungen könnte eine Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin bestehen (entweder als originäre Berechtigung der Klägerin oder als eine von ihrem Ehemann abgeleitete Berechtigung), wenn beide über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügten. Diese Voraussetzung ist vorliegend indes nicht erfüllt. Der Umstand, dass der Klägerin und ihrem Ehemann Wohngeld in Höhe von 609,00 € monatlich und Kinderzuschlag in Höhe von 1.313,00 € monatlich gewährt worden ist (insgesamt 1.922,00 € monatlich), zeigt nach Auffassung des Senats, dass beide nicht über ausreichende Existenzmittel i.S. des § 4 Satz 1 FreizügG/EU verfügen.
25a. Nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG sind ausreichende Existenzmittel solche, die sicherstellen, dass der Freizügigkeitsberechtigte die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht in Anspruch nehmen muss. Nach Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2004/38/EG dürften die Mitgliedstaaten dabei keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, vielmehr müssen sie die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen; die als notwendig anzusehenden Existenzmittel dürften in keinem Fall über dem sozialrechtlichen Existenzminimum nach den nationalen Regelungen des betreffenden Mitgliedstaats liegen. Gemäß Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG darf die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer Ausweisung führen. Jedoch kann der Umstand, dass ein Unionsbürger zum Bezug von Sozialhilfeleistungen berechtigt ist, ein gewichtiges Indiz dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Dem 10. und dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38/EG ist zu entnehmen, dass die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie genannte Voraussetzung vor allem verhindern soll, dass die hierin genannten Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (dazu insgesamt EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C-140/12, Rechtssache Brey, Rn. 54).
26Zur Beurteilung der Frage, ob ein Unionsbürger Sozialhilfeleistungen in einer solchen unangemessenen Weise in Anspruch nimmt, ist zu prüfen, ob derjenige nur vorübergehende oder doch längerfristige Schwierigkeiten hat. Es sind die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und der gewährte Sozialhilfebetrag zu berücksichtigen. Zudem ist zu prüfen, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde (vgl. z.B. FG Düsseldorf, Urteil vom 27.04.2023 – 14 K 1477/21 Kg, juris; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03.01.2023 – 2 K 2118/17, juris). Insbesondere ein langandauernder und/oder vollumfänglicher Sozialhilfebezug ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Inanspruchnahme unangemessen ist und der Betroffene nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Der Rechtsprechung des EuGH kann zudem auch die Tendenz entnommen werden, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall aufgrund der abgestuften Systematik der Richtlinie 2004/38/EG nicht zwingend erforderlich sein muss (so Janda in Dauses/Ludwig, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, D. D. II. Rn. 172 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 15.09.2015 – C-67/14, Rechtssache Alimanovic, Rn. 49).
27Der Senat gibt weiterhin zu bedenken, dass Zweck und Zielrichtung der Prüfung von § 4 Satz 1 FreizügG/EU im vorliegenden Kontext letztlich die Frage der Anspruchsberechtigung beim Kindergeld ist. Es geht insoweit nicht um die originäre Zweckrichtung der Prüfung von § 4 Satz 1 FreizügG/EU bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. B der Richtlinie 2004/38/EG, nämlich die ausländerrechtliche Ausweisung eines Unionsbürgers aus dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, mangels Bestehen eines Freizügigkeitsrechts. Die oben dargestellten Grundsätze beziehen sich jedoch gerade auf letzteren Kontext. Die Ausweisung eines Unionsbürgers stellt sich jedoch im Vergleich zu der Frage der Kindergeldberechtigung als stärker belastender mitgliedstaatlicher Eingriff dar, was es nach Auffassung des Senats rechtfertigen dürfte, für Zwecke der Anspruchsberechtigung von Kindergeld nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU die im Rahmen von § 4 Satz 1 FreizügG/EU bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2004/38/EG gebotene Unangemessenheitsprüfung weniger strengen Maßstäben zu unterwerfen.
28b. Unter Zugrundelegung der vorstehenden rechtlichen Erwägungen muss nach Auffassung des Senats davon ausgegangen werden, dass die Klägerin über keine ausreichenden Existenzmittel verfügt und Sozialhilfeleistungen in Deutschland in unangemessener Weise in Anspruch nimmt.
29Die Klägerin und ihr Ehemann beziehen Wohngeld in Höhe von 609,00 € monatlich sowie Kinderzuschlag in Höhe von 1.313,00 € monatlich (insgesamt 1.922,00 € monatlich). Bei beiden Leistungen handelt es sich um Sozialhilfeleistungen im Sinne der Richtlinie 2003/38/EG. Unter diesen Begriff fallen grundsätzlich alle Hilfsleistungen, die von öffentlichen Stellen auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene gewährt werden und die ein Einzelner in Anspruch nehmen kann, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt (EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C-140/12, Rechtssache Brey, Rn. 61).
30Dieser Leistungsbezug durch die Klägerin und ihre Familie muss auch als unangemessen angesehen werden. Zwar weist die Klägerin zutreffend darauf hin, dass sie und ihre Familie nicht in vollem Umfang auf Sozialhilfeleistungen zur Deckung ihres Lebensbedarfs angewiesen sind, vielmehr verfügt der Ehemann der Klägerin über ein eigenes Arbeitseinkommen, aus dem nach ihren Angaben etwas mehr als Hälfte des Lebensbedarfs der Familie bestritten werden kann. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die von der Klägerin und ihrem Ehemann bezogenen Sozialhilfeleistungen eine beträchtliche Höhe aufweisen und zu einer erheblichen Belastung des deutschen Sozialhilfesystems führen. Zudem ist im vorliegenden Fall nicht nur von einer vorübergehenden Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen auszugehen. Aufgrund der Höhe des Arbeitseinkommens des Kindesvaters und der Zahl der gemeinsamen Kinder ist vielmehr davon auszugehen, dass die Klägerin und ihr Ehemann während ihres Aufenthalts in Deutschland auf unabsehbare Zeit auf Sozialhilfeleistungen angewiesen sind.
31Von einer unangemessenen Inanspruchnahme deutscher Sozialhilfeleistungen wäre nach Auffassung des Senats auch auszugehen, wenn die Klägerin und ihr Ehemann nur deshalb (ggf. auch nur zeitweise) in eine grenznahe Stadt in Deutschland gezogen sind, weil für kinderreiche Familien die Familien- und Sozialhilfeleistungen nach deutschem Recht höher sind als die nach niederländischem Recht. Hierfür spricht, dass nicht erkennbar ist, welche Verbindungen die Klägerin und ihr Ehemann nach Deutschland haben und aus welchem Grund sie in eine grenznahe Stadt in Deutschland gezogen sind, während der Kindesvater weiterhin seiner Beschäftigung in den Niederlanden nachgeht. Familiäre oder sonstige Verbindungen zu Deutschland sind nicht bekannt. Weitere konkrete Tatsachenangaben hierzu hat die Klägerin auch nach entsprechendem gerichtlichen Hinweis (Schreiben vom 04.03.2024, Gerichtakte Bl. 31f.) nicht vorgetragen. Nach Aktenlage wären die Familien- und Sozialhilfeleistungen nach deutschem Recht auch höher als die nach niederländischem Recht. Die Klägerin könnte nach deutschem Recht Anspruch auf Kindergeld für acht Kinder in Höhe von insgesamt 1.913,00 € pro Monat haben (vor Anrechnung der niederländischen Familienleistungen); demgegenüber beträgt das niederländische Kindergeld lediglich insgesamt ca. 1.400,00 € pro Monat. Gegenwärtig erhalten die Klägerin und ihr Ehemann zudem Wohngeld und Kinderzuschlag in Höhe von insgesamt 1.922,00 €; ob und in welchem Umfang sie Anspruch auf niederländische Sozialhilfeleistungen hätten, ist dem Senat nicht bekannt. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Umzug ihrer Familie in eine grenznahe Stadt in Deutschland – bei gleichzeitiger fortgesetzter Erwerbstätigkeit des Klägers in den Niederlanden – maßgeblich auch dem Zweck diente, höhere deutschen Sozial- und Familienleistungen in Anspruch nehmen zu können.
323. Die Klägerin verfügt auch nicht über ein sog. abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt kein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG bestehen kann.
33a. Art. 10 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 besagt, dass die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen können.
34Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung folgt hieraus aufgrund des Rechts auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zum Unterricht ein eigenes Aufenthaltsrecht des Kindes, wenn es weiter am allgemeinen Unterricht in diesem Mitgliedstaat teilnehmen möchte. Zusätzlich hierzu erfordert die Anerkennung eines eigenen Aufenthaltsrechts dieses Kindes, dass ein entsprechendes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt, anerkannt wird. Würde den die elterliche Sorge für die Kinder wahrnehmenden Eltern die Möglichkeit versagt, während der Schulausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu bleiben, so könnten die Kinder das ihnen vom Unionsgesetzgeber zuerkannte Recht verlieren (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 06.10.2020 – C-181/19, Rechtssache Jobcenter Krefeld – Widerspruchsstelle ./. JD). Daraus folgt, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat ein eigenständiges Recht auf Aufenthalt auf der Grundlage allein der Verordnung (EU) Nr. 492/2011zustehen kann, ohne dass er die Voraussetzungen nach der Richtlinie 2004/38 – u.a., dass der Betreffende überausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Staat verfügen muss – erfüllen müsste (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 06.10.2020 – C-181/19, Rechtssache Jobcenter Krefeld – Widerspruchsstelle ./. JD).
35Ein solche abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ist nach finanzgerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich auch bei Prüfung der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG zu berücksichtigen und kann demnach einen Kindergeldanspruch begründen (vgl. FG Münster, Urteil vom 21.11.2024 – 10 K 330/24 Kg, Juris, Revision anhängig unter III R 41/24; FG Düsseldorf, Urteil vom 30.11.2023 – 9 K 1192/23 Kg, Juris).
36b. Die Klägerin kann sich im vorliegenden Fall nicht mit Erfolg auf die vorstehend dargestellten Rechtsgrundsätze berufen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung der Kinder der Klägerin gem. Art. 10 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 sind nicht erfüllt, da die Klägerin und ihr Ehemann zu keinem Zeitpunkt in Deutschland beschäftigt gewesen sind. Da die Kinder somit über keine Freizügigkeitsberechtigung verfügen, kann auch keine abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin und des Kindesvaters bestehen, selbst wenn die älteren Kinder der Klägerin ggf. eine Schule in Deutschland besuchen.
374. Die Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ist nach Auffassung des Senats auch mit höherrangigen EU-Recht vereinbar.
38Zwar hat der der EuGH in seinem Urteil vom 01.08.2022 in der Sache C-411/20 entschieden, dass die Vorschrift des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG zu einer unmittelbaren, nicht gerechtfertigten Diskriminierung führt und aus diesem Grund gegen Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt. Da Unionsbürger nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG berechtigt seien, sich im Unionsgebiet frei zu bewegen und für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats aufzuhalten, sei die Versagung des Kindergeldes für die ersten drei Monate des Aufenthalts unzulässig (EuGH, Urteil vom 01.08.2022 – C-411/20, Rechtssache S. ./. Familienkasse Niedersachsen-Bremen). Diese EuGH-Rechtsprechung rechtfertigt jedoch nicht die Schlussfolgerung, dass auch die Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG gegen die Vorgaben des EU-Rechts verstößt. Zwar führt auch diese Regelung zu einer Ungleichbehandlung, da der Kindergeldanspruch von Unionsbürgern strengeren Anforderungen unterliegt als der von deutschen Staatsangehörigen. Diese Ungleichbehandlung ist jedoch gerechtfertigt, da der deutsche Gesetzgeber die Gewährung von Familienleistungen davon abhängig machen darf, dass sich die betreffenden Unionsbürger berechtigt in Deutschland als Aufnahmemitgliedstaat aufhalten (vgl. zu diesem Rechtfertigungsgrund: EuGH, Urteil vom 01.08.2022 – C-411/20, Rn. 62; gleiche Ansicht: FG Münster, Gerichtsbescheid vom 07.02.2023 – 8 K 903/21 Kg, Juris; FG Münster, Urteil vom 20.09.2024 – 9 K 440/22 Kg, Juris; FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 03.01.2023 – 2 K 2118/17, Juris; FG Düsseldorf vom 09.03.2023 – 9 K 186/22 Kg, juris). Dementsprechend sieht der Senat auch keinen Anlass, die vorliegende Sache dem EuGH gem. Art. 267 Abs. 2 und Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Vorabentscheidung vorzulegen, zumal zu einer Vorlage nach Art. 267 Abs. 2, 3 AEUV nur letztinstanzliche Gerichte verpflichtet sind.
39III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
40Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zuzulassen. Es ist nicht höchstrichterlich entschieden, ob die Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG mit den Vorgaben des europäischen Rechts vereinbar ist. Weiterhin ist nicht geklärt, wie das Tatbestandsmerkmal „ausreichende Existenzmittel“ bei Prüfung der Kindergeldberechtigung auszulegen ist.
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