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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin als Voraussetzung der Anspruchsberechtigung beim Kindergeld gem. § 62 Abs. 1a Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
2Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige und Kindesmutter der Kinder L (geb. 00.00.2003), C (geb. 00.00.2009) und U (geb. 00.00.2019). Die Kinder haben ebenfalls die rumänische Staatangehörigkeit.
3Die Klägerin reiste im August 2020 zusammen mit den Kindern sowie ihrem Ehemann, welcher der Kindesvater der Kinder und türkischer Staatsangehöriger ist, nach Deutschland ein.
4Die Klägerin ging ab Ankunft in Deutschland bis zum Ende des hier streitgegenständlichen Zeitraums keiner Erwerbstätigkeit nach. Der Ehemann der Klägerin arbeitete ab September 2020 in Deutschland als Angestellter bei der Firma E GmbH & Co. KG in H und erzielte dadurch ein monatliches Einkommen, von dem die Klägerin und ihre Familie den Lebensunterhalt bestritt. Der ursprüngliche Arbeitsvertrag des Ehemanns war zunächst bis zum 31.08.2021 befristet und wurde im August 2021 bis zum 31.08.2022 verlängert.
5Mit Festsetzungsbescheiden aus August 2021 wurde gegenüber der Klägerin zunächst laufend Kindergeld für die drei Kinder ab September 2020 festgesetzt.
6Aufgrund eines im Mai 2022 eingereichten Fragebogens samt der Abschrift eines Änderungsbescheids der Agentur für Arbeit vom 20.12.2021 wurde der Beklagten bekannt, dass der Ehemann der Klägerin seit Oktober 2021 aufgrund einer seinerseitigen Kündigung der Arbeitsstelle eine Sperrzeit bis zum 04.01.2022 bzgl. des Bezugs von Arbeitslosengeld I nach dem Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) erhalten hatte und ab 05.01.2022 bis zum 09.04.2022 Arbeitslosengeld I nach dem SGB III erhielt. Der Tagessatz belief sich in dieser Zeit laut Änderungsbescheid vom 20.12.2021 auf X Euro.
7Nach Ablauf des Bezugszeitraums des Arbeitslosengeldes I erhielt der Ehemann der Klägerin für die Familie als Bedarfsgemeinschaft Arbeitslosengeld II nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) als Grundsicherungsleistung (seit dem 01.01.2023 Bürgergeld). Bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraums bezog die Klägerin mit ihrer Familie lediglich Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Weitere Einkünfte – neben den laufenden Kindergeldzahlungen – erzielten die Klägerin und ihr Ehemann nicht, da sowohl die Klägerin als auch ihr Ehemann nicht erwerbstätig waren. Der Ehemann der Klägerin ging erst ab Oktober 2023 wieder einer selbständigen Tätigkeit im B-Bereich nach. Seit Februar 2023 ging die Klägerin einer Tätigkeit als angestellte A in geringem zeitlichen Umfang nach. Weitere Angaben zu verfügbaren Mitteln wurden nicht gemacht.
8Die Beklagte hob in der Folge zunächst die Festsetzung von Kindergeld für die drei Kinder für den Zeitraum ab August 2022 mit Bescheid vom 30.08.2022 auf. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Voraussetzung aus § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG bei der Klägerin nicht mehr vorliege. Es liege keine Freizügigkeitsberechtigung bei der Klägerin vor. Eine unfreiwillige Arbeitslosigkeit des Ehemanns sei nicht durch die Agentur für Arbeit bestätigt worden.
9Zugleich verschickte die Beklagte an die Klägerin ein Anhörungsschreiben bzgl. der möglichen Aufhebung und Rückforderung von Kindergeld für die Monate Mai 2022 bis Juli 2022. Hierauf wurde mitgeteilt, dass der Ehemann der Klägerin bis zum 12.10.2021 bei der Firma E GmbH & Co. KG gearbeitet habe und sich seitdem auf Arbeitssuche befinde. Die Suche sei bisher an den mangelnden Sprachkenntnissen des Ehemanns gescheitert. Dieser besuche seit dem 10.08.2022 regelmäßig einen Integrations- und Sprachkurs.
10Mit Bescheid vom 27.10.2022 hob die Beklagte sodann die Kindergeldfestsetzung für die drei Kinder für den Zeitraum Mai 2022 bis Juli 2022 auf und forderte einen Betrag von insgesamt 1.989 Euro von der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde wiederum ausgeführt, dass die Klägerin die Voraussetzung aus § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG nicht erfülle, da eine Freizügigkeitsberechtigung für den Zeitraum nicht festgestellt werden könne.
11Zwischenzeitlich teilte die Klägerin Ende Oktober 2022 und Anfang November 2022 mit, dass die Klägerin und ihre Familie auf das Kindergeld angewiesen seien. Der Lebensunterhalt könne nicht selber bestritten werden.
12Gegen den Bescheid vom 27.10.2022 legte die Klägerin mit Schreiben vom 16.11.2022 Einspruch ein. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass die Arbeitslosigkeit des Ehemanns nicht freiwillig gewesen sei. Weshalb die Agentur für Arbeit dies nicht bestätigen wolle, sei für die Klägerin nicht verständlich. Zudem wurde mitgeteilt, dass der Ehemann der Klägerin stets auf der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle gewesen sei. Die Suche nach einer Arbeitsstelle sei jedoch aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse erfolglos geblieben.
13Mit Einspruchsentscheidung vom 07.12.2022 wies die Beklagte den Einspruch der Klägerin vom 16.11.2022 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die Klägerin nicht die Voraussetzung aus § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG erfülle, da sie nicht freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU) sei. Sie selbst sei seit Ankunft in Deutschland nie erwerbstätig gewesen. Eine Bescheinigung der Agentur für Arbeit, dass der Ehemann ab Oktober 2021 unfreiwillig arbeitslos geworden sei, sei trotz Aufforderung nicht vorgelegt worden. Da die Klägerin und ihre Familie ihren Lebensunterhalt seit Mai 2022 durchgängig durch Sozialleistungen nach dem SGB II bestritten hätten, seien insbesondere auch die Voraussetzungen eines Freizügigkeitsrechts nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU (Verfügung über ausreichende Existenzmittel) nicht gegeben.
14Gegen die Einspruchsentscheidung vom 07.12.2022 hat die Klägerin am 04.01.2023 die vorliegende Klage erhoben.
15Sie ist der Auffassung, dass die vormalige Festsetzung des Kindergeldes schon formell-rechtlich nicht hätte aufgehoben werden dürfen, da es an einer einschlägigen Änderungsvorschrift fehle. Insbesondere die Voraussetzungen von § 70 Abs. 2 EStG lägen nicht vor.
16Materiell-rechtlich ist sie der Auffassung, dass für Unionsbürger eine Freizügigkeitsvermutung bestehe, welche der Klägerin eine Freizügigkeitsberechtigung vermittle. Erst durch eine förmliche Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit durch die zuständige Ausländerbehörde entfalle diese Vermutung. Die Klägerin habe sich im Streitzeitraum daher rechtmäßig in Deutschland aufgehalten. Die Klägerin verweist in diesem Kontext auch auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) v. 15.03.2017 (III R 32/15, BStBl II 2017, 963).
17Der Europäische Gerichtshof (EuGH) habe mit seiner Entscheidung vom 01.08.2022 (C-411/20) entschieden, dass Art. 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 einer Regelung entgegenstehe, die für in Deutschland wohnhafte EU-Bürger andere Voraussetzungen bzgl. des Kindergeldanspruchs vorsehe als für vergleichbare deutsche Staatsangehörige. Daher verstoße die zusätzliche Voraussetzung aus § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG, wonach eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU gefordert werde, gegen Unionsrecht. Der Wohnsitz oder gewöhnliche Aufenthalt der Klägerin als Unionsbürgerin in Deutschland in Zusammenschau mit der Freizügigkeitsvermutung reiche aus, um die Anspruchsberechtigung beim Kindergeld zu begründen. Soweit der 8. Senat des Finanzgerichts (FG) Münster dies in seiner Entscheidung vom 07.02.2023 (8 K 903/21 Kg) anders beurteilt habe, setze sich der Senat in Widerspruch zur Entscheidung des EuGH v. 01.08.2022. Das deutsche Kindergeld sei keine Sozialleistung, sondern eine Familienleistung, die für deutsche Staatsangehörige nicht von der wirtschaftlichen Bedürftigkeit abhänge. Die Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) lasse sich deshalb nicht mit Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 (im Folgenden Freizügigkeitsrichtlinie EU) rechtfertigen. Ein eigenständiges Prüfungsrecht der Familienkassen verstoße nach Auffassung der Klägerin in der Folge auch gegen Unionsrecht.
18Zuletzt sei auch das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) zu beachten, welches eine Gleichbehandlung der Klägerin mit deutschen Antragstellern gebiete.
19Die Klägerin beantragt,
20den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 27.10.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.12.2022 aufzuheben und Kindergeld für die Kinder L, C und U für den Zeitraum Mai 2022 bis Juli 2022 positiv festzusetzen,
21hilfsweise, die Revision zuzulassen.
22Die Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen.
24Sie verweist zur Begründung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung zur Prüfung der Freizügigkeitsberechtigung der Klägerin im Streitzeitraum.
25Ergänzend führt sie aus, dass eine Änderungsbefugnis nach § 70 Abs. 2 EStG bestanden habe. Eine Änderung in den Verhältnissen sei aufgrund der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses des Ehemanns der Klägerin und des dauerhaften Bezugs von Sozialleistungen nach dem SGB II eingetreten. Die Aufhebung oder Änderung der Kindergeldfestsetzung habe nach § 70 Abs. 2 EStG vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an zwingend - auch rückwirkend innerhalb der Grenzen der Festsetzungsverjährung - zu erfolgen. Auf ein Verschulden der Familienkasse oder des Berechtigten komme es nicht an.
26Die Entscheidung des EuGH v. 01.08.2022 sei nicht zu § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG, sondern zu § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG ergangen. Aus der Entscheidung ergebe sich nicht die Unionsrechtswidrigkeit von § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG.
27Am 22.04.2024 hat ein Erörterungstermin vor dem Berichterstatter stattgefunden. Am 15.01.2025 hat der Senat mit den Beteiligten mündlich verhandelt. Auf die Protokolle hierzu wird wegen der weiteren Einzelheiten Bezug genommen.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
29I. Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 27.10.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.12.2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung –FGO–). Der Klägerin stand im Streitzeitraum mangels Vorliegens der Voraussetzung nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG kein Anspruch auf Kindergeld zu und die Beklagte durfte die Kindergeldfestsetzung verfahrensrechtlich aufheben.
301. Die Aufhebung der vormaligen Kindergeldfestsetzung beruht auf § 70 Abs. 2 Satz 1 EStG. Danach ist die Festsetzung des Kindergeldes aufzuheben, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten. Die Aufhebung hat rückwirkend auf den Zeitpunkt ab Änderung der Verhältnisse zu erfolgen.
31Durch die Kündigung des Ehemanns der Klägerin bei seiner Arbeitsstelle, den dadurch eingetretenen Verlust der Einkommensquelle der Familie und den sich anschließenden Bezug von Sozialleistungen sind Änderungen in den Verhältnissen eingetreten, die für den Anspruch auf Kindergeld der Klägerin erheblich sind (dazu sogleich unter 2.).
322. Gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat für Kinder im Sinne des § 63 EStG jemand Anspruch auf Kindergeld, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Staatsangehörige eines anderen Mitgliedsstaats der EU bzw. des EWR haben einen Anspruch auf Kindergeld jedoch nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a EStG. Ab dem vierten Monat des Aufenthalts haben EU/EWR-Staatsangehörige gem. § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG keinen Anspruch auf Kindergeld, wenn die Voraussetzungen aus § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht vorliegen.
33Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin im hier betroffenen Streitzeitraum ihren Wohnsitz im Inland hatte und dass die Kinder der Klägerin Kinder im Sinne von § 63 EStG sind. Der Senat sieht daher von weiteren Ausführungen hierzu ab.
34Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzung aus § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin Antragstellerin bzgl. der Kindergeldfestsetzung ist, sodass die Anspruchsberechtigung in ihrer Person vorliegen muss. Die Regelung in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG verweist auf das FreizügG/EU, welches die Freizügigkeitsrichtlinie EU umsetzt. § 2 Abs. 2 und Abs. 3 FreizügG/EU enthalten dabei die Modalitäten, unter denen ein Unionsbürger ein Freizügigkeitsrecht in Deutschland innehat. Das FreizügG/EU ist inhaltlich mit der Freizügigkeitsrichtlinie gleichlaufend, auch wenn sich der Aufbau unterscheidet (vgl. hierzu FG Münster v. 07.02.2023 – 8 K 903/21 Kg, juris). Insofern ergeben sich inhaltlich grundsätzlich keine Unterschiede bei der Anwendung des FreizügG/EU im Vergleich zur Freizügigkeitsrichtlinie EU. Das FreizügG/EU ist vor dem Hintergrund der Freizügigkeitsrichtlinie im Übrigen stets unionsrechtskonform auszulegen.
35Der Gesetzgeber hat sich in diesem Zusammenhang als Reaktion auf die Rechtsprechung des BFH im Urteil v. 15.03.2017 (III R 32/15, BStBl II 2017, 963) in § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG dazu entschieden, die Prüfung der Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 und Abs. 3 FreizügG/EU den Familienkassen in eigener Zuständigkeit zu übertragen, sodass es auf eine Entscheidung der Ausländerbehörde diesbezüglich nicht ankommt und auch eine ergangene Entscheidung der Ausländerbehörde die Familienkasse nicht bindet (vgl. BT-Drs. 19/8691 S. 63 f.; dies bestätigend jüngst BFH-Urteil v. 25.04.2024 – III R 36/23, BStBl II 2024, 597). Im finanzgerichtlichen Verfahren hat folglich das Finanzgericht ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht zu überprüfen.
36a. Die Klägerin war im Streitzeitraum Mai 2022 bis Juli 2022 nicht freizügigkeitsberechtigt im Sinne von § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU.
37Nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt:
381. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,
391a. Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden,
402. Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige),
413. Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen im Sinne des Artikels 57 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union erbringen wollen (Erbringer von Dienstleistungen), wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind,
424. Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen,
435. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
446. Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4,
457. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben.
46aa. Da die Klägerin seit Ankunft in Deutschland jedenfalls bis zum Ende des vorliegenden Streitzeitraums weder erwerbstätig noch nachweislich erwerbstätigkeitssuchend war, kommt eine Freizügigkeitsberechtigung für den Streitzeitraum nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 – 4 FreizügG/EU nicht in Betracht. Entsprechend entfällt auch die Möglichkeit einer Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU.
47bb. Da die Klägerin in Bezug auf ihren Ehemann (türkischer Staatsangehöriger) nicht Familienangehörige eines Unionsbürgers ist bzw. in Bezug auf ihre Kinder (rumänische Staatsangehörige) zwar Familienangehörige von Unionsbürgern ist, die Kinder jedoch im Streitzeitraum im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 – 4 FreizügG/EU keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sind oder danach suchend waren und auch keine ausreichenden Existenzmittel im Sinne von § 4 Satz 1 FreizügG/EU zur Verfügung standen (hierzu ausführlich sogleich unter dd.), kommt auch eine abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU i.V.m. §§ 3 u. 4 FreizügG/EU nicht in Betracht.
48cc. Ein Freizügigkeitsrecht durch ein Daueraufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU i.V.m. § 4a FreizügG/EU kommt ebenfalls nicht in Betracht. Hierfür muss sich der Unionsbürger gem. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Es ist insoweit notwendig, dass der fünfjährige Aufenthalt von einer durchgehenden Freizügigkeitsberechtigung getragen wird. Der bloße längerfristige faktische Aufenthalt im Bundesgebiet ist nicht ausreichend. Die Klägerin befand sich nach der Ankunft in Deutschland im Jahr 2020 aus Sicht des Streitzeitraums noch nicht 5 Jahre in Deutschland.
49dd. Auch ein eigenständiges Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU lag im Streitzeitraum bei der Klägerin nicht vor. Nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU haben nicht erwerbstätige Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen.
50aaa. Zu berücksichtige Existenzmittel in diesem Sinne sind alle gesetzlich zulässigen Einkommen und Vermögen in Geld oder Geldeswert, insbesondere Unterhaltsleistungen von Familienangehörigen oder Dritten, Stipendien, Ausbildungs- oder Umschulungsbeihilfen, Arbeitslosengeld, Invaliditäts-, Hinterbliebenen-, Vorruhestands- oder Altersrenten, Renten wegen Arbeitsunfall, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit oder sonstige auf einer Beitragsleistung beruhende öffentliche Mittel, wobei Leistungen nach SGB II zur Grundsicherung des Lebensunterhalts an Arbeitsuchende und an die mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Personen nicht einbezogen werden (vgl. Brinkmann/Huber in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, § 4 FreizüG/EU Rn. 6 mit Verweis auf BR/Drs. 22/03 und AVV-FreizügG/EU Nr. 4.1.2.1).
51Als ausreichend sieht Art. 7 Abs. 1 lit. c, 2. Spiegelstrich Freizügigkeitsrichtlinie EU Existenzmittel an, wenn die EU-Staatsangehörigen keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen müssen, wobei nach Art. 8 Abs. 4 Freizügigkeitsrichtlinie EU kein fester Betrag vorgesehen werden darf und die persönliche Situation der Betroffenen berücksichtigt werden muss (vgl. Brinkmann/Huber in Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, § 4 FreizüG/EU Rn. 10). Der Betrag darf nicht über dem Schwellenwert liegen, unter dem eigenen Staatsangehörigen Sozialhilfe gewährt wird.
52bbb. Im Rahmen der Anwendung von § 4 Satz 1 FreizügG/EU – der Art. 7 Abs. 1 lit. b Freizügigkeitsrichtlinie EU umsetzt – ist zudem zu beachten, dass gem. Art. 14 Abs. 3 Freizügigkeitsrichtlinie EU die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf. Die Freizügigkeitsrichtlinie EU schließt nicht die Möglichkeit aus, im Aufnahmemitgliedstaat den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten Sozialleistungen zu gewähren (vgl. EuGH-Urteil v. 19.09.2013 – C-140/12 Rs. Brey, juris, Rn. 65). Der Umstand, dass ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger zum Bezug von Sozialhilfeleistungen berechtigt ist, kann ein gewichtiges Indiz dafür darstellen, dass er nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt. Insbesondere dem 10. und dem 16. Erwägungsgrund der Freizügigkeitsrichtlinie EU ist jedoch zu entnehmen, dass die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b Freizügigkeitsrichtlinie EU genannte Voraussetzung vor allem verhindern soll, dass die hierin genannten Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen (dazu insgesamt EuGH-Urteil v. 19.09.2013 – C-140/12 Rs. Brey, juris, Rn. 54).
53Zur Beurteilung der Frage, ob ein EU-Ausländer Sozialhilfeleistungen in einer solchen unangemessenen Weise in Anspruch nimmt, ist zu prüfen, ob derjenige nur vorübergehende oder doch längerfristige Schwierigkeiten hat. Es sind die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen Umstände und der gewährte Sozialhilfebetrag zu berücksichtigen. Zudem soll zu prüfen sein, welche Belastung dem nationalen Sozialhilfesystem in seiner Gesamtheit aus der Gewährung dieser Leistung nach Maßgabe der individuellen Umstände, die für die Lage des Betroffenen kennzeichnend sind, konkret entstünde (vgl. dazu insgesamt FG Düsseldorf v. 27.04.2023 – 14 K 1477/21 Kg, juris sowie FG Rheinland-Pfalz v. 03.01.2023 – 2 K 2118/17, juris, jeweils mit Nachweisen aus der einschlägigen Rechtsprechung). Insbesondere ein langandauernder und/oder vollumfänglicher Sozialhilfebezug ist ein gewichtiges Indiz dafür, dass die Inanspruchnahme unangemessen ist. Der Rechtsprechung des EuGH kann zudem auch die Tendenz entnommen werden, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall aufgrund der abgestuften Systematik der Freizügigkeitsrichtlinie EU nicht zwingend erforderlich sein muss (so Janda in Dauses/Ludwig, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, D. D. II. Rn. 172 mit Verweis auf EuGH-Urteil v. 15.09.2015 – C-67/14 Rs. Alimanovic, Rn. 49).
54Insgesamt soll Art. 7 Abs. 1 lit. b Freizügigkeitsrichtlinie EU nicht erwerbstätige Unionsbürger gerade daran hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH-Urteil vom 11.11.2014 – C-333/13 Rs. Dano, Rn. 76; zum Ganzen auch Beschluss des OVG Lüneburg v. 03.03.2022 – 13 ME 507/21, InfAuslR 2022, 222).
55Der Senat gibt im Kontext der obigen Maßstäbe auch zu bedenken, dass Zweck und Zielrichtung der Prüfung von § 4 Satz 1 FreizügG/EU im vorliegenden Kontext letztlich die Frage der Anspruchsberechtigung beim Kindergeld ist. Es geht insoweit nicht um die originäre Zweckrichtung der Prüfung von § 4 Satz 1 FreizügG/EU bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. b Freizügigkeitsrichtlinie EU, nämlich die ausländerrechtliche Ausweisung eines Unionsbürgers aus dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, mangels Bestehen eines Freizügigkeitsrechts. Die oben dargestellten Grundsätze beziehen sich jedoch gerade auf letzteren Kontext. Die Ausweisung eines Unionsbürgers stellt sich jedoch im Vergleich zu der Frage der Kindergeldberechtigung als stärker belastender mitgliedstaatlicher Eingriff dar, was es nach Auffassung des Senats rechtfertigen dürfte, für Zwecke der Anspruchsberechtigung von Kindergeld nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU die im Rahmen von § 4 Satz 1 FreizügG/EU bzw. Art. 7 Abs. 1 lit. b Freizügigkeitsrichtlinie EU gebotene Unangemessenheitsprüfung weniger strengen Maßstäben zu unterwerfen.
56ccc. Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen waren vorliegend bei der Klägerin und ihrer Familie im Streitzeitraum keine ausreichenden Existenzmittel vorhanden.
57Die Klägerin und ihre Familie hatten ab Mitte Oktober 2021 keine wirtschaftliche Einkommensquelle mehr. Zur Verfügung stehende Mittel von dritter Seite wurden weder substantiiert vorgetragen noch nachgewiesen. Erst ab Januar 2022 erhielt die Familie – neben den Kindergeldzahlungen – über den Anspruch des Ehemanns auf Arbeitslosengeld I wirtschaftliche Mittel in Höhe von ca. X Euro pro Monat für die Monate Januar bis März 2022. Der Bezug von Arbeitslosengeld I endete am 09.04.2022. Seit Anfang April 2022 – einen Monat vor Beginn des vorliegenden Streitzeitraums – bestritt die Klägerin mit ihrer Familie durchgängig den Lebensunterhalt durch Sozialhilfeleistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II. Die Klägerin selbst hat nicht nachgewiesen, dass sie ab Oktober 2021 bis jedenfalls Ende des Jahres 2022 – wenn auch nicht mit begründeter Aussicht im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU – zumindest allgemein erwerbstätigkeitssuchend war. Erst ab Februar 2023 ging die Klägerin nach eigenem Vortrag in sehr geringem Umfang einer Tätigkeit als A nach. Der Familie als Bedarfsgemeinschaft wurden im Jahr 2023 weiterhin aufstockende Sozialhilfeleistungen nach dem SGB II gezahlt. Der Ehemann der Klägerin ging erst wieder ab Oktober 2023 einer erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit nach, die jedoch nach eigenem Vortrag ebenfalls nicht dazu führte, dass aufstockende Leistungen nach dem SGB II nicht mehr benötigt wurden.
58ddd. Der Annahme nicht ausreichender Existenzmittel steht auch die zu wahrende Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne in Bezug auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen nicht entgegen.
59Der dauerhafte Bezug von Sozialhilfeleistungen stellt sich als gewichtiges Indiz für die Unangemessenheit der Inanspruchnahme dieser Leistungen dar, zumal die Klägerin selbst seit Ankunft in Deutschland jedenfalls bis Ende 2022 nicht einmal allgemein erwerbstätigkeitssuchend war, dies auch insbesondere nicht nach dem Wegfall der Erwerbstätigkeit des Ehemannes im Oktober 2021. Bereits nach einem Jahr Aufenthalt in Deutschland musste die Klägerin mit ihrer Familie das Sozialsicherungssystem in Anspruch nehmen. Die Klägerin lebte mit ihrer Familie seit April 2022 für einen längeren Zeitraum ausschließlich von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II.
60eee. Die obigen Erwägungen zu den ausreichenden Existenzmitteln gelten entsprechend bzgl. eines abgeleiteten Freizügigkeitsrechts von den Kindern der Klägerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. § 4 Satz 1 FreizügG/EU.
61b. Auch auf Grundlage von Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 v. 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (im Folgenden Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung), der nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung unter Hinweis auf das EuGH-Urteil vom 01.08.2022 (C-411/20) im Rahmen unionsrechtskonformer Auslegung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG oder aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts wegen der Vermittlung einer Freizügigkeitsberechtigung zu berücksichtigen sein soll (für unionsrechtkonforme Auslegung FG Düsseldorf v. 30.11.2023 – 9 K 1192/23 Kg, juris; vgl. auch FG Münster v. 21.11.2024 – 10 K 330/24 Kg, juris, wobei der Senat offengelassen hat, ob es sich um eine unionsrechtskonforme Auslegung oder um einen Fall des Anwendungsvorrangs handelt), bestand im Streitzeitraum kein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht der Klägerin als sorgeberechtigtem und die tatsächliche Sorge wahrnehmendem Elternteil eines sich in Deutschland in Schulausbildung befindlichen Kindes.
62Denn Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 10 Abs. 1 Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung ist, dass es sich um das Kind eines Unionsbürgers handelt, der im Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, beschäftigt ist oder war. Die Klägerin als Unionsbürgerin war jedoch seit Ankunft in Deutschland bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraums nicht beschäftigt. Der Klägerin fehlt insoweit die Arbeitnehmereigenschaft. Der vormals beschäftigte Ehemann der Klägerin wiederum ist türkischer Staatsangehöriger und damit kein Unionsbürger, der für die Anwendung von Art. 10 Abs. 1 Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung herangezogen werden könnte. Der Anwendungsbereich der Regelung ist insgesamt nicht eröffnet.
63c. Soweit die Klägerin der Auffassung ist, dass sich aus der Freizügigkeitsvermutung, die dem FreizügG/EU innewohnt, bis zur Negativfeststellung durch die zuständige Ausländerbehörde ein zu berücksichtigendes materiell-rechtliches Freizügigkeitsrecht ergibt, das unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils vom 01.08.2022 (C-411/20) einen für die Kindergeldberechtigung ausreichenden rechtmäßigen Aufenthalt begründet, kann der Senat dem nicht folgen.
64Zwar ist der Klägerin darin zuzustimmen, dass das FreizügG/EU eine Freizügigkeitsvermutung enthält (so auch schon BT-Drs. 15/420, S. 106). Der Senat versteht diese Freizügigkeitsvermutung jedoch als systematisch-verfahrensrechtliche Besonderheit im Kontext des FreizügG/EU (vgl. dazu auch Dienelt in Bergmann/Dienelt, FreizügG/EU, § 4a Rn. 25). Die Annahme einer solchen Freizügigkeitsvermutung ist verfahrensrechtlich notwendig mit Blick darauf, dass ein EU-Ausländer bei Einreise und während des Aufenthalts keinen Titel oder sonstigen bescheinigenden Verwaltungsakt erhält (vgl. § 2a Abs. 1 FreizügG/EU). Es ist daher ein Feststellungsakt erforderlich, in dem das Nichtbestehen oder der Verlust der Freizügigkeit ausgewiesen wird, sodass eine Vollziehung und Vollstreckung der Ausreisepflicht ermöglicht wird (vgl. § 7 Abs. 1 FreizügG/EU). Der Unionsbürger soll über die Freizügigkeitsvermutung verfahrensrechtlich davor geschützt werden, ohne eine materiell-rechtliche Einzelfallprüfung durch die zuständige Behörde sowie gerichtlichen Rechtsschutz ausreisen zu müssen.
65Eine so wirkende Freizügigkeitsvermutung, die lediglich als systematisches Hindernis in Bezug auf eine etwaige Ausreisepflicht wirkt, entfaltet nach Auffassung des Senats entsprechend nur verfahrensrechtliche Wirkung und stellt nur eine formale Rechtmäßigkeit des Aufenthalts her. Hierdurch wird jedoch kein materiell-rechtliches Freizügigkeitsrecht vermittelt, der es unter Berücksichtigung der jüngeren Rechtsprechung des EuGH nach Auffassung des Senats bedarf.
66Die Freizügigkeitsvermutung des FreizügG/EU ist zudem im Vergleich zur Freizügigkeitsrichtlinie EU überschießend (vgl. dazu Oberhäuser in NK-AuslR, FreizügG/EU, § 1 Rn 11 mit Verweis auf Art. 37 der Freizügigkeitsrichtlinie EU). Die Freizügigkeitsrichtlinie EU ordnet an keiner Stelle eine materiell-rechtlich wirkende Freizügigkeitsvermutung an. Vielmehr muss der Unionsbürger stets die dort genannten materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllen (vgl. dazu insgesamt Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, § 1 FreizügG/EU Rn. 24 ff.), sodass auch hiernach keine vermutete materiell-rechtliche Rechtmäßigkeit des Aufenthalts vorliegt.
67Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch kein systematischer Widerspruch zwischen der ausländerrechtlich bestehenden Freizügigkeitsvermutung und deren bloßer Aufhebungsmöglichkeit durch eine Feststellung der Ausländerbehörde einerseits sowie der Prüfungskompetenz der Familienkassen gem. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG hinsichtlich der materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeit des Aufenthalts andererseits.
68II. Die Regelungen des § 62 Abs. 1a Sätze 3 u. 4 EStG sind nach Auffassung des Senats mit Blick auf den vorliegenden Rechtsstreit unionsrechtskonform und verfassungsgemäß.
691. Der Senat schließt sich insoweit zunächst den Ausführungen des 8. Senats des FG Münster im Gerichtsbescheid vom 07.02.2023 – 8 K 903/21 Kg an (so auch der 9. Senat des FG Münster im Urteil v. 20.09.2024 – 9 K 440/22 Kg; die Vereinbarkeit mit Unionsrecht bejahend auch FG Rheinland-Pfalz v. 03.01.2023 – 2 K 2118/17, juris und FG Düsseldorf v. 09.03.2023 – 9 K 186/22 Kg, juris; so implizit auch FG Düsseldorf v. 27.04.2023 – 14 K 1477/21 Kg, juris Rn. 35).
70Insbesondere ist es nach Auffassung des Senats auch unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebot aus Art. 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 unionsrechtlich zulässig, die Gewährung von Kindergeld an einen materiell-rechtlich rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des Unionsrechts zu knüpfen (so auch der EuGH im Urteil vom 01.08.2022 – C-411/20, juris Rn. 62 mit Verweis auf die Voraussetzungen der Freizügigkeitsrichtlinie EU).
712. Da sich aus dem Unionsrecht keine Freizügigkeitsvermutung ableiten lässt (s. bereits unter I. 2. c.), ist es auch mit Unionsrecht vereinbar, dass die Prüfungskompetenz hinsichtlich der materiell-rechtlichen Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Sinne von § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG gem. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG den Familienkassen im Bereich des Kindergeldes übertragen ist. Der Vollzug des materiellen Unionsrechts erfolgt auch hier indirekt durch die mitgliedstaatlichen (hier deutschen) Behörden, ohne dass das Sekundärrecht vorgibt, dass allein die Ausländerbehörde Freizügigkeitsrecht auslegen dürfte. Wegen der grundsätzlich bestehenden Verwaltungshoheit der Mitgliedstaaten und ihrer Verfahrensautonomie dürfen diese Fragen durch den Unionsgesetzgeber auch nicht geregelt werden.
723. Der Senat sieht sich entsprechend nicht veranlasst, die Sache dem EuGH gem. Art. 267 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vorzulegen. Zum einen ist eine Vorlage nur für letztinstanzliche Gerichte verpflichtend und zum anderen hat der Senat entsprechend den obigen Ausführungen keine entscheidungserheblichen Zweifel an der Vereinbarkeit der Regelungen des § 62 Abs. 1a Sätze 3 und 4 EStG mit Unionsrecht.
73III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
74IV. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, weil zu der Frage der Unionsrechts- und Verfassungskonformität von § 62 Abs. 1a Sätze 3 und 4 EStG sowie zur Frage der unionsrechtskonformen Auslegung von § 4 Satz 1 FreizügG/EU im Hinblick auf den Bezug von Sozialhilfeleistungen und den Folgeauswirkungen für den Kindergeldanspruch keine höchstrichterliche Rechtsprechung des BFH vorliegt (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).