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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Streitig ist, ob der Kindergeldanspruch der Klägerin im Zeitraum Januar bis Februar 2022 (Streitzeitraum) nach § 62 Abs. 1a Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG) ausgeschlossen ist.
2Die Klägerin ist norwegische Staatsangehörige. Sie hat vier Kinder. Die ersten drei Kinder wurde in den Jahren 2012 bis 2014 in Norwegen geboren, das vierte Kind 2019 in Deutschland. Die Kinder haben die norwegische, das vierte Kind (auch) die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Klägerin war seit Geburt ihres ersten Kindes nicht mehr erwerbstätig.
3Der Vater der Kinder war irakischer Staatsbürger; er war mit der Klägerin nicht verheiratet. Er lebte und arbeitete in Deutschland. Im November 2016 zog die die Mutter mit ihren Kindern erstmals von Norwegen zum Kindesvater nach Deutschland, nämlich nach C. Seit Januar 2017 erhielt die Klägerin Kindergeld.
4Der Kindesvater verstarb 2019 infolge eines Arbeitsunfalls. Aufgrund des Todes des Kindsvaters erhalten die vier Kinder (auch schon im Streitzeitraum) eine Halbwaisenrente von der gesetzlichen Unfallversicherung.
5Zu Beginn der Sommerferien 2020 zog die Klägerin mit ihren Kindern von Deutschland nach Norwegen. Aufgrund dessen hob die damals zuständige Familienkasse D die Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf.
6Im Jahr 2021 – nach Angaben der Klägerin zum Schuljahresbeginn, nach dem vorliegenden Mietvertrag spätestens zum 01.09.2021 – zog die Klägerin mit ihren Kindern zurück nach Deutschland. Sie beantragte im Oktober 2021 Kindergeld und fügte Geburtsbescheinigungen der Kinder, Bescheide über die Waisenrente für ihre Kinder, eine Meldebestätigung für die Anmeldung der Meldebehörde der Stadt E zum 01.09.2021, eine Sterbeurkunde des Kindesvaters sowie Nachweise über den Abschluss eines Mietvertrages an. Auf Nachfrage der Beklagten reichte die Klägerin außerdem die Anlage EU und Schulbescheinigungen für die drei schulpflichtigen Kinder nach; in der Anlage EU gab die Klägerin an, nicht arbeitsuchend zu sein.
7Im Oktober 2021 machte das Jobcenter … E einen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff. des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch geltend. Mit Bescheid vom 11.11.2021 bewilligte das Jobcenter … E ab September 2021 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Arbeitslosengeld II) für die Klägerin und ihre in ihrem Haushalt lebenden Kinder. Auf den sich in der Kindergeldakte befindlichen Bescheid wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
8Mit – nicht verfahrensgegenständlichen – Bescheiden vom 11.11.2021 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für August 2021 bis Oktober 2021 sowie ab November 2021 ab; die dagegen gerichteten Einsprüche wies sie mit Einspruchsentscheidung vom 02.12.2021 als unbegründet zurück. Hiergegen ist die Klägerin gerichtlich nicht vorgegangen.
9Mit weiterem Antrag vom 03.12.2021 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld für ihre Kinder. Sie fügte neben den oben genannten Unterlagen den Bescheid über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes des Jobcenters … E vom 11.11.2021 bei.
10Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kindergeldgewährung mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 15.12.2021 für den Zeitraum ab Januar 2022 ebenfalls ab. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union (EU) sowie des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten könnten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) als erfüllt ansehe. Die Voraussetzung nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU seien vorliegend nicht erfüllt.
11Hiergegen legte die Klägerin mit Schreiben vom 10.01.2022 (Eingang bei der Beklagten am gleichen Tag) Einspruch ein. Ihr sei Kindergeld zu gewähren, weil ihr in der Vergangenheit Kindergeld gewährt worden sei. Gleiches folge daraus, dass ihr Ehemann infolge eines Arbeitsunfalls verstorben und davor einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Die Klägerin könne aufgrund der minderjährigen Kinder keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Weil sie Leistungen vom Jobcenter … E beziehe, sei sie wie eine Arbeitssuchende zu behandeln. Die Erwerbsfähigkeit sei vorhanden, nur die Erwerbsmöglichkeit sei derzeit eingeschränkt.
12Nachdem eine weitergehende Einspruchsbegründung entgegen vorheriger Ankündigung nicht eingegangen war, wies die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 08.02.2022 darauf hin, dass der Einspruch keine Aussicht auf Erfolg habe. Dass zu einem früheren Zeitpunkt Kindergeld gezahlt worden sei, führe nicht automatisch zu einem weiteren Kindergeldanspruch. Da die Klägerin norwegische Staatsangehörige sei und am 01.09.2021 erneut in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei, stehe einer Kindergeldfestsetzung § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG entgegen. Aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erfülle sie nicht die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU i. V. m. § 4 FreizügG/EU. Deswegen sei keine andere Entscheidung möglich.
13Sodann wies die Beklagte den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 18.02.2022 als unbegründet zurück.
14Ein Freizügigkeitsrecht der Klägerin ergebe sich nicht aus einer gegenwärtigen oder vergangenen Erwerbstätigkeit. Darüber hinaus könne die Klägerin nicht als Nichterwerbstätige i.S. des § 4 FreizügG/EU anerkannt werden, da sie keine eigenen ausreichenden Existenzmittel zur Verfügung habe. Durch den Bezug von Sozialleistungen nach dem SGB II sei nachgewiesen, dass keine eigenen ausreichenden Existenzmittel vorlägen.
15Mit der dagegen gerichteten Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Sie nimmt Bezug auf ihr Vorbringen im Einspruchsverfahren und trägt ergänzend und vertiefend vor: Sie, die Klägerin, sei als Norwegerin freizügigkeitsberechtigt. Dies habe die Beklagte nicht hinreichend berücksichtigt. Sie habe zudem vor ihrer Wiedereinreise bereits in Deutschland gelebt. Der Kindesvater sei deutscher Staatsbürger gewesen. Sie, die Klägerin, wolle eine Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet aufnehmen, könne das aber wegen ihrer Kinder nicht. Sie sei schon deshalb arbeitssuchend, weil nur arbeitssuchend gemeldete Leistungsbezieher Leistungen beziehen könnten. Zudem seien die Kinder in Deutschland geboren, so dass auch deswegen die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld vorliegen dürften. Sie, die Klägerin, beziehe auch eine Witwenrente aus Deutschland; diesbezüglich sei ein Krankenversicherungsschutz gegeben.
16Die Klägerin beantragt,
17die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 15.12.2021 und der Einspruchsentscheidung vom 18.02.2022 zu verpflichten, Kindergeld für die Kinder F, G, H und J für die Monate Januar und Februar 2022 festzusetzen.
18Die Beklagte beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Sie tritt der Klage entgegen. Ein nicht erwerbstätiger Unionsbürger sei nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG nur anspruchsberechtigt, wenn er arbeitssuchend sei und vorher einen der Tatbestände der § 2 Abs. 2 Nr. 1 oder der Nrn. 2 bis 7 FreizügG/EU erfüllt habe. Dies sei nicht der Fall. Nicht erwerbstätige Personen benötigten einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel. Da die Klägerin SGB II beziehe, sei dies nicht der Fall. Die Waisenrente der Kinder decke nicht deren Bedarf.
21Der Senat hat die Sache mit Beschluss vom 08.09.2023 auf den Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
22Die Sache ist am 20.09.2024 vor dem Einzelrichter mündlich verhandelt worden. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Die Klage ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Kindergeldfestsetzung, § 101 Finanzgerichtsordnung (FGO).
24Zwar liegen die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG unstreitig vor. Der Kindergeldanspruch ist aber durch § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen.
25Nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG (i.d.F. vom 11.07.2019, eingeführt durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.07.2019, BGBl I 2019, 1066) ist der Kindergeldanspruch eines Staatsangehörigen eines EWR-Staats, der seit mehr als drei Monaten im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter anderem dann ausgeschlossen, wenn dieser die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht erfüllt. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch. Dementsprechend ist auch das Gericht berechtigt, das Kriterium der Freizügigkeit selbst zu überprüfen.
26Diese Regelung findet im Streitzeitraum Anwendung. § 62 Abs. 1a EStG in der am 18.07.2019 geltenden Fassung ist für Kindergeldfestsetzungen anzuwenden, die – wie im vorliegenden Fall – Zeiträume betreffen, die nach dem 31.07.2019 beginnen (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG). Dass die Klägerin vor Inkrafttreten dieser Vorschrift Kindergeld erhalten hat, ändern daran nichts. Es ist im hiesigen Verfahren auch unerheblich, dass die Familienkassen gemäß der Arbeitsanweisung zu § 62 Abs. 1a EStG die Vorschrift nicht anwenden, wenn der Wohnsitz vor dem 01.08.2019 genommen wurde. Diese Regelung kann allenfalls in einem gesonderten Billigkeitsverfahren Bedeutung erlangen.
27Der persönliche Anwendungsbereich des § 62 Abs. 1a EStG ist eröffnet, da die Klägerin Staatsangehörige eines EWR-Staats (Norwegen) ist und keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
28Im Streitfall findet § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG und nicht § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG Anwendung. Der streitige Kindergeldanspruch fällt nicht in den Zeitraum von drei Monaten ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, weil die Klägerin spätestens im September 2021 ihren Wohnsitz in Deutschland (wieder-)begründet hat. Daher findet auch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 01.08.2022 (C-411/20), das die für die ersten drei Monat ab Einreise geltende Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG, wonach nur Erwerbseinkommen erzielende Unionsbürger einen Kindergeldanspruch haben können, für unionsrechtswidrig befunden hat, keine Anwendung.
29Die Klägerin erfüllt im Streitzeitraum nicht die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU.
30Zwar fällt die Klägerin als EWR-Bürgerin gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 FreizügG/EU unter den persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes; die für Unionsbürger, Familienangehörige von Unionsbürgern und nahestehende Personen von Unionsbürgern geltenden Regelungen finden nach § 12 FreizügG/EU jeweils auch auf Staatsangehörige der EWR-Staaten, die nicht Unionsbürger sind, und auf ihre Familienangehörigen und ihre nahestehenden Personen Anwendung.
31Jedoch liegen weder die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 noch des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU vor.
32Nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU sind freizügigkeitsberechtigt
331. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen,
341a. Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden,
352. Unionsbürger, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbständige Erwerbstätige),
363. Unionsbürger, die, ohne sich niederzulassen, als selbständige Erwerbstätige Dienstleistungen im Sinne des Artikels 57 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union erbringen wollen (Erbringer von Dienstleistungen), wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind,
374. Unionsbürger als Empfänger von Dienstleistungen,
385. nicht erwerbstätige Unionsbürger unter den Voraussetzungen des § 4,
396. Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4,
407. Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben.
41Die Klägerin ist weder erwerbstätig noch erwerbstätigkeitssuchend noch Erbringerin oder Empfängerin von Dienstleistungen (Nr. 1 bis 4).
42Sie hat auch kein Aufenthaltsrecht als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 iVm § 4 FreizügG/EU. Nach § 4 Satz 1 FreizügG/EU haben nicht erwerbstätige Unionsbürger das Recht auf Einreise und Aufenthalt, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen. Die Klägerin und ihre Kinder beziehen Sozialhilfe. Zwar erhalten die minderjährigen Kinder auch eine Waisenrente, über die die Klägerin verfügen kann. Selbst die Kinder erhalten aber noch zusätzliche Leistungen vom JobCenter. Die Klägerin, die mit dem Kindesvater nicht verheiratet war und daher – anders als zwischenzeitlich vorgetragen – keine Witwenrente bezieht, erhält sämtliche Existenzmittel vom JobCenter. Selbst wenn man die Vorschrift des § 4 Satz 1 FreizügG/EU in unionsrechtskonformer Weise dahingehend einschränkend auslegt, dass nur eine unangemessene Inanspruchnahme staatlicher Mittel dem Recht zum Aufenthalt im Aufnahmestaat entgegensteht (vgl. Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 03.03.2022 13 ME 507/21 mit weiteren Nachweisen), hätte die Klägerin kein Aufenthaltsrecht. Denn es lag eine unangemessene Inanspruchnahme staatlicher Mittel vor. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass die Klägerin seit der Geburt ihres ersten Kindes nicht erwerbstätig war und im Streitzeitraum keine Anhaltspunkte für eine baldige Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bestanden, dass die Klägerin selbst in voller Höhe und ihre Kinder zum Teil auf Sozialhilfeleistungen angewiesen waren, dass wegen des Schulbesuchs der Kinder ein langfristiger Aufenthalt zu erwarten war und dass zudem ein Krankenversicherungsschutz – entgegen der nicht belegten Behauptung, wonach sich ein solcher aus dem Bezug der Halbwaisen- und der gar nicht bestehenden Witwenrente ergäbe – nicht vorlag. Auch die sonstigen und persönlichen Umstände lassen die Inanspruchnahme nicht angemessen erscheinen. Zwar weist die Familie der Klägerin zahlreiche Bezüge zu Deutschland auf: Der Kindesvater hat in Deutschland gelebt und gearbeitet; aufgrund eines in Deutschland erlittenen Arbeitsunfalls erhalten die Kinder eine Halbwaisenrente der deutschen Unfallversicherung. Die Kinder haben mit dem Kindervater und der Klägerin von 2016 bis 2020 in Deutschland gelebt und das älteste Kind ist hier eingeschult worden; das jüngste Kind hat (neben der norwegischen) die deutsche Staatsangehörigkeit. Nach den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung leben auch die Großeltern väterlicherseits in Deutschland. Die Klägerin hat aber mit den Kindern auch mehrere Jahre in Norwegen gelebt; sie und ihre Kinder haben die norwegische Staatsangehörigkeit. Die Großeltern mütterlicherseits leben nach den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung in Norwegen. Insgesamt stellen sich die Umstände daher nach der Auffassung des Gerichts nicht so dar, dass sie die Inanspruchnahme der staatlichen Mittel als angemessen erscheinen lassen.
43Die Klägerin hat weiter kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 iVm §§ 3, 4 FreizügG/EU. § 3 vermittelt unter bestimmten Voraussetzungen Aufenthaltsrechte an Familienangehörige von Unionsbürgern.
44- Die Klägerin kann nach dieser Vorschrift kein Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU vom Kindesvater ableiten, weil der Kindesvater nicht Unionsbürger und sie nicht seine Familienangehörige war. Die Klägerin ist im Sinne des FreizügG/EU Familienangehörige nur ihrer Kinder (die Unionsbürger sind), nicht des Kindesvaters. Denn zum einen war dieser kein Unionsbürger. Nach der Klarstellung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung war der Kindesvater (wie auch im Verwaltungsverfahren stets angegeben) irakischer Staatsbürger; er hatte nicht, wie zwischenzeitlich im Klageverfahren ausgeführt, die die deutsche Staatsangehörigkeit (angenommen). Dies könnte indes auch dahinstehen, da weder irakische noch deutsche Staatsbürger Unionsbürger im Sinne des FreizügG/EU sind; die deutsche Staatsbürgerschaft vermittelt zwar die Unionsbürgerschaft nach Art. 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Deutsche indes keine Unionsbürger im Sinne des FreizügG/EU. Dies ist eine Entscheidung des Gesetzgebers: Deutsche genießen schon nach Art. 11 GG Freizügigkeit; für den Familiennachzug zu Deutschen gelten vorrangig die Bestimmungen der §§ 27 ff. Aufenthaltsgesetz (AufenthG; BeckOK AuslR/Tewocht, 42. Ed. 1.10.2021, FreizügG/EU § 1 Rn. 22). Die Klägerin ist zum anderen nicht Familienangehörige des Kindesvaters im Sinne des FreizügG/EU. Nach § 1 Abs. 3 Nr. 3 FreizügG/EU sind Familienangehörige einer Person der Ehegatte, der Lebenspartner nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 Buchst a FreizügG/EU), die Verwandten in gerader absteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird, und die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Demnach war die Klägerin keine Familienangehörige des verstorbenen Kindesvaters. Die Klägerin war mit dem Kindesvater nicht verheiratet.
45- Die Klägerin kann auch nicht als Familienangehörige ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 EStG von ihren Kindern ableiten. Sie ist zwar Familienangehörige ihrer Kinder und diese sind EWR-Bürger und damit Unionsbürgern bei der Anwendung des FreizigG/EU gleichgestellt. Sie ist in aufsteigender Linie mit ihren Kindern verwandt und diese gewähren ihr auch (in Form der Waisenrenten) Unterhalt (§ 1601 ff. Bürgerliches Gesetzbuch). Die Kinder sind aber nicht erwerbstätig, sodass für ein Aufenthaltsrecht der Klägerin nach § 3 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU erfüllt sein müssen, was – wie dargestellt – nicht der Fall ist.
46- Auch § 3 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU vermittelt der Klägerin kein Aufenthaltsrecht. Diese Vorschriften knüpfen an einen verstorbenen Unionsbürger an, der das Aufenthaltsrecht vermittelt; dies hätte nur der Kindesvater sein können, der aber kein Unionsbürger war.
47- § 3 Abs. 4 FreizügG/EU gilt für Ehegatten eines Unionsbürgers und mithin im Streitfall nicht.
48Die Klägerin hat auch kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU. Danach sind freizügigkeitsberechtigt die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die ein Daueraufenthaltsrecht erworben haben. Den Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts regelt § 4a FreizügG/EU. Die Klägerin hat kein Daueraufenthaltsrecht erworben.
49- Die Klägerin erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Danach haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Die Klägerin hat sich nicht fünf Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten; sie ist vielmehr 2016 eingereist und 2020, also vor Ablauf von fünf Jahren wieder nach Norwegen gezogen. Die Abwesenheit von über einem Jahr (Beginn der Sommerferien 2020 bis Ende der Sommerferien 2021) führt zum Neubeginn des Zeitraums des ständigen Aufenthalts. Nach § 4a Abs. 6 Nr. 1 FreizügG/EU wird der ständige Aufenthalt wird nicht berührt durch Abwesenheiten bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr. Dieser Zeitraum wurde 2021 überschritten. Die Abwesenheit war auch nicht gemäß § 4a Abs. 6 Nr. 3 FreizügG/EU unschädlich. Danach ist eine einmalige Abwesenheit von bis zu zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigem Grund, insbesondere auf Grund einer Schwangerschaft und Entbindung, schwerer Krankheit, eines Studiums, einer Berufsausbildung oder einer beruflichen Entsendung unschädlich. Der Zeitraum von einem Jahr wurde überschritten. Auch ist ein wichtiger Grund nicht vorgetragen und nicht ersichtlich.
50- Im Übrigen hielt sie sich seit dem Jahr 2021 auch nicht mehr rechtmäßig in Deutschland auf. Die Ausführungen zur Freizügigkeit der Klägerin in den Monaten des Streitzeitraums gelten gleichermaßen für die Monate ab der Einreise, weil sich die Umstände des Aufenthalts seitdem nicht verändert haben.
51- Die Erleichterungen des § 4a Abs. 2 FreizügG/EU gelten nur für Personen im Sinne der § 2 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 FreizügG/EU, zu denen die Klägerin als nicht erwerbstätige EWR-Bürgerin nicht gehört.
52- Die Klägerin erfüllt ebenfalls nicht die Voraussetzungen des § 4a Abs. 3 FreizügG/EU. Danach können Familienangehörige und nahestehende Personen eines verstorbenen Unionsbürgers ein Daueraufenthaltsrecht erwerben. Der verstorbene Kindesvater war indes kein Unionsbürger.
53- Aus dem gleichen Grund hat die Klägerin kein über den Kindesvater vermitteltes Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 4 FreizügG/EU, weil diese Vorschrift ebenfalls nur für die Familienangehörigen und die nahestehenden Personen eines Unionsbürgers gilt.
54Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU lagen ebenfalls nicht vor. Denn § 2 Abs. 3 FreizügG/EU enthält Regelungen für den Fortbestand des Freizügigkeitsrecht für Arbeitnehmer und selbständig Tätige; die Klägerin war indes nicht erwerbstätig.
55Dass im Streitzeitraum die Voraussetzungen der Vorschrift des § 62 Abs. 2 EStG vorlagen, die Berücksichtigungstatbestände für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer enthält, ist nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung dargetan, erst im Juni 2024 einen Aufenthaltstitel nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erlangt zu haben. Dieser Aufenthaltstitel entfaltet indes keine Rückwirkung (vgl. Bundesfinanzhof, Urteil vom 05.02.2015 III R 19/14, BStBl II 2015, 840).
56Die Vorschrift des § 62 Abs. 1a EStG ist nach Auffassung des Gerichts unionrechtskonform und verfassungsgemäß. Das Gericht schließt sich insoweit den Ausführungen des Finanzgerichts Münster im Gerichtsbescheid vom 07.02.2023 (8 K 903/21 Kg). Insbesondere ist es unionsrechtlich zulässig, die Gewährung von Kindergeld an einen rechtmäßigen Aufenthalt zu knüpfen. Ein Aufenthaltsrecht der Klägerin im Streitzeitraum ist auch auf Grundlage unionsrechtlicher Bestimmungen nicht ersichtlich.
57Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
58Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, weil zur die Frage der Unionsrechts- und Verfassungskonformität des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG keine höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).