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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Duldungsbescheides, mit dem der Beklagte die Überweisung eines Betrages i.H.v. 120.200,00 € vom 04.06.2013 durch den Steuerschuldner auf ein Konto des Klägers in der Türkei angefochten hat.
2Der am xx.01.2022 verstorbene Kläger (siehe Sterbeurkunde, Bl. 114 GA) war der Vater des Steuerschuldners, Herrn S. B.. Etwaige Erben sind unbekannt.
3Der Steuerschuldner betrieb seit 2001 ein X-Gewerbe in R-Stadt. Der Kläger und seine Ehefrau, Frau F. B., sind seit dem Jahr 2003 Rentner. Neben deutscher Rente bezogen sie jeweils eine Rente sowie Mieteinkünfte in der Türkei. Sie hielten und halten sich den überwiegenden Teil des Jahres in der Türkei, teilweise aber auch in Deutschland auf.
4Im Jahr 2011 beantragte der Sozialversicherungsträger X beim Amtsgericht – Insolvenzgericht – R-Stadt wegen rückständiger Sozialversicherungsabgaben die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Steuerschuldners (Az. x IN xxx/11). Dieses Verfahren wurde aufgrund von Zahlung der offenstehenden Forderungen seitens der Mutter des Steuerschuldners, Frau F. B., für erledigt erklärt.
5Am 08.03.2012 gab der Steuerschuldner beim Amtsgericht R-Stadt die eidesstattliche Versicherung ab. Sowohl seine betrieblichen als auch sein privates Konto waren seit dem Jahr 2012 gepfändet.
6Im Jahr 2013 veräußerte der Steuerschuldner das Objekt O-Straße 1 in R-Stadt für 469.247,29 € sowie das Objekt O-Straße 2 für 380.752,71 €. Die Kaufpreiszahlungen aus diesen Veräußerungen wurden u.a. auf das Konto des Klägers in der Türkei (neben der hier in Streit stehenden Überweisung auch ein weiterer Betrag in Höhe von 369.191,57 €), auf das deutsche Konto der Mutter des Steuerschuldners sowie an weitere Gläubiger (u.a. an die Stadt R-Stadt sowie zur Tilgung bestehender Kreditverbindlichkeiten des Steuerschuldners gegenüber Banken, siehe im Einzelnen hierzu, Bl. 1ff. der Haftungsakte des Steuerschuldners) geleistet. Lediglich ein Betrag in Höhe von 5.000,00 € wurde auf das deutsche Konto des Steuerschuldners bei der Bank R-Stadt gezahlt.
7Am 14.05.2013 zahlte der Steuerschuldner auf sein Konto bei der Bank R-Stadt zu Konto-Nr. 000 einen Betrag i.H.v. 125.000,00 € in bar ein und überwies hiervon 120.200,00 € am 04.06.2013 auf das Konto des Klägers in der Türkei. Einen Betrag i.H.v. 120.000,00 € hob der Kläger am 05.06.2013 in bar in der Türkei bei der K-Bank Filiale in C-Stadt (Türkei) ab und übergab diesen dort an den Steuerschuldner (siehe Erklärung Bl. 135 (R) bis 137 GA zum Verfahren zu Az. 6 K 1665/15 AO).
8Im Jahr 2014 stellte der Beklagte im Rahmen einer beim Steuerschuldner durchgeführten Außenprüfung betreffend Umsatzsteuer 2009 bis 2011 sowie Einkommen- und Gewerbesteuer 2008 bis 2011 erhebliche Steuernachforderungen fest. Der Steuerschuldner gab in diesem Rahmen an, dass er keine Einkünfte beziehe, sondern gemeinsam mit seinem Sohn von der finanziellen Unterstützung seiner Eltern lebe.
9Der Beklagte versucht seit dem Jahr 2013 erfolglos, die gegenüber dem Steuerschuldner bestehenden Forderungen zu vollstrecken.
10Der Beklagte erließ zunächst am 24.11.2014 gegenüber dem Kläger einen Duldungsbescheid nach § 191 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO). Darin focht er die Überweisung des Geldbetrages i. H. v. 120.200,00 € an den Kläger vom 04.06.2013 an. Die Anfechtung stützte der Beklagte auf § 4 Abs. 1 des Anfechtungsgesetzes (AnfG). Zugleich forderte der Beklagte den Kläger auf, Wertersatz i.H.v. 58.418,99 € zu zahlen (vgl. Aufstellung I im benannten Duldungsbescheid). Neben Steuerforderungen des Beklagten gegenüber dem Steuerschuldner aus der Einkommensteuer für 2008 und der Umsatzsteuer für 2003 bis 2008 zzgl. Nebenleistungen (Zinsen und Kosten) i.H.v. insgesamt 54.278,49 € wurde auch die Zahlung von Säumniszuschlägen i.H.v. insgesamt 4.140,50 € gefordert. Bei dem unter „Aufstellung I“ aufgelisteten Beträgen i.H.v. 58.418,99 € handelt es sich um die zu diesem Zeitpunkt bestandskräftig festgesetzten Forderungen des Beklagten gegenüber dem Steuerschuldner. Der Kläger wurde weiterhin darauf hingewiesen, dass er als Duldungsschuldner für die weiteren Steuerschulden i.H.v. insgesamt 13.403,17 € in Anspruch genommen werde, sobald die zugrundeliegenden Bescheide in den Jahressteuerbescheiden aufgingen und diese bestandskräftig geworden seien (vgl. Aufstellung II zum Duldungsbescheid). Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Duldungsbescheid vom 24.11.2014 sowie dessen Anlagen verwiesen.
11Der Kläger hat hiergegen sowohl ein Einspruchs- als auch ein Klageverfahren (Az. 6 K 1665/15 AO) geführt. In diesem Rahmen hat er zunächst vorgetragen, dass er von seinem Sohn, dem Steuerschuldner, verschiedene Darlehen gewährt bekommen habe. Die an ihn gerichtete Zahlung sei die Rückzahlung dieser Darlehensverbindlichkeiten gewesen. Es handele sich daher insbesondere nicht um eine unentgeltliche Zuwendung i.S.v. § 4 Abs. 1 AnfG. Der Beklagte hatte indessen Zweifel an diesem Vortrag, da die seitens des Klägers vorgelegten Unterlagen nicht den Schluss darauf zuließen, dass die Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) bei Darlehensvereinbarungen zwischen nahen Angehörigen eingehalten worden seien.
12Mit Beschluss vom 30.07.2015 hat der 6. Senat den Antrag des Klägers auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt (6 V 1407/15 AO). Auch ein weiterer Antrag des Klägers blieb ohne Erfolg (Beschluss vom 27.10.2015 zu Az. 6 V 2663/15 AO). Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese Beschlüsse und die hierzu geführten Gerichtsakten Bezug genommen.
13Der Beklagte pfändete aufgrund der im Duldungsbescheid vom 24.11.2014 festgesetzten Duldungsschuld durch Drittschuldnerzahlungen insgesamt einen Betrag in Höhe von 46.619,80 € beim Kläger.
14Im Klageverfahren zu Az. 6 K 1665/15 AO hatte sich der Kläger zur Begründung der Rechtswidrigkeit des Duldungsbescheides vom 24.11.2014 u.a. auch auf ein Urteil des Finanzgerichts (FG) Münster vom 07.05.2014 (6 K 1062/13 AO) gestützt und vorgetragen, er habe über das an ihn überwiesene Geld nicht frei verfügen können, sondern es vielmehr treuhänderisch für den Steuerschuldner verwahrt. Er habe das auf seinem Konto eingegangene Geld nicht behalten dürfen, sondern dieses auf Anforderung des Steuerschuldners als Treugeber jederzeit an diesen herausgeben müssen und schließlich auch herausgegeben. Dafür spreche objektiv bereits der enge zeitliche Zusammenhang zwischen Zahlung und Rückzahlung (nur ein Tag).
15Der Kläger habe sich seit dem 21.05.2013 – wie jedes Jahr – zusammen mit seiner Ehefrau zu einem längeren Auslandsaufenthalt in der Türkei aufgehalten. Er und seine Ehefrau reisten alljährlich im Frühjahr – meist schon im März/April - in die Türkei und kehrten von dort erst Ende Dezember wieder nach Deutschland zurück. Im Jahr 2013 seien beide Eheleute am 21.05.2013 abgereist und am 17.12.2013 nach Deutschland zurückgekehrt. Der Steuerschuldner habe am 04.06.2013 den Streitbetrag i.H.v. 120.200,00 € auf das Konto des Klägers in der Türkei überwiesen. Dazu habe der Steuerschuldner dem Kläger gegenüber erklärt, dass er dieses Geld kurzfristig wieder in der Türkei benötige. Er – der Kläger – habe es ihm dann wieder zurückgeben sollen. Mit diesem Vorgehen habe er sich einverstanden erklärt und so sei auch verfahren worden.
16An den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AnfG fehle es, da es an jeglichem schlüssigen Vortrag und an Nachweisen des Beklagten zur Kenntnis des Klägers von der finanziellen Situation des Steuerschuldners und von dessen etwaiger Gläubigerbenachteiligungsabsicht mangele. Alleine aus der Kontoüberlassung könne nicht auf einen derartigen Vorsatz geschlossen werden. Der Kläger habe weder um die finanzielle Situation seines Sohnes gewusst noch sei er in irgendeiner Form zur Verfolgung besonderer Eigen- oder Fremdinteressen in eine Gläubigerbenachteiligung eingebunden gewesen. Hinzu komme, dass der Kläger sich schon seit mehr als zwei Wochen in seinem jährlichen Auslandsaufenthalt in der Türkei befunden habe. Auf Basis der Aussage des Sohnes, dass er dieses Geld in der Türkei investieren wolle, habe der Kläger auch nicht davon ausgehen müssen, dass diese Überweisung durch den Steuerschuldner erfolgt sei, um dessen Gläubiger zu benachteiligen. Ungeachtet dessen reiche ein bloßes „davon ausgehen müssen“ als grob fahrlässige Unkenntnis für die Anwendung von § 3 Abs. 1 AnfG ohnehin nicht aus. Vielmehr müsse positive Kenntnis gegeben sein, die vom Anfechtenden – mithin dem Beklagten – zu beweisen sei.
17Auch sei die Annahme des Beklagten nicht richtig, dass der Kläger zum Zeitpunkt der hier zu beurteilenden Rechtshandlung mit dem Steuerschuldner zusammen in einem Haushalt gewohnt habe. Vielmehr habe der Steuerschuldner zum Zeitpunkt der hier maßgeblichen Umstände bei seiner damaligen Lebensgefährtin gewohnt und sei erst Anfang 2014 wieder in das Haus seiner Eltern gezogen. Auch vor diesem Hintergrund könne nicht auf irgendeine Kenntnis des Klägers geschlossen werden. Aber selbst wenn der Kläger zusammen mit dem Steuerschuldner in einem gemeinsamen Haushalt gewohnt hätte, reiche dieser Umstand nicht aus, um auf eine Kenntnis des Klägers schließen zu können.
18Die zu Az. 6 K 1665/15 AO geführte Klage des Klägers hatte Erfolg. Das FG hob den Duldungsbescheid vom 24.11.2014 wegen Ermessensfehler mit Urteil vom 22.02.2018 auf. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll zur mündlichen Verhandlung sowie das Urteil des 6. Senats Bezug genommen.
19Am 27.02.2017 erließ der Beklagte gegenüber dem Kläger einen weiteren Duldungsbescheid, mit dem er von diesem Wertersatz i.H.v. 49.054,00 € fordert. Hierin ficht der Beklagte dieselbe Rechtshandlung wie im Bescheid vom 24.11.2014 an (= Überweisung des Betrages i.H.v. 120.200,00 € auf das Konto des Klägers vom 04.06.2013). Es werden hierin bestandskräftig festgesetzte Steuerforderungen gegenüber dem Steuerschuldner i.H.v. insgesamt 325.466,63 € ausgewiesen. Hierbei handelt es sich um Forderungen zur Einkommensteuer 2008 bis 2014 zzgl. Nebenleistungen und Säumniszuschläge. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diesen Bescheid Bezug genommen.
20Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg. Mit Einspruchsentscheidung vom 15.06.2020 wies der Beklagte den Einspruch des Klägers als unbegründet zurück. Grund für die gerichtliche Aufhebung des Duldungsbescheides vom 24.11.2014 seien – wie sich aus den Urteilsgründen des Urteils des FG vom 22.02.2018 ergebe – lediglich Ermessensfehler gewesen und nicht das Fehlen der rechtlichen Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AnfG. Diese lägen weiterhin vor. Der Kläger habe keine nachvollziehbaren Gründe für die Überweisung des in Streit stehenden Betrages auf sein Konto darlegen können. Eine Gläubigerbenachteiligung liege daher vor, da dem Beklagten die Vollstreckung seiner gegenüber dem Steuerschuldner bestehenden Forderungen erschwert worden sei. Im Ergebnis lägen sowohl die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AnfG als auch alle weiteren Voraussetzungen für eine Duldungsinanspruchnahme des Klägers vor (insbesondere die allgemeinen Voraussetzungen nach §§ 1, 2 AnfG als auch die Frist nach § 3 Abs. 1 AnfG von 10 Jahren). Nach der Rechtsprechung des BFH müsse für eine derartige Fallkonstellation zumindest ein nachvollziehbarer Grund für die Überweisung und Inanspruchnahme der klägerischen Konten vorgebracht werden. Hieran fehle es.
21Die Kenntnis sei nach § 3 Abs. 1 Satz 2 AnfG zu vermuten, da der Steuerschuldner zumindest zeitweise im Haushalt des Klägers gewohnt habe und ihm dessen Zahlungsschwierigkeiten nicht unbekannt geblieben sein können.
22Auch die Voraussetzungen des § 11 AnfG lägen vor. Der Kläger habe in Höhe der seitens des Schuldners gewährten Beträge Wertersatz zu leisten.
23Aufgrund der ausgebrachten Pfändungsmaßnahmen und unter Berücksichtigung des Anspruchs auf Prozesskostenerstattung durch das Urteil vom 22.02.2018 sei der Wertersatz indes bereits (durch Aufrechnungen) beglichen und an den Kläger ein Restbetrag in Höhe von 458,18 € auszuzahlen (siehe hierzu im Einzelnen Seite 7 der Einspruchsentscheidung vom 15.06.2020).
24Der Kläger begründet die hiergegen gerichtete Klage damit, dass zunächst eine Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners im Jahr 2012 nicht bestanden haben könne, da kein Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. Aus der Veräußerung der Immobilien im Jahr 2013 habe der Steuerschuldner immerhin einen Betrag in Höhe von 850.000,00 € erzielt, so dass auch vor diesem Hintergrund eine Zahlungsunfähigkeit nicht begründet werden könne.
25Überdies habe der Beklagte infolge der Außenprüfung im Jahr 2014 keinesfalls erhebliche Steuerforderungen begründet. Zum Nachweis werden die geänderten Einkommensteuerbescheide der Jahre 2008 bis 2011 übersandt.
26Unbestritten sei indes, dass der Steuerschuldner zum Zeitpunkt des Erlasses des Duldungsbescheides Rückstände aus Steuern und steuerlichen Nebenleistungen in Höhe von insgesamt 289.911,13 € (ohne Berücksichtigung von Säumniszuschlägen) gehabt habe. Davon seien allerdings bis zum Zeitpunkt der anfechtbaren Rechtshandlung lediglich 33.304,60 € entstanden. Abzüglich etwaiger vom Vollstreckungsschuldner gezahlten Leistungen sei zu diesem Zeitpunkt nur ein Betrag i.H.v. 7.991,41 € offen gewesen.
27Der Beklagte nehme den Kläger – in rechtswidriger Weise – für Forderungen in Anspruch, welche erst ein Jahr nach der strittigen Überweisung vom 04.06.2024 entstanden seien. Insoweit seien die Steuerforderungen erst zur Entstehung gelangt, als die anfechtbare Rechtshandlung längst abgeschlossen gewesen sei, und diese seien zu diesem Zeitpunkt dem Grunde nach noch gar nicht angelegt gewesen. Der Beklagte mache im streitgegenständlichen Duldungsbescheid etwa u.a. Einkommensteuer 2014 geltend, die am 04.06.2013 – und damit zum Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung – weder entstanden, noch fällig gewesen sei. Der Beklagte sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal Gläubiger dieser Forderung gewesen. Auch der Schuldner selbst habe etwaige Überlegungen zu einer Benachteiligung zu diesem Zeitpunkt nicht in seine Erwägungen aufnehmen können. Demzufolge könne der Kläger erst recht nicht von einem etwaigen Benachteiligungsgrundsatz des Steuerschuldners Kenntnis erlangt haben. Am 04.06.2013 habe auch keine Betriebsprüfung für die Einkommensteuer bevorgestanden.
28Es scheide auch jegliche Beeinträchtigung der Zugriffsmöglichkeit des Beklagten durch den Steuerschuldner aus. Wenn der Beklagte vorbringe, dass der Steuerschuldner 800.000,00 € aus der Veräußerung von Immobilien erzielt habe und hiervon Teilbeträge an die Kläger überwiesen habe, blieben weiterhin Gelder, aus denen sich der Beklagte hätte befriedigen können. Vor diesem Hintergrund lägen die Voraussetzungen des § 1 AnfG nicht vor.
29In den Urteilen vom 22.02.2018 hätte der Senat auch keinesfalls die Voraussetzungen der §§ 3 Abs. 1, 4 AnfG bejaht, sondern vielmehr offengelassen.
30Überdies sei der Erlass eines weiteren Duldungsbescheides unzulässig. Der hier streitige Duldungsbescheid habe den ersten Duldungsbescheid vom 24.11.2014 ersetzt. Über den hier zu beurteilenden Duldungsbescheid sei daher bereits im vorherigen Verfahren mitentschieden worden.
31Seitdem der Kläger im Jahr 2005 einen Schlaganfall erlitten habe, seien er und seine Ehefrau – wie vorgetragen – den größten Teil des Jahres in der Türkei gewesen. Sie hätten dem Steuerschuldner jeweils ihre Bankkarten der deutschen Konten (incl. PIN) zur Erledigung von Bankgeschäften aller Art überlassen. Davon, dass der Steuerschuldner das Konto für seinen eigenen Zahlungsverkehr genutzt habe, habe der Kläger erst viel später durch die seitens des Beklagten durchgeführten Kontenpfändungen erfahren.
32Überdies verkenne der Beklagte, dass der Steuerschuldner noch weitere Gläubiger habe. Er könne sich nicht „an diesen vorbei“ in voller Höhe befriedigen. Nach seinen Berechnungen könne der Beklagte allenfalls eine Quote von 10,58 % für sich beanspruchen.
33Es sei der Einspruchsentscheidung nicht zu entnehmen, ob der Kläger für Einkommen- und/oder Umsatzsteuer in Anspruch genommen werden solle und worauf der Erstattungsbetrag genau verrechnet worden sei. Es sei auch unzutreffend, wenn der Beklagte ausführe, dass Säumniszuschläge bei der Bemessung des Wertersatzes unberücksichtigt geblieben seien. Denn auf Seite 2 des Duldungsbescheides seien gerade Säumniszuschläge in Höhe von 35.555,00 € enthalten. Dies bedeute, dass sich aus den Ausführungen des Beklagten nicht ergäbe, auf welche Steuerart (Einkommen- oder Umsatzsteuer), auf welches Steuerjahr und auf welche steuerlichen Nebenleistungen sich der angefochtene Duldungsbescheid beziehe.
34Der Beklagte hat die im Duldungsbescheid ausgewiesenen Steuerforderungen mit Bescheid vom 19.07.2021 um einen Betrag in Höhe von 10.800,00 € (Teilbetrag zur Einkommensteuer 2014) reduziert (Bl. 92 bis 94 GA). Bei diesem Betrag handele es sich um Zahlungen zur Schadenswiedergutmachung des Steuerschuldners auf Grundlage des Beschlusses des Landgerichts R-Stadt im Rahmen der strafrechtlichen Verurteilung und der hierbei ergangenen Bewährungsauflagen. Die Anfechtung stützt der Beklagte nunmehr auf die verbliebenden, im Bescheid aufgelisteten Steuerrückstände von insgesamt 279.111,13 €. Auf den Ansatz etwaiger Säumniszuschläge hat der Beklagte in diesem Bescheid vollständig verzichtet.
35Der Kläger beantragt,
36den Duldungsbescheid vom 27.02.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.06.2020, geändert am 19.07.2021 aufzuheben;
37hilfsweise – für den Fall des Unterliegens – die Revision zuzulassen.
38Der Beklagte beantragt,
39die Klage abzuweisen;
40hilfsweise – für den Fall des Unterliegens – die Revision zuzulassen.
41Der 6. Senat habe den Duldungsbescheid vom 24.11.2014 lediglich wegen Ermessensfehlern aufgehoben. Einer Inanspruchnahme des Klägers nach §§ 3 Abs. 1, 4 AnfG hindere dies nicht.
42In der Argumentation des Klägers verkenne dieser die Planung eines „vorausschauenden Steuerschuldners“. So sei es dem Steuerschuldner bereits bei der Ausführung der Rechtshandlung klar gewesen, dass mit einer höheren Steuernachforderung zu rechnen gewesen sei. Er – der Beklagte – vollstrecke bereits seit dem Jahr 2013 erfolglos gegen den Steuerschuldner. Maßgebend sei für die Rechtshandlung nur der Vorsatz und der künftige Titel, nicht aber bereits vorliegende Titel zum Zeitpunkt der anfechtbaren Rechtshandlung.
43Zum Zeitpunkt des Erlasses des hier zu beurteilenden Duldungsbescheides seien gegenüber dem Steuerschuldner Steuerforderungen in Höhe von 289.911,13 € festgesetzt, fällig und vollstreckbar gewesen.
44Es komme auch nicht auf den Schuldenstand zum Zeitpunkt der anfechtbaren Rechtshandlung an, sondern darauf, dass sich der Schuldner durch die Rechtshandlung auch die Möglichkeit genommen habe, die Schulden, die in den folgenden Jahren auf ihn zugekommen seien, entrichten zu können.
45Für die Kenntnis der Gläubigerbenachteiligung reiche es aus, dass der Kläger durch die Handlung eine Gläubigerbenachteiligung billigend in Kauf nehme. Bei den hier zu beurteilenden Überweisungen sprächen gewichtige Gründe für eine Kenntnis der finanziellen Lage des Steuerschuldners. Dazu komme noch die familiäre Nähebeziehung, das Fehlen eines nachvollziehbaren Grundes für die Überweisung und die Kenntnis des Klägers über das Vorhandensein eines eigenen Kontos des Steuerschuldners. Überdies spreche die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung am 08.03.2012 für eine entsprechende Kenntnis.
46Der Kläger habe vorgetragen, dass der Steuerschuldner erst Anfang des Jahres 2014 wieder in die elterliche Wohnung eingezogen sei (siehe Protokoll zum Verfahren zu Az. 6 K 1665/15). Ein Kaufvertrag des Steuerschuldners vom 18.10.2013 habe jedoch auf die Anschrift der Eltern gelautet. Daraus sei ersichtlich, dass sich der Steuerschuldner dort häufig, zumindest immer wieder, aufgehalten habe, sonst hätte er diese Anschrift nicht verwenden können.
47Zudem habe der Steuerschuldner bei einer Besprechung an Amtsstelle am 27.08.2014 erklärt, dass er seit mehr als 15 Jahren bei seinen Eltern, ohne Miete zu zahlen, gewohnt habe. Er sei dort zudem durchgehend gemeldet gewesen.
48Aus dem Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 22.02.2018 gehe ebenfalls hervor, dass der Kläger und seine Ehefrau erklärt hätten, der Steuerschuldner habe ihnen gegenüber angegeben, die Gelder zur Begleichung von Schulden erhalten zu haben. Außerdem seien im Rahmen des Insolvenzverfahrens des Steuerschuldners im Jahr 2011 Steuerschulden durch die Eltern übernommen worden.
49Im Übrigen gelte § 166 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Die Kläger müssten sich die Gläubigerbenachteiligungsabsicht zurechnen lassen.
50Der Grundsatz der anteiligen Tilgung gelte nicht bei einer Duldungsinanspruchnahme. Jeder Gläubiger könne selbst versuchen, im Wege der Anfechtung seine gesamten Ansprüche durchzusetzen.
51Insgesamt sei auch zu berücksichtigen, dass der Vortrag des Klägers widersprüchlich sei, wenn zeitweise die Rückzahlung eines Darlehens behauptet und sodann eine Kontoleihe bzw. ein Treuhandverhältnis vorgetragen werde.
52Soweit sich im Duldungsbescheid Ausführungen zu etwaigen „Umsatzsteuern“ fänden, handele es sich um ein Versehen, welches sich unter Zuhilfenahme der Aufstellung im Duldungsbescheid eindeutig erkennen lasse.
53Fragen bzgl. der erfolgten Aufrechnung bzw. bzgl. einer Abtretungsanzeige seien ausdrücklich nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.
54Eine Änderung des angefochtenen Bescheides am 19.07.2021 sei rechtlich zulässig. Dies sei möglich, da es sich der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BFH zufolge bei den den Duldungsbescheiden zu Grunde liegenden Steuerrückständen um jeweils einzeln zu beurteilende Forderungen handele und nicht wie vom Kläger angenommen um einen Gesamtanspruch des Duldungsgläubigers. Daher sei es möglich und zulässig, einzelne Steuerrückstände seitens des Duldungsgläubigers zurückzunehmen bzw. zu widerrufen. Da im vorliegenden Falle die Höhe der verbleibenden Steuerrückstände weiterhin weit über die angefochtene Rechtshandlung hinausgehe, habe der Teilwiderruf keine Auswirkungen auf das bestehende Leistungsgebot. Hinsichtlich der im Duldungsbescheid aufgeführten Säumniszuschläge habe der Beklagte auf eine Geltendmachung gegenüber dem Kläger im zuletzt geänderten Bescheid vollständig verzichtet.
55Die Ehefrau des Klägers ist mehrfach aufgrund von Überweisungen auf ihr Konto durch den Steuerschuldner bzw. von Schuldnern des Steuerschuldners mittels Duldungsbescheiden seitens des Beklagten in Anspruch genommen worden. Sie hatte ihrem Sohn über die Nutzung ihres deutschen Kontos bei der Bank R-Stadt Bankvollmacht eingeräumt, so dass der Steuerschuldner hierüber frei verfügen konnte. Die jeweiligen Verfahren waren unter Az. 6 K 1661/15 AO als auch 7 K 483/21 AO Gegenstand gesonderter Klageverfahren.
56Die Akten zu den Verfahren zu Az. 6 V 1407/15 AO, 6 V 2663/15 AO, 6 K 1665/15 AO, Az. 6 V 1024/16, 6 K 1661/15 AO sowie zu 7 K 483/21 AO betreffend die Ehefrau des Klägers waren beigezogen und Gegenstand des Erörterungstermins vor der Berichterstatterin am 28.02.2024 und auch der mündlichen Verhandlung. Hierzu haben insbesondere auch die im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22.02.2018 seitens des Klägers und seiner Ehefrau erfolgten Erklärungen gehört. Auf die Sitzungsniederschriften wird jeweils verwiesen.
57Der Senat hat ferner Beweis erhoben durch die Einvernahme des Steuerschuldners, des Zeugen S. B.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird ebenfalls auf die Sitzungsniederschrift vom 08.05.2024 Bezug genommen.
58Wegen weiterer Einzelheiten wird schließlich auf die übersandten Verwaltungsvorgänge, die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Gerichtsakte verwiesen.
Die Klage ist unbegründet. Der Duldungsbescheid vom 27.02.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.06.2020, geändert am 19.07.2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
60A. Der Bescheid vom 19.07.2021 stellt einen teilweisen Widerruf des streitgegenständlichen Duldungsbescheides dar.
61I. Nach § 131 Abs. 1 AO kann ein rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Gemäß § 132 Satz 1 AO gelten die Vorschriften über Rücknahme, Widerruf, Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten auch während eines finanzgerichtlichen Verfahrens.
62Zahlungen auf die Steuerschulden, die nach der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bezüglich eines Duldungsbescheides geleistet werden, führen zu einer Reduzierung der Duldungsschuld (vgl. BFH-Beschluss vom 27.10.2014 VII B 192/13, BFH/NV 2015, 155). Aufgrund des für Duldungs- und Haftungsbescheiden geltenden Grundsatzes der Akzessorietät ändert sich unmittelbar eine Duldungspflicht, wenn sich der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis ändert (vgl. hierzu Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand Juni 2021, § 191 Rn 250). Die Finanzbehörde hat insoweit grundsätzlich bis zum Ergehen der Einspruchsentscheidung etwaige Zahlungen zu berücksichtigen. Zahlungen nach Erlass der Einspruchsentscheidung berühren zwar die Rechtmäßigkeit des Duldungsbescheides nicht, der Duldungsverpflichtete kann aber einen (ggf. auch teilweisen) Widerruf erwirken (vgl. Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand Juni 2021, § 191 Rn 250, 165, 167).
63Insoweit enthält ein Duldungsbescheid, der einen Wertersatz nach § 11 AnfG fordert, nach Auffassung des Senats zwei Regelungsinhalte. Zum einen wird die Duldung der Vollstreckung bis maximal zur Höhe der im Bescheid ausgewiesenen Steuerschuld gefordert, der damit die Grenze für den höchstens zu fordernden Werteratz markiert. Zum anderen regelt der Bescheid den konkret geforderten Wertersatz, der bis zum Betrag der anfechtbaren Rechtshandlung lauten darf.
64II. Infolge der seitens des Steuerschuldners durchgeführten Auflagenerfüllung aus dem Bewährungsbeschluss des Landgerichts R-Stadt, hat sich die Steuerschuld des Steuerschuldners reduziert. Diesen Umstand hat der Beklagte mit der teilweisen Aufhebung des Duldungsbescheides am 19.07.2021 in rechtmäßiger Weise umgesetzt. Der Beklagte hat hiermit den Regelungsgehalt des Duldungsbescheides vom 27.02.2017 insoweit aufgehoben, als dass die maximale Grenze für den mit diesem Bescheid forderbaren Wertersatz reduziert worden ist.
65Ein solcher (teilweiser) Widerruf berührt die Rechtmäßigkeit des Duldungsbescheides vom 27.02.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.06.2020 im Übrigen indessen nicht (§ 124 Abs. 2 AO). Der Regelungsgehalt des Duldungsbescheides vom 27.02.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.06.2020 blieb in dem von dem Teilwiderruf nicht betroffenen Umfang unberührt. Der lediglich die Regelungen des Duldungsbescheides vom 27.02.2017 in eingeschränkter Höhe wiederholende Verwaltungsakt kann und muss, da er insoweit keine neuen selbständigen Regelungen enthält, nicht mehr mit Rechtsbehelfen, die sich materiell-rechtlich gegen die Duldungsansprüche wenden, angefochten werden (vgl. ständige Rechtsprechung des BFH zu Haftungsbescheiden, vgl. BFH-Urteil vom 06.08.1996 VII R 77/95, BStBl II 1997, 79; vom 28.01.1982 V R 100/80, BStBl II 1982, 292; vom 16.07.1992 VII R 60/91, BFH/NV 1993, 153, und VII R 57, 58/91, BFH/NV 1993, 152, BStBl II 1997, 79). Entsprechend war das Klagebegehren und der dies konkretisierende Klageantrag zu verstehen.
66B. Der Duldungsbescheid vom 27.02.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.06.2020 ist rechtmäßig. Der Beklagte hat den Kläger zu Recht nach § 191 Abs. 1 AO i. V. m. §§ 1ff. AnfG in Anspruch genommen.
67I. Der Erlass des streitgegenständlichen Duldungsbescheides vom 27.02.2017 ersetzt oder ändert nicht den Duldungsbescheid vom 24.11.2014. Beide Duldungsbescheide, die zwar dieselbe Rechtshandlung betreffen, deren Verpflichtung zum Wertersatz sich indes auf verschiedene Steuerforderungen beziehen, können rechtlich nebeneinander erlassen werden und entfalten jeder für sich eine – gesondert zu beurteilende – Rechtswirksamkeit. Beiden Duldungsbescheiden liegen unterschiedliche Duldungssachverhalte zu Grunde, die sich zum einen aus der anfechtbaren Rechtshandlung, zum anderen aber aus dem Wertersatz sowie den zugrundeliegenden Steuerschulden, welche die betragsmäßige Grenze für eine zulässige Vollstreckung und den Wertersatz setzen, ergeben.
681. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BFH, dass ein bereits ergangener Haftungsbescheid, der – wie der Duldungsbescheid – seine Rechtsgrundlage in § 191 Abs. 1 AO findet, dem Erlass eines weiteren Haftungsbescheides dann nicht entgegensteht, wenn dieser aufgrund eines anderen, bisher nicht berücksichtigten Sachverhalts ergeht, der Gegenstand eines selbstständigen, durch den ursprünglichen Haftungsbescheid nicht erfassten Haftungsanspruches ist (z.B. BFH-Urteil vom 25.05.2004 VII R 29/02, BStBl II 2005, 3 m. w. N.). Danach ist die Erhöhung der Haftungssumme durch einen weiteren Haftungsbescheid ohne Beschränkung durch einen diesen vorangegangenen Haftungsbescheid in der Regel dann unproblematisch möglich, wenn sie nur deshalb erfolgt, weil etwa für einen zusätzlichen, durch den ersten Haftungsbescheid noch nicht berücksichtigten selbstständigen Steueranspruch gehaftet werden soll; auch wenn dieser Steueranspruch im Zeitpunkt der ersten Haftungsinanspruchnahme bereits entstanden war. Insoweit folgt die weitere Haftungsinanspruchnahme aufgrund eines anderen haftungsauslösenden Sachverhalts wie etwa die Inanspruchnahme für eine andere, bisher einem Haftungsbescheid nicht zugrunde gelegte Steuer oder für dieselbe Steuer, aber für einen anderen Besteuerungszeitraum. In diesem Fall kann neben den bereits ergangenen Haftungsbescheid jederzeit ein weiterer selbstständiger Verwaltungsakt treten, der für seine rechtliche Beurteilung einen selbstständigen, von dem ersten Haftungsbescheid unabhängigen Streitgegenstand beinhaltet (BFH-Urteil vom 25.05.2004 VII R 29/02, BStBl II 2005, 3).
69Der BFH begründet diese Auffassung damit, dass durch den Haftungsbescheid Verbindlichkeiten gegen den Haftungsschuldner festgesetzt werden, die sich daraus ergeben, dass der Haftungsschuldner einen bestimmten haftungsbegründenden Sachverhalt erfüllt hat und deshalb für die Steuerschuld eines bestimmten Steuerschuldners für einen bestimmten Besteuerungszeitraum in Anspruch genommen werden kann. Diese Elemente bestimmten den Gegenstand des Haftungsbescheides. Entscheidend für die Zulässigkeit eines neben einen bereits bestehenden Haftungsbescheid gegenüber einem bestimmten Haftungsschuldner tretenden weiteren Haftungsbescheides ist danach, ob dieser den gleichen Gegenstand regelt wie der bereits ergangene Haftungsbescheid oder ob die Haftungsinanspruchnahme für verschiedene Sachverhalte oder zu verschiedenen Zeiten entstandene Haftungstatbestände erfolgen soll. Nur im letzten Fall handelt es sich um Haftungsfälle, die nicht voneinander abhängen und, auch wenn sie in einem Haftungsbescheid äußerlich zusammengefasst werden könnten (Sammelbescheid), zu rechtlich selbständigen Haftungsansprüchen führen, die Gegenstand verschiedener Haftungsbescheide sein können (so z.B. BFH-Urteil vom 07.11.1989 VII R 34/87, BStBl II 1990, 201, 202; sowie BFH-Urteil vom 25.05.2004 VII R 29/02, BStBl II 2005, 3).
702. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze ist der Erlass des streitgegenständlichen Duldungsbescheides am 27.02.2017 neben dem Duldungsbescheid vom 24.11.2014 nicht zu beanstanden. Wie bei Haftungsbescheiden zeichnet sich auch ein Duldungsbescheid dadurch aus, dass Verbindlichkeiten dem Duldungsschuldner gegenüber festgesetzt werden, die sich daraus ergeben, dass der Duldungsschuldner einen bestimmten, die Duldung begründenden Sachverhalt erfüllt hat (begründet durch die angefochtene Rechtshandlung), und deshalb für die Steuerschuld eines bestimmten Steuerschuldners für einen bestimmten Besteuerungszeitraum in Anspruch genommen werden kann. Diese Elemente bestimmen – genau wie bei Haftungsbescheiden – den Gegenstand des Duldungsbescheides.
71Die Zulässigkeit des streitgegenständlichen Duldungsbescheides ergibt sich entscheidend aus dem Umstand, dass der Beklagte zwar auf dieselbe Rechtshandlung (Überweisung auf das Konto des Klägers am 04.06.2013) abstellt, sich aber die Duldungsinanspruchnahme in diesem Bescheid auf zu anderen Zeiten entstandene Steuerforderungen gegenüber dem Steuerschuldner bezieht. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass sich aus einer Gegenüberstellung der in den Bescheiden aufgelisteten Steuernachforderungen gegenüber dem Steuerschuldner ergibt, dass im Duldungsbescheid vom 24.11.2014 unter „Aufstellung I“ (58.418,99 €= Betrag des für den Kläger zu leistenden Wertersatzes nach § 11 AnfG) auf die bestandskräftig festgesetzte Einkommensteuer des Jahres 2008 sowie Umsatzsteuern der Jahre 2003 bis 2008 zzgl. Nebenleistungen abgestellt wird und unter „Aufstellung II“ die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Festsetzungen und Forderungen aufgelistet werden, die noch nicht durch bestandskräftige Jahressteuerbescheide abgerechnet worden sind. Dies betraf zum damaligen Zeitpunkt die Einkommensteuer der Jahre 2011 (Vorbehaltsfestsetzung) und die Einkommensteuer des Jahres 2014 sowie die Umsatzsteuer 2013 und 2014 (aufgeführt werden hierzu lediglich die Vorauszahlungsbeträge). Das am 01.12.2012 erlassene Leistungsgebot im Hinblick auf die unter der „Aufstellung II“ aufgestellten Beträge, bezogen sich auf die Einkommensteuer 2011 sowie die Einkommensteuervorauszahlungen des ersten bis zum dritten Quartal 2014 sowie die Umsatzsteuervorauszahlungen des vierten Quartals 2013 und des zweiten Quartals 2014.
72Demgegenüber bezieht sich die Auflistung der gegenüber dem Steuerschuldner im zweiten und streitgegenständlichen Duldungsbescheid auf Steuerforderungen in Bezug auf die Einkommensteuer 2008 bis 2014 zzgl. Nebenleistungen.
73In Bezug auf die nach dem Duldungsbescheid vom 24.11.2014 entstandenen Steuerforderungen war der Erlass eines weiteren Duldungsbescheides am 27.02.2017 möglich, da hierin zum weit überwiegenden Teil Steuerforderungen aufgelistet werden, die zum ersten Verfahren des Klägers zwar rechtlich angelegt, aber noch nicht endgültig entstanden waren.
74Zwar sind Zinsen zur Einkommensteuer 2008 in Höhe von 408,00 € in beiden Bescheiden aufgelistet, so dass es zu einer Dopplung dieses (einen) Schuldbetrages gekommen ist. Da die im Duldungsbescheid aufgelistete Steuerschuld den Wertersatzbetrag aber bei weitem übersteigt (49.054 € Wertersatz im Vergleich zu 279.111,13 € offener Steuerforderungen), wirkt sich die Doppelauflistung der Zinsen zur Einkommensteuer 2008 in Höhe von 408,00 € sowohl im Duldungsbescheid vom 24.11.2014 als auch in demjenigen vom 27.02.2017 nicht aus.
75Alle weiteren benannten Forderungen (diejenigen aus den Einkommensteuervorauszahlungen des Jahres 2014) sind indessen erst nachträglich endgültig festgesetzt worden. Nach Auffassung des Senats ist hierbei zu berücksichtigen, dass Steuerschulden, die sich durch einen Vorauszahlungsbescheid und die Steuerschuld, die sich durch einen Jahressteuerescheid – hier insbesondere betreffend die ESt 2014 – festgesetzt werden, jeweils unterschiedliche Steuerschulden und damit Duldungssachverhalte betreffen. Die Vorauszahlungsschuld entsteht bereits im laufenden Veranlagungszeitraum (§ 37 Abs. 1 Satz 2 EStG) während die Jahressteuerschuld erst mit Ablauf des Veranlagungszeitraums entsteht (§ 36 Abs. 1 EStG). Die Vorauszahlungen auf die Einkommensteuer werden als Ergebnis der auf der letzten Veranlagung beruhenden Prognose festgesetzt (§ 37 Abs. 3 Sätze 2 bis 4 EStG). Demgegenüber ergeht der Jahressteuerbescheid auf der Grundlage der tatsächlich verwirklichten Steuertatbestände (§ 36 Abs. 1 EStG). Beide Steuerschulden werden durch zwei gesonderte Bescheide (dem Vorauszahlungs- und Jahresssteuerbescheid) festgesetzt, welche im Rahmen der Duldung jeweils vollstreckungsfähige Titel darstellen und nach den vorstehenden Ausführungen zwei verschiedene Duldungssachverhalte betreffen. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei der Veranlagung zur Einkommensteuer 2014, die vorliegend eine Forderung des Beklagten in Höhe von 249.297,00 € begründet, um einen maßgeblich geänderten Sachverhalt, der den Beklagte befähigte, im Nachgang zu dieser Festsetzung den vorliegend gesondert zu beurteilenden Duldungsbescheid (neben demjenigen vom 24.11.2014) zu erlassen.
76C. Die Voraussetzungen für den Erlass eines Duldungsbescheides nach §§ 191 Abs. 1 AO i. V. m. §§ 3 Abs. 1, 11 Abs. 1 AnfG liegen vor.
77I. Nach § 191 Abs. 1 AO kann derjenige, der kraft Gesetzes verpflichtet ist, die Vollstreckung zu dulden, durch Duldungsbescheid in Anspruch genommen werden. Dazu zählen auch die Fälle, in denen einem Gläubiger zur Befriedigung seiner Forderungen das zur Verfügung gestellt werden muss, was durch anfechtbare Rechtshandlungen aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist. Gleiches gilt, wenn der Anfechtungsgegner den in anfechtbarer Weise aus dem Schuldnervermögen ausgeschiedenen Gegenstand nicht in Natur zurückgewähren kann und wenn er deshalb verpflichtet ist, Wertersatz zu leisten (§ 11 Abs. 1 AnfG).
78Die Entscheidung über die Inanspruchnahme nach § 191 Abs. 1 AO ist zweigliedrig. Das Finanzamt hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder den Personen, die es durch Duldungsbescheid in Anspruch nehmen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Anfechtung erfüllt sind. Hierbei handelt es sich um eine vom Gericht in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung. Daran schließt sich die nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung des Finanzamts an, ob und ggf. wen es als Duldungsverpflichteten in Anspruch nehmen will (§ 5 AO). Diese auf der zweiten Stufe zu treffende Entscheidung ist gerichtlich nur im Rahmen des § 102 FGO auf Ermessensfehler (Ermessensfehlgebrauch bzw. Ermessensüberschreitung) überprüfbar (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11.03.2004 VII R 52/02, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579 m. w. N.).
79Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Duldungsbescheides ist auf den Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung abzustellen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11.07.2001 VII R 28/99, BStBl II 2002, 267).
80II. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall hat der Beklagte den Kläger mit dem Duldungsbescheid vom 27.02.2017 zu Recht auf Wertersatz in Anspruch genommen.
811. Der Beklagte geht zu Recht davon aus, dass die Überweisung des Steuerschuldners vom 04.06.2013 i. H. v. 120.200,00 € auf das Konto des Klägers in der Türkei eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne von § 1 Abs. 1 AnfG darstellt. Diese Anweisung führt auch zu einer objektiven Gläubigerbenachteiligung im Sinne des § 1 Abs. 1 AnfG. Denn mit der am 04.06.2013 getätigten Überweisung, die dem Konto des Klägers gutgeschrieben worden ist, stand diese Forderung dem Steuerschuldner nicht mehr zur Verfügung. Auch wenn der Kläger vorliegend nur eine formelle Rechtsposition durch Einzahlung auf das kurzzeitig zu diesem Zweck genutzte Konto erhalten hat, hat der Steuerschuldner hierdurch erreicht, dass nur noch Forderungen des Kontoinhabers – mithin des Klägers – gegen die Bank bestanden. Somit liegt trotz des (zeitweilen) behaupteten Herausgabeanspruchs des Steuerschuldners keine reine Vermögensumschichtung vor. Vielmehr ist auch eine formelle Rechtsstellung ein Vermögenswert, dessen Weitergabe eine objektiv benachteiligende Rechtshandlung sein und dessen Rückgewähr vom Kläger als Kontoinhaber nach den Vorschriften des AnfG gefordert werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 25.04.2017, VII R 31/15, BFH/NV 2017, 1297).
82Auch die Abhebung des Betrages in bar vom Konto des Klägers zwecks Rückgabe an den Steuerschuldner am 05.06.2013 nach Überweisung auf sein Konto kann die eingetretene Gläubigerbenachteiligung durch Rückführung des überwiesenen Betrages in das Vermögen des Schuldners nicht rückgängig machen. Denn durch die Barauszahlung des überwiesenen Betrages an den Steuerschuldner ist die Gläubigerbenachteiligung nicht rückgängig gemacht, sondern sogar noch vertieft worden, da Bargeldbeträge nur schwer ausfindig zu machen sind (vgl. BFH-Urteil vom 25.04.2017, VII R 31/15, BFH/NV 2017, 1297, im Anschluss an BGH-Urteil vom 10.09.2015, IX ZR 215/13, DB 2013, 455).
832. Die dem Duldungsbescheid in Höhe von 279.111,13 € zu Grunde liegenden Steuerschulden sind auch bestandskräftig und fällig. Dadurch hat der Beklagte jeweils einen vollstreckbaren Schuldtitel im Sinne des § 2 AnfG erlangt. Zudem ist mit einer Befriedigung des Beklagten durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in das Vermögen des Steuerschuldners nicht zu rechnen, so dass von einer Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens im Sinne von § 2 AnfG auszugehen ist.
84Soweit der Kläger einwendet, dass sich die Schuldensituation des Steuerschuldners zum Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung anders dargestellt hat, sind diese Einwände im Rahmen der Regelungen des AnfG nicht zu berücksichtigen. Denn es entspricht insoweit ständiger Rechtsprechung (z.B. BGH-Urteile vom 28.09.1964 VIII ZR 21/61, juris sowie vom 23.11.2006 IX ZR 126/03, juris), dass auch der Gläubiger nach dem AnfG Rechtshandlungen des Schuldners anfechten kann, der zur Zeit der Vornahme des Rechtsgeschäfts noch nicht Gläubiger war, wenn die Rechtshandlung ihn nur später benachteiligt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht von Bedeutung, ob und wenn ja in welcher Höhe der Steuerschuldner am 04.06.2013 Forderungen gegenüber dem Beklagten ausgesetzt war. Ausreichend ist, wenn – wie vorliegend – die Voraussetzungen der §§ 1, 2 AnfG jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung vorgelegen haben.
85III. Die Überweisung auf das Konto des Klägers am 04.06.2013 ist eine nach § 3 Abs. 1 AnfG anfechtbare Rechtshandlung.
861. Nach § 3 Abs. 1 AnfG sind Rechtshandlungen anfechtbar, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor der Anfechtung mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der Anfechtungsgegner zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte (§ 3 Abs. 1 Satz 1 AnfG). Nach § 3 Abs. 1 Satz 2 AnfG wird diese Kenntnis vermutet, wenn der Anfechtungsgegner wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger benachteiligte.
87a. Der Benachteiligungsvorsatz des Schuldners ist gegeben, wenn dieser bei Vornahme der Rechtshandlung die Benachteiligung der Gläubiger im Allgemeinen als Erfolg seiner Rechtshandlung gewollt oder als mutmaßliche Folge – sei es auch als unvermeidliche Nebenfolge eines an sich erstrebten anderen Vorteils – erkannt und gebilligt hat (vgl. z.B. BGH-Urteil vom 30.06.2011 IX ZR 134/10 zu § 133 InsO, DB 2011, 1688).
88Die Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners setzt voraus, dass er Kenntnis davon hat, dass der Schuldner weitere Gläubiger hat oder haben wird und dass der Schuldner eine Gläubigerbenachteiligung durch seine Handlung jedenfalls billigend in Kauf nimmt (BGH-Urteil vom 17.07.2003 IX ZR 272/02 zu § 133 InsO, NJW 2003, 3560). Dafür ist nicht erforderlich, dass dem Anfechtungsgegner im Einzelnen bekannt war, auf welche Art und Weise der Schuldner die Gläubigerbenachteiligung herbeiführen wollte; es reicht vielmehr aus, dass er im Allgemeinen Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners hatte (BGH-Urteil vom 29.11.2007 IX ZR 121/06, BGHZ 174, 314).
89Die Gläubigerbenachteiligung muss nicht das Ziel des Schuldners sein; es genügt für eine entsprechende Absicht, wenn der Schuldner, falls sein Handeln auf einen anderen Zweck gerichtet ist, eine Gläubigerbenachteiligung als mögliche Folge seines Vorgehens erkennt und billigend in Kauf nimmt (BGH-Urteil vom 17.12.1998 IX ZR 196/97, NJW 1999, 1395).
90b. Bei Anwendung dieser Grundsätze gelangt der Senat nach Würdigung der vorliegenden Gesamtumstände und der durchgeführten Beweisaufnahme zu der Überzeugung, dass der Steuerschuldner bei Überweisung der 120.200,00 € auf das türkische Konto des Klägers die Benachteiligung seiner Gläubiger im Allgemeinen als Erfolg gewollt oder jedenfalls als mutmaßliche Folge erkannt und gebilligt hat.
91Der Steuerschuldner hatte bereits im Jahre 2012 die eidesstattliche Versicherung abgegeben, nachdem bereits im Jahr 2011 durch einen Gläubiger die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens beantragt worden ist. Er hat im Rahmen seiner Einvernahme in der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Senats glaubhaft bekundet, dass seine deutschen Konten jedenfalls seit dem Jahr 2012 mit Kontenpfändungen belegt gewesen seien und sein Gewerbebetrieb seit der Ölkrise im Jahr 2005/2006 immer schlechter gelaufen sei. Er habe seine eigenen Konten aufgrund von Pfändungen nicht nutzen können, sondern alleine auf die deutschen Konten der Eltern, für die er von ihnen Vollmacht bekommen hatte, zurückgegriffen. So hat er nicht nur den hier streitigen Betrag auf das türkische Konto des Klägers transferiert, sondern auch einen weiteren Betrag in Höhe von 369.191,57 €. Aus den Immobilienveräußerungen im Jahr 2013 ist nach den Feststellungen des Senats lediglich ein Betrag in Höhe von 5.000,00 € auf ein eigenes Konto des Steuerschuldners überwiesen worden.
92Überdies führte der Beklagte vielfache Vollstreckungsmaßnahmen seit dem Jahr 2013 durch, so dass der Senat vor dem Hintergrund dieser Gegebenheiten zur Überzeugung gelangt, dass das Verhalten des Steuerschuldners bereits am 04.06.2013 davon geprägt war, die ihm zustehenden Gelder dem Zugriff deutscher Gläubiger zu entziehen, jedenfalls aber zu erschweren. Denn durch die Veräußerungen der Immobilien in der O- Straße gelangte der Steuerschuldner zu erheblichen Einnahmen. Die so erlangten Gelder hat er aber nicht zur Begleichung seiner beim Beklagten bestehenden offenen Steuerschulden verwendet, sondern diese u.a. auf das Konto des Klägers in der Türkei transferiert. Dies konnte nur den Zweck haben, Bestandteile des Vermögens des Steuerschuldners beiseite zu schaffen und die Befriedigung seiner Gläubiger zu vereiteln, also Gläubiger zu benachteiligen.
93c. Der Kläger hatte auch Kenntnis von der Gläubigerbenachteiligungsabsicht seines Sohnes.
94Sofern die Beteiligten auf eine etwaige Haushaltszugehörigkeit des Steuerschuldners zum Haushalt des Klägers Bezug nehmen, um Rückschlüsse auf dessen Kenntnis der Gläubigerbenachteiligungsabsicht herleiten zu können, kann dies nach Auffassung des Senats kein ausschlaggebendes Kriterium zur Bejahung oder Verneinung der Kenntnis des Klägers von der Gläubigerbenachteiligungsabsicht des Steuerschuldners darstellen. Denn eine Zugehörigkeit zum Haushalt alleine kann eine solche Kenntnis nicht begründen.
95Der Senat gelangt indes nach einer Gesamtwürdigung der vorliegenden Umstände unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme zur Überzeugung, dass der Kläger den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Steuerschuldners gekannt, d.h. dass er Kenntnis davon gehabt hat, dass der Steuerschuldner weitere Gläubiger hatte oder haben wird und dass er eine Gläubigerbenachteiligung durch Einzahlung der 120.200,00 € auf sein Konto jedenfalls billigend in Kauf genommen hat. Insoweit wusste der Kläger insbesondere, dass der Steuerschuldner sich in Zahlungsschwierigkeiten befunden hat und nahm zumindest billigend in Kauf, dass die Überweisung auf sein Konto am 04.06.2013 andere Gläubiger des Steuerschuldners benachteiligte.
96Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vom 22.02.2018 im Verfahren zu Az. 6 K 1665/15 AO zunächst eingestanden, dass der Steuerschuldner ihm gegenüber erklärt habe, das transferierte Geld zur Begleichung von Schulden zu benötigen. Der Zeuge hat hierzu ergänzend bekundet, dass der Kläger ihm die Nutzung des türkischen Kontos insoweit zugebilligt hat, als dass ihm – dem Steuerschuldner – gestattet worden sei, größere Beträge von einem deutschen, auf das türkische Konto vornehmen zu können. Die Abwicklung (insbesondere die Abholung des Geldes von der Bank) ist sodann über die Ehefrau des Klägers erfolgt. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die weitere Erklärung des Klägers im Protokoll zur mündlichen Verhandlung vom 22.02.2018, wo er erklärte, dass er mit dem Konto in der Türkei nie etwas zu tun gehabt habe.
97Dem Kläger kann indessen nicht verborgen geblieben sein, dass der Steuerschuldner sich in Zahlungsschwierigkeiten befunden hat und der Transfer des streitgegenständlichen Betrages nur dem Zweck dienen konnte, andere – sich in Deutschland befindliche weitere Gläubiger – zu benachteiligen. Denn das sich dem Senat offenbarte Gesamtbild ergibt, dass der Steuerschuldner die aus seinen Immobilienveräußerungen stammenden Beträge aus dem Jahr 2013 in erheblichem Umfang an seine Eltern in die Türkei transferiert hat (neben der hier zu beurteilenden Überweisung auch eine weitere in Höhe von 369.191,57 €), obwohl sowohl das betriebliche als auch das private Konto des Steuerschuldners gepfändet waren. Der Steuerschuldner hat ebenfalls zugestanden, dass er die deutschen Konten seiner beiden Eltern genutzt hat, da die auf seinen Namen lauteten Konten jeweils gepfändet gewesen seien. Die Immobilien habe er im Jahr 2013 veräußern müssen, da sein Gewerbebetrieb bereits seit den Jahren 2005/2006 immer schlechter gelaufen sei. Ferner hat der Steuerschuldner zur Überzeugung des Senats bekundet, dass er aufgrund der seitens des Klägers eingeräumten Bankvollmacht über sein deutsches Konto die Rentenzahlungen des Klägers für seine eigenen Ausgaben verwendet hat. Schließlich hat er wegen rückständiger Sozialabgaben aus dem Gewerbebetrieb immer wieder die finanzielle Hilfe seiner Eltern, mithin auch des Klägers, in Anspruch genommen. Diese Umstände als auch die ausdrückliche Billigung der Transfers der hohen Geldbeträge auf sein türkisches Konto, lassen aus Sicht des Senats nur den Schluss zu, dass die aufgrund dieser Umstände offenkundig bestehenden Zahlungsschwierigkeiten seines Sohnes ihm – dem Kläger – nicht verborgen geblieben sein können. Dass diese Vorgänge ohne Einbeziehung des Klägers vollzogen worden sein sollen, ist aus Sicht des Senats fernliegend. Einen möglicherweise bestehenden anderen nachvollziehbaren Grund oder andere Motivlagen bzw. Ausgangssituationen für den Geldtransfer (vgl. BFH-Urteil vom 25.04.2017, VII R 31/15, BFH/NV 2017, 1297) ist der Kläger schuldig geblieben.
98d. Neben dieser Würdigung der Gesamtumstände begründet der Senat eine Zurechnung der Kenntnis der Gläubigerbenachteiligungsabsicht des Steuerschuldners in entsprechender Anwendung von § 166 BGB im Rahmen einer nach Auffassung des Senats bestehenden Unterbevollmächtigung des Steuerschuldners durch die bevollmächtigte Ehefrau des Klägers über die Nutzung des türkischen Kontos. Insoweit rechnet der Senat die Kenntnis über die Gläubigerbenachteiligungsabsicht des Sohnes über die Ehefrau auch dem Kläger zu.
99(1) Kenntnis vom Vorsatz des Schuldners hat der Anfechtungsgegner, wenn er hiervon sicher wusste, also sowohl die Gläubigerbenachteiligung als auch den darauf gerichteten Willen des Schuldners erkannt hat. Grob fahrlässige Unkenntnis steht der Kenntnis nicht gleich (vgl. BGH-Urteil vom 10.07.2014 - IX ZR 50/12, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht --ZIP-- 2014, 1639, Rz 20; Uhlenbruck/Borries/Hirte, Insolvenzordnung, 15. Aufl., § 133 Rz 51; Huber, a.a.O., § 3 Rz 27). Dabei finden die Grundsätze des § 166 BGB auch im Rahmen von § 3 Abs. 1 AnfG Anwendung.
100Nach § 166 Abs. 1 BGB kommt nicht die Person des Vertretenen, sondern die des Vertreters in Betracht, soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch Willensmängel oder durch die Kenntnis oder das Kennenmüssen gewisser Umstände beeinflusst werden. Diese Regelung findet ihre Rechtfertigung in dem Gedanken der Zurechenbarkeit. Die Zurechnung des Wissens eines Vertreters setzt voraus, dass der Schuldner bei der anfechtbaren Rechtshandlung (auch) in Vertretung für den Anfechtungsgegner gehandelt hat (vgl. BGH-Urteil in BGHZ 83, 293, und BFH-Urteil vom 22.06.2004 VII R 16/02, BStBl II 2004, 923) oder zumindest allgemein mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten betraut war. Deshalb kommt der Rechtsgedanke des § 166 BGB insbesondere dann zum Tragen, wenn der Kontoinhaber dem Schuldner das Konto unter Erteilung einer Kontovollmacht für die Abwicklung von dessen Geldgeschäften überlassen hat (BFH-Urteil vom 30.06.2020 VII R 63/18, BStBl II 2021, 191). Hierunter fallen nach Auffassung des BFH aber auch diejenigen Fälle, in denen der Kontoinhaber bewusst die Augen vor einer derartigen Nutzungsmöglichkeit verschlossen hat.
101Sinn und Zweck des § 3 AnfG ist es, auf sozial inadäquates Verhalten des Schuldners zu reagieren, das den anfechtungsberechtigten Gläubiger durch Vereitelung von Zugriffschancen benachteiligt hat und dem bösgläubigen Anfechtungsgegner, der keinen Vertrauensschutz verdient, zugutegekommen ist. Ziel ist mithin die Rückabwicklung einer Gläubigerbenachteiligung, die aus Rechtshandlungen des Schuldners resultiert, die dieser im Zusammenwirken mit Dritten vornimmt. In solchen Fällen muss das Vertrauen des Empfängers auf den Erhalt der Vermögensverschiebung zurücktreten, da andere Gläubiger berechtigt auf die Redlichkeit des Geschäftsgebarens vertrauen können. Folglich verdient ein Rechtserwerb, der auf einer vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung durch den Schuldner beruht, gegenüber dem Interesse des anfechtenden Gläubigers an der vereitelten Zugriffsmöglichkeit auf das haftende Schuldnervermögen dann keinen Schutz, wenn der Erwerber den Vorsatz kannte (BFH- Urteil vom 23.08.2022 VII R 21/21, BStBl II 2023, 304 m.w.N.).
102(2) Diese Grundsätze gelten nach Auffassung des Senats nicht nur bei Erteilung einer („einfachen“) Kontovollmacht, sondern auch in den Fällen, in denen der Kontoinhaber einer dritten Person (hier der Ehefrau) eine Vollmacht zur Kontonutzung erteilt und diese dem Steuerschuldner sodann das Konto – in Untervollmacht – zur Nutzung zur Verfügung stellt oder auf dessen Weisung Verfügungen über das Konto legitimiert.
103Insoweit ist es nach Auffassung des Senats (neben der bereits unter C. III. 1. c.)) durchgeführten Gesamtabwägung) geboten, dem Kläger in entsprechender Anwendung des § 166 BGB die Kenntnis seiner Ehefrau über die Gläubigerbenachteiligungsabsicht ihres Sohnes zuzurechnen. Denn der Senat ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Kläger jedenfalls bewusst die Augen davor verschlossen hat, dass seine Ehefrau ihrem gemeinsamen Sohn das türkische Konto kraft ihrer Vollmacht zur Nutzung überlassen hat. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ergibt sich das Bild, dass die Ehefrau des Klägers und Mutter des Zeugen (Steuerschuldner) auf dessen Zuruf Abhebungen im Sinne des Steuerschuldners auch von dem türkischen Konto des Klägers mittels ihrer Bankvollmacht legitimiert hat.
104Die Ehefrau des Klägers war – dies ergibt sich aus den ausdrücklichen Erklärungen des Zeugen – mit der Verwaltung des türkischen Kontos des Klägers von diesem bevollmächtigt worden, sämtliche Angelegenheiten in Bezug auf dieses Konto eigenmächtig durchzuführen. Sie konnte über dieses Konto eigenmächtig und vollumfänglich verfügen und hat – in Absprache mit dem Steuerschuldner – diesen die Überweisung auf das Konto und die anschließende Auszahlung des Geldbetrages ermöglicht.
105Sie selbst hatte Kenntnis der Gläubigerbenachteiligungsabsicht des Steuerschuldners. Denn sie hat, dies ergibt sich nach der aus dem Gesamtergebnis gewonnenen Überzeugung des Senats, im Rahmen der finanziellen Unterstützung ihres Sohnes eine ganz wesentliche und auch tragende Rolle gespielt. So hat sie im Jahr 2011 bereits die Eröffnung des Insolvenzverfahrens abwenden können. Sie hat das Geld, obwohl eine Rückzahlung vereinbart worden war, nicht zurückerhalten, so dass sie entsprechende Rückschlüsse auf die finanzielle Situation ihres Sohnes schließen konnte. Überdies hat sie ihrem Sohn ihr deutsches Konto zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Dieser Umstand und die Erklärung, dass ihr Sohn ihr und dem Kläger gegenüber angegeben habe, die Gelder zur Tilgung von Schulden zu benötigen, lassen nur den Schluss zu, dass sie von der finanziellen Situation ihres Sohnes gewusst hat.
106Der Kläger hat seiner Ehefrau für die Nutzung des Kontos in der Türkei eine umfassende Vollmacht eingeräumt und auf eine Kontrolle ihrer Tätigkeiten vollständig verzichtet. Er hat seiner Ehefrau insoweit blind vertraut und diese gewähren lassen. Demnach hat er – entsprechend der Rechtsprechung des BFH – bewusst die Augen davor verschlossen, welche konkreten Vorgänge über sein türkisches Konto durchgeführt worden sind und keine Kontrolle vorgenommen, so dass er sich die Gläubigerbenachteiligungsabsicht des Steuerschuldners über die Erteilung der Kontovollmacht an seine Ehefrau zurechnen lassen muss. Der Kläger hat bewusst auf eine Kontrolle seiner Vertreterin (der Ehefrau) verzichtet, so dass vorliegend eine weitergehende Kenntniszurechnung aus der Sicht des Senats gerechtfertigt ist. Denn eine Zurechnung der Kenntnis der Gläubigerbenachteiligungsabsicht muss auch dann erfolgen, wenn – wie hier – eine Vertretungskette (Kläger (=Vater) – Ehefrau (=Mutter) – Steuerschuldner (=Sohn)) gegeben ist. Der Rechtsgedanke des § 166 BGB gebietet es auch in diesen Fällen, demjenigen die Kenntnis zuzurechnen, der einen Vertreter mit der Wahrnehmung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut. Andernfalls könnte sich der Kläger hinter der Bevollmächtigung seiner Ehefrau verbergen, was dem rechtlichen Gedanken des § 166 BGB widersprechen würde.
107Der Senat gelangt schließlich zur Überzeugung, dass der Kläger im Juni 2013 nicht derart erkrankt war, dass er nicht mehr in der Lage gewesen wäre, wirksame Erklärungen abzugeben. Insoweit ist zwar unbestritten, dass der Kläger seit dem ersten Schlaganfall im Jahr 2005 erkrankt war. Allerdings war er in der mündlichen Verhandlung vom 22.02.2018 noch in der Lage Erklärungen zum Sachverhalt abzugeben. Der 6. Senat sah damals keine Anhaltspunkte für eine etwaige bestehende Verhandlungsunfähigkeit. Für die hier zu beurteilenden Umstände, die noch einmal weitere fünf Jahre zuvor geschehen sind, ist es aus der Sicht des Senats fernliegend, an der Wirksamkeit etwaiger Erklärungen des Klägers Zweifel aufkommen zu lassen, zumal dieser Gesichtspunkt durch die Beteiligten auch nicht ansatzweise problematisiert wurde.
1082. Die Einzahlung auf das Konto des Klägers am 04.06.2013 hat ausgehend von dem Duldungsbescheid vom 27.02.2017 innerhalb der Frist von 10 Jahren stattgefunden (§ 3 Abs. 1 AnfG).
109IV. Der Kläger ist nach §§ 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG i.V.m. §§ 819 Abs. 1, 818 Abs. 4, 292, 989 BGB zum Wertersatz in Höhe von 49.054,00 € verpflichtet. Der Anspruch ist nicht davon abhängig, ob der Anfechtungsgegner auf Dauer bereichert ist (BFH-Urteil vom 17.04.2017 VII R 31/15, BFH/NV 2017, 1297).
110Die Grundsätze der anteiligen Tilgung, die im Rahmen von Haftungsbescheiden nach §§ 69, 34, 35 AO zu berücksichtigen sind, gelten nicht im Rahmen einer Duldungsinanspruchnahme nach § 191 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 1ff. AnfG.
111V. Soweit der Kläger sich gegen den in der Einspruchsentscheidung enthaltenen „Abrechnungsteil“ wendet, kann er mit etwaigen Einwänden die seitens des Beklagten durchgeführten Aufrechnungen betreffend, nicht gehört werden. Diese Einwände kann er im Rahmen eines gesondert zu führenden Abrechnungsverfahrens nach § 218 Abs. 1 AO anbringen und können insoweit nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sein.
112D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
113E. Der Senat hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt FGO zur Fortbildung des Rechts zugelassen.