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Es wird festgestellt, dass der Bescheid für 2016 über Einkommensteuer vom 23. 10. 2017 wegen fehlender Bekanntgabe unwirksam ist.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten über die (fehlende) Bekanntgabe eines Einkommensteuerbescheids. Die Klägerin ist eine Stiftung und als Gesamtrechtsnachfolgerin der Steuerpflichtigen der Auffassung, dass dieser der Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 23. 10. 2017 nicht bekannt gegeben wurde.
2Die Steuerpflichtige – geboren am xx.xx. 19xx und verwitwet seit August 2015 – erzielte im Streitjahr 2016 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
3Im August 2016 erteilte die Steuerpflichtige einer Steuerberatungsgesellschaft – dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin – schriftlich eine Vollmacht zur Vertretung in Steuersachen, die auch eine Bekanntgabevollmacht zur Entgegennahme von Steuerbescheiden enthielt. Im September 2016 übermittelte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin diese Vollmacht an den Beklagten.
4Nachfolgend fertigte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Steuererklärung der Steuerpflichtigen für das Jahr 2016 an. Diese ging im Oktober 2017 bei dem Beklagten ein. Auf dem Mantelbogen war im Feld mit der Überschrift „Der Steuerbescheid soll nicht mir / uns zugesandt werden, sondern:“ der Name und die Adresse der Steuerpflichtigen angegeben. In der Anlage betreffend die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit machte die Steuerpflichtige unter anderem Kontoführungsgebühren und Steuerberatungskosten als Werbungskosten geltend.
5Unter dem 23. 10. 2017 erließ der Beklagte den streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid für 2016. Aufgrund eines Übertragungsfehlers berücksichtigte er die erklärten Werbungskosten hinsichtlich der Kontoführungsgebühren und der Steuerberatungskosten nicht. Nach der Abrechnung hatte die Steuerpflichtige insgesamt 178,62 EUR zu viel gezahlt.
6Der an die Steuerpflichtige persönlich adressierte Einkommensteuerbescheid für 2016 wurde vom Rechenzentrum Düsseldorf am 17. 10. 2017 ordnungsgemäß mit dem „Status 1“ kuvertiert, ohne manuelle Bearbeitung durch einen Operator automatisch in die entsprechende Postbox einsortiert und am Absendetag (23. 10. 2017) zur Post eingeliefert. Die Sendung bestand aus zwei Blatt. Es befand sich kein weiterer Bescheid im Umschlag.
7Anschließend überwies der Beklagte den Erstattungsbetrag (178,62 EUR) an die Steuerpflichtige.
8Der Beklagte erließ im Januar 2019 einen Einkommensteuerbescheid für 2017, der an die Steuerpflichtige adressiert war.
9Im Februar 2020 verstarb die Steuerpflichtige. Erbin war die Klägerin. Zur Testamentsvollstreckerin wurde die Sparkasse T-Stadt ernannt. Außerdem erließ der Beklagte im Februar 2020 einen Einkommensteuerbescheid für 2018, der an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin adressiert war.
10Bei der Aufnahme des Nachlasses im Haushalt der Steuerpflichtigen fanden Mitarbeiter der Sparkasse T-Stadt eine gut geordnete Wohnung vor. Die Steuerunterlagen befanden sich in einem büroähnlichen Zimmer, in dem auch alle weiteren finanziellen und sonstigen Unterlagen in Ordnern bzw. Schubladen sortiert aufbewahrt wurden. Die Mitarbeiter der Sparkasse T-Stadt fanden Steuerunterlagen chronologisch sortiert vor. Es fehlte der Einkommensteuerbescheid für 2016. Der im Januar 2019 erlassene Einkommensteuerbescheid für 2017 sowie der im Februar 2020 erlassene Einkommensteuerbescheid für 2018 lagen vor. Zudem befand sich in den Unterlagen eine Berechnung des zu erwartenden Erstattungsbetrags vom 28. 9. 2017 für die Einkommensteuer 2016, die eine Gesamterstattung von 281,67 EUR prognostizierte. Die steuerlichen Unterlagen sowie die entsprechenden Bescheide für die Steuerjahre 2013 bis 2015, in denen die Steuerpflichtige noch mit ihrem vorverstorbenen Ehemann veranlagt wurde, fanden die Mitarbeiter der Sparkasse T-Stadt nicht auf.
11Im März 2020 teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Beklagten mit, dass die Steuerpflichtige verstorben sei. Bei der Auflösung des Haushalts seien Unterlagen/Belege gefunden worden, die für die Einkommensteuererklärung für 2016 noch relevant seien. Auf Nachfrage teilte der Beklagte mit, dass der Einkommensteuerbescheid für 2016 im Jahr 2017 an die Steuerpflichtige bekannt gegeben worden sei. Hierauf erwiderte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, dass dieser Bescheid an ihn – als Steuerberater – hätte bekannt gegeben werden müssen. Der Einkommensteuerbescheid für 2016 sei in den Unterlagen der Steuerpflichtigen nicht enthalten.
12Mit Schreiben vom 17.03.2020 übermittelte der Beklagte dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine Abschrift des an die Steuerpflichtige adressierten Einkommensteuerbescheides 2016 vom 23. 10. 2017.
13Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 31. 3. 2020 Einspruch ein. Zur Begründung bestritt er den Zugang des Bescheides. Der Steuerbescheid sei weder bei der Steuerpflichtigen noch bei ihm – dem Steuerberater der Klägerin – eingegangen. Hilfsweise machte er geltend, dass der Steuerbescheid an ihn – den Steuerberater der Klägerin – hätte bekannt gegeben werden müssen. Im weiteren Verlauf des Einspruchsverfahrens legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin erstmals Unterlagen vor, deren Berücksichtigung – zusammen mit den durch einen Übertragungsfehler bislang unberücksichtigt gebliebenen Werbungskosten – zu einer Einkommensteuerfestsetzung auf 0 EUR führe. Im Wesentlichen betraf dies eine Bescheinigung über die Zuwendung in den Vermögensstock einer gemeinnützigen Stiftung. Nach dieser hatte die Steuerpflichtige am 20. 5. 2016 einen Betrag i. H. v. 200.000 € in den Vermögensstock der als gemeinnützig anerkannten Klägerin entrichtet.
14Der Beklagte war im Einspruchsverfahren der Auffassung, dass der Einspruch nicht innerhalb der Einspruchsfrist eingegangen sei. Der Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 23. 10. 2017 gelte aufgrund der gesetzlichen Zugangsfiktion als am 26. 10. 2017 bekannt gegeben. Demzufolge habe die Einspruchsfrist am 27. 11. 2017 geendet. Der Einkommensteuerbescheid habe der Steuerpflichtigen persönlich bekannt gegeben werden können. Die Steuerpflichtige habe dies gegenüber dem Beklagten durch die gesonderte Angabe in ihrer Steuererklärung bestimmt. Als weiteres Indiz für den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheids sei zu würdigen, dass die nachfolgenden Einkommensteuerbescheide für 2017 und 2018 bekannt gegeben worden seien, ohne dass es zu einer Nachfrage nach dem Bescheid für das Jahr 2016 gekommen sei. Zudem sei als weiterer Anhaltspunkt für den tatsächlichen Erhalt des Einkommensteuerbescheids für 2016 die Angabe der Kirchensteuererstattung mit 14 EUR in der Einkommensteuererklärung für das Jahr 2017 zu berücksichtigen. Eine Kenntnis dieses Betrages sei nur mit dem tatsächlichen Zugang des Steuerbescheides 2016 zu erklären.
15Hierauf teilte die Klägerin mit, dass der Erstattungsbetrag aus einer automatischen E-Steuerdatenabfrage vom 26. 10. 2018 stamme und legte ein entsprechendes Datenprotokoll vor.
16Im Dezember 2020 erteilte die Klägerin – als Gesamtrechtsnachfolgerin der Steuerpflichtigen – gegenüber ihrem Prozessbevollmächtigten eine Vollmacht zur Vertretung in Steuersachen.
17Mit Einspruchsentscheidung vom 3. 3. 2021 verwarf der Beklagte den Einspruch als unzulässig. Zur Begründung wiederholte und vertiefte er sein bisheriges Vorbringen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung verwiesen.
18Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung trägt sie vor, dass auch das Bestreiten durch den Rechtsnachfolger zu einer Beweislast des Beklagten hinsichtlich des tatsächlichen Zugangs des Einkommensteuerbescheides bei der Steuerpflichtigen führe. Es sei in der Rechtsprechung anerkannt, dass der Gesamtrechtsnachfolger – hier die Klägerin – im umfassenden Sinne und damit auch in verfahrensrechtlicher Sicht in die Stellung seines Rechtsvorgängers – hier der Steuerpflichtigen – eintrete. Ein qualifizierter Vortrag könne dem Rechtsnachfolger schon deshalb nicht auferlegt werden, da er die negative Tatsache des fehlenden tatsächlichen Zugangs durch eigenen Vortrag nicht weiter substantiieren könne. Sähe man dies anders, wäre der Rechtsnachfolger schlechter gestellt als der Steuerpflichtige. Unabhängig davon bestünden jedoch Anhaltspunkte für den fehlenden Zugang des Steuerbescheides. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe der Steuerpflichtigen bei Erstellung der Steuererklärung für 2016 einen von der tatsächlichen Steuererstattung erheblich abweichenden Erstattungsbetrag prognostiziert. Bei einem normalen Verhalten der Steuerpflichtigen hätte dies zu einem Einspruch geführt. Zudem meint die Klägerin, der Einkommensteuerbescheid hätte aufgrund der bestehenden Empfangsvollmacht gegenüber dem Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben werden müssen.
19Die Klägerin beantragt sinngemäß,
20dass festgestellt wird, dass der Bescheid für 2016 über Einkommensteuer wegen fehlender Bekanntgabe unwirksam ist,
21hilfsweise die Revision zuzulassen.
22Der Beklagte beantragt,
23die Klage abzuweisen,
24hilfsweise die Revision zuzulassen.
25Der Beklagte trägt in seiner Klageerwiderung vor, dass der am 23. 10. 2017 zur Post aufgegebene Einkommensteuerbescheid für 2016 der Steuerpflichtigen tatsächlich zugegangen sei. Er ist der Auffassung, dass die Klägerin – als Gesamtrechtsnachfolgerin – nicht in der Lage sei, die gesetzliche Zugangsfiktion durch bloßes Bestreiten des Zugangs in Zweifel zu ziehen. Die geordnete Auffindesituation bei der Steuerpflichtigen sei nicht geeignet, den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheides 2016 in Zweifel zu ziehen. Schließlich seien die Steuerunterlagen von 2013 bis 2015 ebenfalls nicht (mehr) vorhanden, weshalb nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Steuerpflichtige den Einkommensteuerbescheid 2016 ebenfalls vernichtet habe.
26Am 7. 12. 2022 hat ein Erörterungstermin mit dem Berichterstatter stattgefunden. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll verwiesen. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
27Entscheidungsgründe
28I. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung [FGO]).
II. Die Klage ist begründet.
Es ist festzustellen, dass der Bescheid für 2016 über Einkommensteuer vom 23. 10. 2017 wegen fehlender Bekanntgabe unwirksam ist (§ 41 Abs. 1 FGO).
33Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2016 vom 23. 10. 2017 gilt nicht als bekannt gegeben. Den Nachweis des tatsächlichen Zugangs hat der Beklagte nicht erbracht.
34Im Streitfall findet die gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geltende Zugangsfiktion – mit der Folge, dass der Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 23. 10. 2017 als am 26. 10. 2017 bekannt gegeben gilt – keine Anwendung.
351. Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO).
a) § 122 Abs. 2 AO trifft eine Sonderregelung für den Zeitpunkt der Bekanntgabe von schriftlichen Verwaltungsakten, die durch die Post übermittelt werden. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO enthält die widerlegbare Fiktion, dass ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post im Geltungsbereich der AO übermittelt wird, mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 122 AO Rn. 48).
38Der Zweck des § 122 Abs. 2 AO besteht in der Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens (Grundsatz der Effizienz; Müller-Franken in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 122 AO Rn. 322). Mit der Zugangsfiktion in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wollte der Gesetzgeber – zugunsten und zuungunsten des Adressaten – generell einen Streit über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs soweit wie möglich ausschließen (BFH-Urteil vom 26. 2. 2002 X R 44/00, BFH/NV 2002, 1409; BFH-Beschluss vom 13. 9. 2002 V B 84/02, BFH/NV 2003, 140).
39b) Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH muss ein Adressat eines schriftlichen Verwaltungsaktes, der den Zugang des Schriftstückes überhaupt bestreitet, nicht substantiiert vortragen, warum ihn die Sendung nicht erreicht hat. Er ist hierzu objektiv nicht in der Lage. Der Finanzbehörde obliegt der volle Beweis für den Zugang des schriftlichen Verwaltungsaktes auch dann, wenn der Nichtzugang erst nach Jahren geltend gemacht wird. Dieser Beweis kann auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden. Bestimmte Verhaltensweisen des Steuerpflichtigen innerhalb eines längeren Zeitraumes nach Absendung des Steuerbescheids können im Zusammenhang mit dem Nachweis der Absendung des Bescheids von den Finanzgerichten dahingehend gewürdigt werden, dass – entgegen der Behauptung des Steuerpflichtigen – von einem Zugang des Bescheids ausgegangen wird. Auf einen Anscheinsbeweis, der auf einen typischen, nicht aber auf den tatsächlichen Geschehensablauf abstellt, kann der Zugangsbeweis nach § 122 Abs. 2 AO hingegen nicht gestützt werden (BFH-Beschluss vom 4. 10. 2019 IX B 37/19, BFH/NV 2020, 95; BFH-Urteil vom 29. 4. 2009X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777; BFH-Beschluss vom 14. 2. 2008 X B 11/08, BFH/NV 2008, 743; jeweils m. w. N.).
40Eine Veranlassung, die gesetzlichen Voraussetzungen für den Nachweis des Zugangs zu lockern, besteht nicht. Will die Finanzbehörde Streit darüber vermeiden, ob ein abgesandter schriftlicher Verwaltungsakt auch angekommen ist, so kann sie den Verwaltungsakt förmlich zustellen oder die Form des Einschreibens mit Rückschein wählen. Selbst die Verwendung eines einfachen Einschreibens lässt einen im Regelfall ausreichenden Beweis des Zugangs zu (BFH-Urteil vom 14. 3. 1989 VII R 75/85, BFHE 156, 66 Rn. 17).
41c) Nach einer Entscheidung des FG Niedersachsen ist die Zugangsfiktion nicht widerlegt, wenn ein Erbe eines Bekanntgabeadressaten den Zugang eines Bescheids bestreitet (Niedersächsisches FG, Urteil vom 23. 2. 2000 3 K 91/94, EFG 2000, 904, rkr.).
42In den Entscheidungsgründen führt der 3. Senat des Niedersächsischen FG aus, dass zwar nach der ständigen Rechtsprechung des BFH die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht greife, wenn der Bekanntgabeadressat eines Verwaltungsaktes nicht nur den fristgerechten Zugang des Schriftstückes, sondern den Zugang überhaupt bestreite. Allerdings könne sich ein Erbe nicht auf diese Rechtsprechung berufen, da er nicht Bekanntgabeadressat des Steuerbescheids sei. Bestreite der Bekanntgabeadressat den Zugang des Bescheids, so trage er damit konkludent vor, dass ihm nach seiner Wahrnehmung kein Bescheid zugegangen sei. Der Adressat könne in diesen Fällen in der Regel nicht substantiiert vortragen, dass und warum ihn das Schriftstück nicht erreicht habe. Für ihn bestehe auch keine Verpflichtung, den Nichtzugang über das bloße Bestreiten hinaus näher darzulegen. Bestreite jedoch der Erbe des Bekanntgabeadressaten den Zugang eines Steuerbescheids, so könne er damit realistischerweise nicht konkludent vortragen, dass dem Adressaten der Steuerbescheid nicht zugegangen sei. Denn er könne mangels einer eigenen Wahrnehmung überhaupt keine substantiierte Aussage machen.
43d) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 AO nicht allein dadurch erschüttert, wenn ein Dritter mit Nichtwissen bestreitet, dass ein durch einfachen Brief übermittelter Verwaltungsakt dem Adressaten zugegangen ist (BVerwG-Urteil vom 15. 6. 2016 9 C 19/15, BVerwGE 155, 241).
44In dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt bestritt ein Adressat eines Haftungs- und Duldungsbescheids die wirksame Festsetzung der die Haftung begründenden Steuern. Er bestritt den Zugang des Bescheids mit Nichtwissen.
45Hierzu entschied das BVerwG, dass ein Dritter den Zugang eines Verwaltungsaktes nicht mit Nichtwissen bestreiten könne. Die Regelung in § 138 Abs. 4 ZPO, wonach eine Erklärung mit Nichtwissen (nur) über Tatsachen zulässig sei, die weder eigene Handlungen der Partei noch Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind, sei in dem vom Untersuchungsgrundsatz geprägten Verwaltungsprozess nicht anwendbar. Vielmehr richte sich das Maß der gerichtlichen Aufklärungspflicht hier wie auch sonst nach der Substanz des Vorbringens der Beteiligten. Entscheidend sei danach, dass der Adressat, falls er den Zugang bestreite, eine (negative) Tatsache aus seinem eigenen Einfluss- und Wahrnehmungsbereich bekunde, während sich der Dritte mangels eigener Erkenntnisse lediglich darauf berufen könne, dass die Frage des Zugangs offen sei. In dieser Konstellation bedürfe es daher weiterer tatsächlicher Umstände, um die gesetzliche Zugangsvermutung zu erschüttern und Zweifel am Zugang zu wecken (§ 122 Abs. 2 AO). Zu derartigen Umständen, die unter Berücksichtigung der Mitwirkungslasten der Beteiligten von Amts wegen zu ermitteln seien, könne neben etwaigen Anhaltspunkten aus den Akten vor allem ein Bestreiten des Zugangs durch den Adressaten selbst gehören.
46Das OVG NRW übertrug diesen Grundsatz auf einen Sachverhalt, in dem ein Eigentümer eines Grundstücks den Zugang einer Abschrift einer Baulasteintragung bei den früheren Eigentümern bestritt (OVG NRW-Urteil vom 28. 10. 2021 10 A 244/19, juris).
47e) Der erkennende Senat folgt dem Grunde nach der Rechtsprechung des BVerwG und hält weder § 138 Abs. 4 ZPO im Besteuerungsverfahren für anwendbar noch das bloße Bestreiten des Zugangs eines Schriftstücks durch den Rechtsnachfolger des Bekanntgabeadressaten für ausreichend. Denn bei der Bekanntgabe eines Verwaltungsakts handelt es sich um einen tatsächlichen Vorgang, den aus eigener Wahrnehmung nur der Bekanntgabeadressat bekunden und bestreiten kann. Allerdings ist – worauf die Klägerin zu Recht hinweist – grundsätzlich anerkannt, dass der Rechtsnachfolger zivilrechtlich und auch steuerrechtlich in die „Fußstapfen“ des Rechtsvorgängers tritt. Insofern ist zu beachten, dass sowohl die Steuerpflichtige (Bekanntgabeadressatin) als auch die Klägerin (als Rechtsnachfolgerin) eine negative Tatsache (fehlender Zugang) vortragen, die kraft Rechtsnatur kaum oder nicht bewiesen werden kann. Deshalb ist der erkennende Senat im Ergebnis der Auffassung, dass der Maßstab, der an die Erschütterung der Zugangsvermutung im Einzelfall zu stellen ist, nicht überhöht werden darf. Es sollte daher ausreichen, wenn sich auch nur im Ansatz begründete Zweifel am Zugang des Verwaltungsaktes feststellen lassen.
482. Anhand des soeben aufgezeigten Maßstabs ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin – im hier zu entscheidenden Einzelfall – die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erfolgreich erschüttert und Zweifel am Zugang geweckt hat. Den ihm hiernach obliegenden Beweis für den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheids für 2016 vom 23. 10. 2017 konnte der Beklagte nicht erbringen. Der Senat konnte jedenfalls nicht die Überzeugung gewinnen, dass dieser Bescheid der Steuerpflichtigen tatsächlich zugegangen ist.
a) Dass der Senat die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als erschüttert ansieht und Zweifel am Zugang des streitgegenständlichen Bescheids hat, folgt zunächst daraus, dass der Steuerpflichtigen hinsichtlich der Einkommensteuerfestsetzung eine höhere als die tatsächlich erfolgte Erstattung prognostiziert wurde. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hatte der Steuerpflichtigen eine Erstattung i. H. v. 281,67 € in Aussicht gestellt. Die tatsächliche Erstattung betrug (nur) 178,62 € (rd. 63 %). Wäre der Bescheid bekanntgegeben worden, so wäre zu erwarten gewesen, dass die Steuerpflichtige Einspruch einlegt oder jedenfalls Kontakt zu dem Beklagten oder dem Prozessbevollmächtigten aufgenommen hätte.
51Weiter begründet die von dem Testamentsvollstrecker vorgefundene Situation bei der Aufnahme des Nachlasses Zweifel am Zugang des streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheids. Die Mitarbeiter der Sparkasse T-Stadt fanden chronologisch sortierte Steuerunterlagen vor. Diese Unterlagen umfassten auch eine Berechnung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin über die zu erwartende Steuererstattung für das Jahr 2016. Dass bei diesen Unterlagen für das Jahr 2016 nicht auch der streitgegenständliche Einkommensteuerbescheid für 2016 aufbewahrt wurde, lässt den Senat am Zugang dieses Bescheids zweifeln. Es wäre zu erwarten gewesen, dass die Steuerpflichtige den streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheid für 2016 in ihre sortierten Steuerunterlagen aufgenommen hätte, wenn er ihr tatsächlich zugegangen wäre. Vor dem Hintergrund, dass die Mitarbeiter der Sparkasse T-Stadt keine steuerlichen Unterlagen und Bescheide für die Steuerjahre 2013 bis 2015, jedoch die Steuerberechnung für 2016 auffanden, spricht einiges dafür, dass die Steuerpflichtige ihre steuerlichen Unterlagen bis zum Jahr 2015 vernichtet und ab dem Jahr 2016 – dem Jahr der Beauftragung des Prozessbevollmächtigten als Steuerberater – sortiert aufbewahrt hat.
52b) Der Senat ist nicht der vollen Überzeugung, dass der streitgegenständliche Einkommensteuerbescheid für 2016 der Steuerpflichtigen tatsächlich zugegangen ist.
53Allein die ordnungsgemäße Absendung des streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheides für 2016 durch den Beklagten am 23. 10. 2017 kann nicht zur Überzeugung des Senats vom tatsächlichen Zugang führen.
54Soweit die kurz nach dem Versand des Bescheides erfolgte Überweisung des Erstattungsbetrags als Indiz für den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheides 2016 dienen könnte, kann der Senat hierauf keine sichere Überzeugung vom Zugang des Einkommensteuerbescheides stützen. Auch wenn der Senat keinerlei Anhaltspunkte hat, ob und wie die Steuerpflichtige den Zahlungsverkehr auf ihrem Konto überwachte, ist es durchaus möglich, dass die Steuerpflichtige die Erstattungsüberweisung wahrnahm, von einer Bekanntgabe des Steuerbescheids an ihren Steuerberater ausging und erwartete, dass sich dieser um den weiteren Fortgang des Steuerverfahrens kümmern werde. In diesem Zusammenhang ist auch das fortgeschrittene Alter der Steuerpflichtigen – geboren am 17. 4. 1929 – berücksichtigungswürdig. Somit ist durchaus vorstellbar, dass die Steuerpflichtige keinen Anstoß an der Überweisung ohne Vorliegen eines Einkommensteuerbescheides genommen hat. Letztlich sind solche Überlegungen allesamt spekulativ, während das Auffinden einer geordneten Ablage der Steuerunterlagen durch den Testamentsvollstrecker ein objektives Kriterium darstellt.
55Auch der Erlass und Zugang der nachfolgenden Einkommensteuerbescheide für 2017 im Januar 2019 und für 2018 im Februar 2020 kann aus Sicht des Senats nicht zur Überzeugung von einem sicheren Zugang des Einkommensteuerbescheides für 2016 führen. Zunächst handelt es sich nicht um voneinander abhängige Bescheide. Außerdem ist aufgrund der Beauftragung eines Steuerberaters und des fortgeschrittenen Alters der Steuerpflichtigen auch denkbar, dass sie sich mit den ihr zugesandten Einkommensteuerbescheiden inhaltlich nicht auseinandersetzte, bevor sie die Bescheide in ihre geordnete Dokumentensammlung aufnahm.
56Ein weiteres Indiz für den Zugang des streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheids für 2016 – die Angabe des zutreffenden Erstattungsbetrags der Kirchensteuer in der Steuererklärung für das Jahr 2017 – konnte die Klägerin durch Vorlage des Datenprotokolls der E-Steuerdatenabfrage widerlegen.
573. Indem der Beklagte eine Kopie des an die Steuerpflichtige adressierten Einkommensteuerbescheids für 2016 vom 23. 10. 2017 am 21. 3. 2020 an den Prozessbevollmächtigten übermittelte, erfolgte – mangels Bekanntgabewillens – keine erneute oder erstmalige Bekanntgabe dieses Verwaltungsakts.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
Die Zulassung der Revision rechtfertigt sich aus § 115 Abs. 2 FGO. Es liegt noch keine Entscheidung des BFH dazu vor, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen sich ein Dritter auf die fehlende Bekanntgabe eines Steuerbescheides berufen kann.