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Die Bescheide für 2016 und 2017 über Verspätungszuschlag vom 2. 8. 2019 in der Fassung der Bescheide vom 14. 4. 2020 und 2. 11. 2020 (nur 2016) und in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. 9. 2021 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvorSicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der vom Beklagten für die Jahre 2016 und 2017 festgesetzten Verspätungszuschläge. Wesentlicher Streitpunkt ist, ob der Beklagte sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.
3Für das Jahr 2005 reichte der Kläger keine Einkommensteuererklärung ein. Der Beklagte schätzte die Besteuerungsgrundlagen und setzte mit der Einkommensteuer einen Verspätungszuschlag i. H. v. 100 € fest.
4Für die Jahre 2006 und 2007 gab der Kläger seine Einkommensteuererklärungen am 17. 3. 2008 ab. Für das Jahr 2008 reichte er seine Einkommensteuererklärung am 27. 12. 2012 ein. Für das Jahr 2009 ging die klägerische Einkommensteuererklärung am 24. 7. 2013 beim Beklagten ein. Für die Jahre 2006 bis 2009 setzte der Beklagte keine Verspätungszuschläge fest. Es handelte sich um Erstattungsfälle.
5Für die Jahre 2010 bis 2012 gingen die klägerischen Einkommensteuererklärungen am 8. 10. 2015 beim Beklagten ein. Der Beklagte setzte Verspätungszuschläge i. H. v. 810 € (2010), 940 € (2011) und 5.000 € (2012; ermäßigt auf 1.250 €) fest.
6Für die Jahre 2013 und 2014 reichte der Kläger seine Einkommensteuererklärungen am 2. 6. 2016 ein. Der Beklagte setzte Verspätungszuschläge i. H. v. 4.250 € (2013) und 1.250 € (2014) fest.
7Für das Jahr 2015 gab der Kläger seine Einkommensteuererklärung am 31. 8. 2017 ab. Der Beklagte setzte einen Verspätungszuschlag i. H. v. 1.750 € fest.
8Für die Veranlagungszeiträume 2016 und 2017 gab der Kläger zunächst keine Einkommensteuererklärungen ab.
9Unter dem 2. 8. 2019 erließ der Beklagte Bescheide für 2016 und 2017 über Einkommensteuer. Mangels vorliegender Einkommensteuererklärungen schätzte er die Besteuerungsgrundlagen und berücksichtigte dabei Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung. Außerdem verband der Beklagte mit diesen Einkommensteuerbescheiden die Festsetzung von Verspätungszuschlägen für 2016 i. H. v. 4.750 € und für 2017 i. H. v. 1.750 €.
10Der Beklagte forderte die klägerische Einkommensteuererklärung für das Jahr 2018 vorab – zum 4. 11. 2019 – an.
11Am 20. 12. 2019 reichte der Kläger seine Einkommensteuererklärungen für 2016 bis 2018 ein. Auch danach ergaben sich – in abweichender Höhe – Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus nichtselbständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung.
12Unter dem 14. 4. 2020 erließ der Beklagte geänderte Einkommensteuerbescheide für 2016 und 2017. Er setzte Einkommensteuer für 2016 i. H. v. 145.674 € und für 2017 i. H. v. 80.874 € fest. Nach den Abrechnungen erhielt der Kläger Einkommensteuererstattungen für 2016 i. H. v. 76.651 € und für 2017 i. H. v. 77.938 €. Nach den Bescheiden blieben die bisher festgesetzten Verspätungszuschläge unverändert bestehen.
13Hiergegen legte der Kläger Einsprüche ein. Zur Begründung führte er aus, dass die Höhe der festgesetzten Verspätungszuschläge mit § 152 der Abgabenordnung (AO) in der ab dem 1. 1. 2017 gültigen Fassung nicht vereinbar sei.
14Während des Einspruchsverfahrens – unter dem 2. 11. 2020 – änderte der Beklagte den Einkommensteuerbescheid für 2016. Der bisher festgesetzte Verspätungszuschlag blieb unverändert bestehen.
15Am 30. 8. 2021 ging die klägerische Einkommensteuererklärung für 2019 beim Beklagten ein.
16Mit Einspruchsentscheidung vom 7. 9. 2021 änderte der Beklagte den Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 2016 auf 2.300 € und den Verspätungszuschlag zur Einkommensteuer 2017 auf 1.400 €. Im Übrigen wies er die Einsprüche als unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass die Festsetzung des Verspätungszuschlags auf § 152 Abs. 1 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung beruhe. Gründe, die die verspätete Abgabe der Einkommensteuererklärungen entschuldbar erscheinen lassen könnten, seien weder vorgetragen worden noch aus den Akten ersichtlich.
17Dem Grunde nach sei die Festsetzung von Verspätungszuschlägen rechtmäßig. Bereits in den Vorjahren habe der Kläger seine Steuererklärungen mit deutlicher Verspätung abgegeben. Der Beklagte habe in den Einkommensteuerbescheiden der Vorjahre auf die Möglichkeit der Festsetzung von Verspätungszuschlägen hingewiesen. Damit sei das Verschulden des Klägers als erheblich anzusehen. Demzufolge sei aufgrund der erneut nicht fristgerechten Abgabe der Einkommensteuererklärungen für 2016 und 2017 ein Verspätungszuschlag festzusetzen gewesen, der für den Kläger einen spürbaren Anstoß darstelle, der Steuererklärungspflicht in Zukunft fristgerecht nachzukommen. Die Einkommensteuererklärung für 2018 habe der Kläger ebenfalls mit einer Verspätung von 12 Monaten eingereicht und die Einkommensteuererklärung für 2019 liege zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung nicht vor. Vor diesem Hintergrund sei für den Beklagten nicht zu erkennen, dass der Kläger bestrebt sei, seinen steuerlichen Verpflichtungen in Zukunft pünktlich nachzukommen. Der Verspätungszuschlag sei notwendig, um den Kläger zukünftig zu einer fristgerechten Abgabe der Steuererklärungen zu bewegen.
18Zur Höhe der festzusetzenden Verspätungszuschläge führte der Beklagte wörtlich aus:
19„Der festzusetzende Verspätungszuschlag beträgt für jeden angefangenen Monat der eingetretenen Verspätung 0,25 Prozent der festgesetzten Steuer, mindestens jedoch 10 Euro für jeden angefangenen Monat der eingetretenen Verspätung. Für Steuererklärungen, die sich auf ein Kalenderjahr oder auf einen gesetzlich bestimmten Zeitpunkt beziehen, beträgt der Verspätungszuschlag für jeden angefangenen Monat der eingetretenen Verspätung 0,25 Prozent der um die festgesetzten Vorauszahlungen und die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge verminderten festgesetzten Steuer, mindestens jedoch 25 Euro für jeden angefangenen Monat der eingetretenen Verspätung.“
20Vorliegend habe die Dauer der Verspätung für das Jahr 2016 24 angefangene Monate und für das Jahr 2017 12 Monate betragen. Aufgrund der eingereichten Steuererklärungen hätten sich die Steuerfestsetzungen im Vergleich zu den vorangegangenen Schätzzungen deutlich gemindert. Die Minderung der Einkommensteuer habe auch eine Minderung der Verspätungszuschläge zur Folge. Diese dürften 10 % der festgesetzten Steuer nicht übersteigen. Die nach Berücksichtigung der Steuerabzugsbeträge verbleibende Einkommensteuer für das Jahr 2016 betrage 23.928 €. Der für 2016 festzusetzende Verspätungszuschlag dürfe daher einen Betrag von 2.392 € nicht übersteigen. Die verbleibende Einkommensteuer für das Jahr 2017 betrage 14.970 €. Der für 2017 festzusetzende Verspätungszuschlag sei daher auf maximal 1.497 € begrenzt. Vor diesem Hintergrund liege die Herabsetzung der Verspätungszuschläge – auf 2.300 € für 2016 und auf 1.400 € für 2017 – im Bereich des vom Gesetz gezogenen Rahmens. Durch die Abrundung der Maximalbeträge auf volle Hundert würde dem Anliegen des Klägers in dem größtmöglichen Umfang Rechnung getragen. Für eine weitere Minderung sei kein Raum, da auch die Einkommensteuererklärung für das Jahr 2018 mit 12 Monaten Verspätung eingereicht worden sei und die Abgabe der zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung ebenfalls verspäteten Einkommensteuererklärung für das Jahr 2019 noch nicht in Aussicht gestellt werden könne. Unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte lägen die auf 2.300 € und 1.400 € geminderten Verspätungszuschläge im Rahmen fehlerfreien Ermessens.
21Hiergegen hat der Kläger am 14. 10. 2019 Klage erhoben.
22Zur Begründung trägt er vor, dass der Beklagte bei der Festsetzung der streitgegenständlichen Verspätungszuschläge sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe. Der Sachverhalt sei nicht umfassend ermittelt worden, der Beklagte habe den Bemessungskriterien „aus der Verspätung gezogener Vorteil“ sowie der „wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“ ausweislich der Einspruchsentscheidung keine Bedeutung beigemessen und hierzu keine Erwägungen angestellt. Dies allein sei bereits ein Ermessensfehler. Nach der Rechtsprechung des BFH seien sämtliche Ermessenskriterien des § 152 Abs. 2 AO gegeneinander abzuwägen. Zudem sei unbeachtet geblieben, dass der Kläger durch die Steuerfestsetzungen vom 14. 4. 2020 aufgrund der vorhergehenden Schätzungen für die beiden Streitjahre erhebliche Erstattungen erhalten habe. Jedenfalls sei abzuwägen, welches Gewicht der verspäteten Abgabe unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsziehung zukomme, wenn die geschuldete Steuer zu einem erheblichen Teil bereits vor der Schätzung im Wege des Steuerabzugs bezahlt gewesen sei. Im Übrigen dürfe die Höchstgrenze des Verspätungszuschlages von 10 % der festgesetzten Steuer nur in außergewöhnlichen Fällen, bei Zusammentreffen mehrerer erschwerender Umstände festgesetzt werden. Die Ermessensentscheidung des Beklagten enthalte jedoch nur eine undifferenzierte Ausschöpfung der Höchstgrenze. Das müsse gerade auch vor dem Hintergrund der erheblich abweichenden Verspätungen für die Abgabe der Steuererklärungen für 2016 und 2017 gelten. Im Übrigen treffe es nicht zu, dass der Kläger die Steuererklärungen für 2018 und 2019 verspätet abgegeben habe, die Frist für den steuerlich beratenen Kläger für die Abgabe der Erklärung für das Jahr 2018 habe am 31. 12. 2019 geendet und die Erklärung sei am 23. 12. 2019 abgegeben worden. Auch die Einkommensteuererklärung für das Jahr 2019 sei vor der coronabedingt am 31. 8. 2021 endenden Frist abgegeben worden. Soweit der Beklagte seine Erwägungen im Klageverfahren erweiternd begründet habe, sei er hiermit ausgeschlossen.
23Der Kläger beantragt sinngemäß,
24die Bescheide für 2016 und 2017 über Verspätungszuschlag vom 2. 8. 2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 14. 4. 2020 und 2. 11. 2020 (nur 2016) und in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. 9. 2021 aufzuheben.
25Der Beklagte beantragt,
26die Klage abzuweisen.
27Unter Vertiefung und Ergänzung der Einspruchsentscheidung trägt der Beklagte vor, die Festsetzung der Verspätungszuschläge sei unter Berücksichtigung der vorangegangenen verspäteten Abgaben der Erklärungen unumgänglich gewesen. Dabei sei insbesondere auch berücksichtigt worden, dass festgesetzte Verspätungszuschläge von bis zu 4.250 € bislang keine Wirkung gezeigt hätten. Unter Darlegung der Bemessungskriterien des § 152 Abs. 2 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung ist der Beklagte der Auffassung, dass der Kläger ausweislich der von ihm erzielten Einkünfte wirtschaftlich leistungsfähig sei und die Verspätungszuschläge der Höhe nach tragen könne. Auch sei der von ihm gezogene Vorteil erheblich gewesen. Maßgeblich für die Bemessung der Höhe des Verspätungszuschlages sei die nach Berücksichtigung der Steuerabzugsbeträge verbleibende Steuer. Die durch die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen zunächst durch den Kläger zu viel bezahlten Steuern müssten unberücksichtigt bleiben. Der Kläger habe die Einkommensteuererklärung für 2018 verspätet abgegeben, denn diese sei – abweichend von der gesetzlichen Frist – wegen der vorherigen Versäumnisse vorab zum 4. 11. 2019 angefordert worden. Die Erklärung für 2019 sei – unstreitig – aufgrund der wegen der Coronapandemie erfolgten Fristverlängerung noch rechtzeitig eingegangen.
28Am 9. 11. 2022 hat ein Erörterungstermin mit dem Berichterstatter stattgefunden. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll verwiesen.
29Der Senat hat die hier anhängige Klage mit Beschluss vom 12. 9. 2022 mit dem Verfahren des Klägers wegen Einkommensteuer 2015 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und unter dem Az. 4 K 3089/19 fortgeführt. Mit Beschluss vom 28. 8. 2023 hat der Senat die hier anhängige Klage zur gesonderten Verhandlung und Entscheidung abgetrennt.
30Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
31Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.
32Entscheidungsgründe
33I. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).
II. Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.
1. Einer Entscheidung in der Sache steht insbesondere nicht entgegen, dass der Kläger nicht gegen die erstmalige Festsetzung der Verspätungszuschläge, sondern erst gegen eine nachfolgende – in der Höhe unveränderte – Festsetzung der Verspätungszuschläge Einspruch eingelegt und Klage erhoben hat.
Bescheide über die Festsetzung von Verspätungszuschlägen werden nicht vom Anwendungsbereich des § 42 FGO i. V. m. § 351 AO erfasst (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. 11. 2020 3 K 1895/18, EFG 2021, 354, rkr.; FG Düsseldorf, Urteil vom 26. 5. 2008 18 K 2172/07 AO, EFG 2008, 1345, rkr.; a. A. FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. 2. 2013 4 K 1758/12, EFG 2013, 824, rkr.). Für den erkennenden Senat spricht gegen eine Anwendung des § 42 FGO i. V. m. § 351 AO auf Bescheide über die Festsetzung von Verspätungszuschlägen – neben den in den Entscheidungsgründen der genannten Urteile ausgeführten Argumenten – insbesondere, dass andernfalls keine (außer-)gerichtliche Überprüfung der erneuten Ermessensentscheidung erfolgen könnte.
402. Die Bescheide für 2016 und 2017 über Verspätungszuschlag vom 2. 8. 2019 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 14. 4. 2020 und 2. 11. 2020 (nur 2016) und in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. 9. 2021 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Entgegen der Auffassung des Beklagten hat dieser sein Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.
43a) Für die streitgegenständlichen Festsetzungen der Verspätungszuschläge ist § 152 AO in der am 31. 12. 2016 geltenden Fassung anzuwenden.
44§ 152 AO in der am 31. 12. 2016 geltenden Fassung ist weiterhin anzuwenden auf Steuererklärungen, die vor dem 1. 1. 2019 einzureichen sind (Art. 97 § 8 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung). Die Steuererklärungen für die hier betroffenen Jahre 2016 und 2017 waren vor dem 1. 1. 2019 einzureichen (ohne Berücksichtigung einer Verlängerung der Steuererklärungsfrist: 31. 5. 2017 und 31. 5. 2018).
45aa) Gemäß § 152 Abs. 1 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung kann gegen denjenigen, der seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgemäß nachkommt, ein Verspätungszuschlag festgesetzt werden. Von der Festsetzung eines Verspätungszuschlags ist abzusehen, wenn die Versäumnis entschuldbar erscheint. Das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters oder eines Erfüllungsgehilfen steht dem eigenen Verschulden gleich.
46Gemäß § 152 Abs. 2 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung darf der Verspätungszuschlag 10 % der festgesetzten Steuer oder des festgesetzten Messbetrags nicht übersteigen und höchstens 25.000 € betragen. Bei der Bemessung des Verspätungszuschlags sind neben seinem Zweck, den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Abgabe der Steuererklärung anzuhalten, die Dauer der Fristüberschreitung, die Höhe des sich aus der Steuerfestsetzung ergebenden Zahlungsanspruchs, die aus der verspäteten Abgabe der Steuererklärung gezogenen Vorteile, sowie das Verschulden und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen zu berücksichtigen.
47Demzufolge ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Festsetzung eines Verspätungszuschlags gemäß §152 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung, dass der Steuerpflichtige seiner Verpflichtung zur Abgabe einer Steuererklärung nicht oder nicht fristgemäß nachgekommen ist (§ 152 Abs. 1 Satz 1 AO) und dass seine oder die von ihm zu vertretende Versäumnis eines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen nicht entschuldbar erscheint (§ 152 Abs.1 Sätze 2, 3 AO).
48Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 152 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO erfüllt, hat die zuständige Finanzbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob sie einen Verspätungszuschlag festsetzt (Entschließungsermessen) und wie hoch sie ihn unter Beachtung der gesetzlichen Grenzen des § 152 Abs. 2 AO festsetzt (Auswahlermessen). Die Entscheidung über die Höhe des Verspätungszuschlags ist zwingend absolut (höchstens 25.000 €) und relativ (10 % der festgesetzten Steuer) begrenzt (§ 152 Abs. 2 Satz 1 AO).
49bb) Zweck der Ermächtigung zur Festsetzung des Verspätungszuschlags ist es, die Personen, die Steuererklärungen abzugeben haben, zur Einhaltung der Abgabefrist anzuhalten. Der Verspätungszuschlag ist ein besonderes Druckmittel der Finanzbehörden. Es soll verhindern, dass die Steuerfestsetzung durch die nicht fristgemäße oder unterlassene Abgabe der Steuererklärung verzögert wird (BFH-Urteil vom 11. 6. 1997 X R 14/95, BFHE 183, 21).
50cc) Soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 Satz 1 FGO).
51Hiernach ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob die Finanzbehörde den für die Ermessensausübung maßgeblichen Sachverhalt vollständig ermittelt hat, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind (sog. Ermessensüberschreitung), ob die Finanzbehörde von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der (Ermessens‑)Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (sog. Ermessensfehlgebrauch) oder ein ihr zustehendes Ermessen nicht ausgeübt hat (sog. Ermessensunterschreitung), oder ob die Behörde die verfassungsrechtlichen Schranken der Ermessensbetätigung, insbesondere also den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, missachtet hat.
52Für die gerichtliche Kontrolle ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zugrunde zu legen. Maßgeblicher Zeitpunkt ist daher regelmäßig der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung (BFH-Urteil vom 12. 5. 2016 II R 17/14, BFHE 253, 505).
53Die ermessensfehlerfreie Festsetzung eines Verspätungszuschlags setzt grundsätzlich voraus, dass die Finanzbehörde alle in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO ausdrücklich und abschließend genannten Kriterien beachtet und gegeneinander abwägt. Diese Beurteilungsmerkmale sind im Ausgangspunkt grundsätzlich gleichwertig. Die Gewichtung der einzelnen Kriterien steht jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde. Daher kann im konkreten Fall ein Merkmal stärker als ein anderes hervortreten oder schließlich auch ganz ohne Auswirkung auf die Bemessung bleiben. Deshalb ist es möglich, dass es je nach der Besonderheit des konkreten Sachverhalts nicht entscheidend darauf ankommt, ob und in welcher Höhe der Steuerpflichtige letztlich einen Zinsvorteil erzielt hat. Denn die Bemessung des Zuschlags ist nicht durch das Maß des gezogenen Vorteils begrenzt. So kann bei erheblicher Fristüberschreitung oder schwerwiegendem Verschulden auch dann ein Verspätungszuschlag gerechtfertigt sein, wenn die Steuerfestsetzung zu keiner Nachzahlung, sondern zu einer Erstattung geführt hat (BFH-Urteil vom 6. 11. 2012 VIII R 19/09, BFH/NV 2013, 502).
54dd) Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen (§ 102 Satz 2 FGO).
55Hiernach kann die Finanzbehörde bereits an- oder dargestellte Ermessenserwägungen vertiefen, verbreitern und verdeutlichen. Sie ist jedoch nicht befugt, Ermessenserwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren erstmals anzustellen, die Ermessensgründe auszuwechseln und vollständig nachzuholen. Eine Heilung der behördlichen Entscheidung bei fehlerhaftem Entschließungs- und Auswahlermessen, Über- oder Unterschreitung des Ermessens sowie bei erheblichen Mängeln in der Sachverhaltsermittlung ist im Wege einer Ergänzung nach § 102 Satz 2 FGO nicht möglich (BFH-Urteil vom 24. 4. 2014 IV R 25/11, BFHE 245, 499).
56b) Zwar liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für die Festsetzung von Verspätungszuschlägen gemäß § 152 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung vor. Allerdings hat der Beklagte sein Ermessen in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft ausgeübt.
57aa) Der Beklagte hat die Entscheidung, ob ein Verspätungszuschlag festzusetzen ist (Entschließungsermessen), zunächst insofern ermessensfehlerhaft getroffen, als er bei seiner Entscheidung von einem fehlerhaften Sachverhalt ausgegangen ist.
58Der Beklagte führt in der Einspruchsentscheidung vom 7. 9. 2021 aus, dass der Kläger auch die Einkommensteuererklärungen für nachfolgende Veranlagungszeiträume (insbesondere für 2019) verspätet abgegeben habe. Für den Veranlagungszeitraum 2019 ist dies (aufgrund der coronabedingt eingeräumten Fristverlängerung) jedoch nicht der Fall, worauf auch der Kläger im Rahmen seiner Klagebegründung zu Recht hingewiesen hat. Damit ist der Beklagte in der Einspruchsentscheidung von einem fehlerhaften Sachverhalt ausgegangen, der für die Bemessung der streitbefangenen Verspätungszuschläge (für 2016 und 2017) nicht als unerheblich bezeichnet werden kann.
59Zwar hat der Beklagte dieses Sachverhaltsdefizit in seiner Klageerwiderung korrigiert und die fristgerechte Abgabe der Einkommensteuererklärung 2019 durch den Kläger selbst anerkannt. Auch hat er zugleich dargelegt, dass er die für das Entschließungsermessen erheblichen Umstände nunmehr anders gewichtet und sich gleichwohl an seiner mit der Einspruchsentscheidung getroffenen Entscheidung nichts ändert. Allerdings handelt es sich hierbei zur Überzeugung des Senats nicht mehr um eine Ergänzung der Ermessenserwägungen i. S. d. § 102 Satz 2 FGO, sondern um die Korrektur eines (erheblichen) Mangels in der Sachverhaltsermittlung. Eine Heilung i. S. d. § 102 Satz 2 FGO ist insofern nicht möglich.
60bb) Der Beklagte hat auch die Entscheidung, den Verspätungszuschlag für 2016 i. H. v. 2.300 € und für 2017 i. H. v. 1.400 € festzusetzen (Auswahlermessen), ermessensfehlerhaft getroffen.
61(1) Der Beklagte hat seine Ermessensentscheidung zur Höhe der festzusetzenden Verspätungszuschläge u. a. mit einer wörtlichen Wiedergabe des § 152 Abs. 5 AO – Sätze 1 und 2 – in der nach dem 31. 12. 2016 gültigen Fassung begründet (Einspruchsentscheidung vom 7. 9. 2021, S. 4 f.).
62Für die streitgegenständlichen Festsetzungen der Verspätungszuschläge ist § 152 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung – und nicht in der nach dem 31. 12. 2016 gültigen Fassung – anzuwenden. Demzufolge ist nicht auszuschließen, dass der Beklagte seine Ermessensentscheidung zur Höhe der festzusetzenden Verspätungszuschläge auf eine im Streitfall nicht anzuwendende Rechtsgrundlage gestützt hat.
63(2) Der Beklagte ist – abweichend vom Wortlaut des § 152 Abs. 2 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung – davon ausgegangen, dass die relative Begrenzung des Verspätungszuschlags anhand der festgesetzten Einkommensteuer nach Abzug der Lohnsteuer und Kapitalertragsteuer zu ermitteln ist.
64Nach dem Wortlaut des § 152 Abs. 2 AO in der am 31. 12. 2016 gültigen Fassung ist die Entscheidung über die Höhe des Verspätungszuschlags relativ begrenzt (10 % der festgesetzten Steuer). Hiernach ist für die relative Höchstgrenze der Betrag der festgesetzten Steuer maßgebend und nicht der Betrag einer sich ggf. aus der Steuerfestsetzung ergebenden Abschlusszahlung (BFH-Beschluss vom 23. 6. 2008 IV B 106/07, BFH/NV 2008, 1642).
65Der Beklagte geht – auch zuletzt in seiner Klageerwiderung – davon aus, dass maximal ein Verspätungszuschlag für 2016 i. H. v. 2.392 € und für 2017 i. H. v. 1.497 € festgesetzt werden kann. Die vom Beklagten insoweit ermittelten Beträge entsprechen rund 10 % der nach den Einkommensteuerbescheiden für 2016 und 2017 verbleibenden Beträge (festgesetzte Einkommensteuer abzgl. Lohn- und Kapitalertragsteuer; 2016: 23.928 €; 2017: 16.970 €). Die festgesetzte Einkommensteuer betrug für 2016 145.674 € und für 2017 80.874 €. Hiernach waren die relativen Höchstgrenzen des Verspätungszuschlags tatsächlich 14.567 € (2016) und 8.087 € (2017).
66Vor diesem Hintergrund hat der Beklagte den Rahmen bezüglich der jeweils geltenden Ermessensobergrenze fehlerhaft bestimmt. Es ist nicht auszuschließen, dass sich diese fehlerhafte Ermessensrahmenbestimmung auch auf die Ermessensentscheidung als solche – die Bemessung des einzelnen Verspätungszuschlags – ausgewirkt hat.
67(3) Der Beklagte hat zudem die Bemessungskriterien „aus der Verspätung gezogener Vorteil“ und „wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen“ nicht in der angefochtenen Einspruchsentscheidung berücksichtigt.
68Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs setzt die (ordnungsgemäße) Ausübung des Auswahlermessens grundsätzlich voraus, dass das Finanzamt alle Kriterien, die der Gesetzgeber in § 152 Abs. 2 Satz 2 AO für die Bemessung des Verspätungszuschlags als ausschlaggebend normiert hat, beachtet und gegeneinander abwägt (vgl. pars pro toto: BFH-Urteile vom 6. 11. 2012 VIII R 19/09, BFH/NV 2013, 502; vom 14. 6. 2000 X R 56/98, BFHE 192, 213 und vom 26. 4. 1989 I R 10/85, BFHE 157, 14).
69Zur Überzeugung des Senats muss diese Befassung mit den gesetzlich vorgeschriebenen Ermessenskriterien spätestens in der Einspruchsentscheidung als letzter Verwaltungsentscheidung erfolgen. Es reicht dagegen nicht aus, dass sich der Beklagte mit in der Einspruchsentscheidung nicht berücksichtigten Kriterien erst im Klageverfahren auseinandersetzt und darlegt, dass sich gleichwohl an seiner mit der Einspruchsentscheidung getroffenen Entscheidung nichts ändert. Denn mit Blick auf die ausdrückliche gesetzliche Kodifizierung der Ermessenskriterien handelt es sich – bezogen auf die nicht berücksichtigten Kriterien – um ein nach § 102 Satz 2 FGO nicht mehr zulässiges erstmaliges Anstellen von Ermessenserwägungen im finanzgerichtlichen Verfahren.
70III. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung, noch dazu in Bezug auf ausgelaufenes Recht. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.