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Der Haftungsbescheid vom 14.12.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.02.2019 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheides für Lohnsteuerschulden der T-Gesellschaft (T) für den Zeitraum 01/2007 bis 03/2009 (Streitzeitraum).
2Die T wurde im Jahr 2003 mit Sitz in Z (europäisches Ausland) als Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung nach inländischen Recht gegründet; im Handelsregister eingetragene Geschäftsführer waren vom 10.11.2006 bis 02.07.2008 Herr H U (U), der zwischenzeitlich verstorben ist, vom 02.07.2008 bis 10.05.2010 Herr G E (E) und ab dem 10.05.2010 bis zur Löschung der T im Handelsregister Frau B J als Liquidatorin; Gesellschafter waren u.a. U und Herr O (O). In den Jahren 2006 bis 2008 meldete die T eine im Handelsregister eingetragene Niederlassung in S an und sodann wieder ab. Die T war im fleischverarbeitenden Gewerbe tätig und beschäftigte eigenes Verwaltungspersonal und, vermittelt über verschiedene Unternehmen, mittels Werkverträgen Arbeitskräfte. Im Jahr 2015 wurde die T im inländischen Handelsregister gelöscht. Die Geschäftsleitung der T und der Niederlassung befanden sich in V (Deutschland) .
3Für den Streitzeitraum wurden für die T keine Umsatzsteuererklärungen oder Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben. Lohnsteuer wurde durch die T für das eigene Verwaltungspersonal abgeführt, nicht für die mittels Werkverträgen beschäftigten Arbeitskräfte.
4In steuerlichen Angelegenheiten wurde die Klägerin von dem zwischenzeitlich verstorbenen Steuerberater K (K) aus V beraten.
5Ausweislich des Arbeitsvertrages zwischen T und der Klägerin vom 30.10.2008 wurde die Klägerin zum 01.11.2008 bei der T als kaufmännische Angestellte eingestellt. In den Jahren 2001 bis 2011 arbeitete die Klägerin als kaufmännische Angestellte für verschiedenen Firmen des O. Von Dezember 2006 bis Februar 2007 und wieder von September bis Oktober 2008 war die Klägerin arbeitslos; von März 2007 bis August 2008 war sie bei dem Steuerberater K angestellt.
6Im Jahr 2010 wurden von der Staatsanwaltschaft N (StA N) steuerliche Strafverfahren gegen O, U und E und im Jahr 2013 gegen die Klägerin (Verdacht der Steuerhinterziehung u.a. von Lohnsteuer von November 2008 bis April 2009 zu Gunsten der T) eingeleitet.
7Das Finanzamt L, Steuerfahndungsstelle, (FA L) leitete Steuerstrafverfahren am 03.03.2010 gegen O, am 26.02.2010 gegen U und E sowie am 07.10.2013 gegen die Klägerin ein. Für weitere Einzelheiten wird auf die Vernehmungsniederschriften des Finanzamts V vom 14.04.2011 und 09.05.2011 und des Hauptzollamts P vom 04.05.2011 über die Vernehmungen von U und E Bezug genommen.
8Die Strafverfahren gegen U und E wurden am 06.10.2017 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
9Das FA L führte auch bei der T ein Steuerermittlungsverfahren nach § 208 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abgabenordnung (AO) in den Steuerstrafverfahren gegen U, O, die Klägerin und E durch hinsichtlich der Umsatzsteuer Januar 2006 bis Dezember 2008 und Lohnsteuer Januar 2007 bis April 2009. Dabei gelangte das FA L zunächst u.a. zu der Auffassung, dass für die Monate Januar 2007 bis März 2009 die Verpflichtung zu Abgabe von monatlichen Lohnsteuer-Anmeldungen für sämtliche Arbeitnehmer, nicht nur die in der Verwaltung tätigen Arbeitnehmer, bestanden habe, die die T hinsichtlich der übrigen, d.h. nicht in der Verwaltung tätigen Arbeitnehmer nicht erfüllt habe. Die Löhne in diesem Zeitraum an die Arbeitnehmer der T seien in bar ausbezahlt worden. Die T hafte nach § 42d EStG für die ermittelten Lohnsteuern samt Solidaritätszuschlag. Für weitere Einzelheiten wird auf den Bericht vom 25.08.2016 Bezug genommen.
10Das FA L führte u.a. gegenüber der Klägerin weitere Ermittlungen durch. Dabei gelangte es u.a. zu der Auffassung, dass die Klägerin, zusammen mit O, die faktische Geschäftsführung der T ausgeübt habe; als faktische Geschäftsführerin habe die Klägerin eine vorsätzliche Steuerhinterziehung nach § 370 AO hinsichtlich Umsatzsteuer 2008 und 2009 sowie Lohnsteuer September 2008 bis März 2009 begangen. Für weitere Einzelheiten wird auf den strafrechtlichen Ermittlungsbericht vom 07.11.2017 Bezug genommen.
11Der Beklagte erstellte am 05.07.2017 einen Vermerk über die Haftungsprüfung gegen U, E, O und die Klägerin; dabei wurde hinsichtlich der Pflichtverletzung „Abgabe einer unrichtigen LSt-Anmeldung für 01/2007 (Abgabefrist 10.02.2007)“ eine Festsetzungsfrist wie folgt geprüft: „Beginn FF-Frist § 191 Abs. 3 Satz 3 AO mit Ablauf des 31.12.07; Dauer regulär § 191 Abs. 3 Satz 2 AO 4 Jahre; Ende regulär 31.12.11; Steuerhinterziehung § 191 Abs. 3 Satz 2 AO 10 Jahre; Ende Steuerhinterziehung mit Ablauf des 31.12.17; Verjährung offen“.
12Der Beklagte erstellte am 30.10.2017 einen weiteren Vermerk, in dem er ausführte, dass die Haftungsprüfung hinsichtlich U und E eingestellt werde, da die Strafverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden seien und hinsichtlich der Haftung nach § 69 AO die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen sei.
13Mit Haftungsbescheid vom 14.12.2017 nahm der Beklagte, nach vorheriger Anhörung, die Klägerin gemäß §§ 71, 191 AO für die Lohnsteuern samt Annexabgaben der T für den Streitzeitraum i.H.v. 4.557.745,31€ in Anspruch. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die Klägerin habe als faktische (Mit-)Geschäftsführerin der T gemeinschaftlich mit O Lohnsteuern in 27 Fällen hinterzogen. Betroffen seien im Einzelnen die Lohnsteueranmeldungszeiträume 01/2007 bis einschließlich 03/2009; dadurch seien folgende Steuern verkürzt worden: Lohnsteuern i.H.v. 2.604.833,93€, Solidaritätszuschlag i.H.v. 140.425,83€ und 238.680,55€; hinzu kämen Hinterziehungszinsen zur vorgenannten Lohnsteuer i.H.v. 1.493.714€ und zum vorgenannten Solidaritätszuschlag i.H.v. 80.091€. Zwar sei das Strafverfahren wegen Strafverfolgungsverjährung nur für die Zeiträume 11/2008 bis 03/2009 eingestellt worden. Der Eintritt der Strafverfolgungsverjährung sei für die Haftung nach § 71 AO aber nicht von Bedeutung. Die T sei als Arbeitgeberin zur Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer für die beschäftigten Arbeitnehmer verpflichtet gewesen.
14Die Tatbestandsmerkmale für eine Haftung nach § 71 AO seien erfüllt. Die Steuerfahndungsstelle des FA L habe festgestellt, dass die Klägerin ab der Gründung der T gemeinschaftlich mit O die faktische Geschäftsführung arbeitsteilig ausgeübt habe. Der Klägerin werde bei der Hinterziehung von Steuern und der Vorenthaftung von Sozialabgaben eine bandenmäßige Begehungsweise vorgeworfen. Im Rahmen der arbeitsteilig betriebenen faktischen Geschäftsführung sei die Klägerin für folgende Geschäftsführeraufgaben zuständig gewesen: Bankgeschäfte, Kassenführung, vorbereitende Buchführung für das Steuerbüro, Lohnrechnung für die in Deutschland beschäftigten inländischen Arbeitskräfte (Fertigung der Auszahlungslisten), Überweisung von Löhnen / Zusammenstellung der bar ausgezahlten Löhne und Kontaktpflege mit den Anwerbebüros im Ausland und deren Anweisung. Gemäß den Ermittlungen des FA L ergebe sich bezüglich der Tätigkeit der Klägerin im Rahmen der T, dass die Klägerin das Büro geleitet habe und die rechte Hand von O gewesen sei. Ungeachtet der Einstufung der Klägerin durch das FA L als faktische Geschäftsfahrerin, wodurch die Voraussetzungen des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erfüllt seien, komme die Klägerin als Mittäterin der Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO in Betracht. Dafür sei nicht erforderlich, dass die Klägerin selbst steuerliche Pflichten zu erfüllen habe. Die Klägerin werde im Ergebnis als Mittäterin gemeinschaftlich mit O der Steuerhinterziehung zugunsten der T eingestuft.
15Die Voraussetzungen des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO lägen vor. Hinsichtlich des objektiven Tatbestandes habe die Klägerin dem Beklagten über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige bzw. unvollständige Angaben gemacht, indem sie unrichtige Daten für Lohnsteueranmeldungen für die Zeiträume Januar 2007 bis einschließlich März 2009 an den Steuerberater K weitergegeben habe, der die Lohnsteueranmeldungen beim Beklagten abgegeben habe. Im Rahmen der abgegebenen Lohnsteueranmeldungen seien lediglich das bei T angestellte Verwaltungspersonal angemeldet und für diese Lohnsteuer entrichtet worden. Das Produktionspersonal sei nicht angemeldet und entsprechend auch keine Lohnsteuer dafür entrichtet worden.
16Hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes sei im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Klägerin gewusst und gewollt habe, dass es durch ihre Handlungen zu einer Verkürzung der Lohnsteuern komme. Sie habe es jedenfalls billigend in Kauf genommen, dass mit der T Steuern hinterzogen wurden seien. Sie habe die Lohnrechnung (anhand von Lohnlisten) für die inländischen Arbeitnehmer nicht nur für die T, sondern für diverse weitere Firmen des O erstellt, insbesondere in der Vergangenheit auch für osteuropäische Firmen. Aufgrund ihrer Tätigkeit habe der Klägerin klar gewesen sein müssen, dass für die inländischen Arbeitnehmer keine Lohnsteuern abgeführt worden seien. Im Ergebnis komme die Steuerfahndung daher zu dem Ergebnis, dass die Klägerin als „rechte Hand" des O wesentlich zum Taterfolg der Tätergruppierung beigetragen habe. O sei relativ häufig von den Strafverfolgungsbehörden durchsucht worden. Die Klägerin sei immer dabei gewesen, habe die strafbefangenen Handlungen des O gekannt und habe O trotzdem zur Seite gestanden und auch viel eigenverantwortlich für O erledigt.
17Die Haftung umfasse auch die Hinterziehungszinsen. Hinsichtlich der verkürzten Lohnsteuern und Solidaritätszuschläge wären Hinterziehungszinsen nach § 235 AO festzusetzen gewesen. Da eine Festsetzung über einen Steuerbescheid aufgrund der Löschung der T nicht mehr möglich gewesen sei, würden die Hinterziehungszinsen in diesem Haftungsbescheid festgesetzt nach §§ 235, 238, 229 AO.
18Hinsichtlich des Entschließungsermessens führte der Beklagte aus: Einer näheren Darlegung der Ermessenserwägungen bedürfe es bei der Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners nach § 71 AO nicht (Vorprägung der Ermessensentscheidung). Hinsichtlich des Auswahlermessens führte der Beklagte aus: Im vorliegenden Fall sei er zu dem Ergebnis gekommen, dass neben der Klägerin noch gegen den gemeinschaftlich mit dieser tätigen faktischen Mitgeschäftsführer O ein Haftungsbescheid zu erlassen sei. Von einer Haftungsinanspruchnahme der nominell bestellten Geschäftsführer U (ab 10.11.2006 - 02.07.2008) und E (ab 02.07.2008 bis zur Liquidation 10.05.2010) werde abgesehen, da die Strafverfahren bzgl. dieser von der StA N nach § 170 Abs. 2 StPO mangels Schuld eingestellt worden seien.
19Hiergegen legte die Klägerin am 21.12.2017 Einspruch ein. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, sie sei nicht faktische Geschäftsführerin der T gewesen. Sie sei erst ab November 2008 und nur bis Januar 2009 bei der T als kaufmännische Angestellte angestellt gewesen. Ihr sei auch nicht bekannt gewesen, ob T zur Abführung von Lohnsteuer verpflichtet gewesen sei. Zudem seien sämtliche steuerliche Angelegenheiten durch ein Steuerberatungsbüro ausgelagert gewesen. Von ihr seien mindestens sechs der acht bekannten Merkmale einer normalen Geschäftsführungsbefugnis nicht wahrgenommen worden. O sei der Macher und gefühlte Geschäftsführer der T gewesen.
20Mit Einspruchsentscheidung vom 28.02.2019 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, die Klägerin sei in dem dem Haftungsbescheid zugrundeliegenden Zeitraum als faktische (Mit-) Geschäftsführerin der T Verfügungsberechtigte i.S.d. § 35 AO gewesen. Sie sei zuständig gewesen für Bankgeschäfte, Kassenführung, vorbereitende Buchführung für das Steuerbüro, Lohnrechnung für die in Deutschland beschäftigten inländischen Arbeitskräfte (Fertigung der Auszahlungslisten), Überweisung von Löhnen / Zusammenstellung der bar ausgezahlten Löhne und Kontaktpflege mit den Anwerbebüros im Ausland und deren Anweisung. Sie habe das Büro geleitet und sei die Gehilfin des O gewesen. Die Klägerin habe zudem den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt. Hinsichtlich des Ermessens wiederholt die Einspruchsentscheidung die Ausführungen des Haftungsbescheides.
21Mit Anklageschrift vom 21.02.2019 (Neufassung gemäß § 207 Ab. 2 StPO), 000 Js 00000/00 (vormals 000 Js 00000/00) zum Landgericht N (LG N) erhob die StA N u.a. gegen die Klägerin Anklage. Dabei wurde der Klägerin u.a. vorgeworfen, im Zusammenhang damit, dass die Verantwortlichen der T ihrer Verpflichtung zur monatlichen Abführung von Lohnsteuer für die inländischen Arbeitskräfte, d.h. nicht das Verwaltungspersonal, für den Zeitraum von März 2008 bis März 2009 nicht nachgekommen seien und aufgrund der in bar ausgezahlten Löhne Lohnsteuer i.H.v. 1.653.408,99€ verkürzt hätten, vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat, nämlich u.a. gemäß §§ 370 Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AO, Hilfe geleistet zu haben gemäß § 27 StGB (Taten 4.-15.).
22Das Hauptverfahren vor dem LG N wurde eröffnet, Az. 0 Kls 000 Js 00000/00. Ausweislich des Vermerks des LG N über den wesentlichen Inhalt des Gesprächs mit den Verteidigern und den Vertretern der Staatsanwaltschaft in der Sitzungspause am 09.07.2019 vom 11.07.2019 erteilte die Kammer folgenden rechtlichen Hinweis: Die Kammer gehe derzeit nicht davon aus, dass die Angeklagten soweit sie nicht bestellte Geschäftsführer gewesen seien neben dem gesondert Verfolgten O faktische Geschäftsführer gewesen seien. Die Angeklagten seien nicht die Initiatoren, sondern Mitläufer gewesen; der eigentliche „Kopf", der gesondert Verfolgte O, sei auf der Flucht in W (Hinweis: nichteuropäisches Ausland).
23Ausweislich des Vermerks über einen Verständigungsvorschlag vom 15.07.2019 wurde u.a. beabsichtigt, das Verfahren gegen die Klägerin u.a. hinsichtlich der Taten 1 bis 24 der Anklageschrift vom 21.02.2019 (vormals 000 Js 00000/00) gemäß § 154 Abs. 2 StPO i.V.m. § 154 Abs. 1 StPO einzustellen.
24Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung des LG N in dem Strafverfahren 0 KLs 000 Js 00000/00 gegen die Klägerin vom 19.07.2019 wurde u.a. die Verständigung getroffen, dass das Verfahren gegen die Klägerin u.a. hinsichtlich der Taten 1 bis 24 der Anklageschrift vom 21.02.2019 (vormals 000 Js 00000/00) gemäß § 154 Abs. 2 StPO i.V.m. § 154 Abs. 1 StPO eingestellt wird.
25Mit rechtskräftigem Urteil des LG N, 0 KLs 000 Js 00000/00 ist u.a. die Klägerin wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 14 Fällen, davon in 11 Fällen in Tateinheit mit Beihilfe zur (Lohn-)Steuerhinterziehung zu Gunsten der F-Gesellschaft, der Beihilfe zur (Umsatz-)Steuerhinterziehung zu Gunsten der F-Gesellschaft und der Urkundenfälschung in 12 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 11 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
26Bezüglich der Klägerin ist das Verfahren u.a. hinsichtlich der Taten 1 bis 24 der Anklageschrift vom 21.02.2019 (vormals 000 Js 00000/00) gemäß § 154 Abs. 2 StPO i.V.m. § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden. Für die weiteren Einzelheiten wird auf das vorgenannte Urteil des LG N Bezug genommen.
27Die Klägerin hat am 02.04.2019 Klage erhoben.
28Die Klägerin ist im Wesentlichen der Auffassung, eine Haftungsinanspruchnahme für die Zeiträume von 01/2007 bis 03/2009 scheitere bereits daran, dass sie erst ab 11/2008 als kaufmännische Angestellte bei der T angestellt gewesen sei; ab Februar 2009 sei sie nicht mehr bei T, sondern bei der T-X Dienstleistungsgesellschaft angestellt gewesen. Als Haftungszeitraum komme daher nur 11/2008 bis 01/2009 in Betracht.
29Sie habe nicht, auch nicht in dieser Zeit, den objektiven und subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung in Mittäterschaft zusammen mit O erfüllt, auch nicht als faktische Geschäftsführerin.
30Sie sei davon ausgegangen, dass die Mutterfirma der T in Z , bei der die inländischen Arbeitnehmer angestellt gewesen seien, zur Abführung der Lohnsteuer verpflichtet gewesen sei. Sämtliche steuerlichen Angelegenheiten mit Ausnahme der vorbereitenden Buchhaltung seien an das Steuerberaterbüro K ausgelagert gewesen. Sie habe sämtliche Anweisungen von O erhalten. O sei der Macher und gefühlte Geschäftsführer gewesen. O habe sämtliche Geschäftsführeraufgaben alleinverantwortlich wahrgenommen und habe sämtliche unternehmerischen Entscheidungen von Bedeutung maßgeblich beherrscht und bestimmt. Sie sei als Sachbearbeiterin nicht in die Vertragsvorbereitungen, Vertragsabschlüsse, Gespräche mit Geschäftspartnern, Steuerberatern und Rechtsanwälten mit einbezogen gewesen und habe keinerlei Weisungsberechtigung gehabt. Schon gar nicht sei sie zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen verpflichtet gewesen. Sie habe auf die von den Arbeitnehmern vorgelegten sog. E101-Bescheinigungen vertraut. Zudem sei die vermeintlich verkürzte Lohnsteuer erheblich zu reduzieren; der Berechnung der hinterzogenen Lohnsteuer seien die tatsachlich ausgezahlten Nettobeträge zugrunde zu legen und nicht hochgerechnete Bruttobeträge.
31Die Klägerin beantragt,
32den Haftungsbescheid vom 14.12.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.02.2019 aufzuheben.
33Der Beklagte beantragt,
34die Klage abzuweisen.
35Der Beklagte ist im Wesentlichen der Auffassung, die Inanspruchnahme der Klägerin durch den Haftungsbescheid sei, wie in diesem und der Einspruchsentscheidung ausgeführt, rechtmäßig. Soweit die Klägerin nunmehr auf die zeitliche Dauer der Beschäftigung bei der T verweise, sei dem entgegenzuhalten, dass für die Beurteilung einer Person als faktischer Geschäftsführer ein anderweitiges Beschäftigungs- bzw. Anstellungsverhältnis nicht hinderlich sei, ebenso wie ein Beschäftigungs- bzw. Anstellungsverhältnis bei der die Haftung betreffenden Gesellschaft nicht erforderlich sei. Die Klägerin habe bereits vor Abschluss des Anstellungsvertrages Dokumente für die T erstellt. Dem Vorbringen der Klägerin, steuerlich größtenteils unwissend zu sein, könne nicht gefolgt werden. Ihr habe bekannt sein müssen, dass auch für das Produktionspersonal Lohnsteuer in Deutschland abgeführt hätte werden müssen. Nach den strafrechtlichen Ermittlungen werde der Klägerin gemeinsam mit O eine bandenmäßige Begehensweise vorgeworfen, welches ein gemeinschaftliches Handeln mit mindestens einer weiteren Person impliziere. Demnach seien Aufgaben der faktischen Geschäftsführung aufgeteilt worden. Die Klägerin sei im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens von mehreren Personen als „rechte Hand" bzw. Vertreterin von O sowie als Bindeglied im Informationsfluss zu den in der Hierarchie tiefer stehenden Personen beschrieben worden. Der etwaige Eintritt der Strafverfolgungsverjährung sei für die Haftung nach § 71 AO jedoch nicht von Bedeutung und eine Inhaftungnahme für den gesamten Zeitraum von 01/2007 bis 03/2009 möglich. Der Ausgang des Strafverfahrens habe keinen Einfluss auf das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 370 AO. Die sog. E101-Bescheinigungen würden keine Bindungswirkung entfalten. Die Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Lohnsteuerabzugsbeträge sei dem steuerlichen Bericht vom 25.08.2016 zu entnehmen. Aufgrund des Hauptverhandlungsprotokolls des LG N folge, dass die Klägerin mindestens als Beihelferin einzustufen sei.
36Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schreiben und die Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
37Der Senat hat am 15.10.2024 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, auf deren Protokoll Bezug genommen wird.
Die Klage hat Erfolg. Der Haftungsbescheid vom 14.12.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.02.2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung, FGO).
39I. Das Auswahlermessen des Beklagten ist nicht fehlerfrei ausgeübt worden.
401. Wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner), kann gemäß § 191 Abs. 1 AO durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden.
41Nach § 71 AO haftet derjenige, der eine Steuerhinterziehung begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt, u.a. für die verkürzten Steuern und für die Zinsen nach § 235 AO.
42Gemäß § 370 Abs. 1 AO wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer den Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht (Nr. 1) oder wer die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt (Nr. 2) und jeweils dadurch für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.
43Während die täterschaftliche Begehung des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO ein aktives Handeln gegenüber Finanzbehörden erfordert, ist für § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ein Unterlassen des Täters erforderlich.
44Daher kann Täter einer Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO nur derjenige sein, der selbst zur Aufklärung steuerlich erheblicher Tatsachen besonders verpflichtet ist (BGH, Urteil vom 09.04.2013 1 StR 586/12, juris, m.w.N.). Die Offenbarungspflichten können sich sowohl aus den gesetzlich besonders festgelegten steuerlichen Erklärungspflichten wie auch aus allgemeinen Garantenpflichten ergeben. Neben der steuerlichen Offenbarungs- und Erklärungspflicht des formellen Geschäftsführers besteht auch für den faktischen Geschäftsführer die Pflicht zur Offenbarung steuerlich erheblicher Tatsachen (BGH, Urteile vom 23.03.1994 5 StR 38/94, juris; vom 23.03.2022 1 StR 511/21, juris). Eine faktische Geschäftsführung liegt vor, wenn die betreffende Person faktisch die Leitung des Unternehmens übernommen und die rechtsgeschäftlichen Handlungen des Unternehmens maßgeblich, auch für Außenstehende erkennbar, bestimmt hat, ohne formal zum Geschäftsführer bestellt oder formaler Betriebsinhaber zu sein (BGH, Urteil vom 14.10.2020 1 StR 33/19, juris). Um eine rechtlich verbindliche Verantwortlichkeit des faktischen Geschäftsführers begründen zu können, ist Voraussetzung, dass das Innenverhältnis mit tatsächlichen Befugnissen ausgestattet ist, die es dem faktischen Geschäftsführer ermöglichen, für die Gesellschaft in existentiell wichtigen Bereichen tatsächlich tätig zu werden. Der Umstand, dass es daneben einen formell bestellten Geschäftsführer gibt, wie im Streitfall vom 10.11.2006 bis 02.07.2008 und vom 02.07.2008 bis 10.05.2010 E , muss dem nicht entgegenstehen. Dann muss allerdings der faktische Geschäftsführer Geschäftsführerfunktionen in maßgeblichem Umfang übernommen haben, der in der Rechtsprechung mit „ein Übergewicht“ (BGH, Urteil vom 19.04.1984 1 StR 736/83, juris), „eine überragende Stellung“ (BGH, Urteil vom 22.09.1982 3 StR 287/82, juris) oder „das deutliche Übergewicht“ (BGH, Beschluss vom 13.12.2012 5 StR 407/12, juris) in Nuancen unterschiedlich umschrieben wird (vgl. BGH, Beschluss vom 23.01.2013 1 StR 459/12, juris).
45Für die Frage nach Täterschaft und Teilnahme bei der Steuerhinterziehung gelten über § 369 Abs. 2 AO die Regelungen des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs (StGB), mithin auch §§ 25 ff. StGB. Mithin kommt im Hinblick auf eine Steuerhinterziehung auch Täterschaft in Form der Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB und Teilnahme in Form der Beihilfe nach (§ 27 StGB) in Betracht.
46Gemäß § 25 Abs. 2 StGB wird jeder einzelne als Täter bestraft, wenn mehrere Personen die Straftat gemeinschaftlich begehen. Mittäter i.S.d. § 25 Abs. 2 StGB ist, wer nicht nur fremdes Tun fördert, sondern einen eigenen Tatbeitrag derart in eine gemeinschaftliche Tat einfügt, dass sein Beitrag als Teil der Tätigkeit des anderen und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung seines eigenen Tatanteils erscheint (BGH, Urteil vom 07.11.2006, 5 StR 164/06, juris). Die Mittäterschaft beruht vornehmlich auf einer Zurechnung der objektiven Tatbeiträge, die sich im gemeinsamen Tatplan (gemeinsamer Tatentschluss) begründet. Beschränkt sich der Tatbeitrag auf die Vorbereitung der Tathandlungen, liegt in der Regel kein für die Annahme von Mittäterschaft ausreichend gewichtiger Tatbeitrag vor (BGH, Urteil vom 26.01.2022, 1 StR 518/20, juris). Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat hat, ist nach den gesamten Umständen zu beurteilen. Wesentliche Anhaltspunkte können der Grad des eigenen Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein (BGH, Urteil vom 09.04.2013 1 StR 586/12, juris).
47Gemäß § 27 Abs. 1 StGB wird als Gehilfe bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat. Eine strafbare Beihilfe setzt dabei zunächst eine vorsätzlich rechtswidrige Haupttat des Täters voraus. Zudem ist eine taugliche Beihilfehandlung in Form des Förderns der Haupttat erforderlich. Als Hilfeleistung i.S.v. § 27 StGB ist dabei jede Handlung anzusehen, welche die Herbeiführung des Taterfolgs des Haupttäters objektiv fördert, ohne dass sie für den Erfolg selbst ursächlich sein muss. Hilfeleisten i.S.v. § 27 Abs. 1 StGB muss für den Taterfolg zwar nicht ursächlich sein, aber die Tathandlung des Haupttäters oder den Erfolgseintritt erleichtern oder fördern (BGH, Urteil vom 15.5.2018, 1 StR 159/17, juris). Zuletzt muss der Gehilfe doppelten Vorsatz haben (BGH, Urteile vom 18.04.1996, 1 StR 14/96, juris; vom 22.09.2016 1 StR 245/16, juris). Gehilfenvorsatz erfordert zum einen, dass der Gehilfe die Haupttat in ihren wesentlichen Merkmalen (er-)kennt und in dem Bewusstsein handelt, durch sein Verhalten das Vorhaben des Haupttäters zu fördern; Einzelheiten der Haupttat braucht er nicht zu kennen, er muss indes wissen, dass sein Tatbeitrag in eine Steuerhinterziehung mündet. Zum anderen muss der Gehilfe vorsätzlich bzgl. der geleisteten Hilfe handeln. Der Gehilfe muss die Vollendung der Haupttat wollen. Nicht vorsätzlich handelt, wessen Tun zwar objektiv einen geeigneten Tatbeitrag darstellt, der sich aber nicht bewusst ist, dass dadurch eine konzeptionierte Tat unterstützt wird.
48Bei § 191 Abs. 1 AO handelt es sich um eine Ermessensnorm. Die Finanzbehörde hat darüber zu entscheiden, ob sie den in Frage kommenden Haftungsschuldner überhaupt in Anspruch nehmen (Entschließungsermessen) und ggf. welchen bzw. welche von mehreren Verantwortlichen sie in welchem Umfang zur Haftung heranziehen (Auswahlermessen) will (BFH, Urteil vom 09.08.2002 VI R 41/96, juris, m.w.N.).
49Dabei ist die Entscheidung der Finanzbehörde nach § 102 FGO gerichtlich darauf zu überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Dazu hat die Finanzbehörde das Ergebnis seines Abwägungsprozesses spätestens in der Einspruchsentscheidung zu begründen. Nach § 102 Satz 2 FGO können in der gerichtlichen Tatsacheninstanz nur noch Ergänzungen der Ermessenserwägungen vorgenommen werden, ein vollständiges Nachholen ist nicht mehr möglich.
50Für die Ausübung des Ermessens gelten die allgemeinen Regeln. Die Finanzbehörde muss alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen mit der möglichen Folge, dass der gegen den Erstschuldner (aus welchen Gründen auch immer) nicht durchzusetzende Anspruch auch gegen den Haftenden nicht geltend gemacht werden kann. Hierbei müssen die bei der Ausübung des Ermessens angestellten Erwägungen, die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners, aus der Entscheidung selbst erkennbar sein (BFH, Urteil vom 09.08.2002 VI R 41/96, juris, m.w.N.). Im Rahmen des Auswahlermessens muss die Behörde dabei im Regelfall zum Ausdruck bringen und darlegen, warum sie den Haftungsschuldner anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt.
51Auf eine ausdrückliche Begründung der Ermessensentscheidung bezüglich der Haftungsinanspruchnahme des Haupttäters einer Steuerstraftat oder des Gehilfen zu einer solchen Tat kann jedoch verzichtet werden, wenn neben dem Haupttäter auch ein oder mehrere Gehilfen bei der Steuerstraftat als Haftungsschuldner in Betracht kommen; dann kann die Auswahlentscheidung jedenfalls nicht zu dem Ergebnis führen, den Haupttäter nicht in Anspruch zu nehmen (dazu und zum Folgenden BFH, Urteile vom 26.02.1991 VII R 3/90, juris: vom 08.09.2004 XI R 1/03, juris; Beschluss vom 08.06.2007 VII B 280/06, juris). Die Vorprägung der Ermessensentscheidung im Falle einer vorsätzlichen Steuerverkürzung oder einer Beihilfe ist nicht nur für die Inanspruchnahme dem Grunde nach (Entschließungsermessen), sondern auch für die Inanspruchnahme der Höhe nach (Auswahlermessen) gegeben. Im Rahmen der Betätigung des Auswahl- und Entschließungsermessens besteht danach kein Grund, Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die sich aus der Größenordnung der Haftungsschuld im Vergleich zu den finanziellen Möglichkeiten des Haftungsschuldners ergeben.
52Weiterhin erforderlich ist jedoch nach allgemeinen Grundsätzen, dass die Finanzbehörde ihr Ermessen überhaupt erkannt hat, auch hinsichtlich der Inanspruchnahme weiterer Haftungsschuldner. Eine fehlende Ausübung des Auswahlermessens beim Erlass eines Haftungsbescheids stellt nicht nur einen Begründungsmangel i.S.d.§ 126 Abs. 1 Nr. 2 AO dar (BFH, Urteil vom 11.03.2004 VII R 52/02, juris). Dabei beschränkt sich das Auswahlermessen nicht nur auf den Personenkreis, der denselben Haftungstatbestand verwirklicht, sondern erfasst auch diejenigen Personen, die nach anderen Haftungsvorschriften für dieselben Steuern haften (BFH, Urteil vom 09.08.2002 VI R 41/96, juris). Insbesondere muss die Finanzbehörde auch die mögliche Inanspruchnahme der formell bestellten Geschäftsführer erkannt haben und in seine Ermessenserwägungen einbezogen haben bzw. sich seiner Auswahlmöglichkeit bewusst gewesen sein (BFH, Urteile vom 11.03.2004 VII R 52/02, juris; vom 07.04.1992 VII R 104/90, juris).
532. Vor dem Hintergrund dieser rechtlichen Grundsätze ist der Haftungsbescheid auf Rechtsfolgenseite fehlerhaft; der erkennende Senat kann daher dahingestellt lassen, ob im Streitfall die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 71 AO vorliegen.
54Das Auswahlermessen des Beklagten ist nicht fehlerfrei ausgeübt worden. Der Beklagte hat nicht rechtsfehlerfrei erkannt, dass er für die Steuerschulden der T auch die formellen Geschäftsführer U (vom 10.11.2006 bis 02.07.2008) und E (vom 02.07.2008 bis 10.05.2010) nach §§ 69, 34, 35 AO als Haftungsschuldner hätte in Anspruch nehmen können. Entgegen der Auffassung des Beklagten insbesondere in den Vermerken vom 05.07.2017 und 30.10.2017 hat einer Inanspruchnahme des U und E nach §§ 69, 34, 35 AO nicht der Ablauf der Verjährungsfrist entgegengestanden.
55Gemäß § 69 Satz 1 AO haften die in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihnen auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt werden. Gemäß § 34 Abs. 1 AO haben die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen sowie rechtsfähiger Personenvereinigungen deren steuerliche Pflichten zu erfüllen (Satz 1); sie haben insbesondere dafür zu sorgen, dass die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die sie verwalten (Satz 2).
56a. Im Haftungsbescheid und der Einspruchsentscheidung hat der Beklagte (lediglich) ausgeführt, von einer Haftungsinanspruchnahme der nominell bestellten Geschäftsführer U und E werde abgesehen, da die Strafverfahren bzgl. dieser von der StA N nach § 170 Abs. 2 StPO mangels Schuld eingestellt worden seien. Dies Ausführungen sind nur so zu verstehen, dass der Beklagte eine haftungsrechtliche Inanspruchnahme der U und E nach § 71 AO erkannt, diese jedoch im Rahmen seines Auswahlermessens abgelehnt hat. Bei isolierter Betrachtung des Haftungsbescheides und der Einspruchsentscheidung ist nicht ersichtlich, dass der Beklagte (auch) eine haftungsrechtliche Inanspruchnahme der U und E nach § 69 AO erkannt und erwogen hat. Denn im Rahmen des § 69 AO ist der Umstand, dass das Strafverfahren gegen diese Personen nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist, unerheblich; weder ist eine strafrechtliche Verurteilung noch eine strafrechtliche „Schuld“ erforderlich, sondern vielmehr reicht im Rahmen des § 69 AO eine vorsätzliche oder fahrlässige Pflichtverletzung, mithin ein erhebliches „Minus“ im Vergleich zu einer strafrechtlichen „Schuld“, des Geschäftsführers für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 69 AO aus. Während im Rahmen des § 370 AO eine fahrlässige Begehungsweise nicht strafbar ist (vgl. § 15 StGB), ist diese im Rahmen des § 69 AO ausreichend.
57Dem steht auch nicht der Grundsatz des vorgeprägten (Auswahl-)Ermessens im Rahmen des § 71 AO nach der bereits zuvor dargelegten höchstrichterlichen Rechtsprechung entgegen. Nach diesem Grundsatz werden im Rahmen der haftungsrechtlichen Inanspruchnahme nach § 71 AO, wie im Streitfall, (lediglich) an die Begründung der (Auswahl-)Ermessensentscheidung herabgesetzte Anforderungen gestellt. Für die Inanspruchnahme durch Haftungsbescheid und die dabei zu treffende behördliche Ermessensentscheidung hat der BFH entschieden, dass im Fall vorsätzlicher Steuerstraftaten diese Ermessensentscheidung in der Weise vorgeprägt ist, dass es einer besonderen Begründung der Ermessensbetätigung nicht bedarf (siehe hierzu nur BFH, Urteile vom 02.12.2003 VII R 17/03, juris, m.w.N.; vom 12.02.2009 VI R 40/07, juris). Dabei ist den Entscheidungen des Bundesfinanzhofs gemein, dass in den zu entscheidenden Sachverhalten sämtliche in Betracht kommende Haftungsschuldner in Anspruch genommen worden sind, mithin das (Auswahl-)Ermessen hinsichtlich des Haftungsschuldners erkannt und ausgeübt worden ist. Diese Einschränkung der Begründungspflicht gilt jedoch nur dann, wenn erkennbar ist, dass die Finanzbehörde eine entsprechende Ermessensentscheidung getroffen hat (BFH, Urteil vom 11.03.2004 VII R 52/2, juris; Hessisches FG, Urteil vom 29.03.2007 6 K 3669/99, juris, bestätigt durch BFH, Beschluss vom 14.04.2008 VII B 115/07, juris). Dies ist im Streitfall nicht so gewesen.
58b. Ob im Streitfall die Ausführungen des Beklagten insbesondere in seinen Vermerken vom 05.07.2017 und 30.10.2017 bei der Überprüfung der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind, kann dahinstehen. Selbst bei Berücksichtigung dieser Ausführungen hat der Beklagte sein Auswahlermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Der Beklagte hat nicht zutreffend die Möglichkeit der haftungsrechtlichen Inanspruchnahme des E und U nach §§ 69, 34, 35 AO erkannt und erwogen.
59Zwar hat der Beklagte ausweislich der Vermerke vom 05.07.2017 und 30.10.2017 geprüft, ob E und U aufgrund ihrer Stellung als formelle Geschäftsführer der T in Anspruch genommen werden können, dies jedoch rechtsfehlerhaft abgelehnt. Entgegen der Auffassung des Beklagten stand einer Inanspruchnahme von E und U nach § 69 AO keine Festsetzungsverjährung entgegen.
60Bereits die reguläre Festsetzungsverjährungsfrist des § 191 Abs. 3 Satz 2 Var. 1 AO von vier Jahren ist zu dem Zeitpunkt, zu dem der Beklagte die Inanspruchnahme von E und U erwogen hatte, nämlich am 05.07.2017 und 30.10.2017, und zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Haftungsbescheides nicht abgelaufen gewesen.
61Diese Frist hat nach § 191 Abs. 3 Satz 3 AO mit Ablauf des 31.12.2007 begonnen und hätte normalerweise mit Ablauf des 31.12.2011 geendet.
62Aufgrund der gegenüber E und U eingeleiteten Strafverfahren ist diese Frist jedoch nach §§ 171 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. 191 Abs. 3 Satz 1 AO gehemmt gewesen. § 171 AO findet auch im Rahmen des § 191 AO Anwendung (BFH, Urteil vom 12.08.1997 VII R 107/96, juris). Dies folgt bereits eindeutig aus dem Wortlaut des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO. Den E und U gegenüber sind vor Ablauf der regulären vierjährigen Festsetzungsverjährungsfrist mit Ablauf des 31.12.2011 die Einleitung eines Steuerstrafverfahrens eröffnet worden. E ist am 14.04.2011 im Rahmen seiner Vernehmung als Beschuldigter einer Verkürzung von Lohnsteuer für den Zeitraum von Juni 2008 bis April 2009 zugunsten der T eröffnet worden, dass gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet worden ist. U ist am 09.05.2011 im Rahmen seiner Vernehmung als Beschuldigter einer Hinterziehung von Lohnsteuer für den Zeitraum von Januar 2007 bis April 2009, Umsatzsteuer 2007 bis 2009 zugunsten der T eröffnet worden, dass gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet worden ist.
63II. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen hat der Senat auch trotz des in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrages des Beklagten, unabhängig davon, ob dieser zulässig gewesen ist, entscheiden können. Der Beweisantrag, der sich (wohl) zum Tatbestand des § 71 AO verhalten hat, ist im Streitfall nicht entscheidungserheblich gewesen. Das Ermessen des Beklagten, mithin die von der Tatbestandsseite zu unterscheidende Rechtsfolgenseite, ist im Streitfall nicht fehlerfrei ausgeübt worden.
64III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
65IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
66V. Die Revision war nicht zuzulassen. Zulassungsgründe nach § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor. Die Entscheidung beruht auf einer Anwendung der feststehenden Rechtsgrundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf den Einzelfall.
67… … …