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Der Einkommensteuerbescheid 2020 vom 13. August 2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. März 2022 wird dahin geändert, dass – anstelle der Entfernungspauschalen in Höhe von jeweils 1.944 EUR – Fahrtkosten in Höhe von 6.350 EUR für den Kläger und in Höhe von 3.840 EUR für die Klägerin angesetzt werden.
Die Berechnung der Einkommensteuer wird dem Beklagten übertragen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leisten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob der Beklagte zu Recht für die Fahrten der Kläger zur jeweiligen Arbeitsstätte nur die Entfernungspauschalen anstelle der von den Klägern erklärten Reisekosten als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit angesetzt hat.
3Die Kläger sind Eheleute und wurden im Streitjahr 2020 gemeinsam zur Einkommen-steuer veranlagt. Die Eheleute sind beide als Beamte im [Dienst] des Landes Nordrhein-Westfalen tätig und erzielen Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit (§ 19 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung – EStG). Sie sind wohnhaft in H.
4Die Klägerin wurde nach Bestehen der …Fachprüfung mit Bescheid der Bezirksregierung N vom 00.00.2004 als … an eine Dienststelle in F versetzt. Von dort bewarb sie sich am 00.00.2012 auf eine Stelle als Lehrende in der Aus- und Fortbildung mit Schwerpunkt Ausbildung beim [Ausbildungsstätte] am Dienstort T. Die Stelle war ausweislich der Stellenbeschreibung zum 00.00.2012 für die Dauer von vier Jahren zu besetzen mit der Möglichkeit zur einer einmaligen Verlängerung um maximal zwei Jahre. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Stellenbeschreibung vom 00.00.2011 Bezug genommen. Nach erfolgreicher Bewerbung wurde die Klägerin mit Bescheid vom 00.00.2012 nach Anhörung und unter Hinweis auf § 25 Abs. 1 des Gesetzes über die Beamtinnen und Beamten des Landes Nordrhein-Westfalen (Landesbeamtengesetz – LBG NRW) mit Wirkung zum 00.00.2012 an das [Ausbildungsstätte] in T versetzt. Vor Ablauf der Dauer von vier Jahren verlängerte der Dienstherr den Verwendungszeitraum mit Verfügung vom 00.00.2016 bis zum 00.00.2018, mit Verfügung vom 00.00.2017 bis zum 00.00.2020 und mit Verfügung vom 00.00.2020 bis zum 00.00.2022. Im Anschluss an die Verwendung beim [Ausbildungsstätte] in T sollte eine Versetzung aus dienstlichen Gründen an eine von der Klägerin zu nennende „Wunschbehörde“ erfolgen.
5Der Kläger wurde nach Bestehen der …Fachprüfung mit Bescheid der Bezirksregierung N vom 00.00.2005 als … einer Dienststelle in H zugewiesen. Von dort bewarb er sich am 00.00.2013 ebenfalls auf eine Stelle als Lehrender in der Aus- und Fortbildung mit Schwerpunkt Ausbildung beim [Ausbildungsstätte] am Dienstort T. Nach erfolgreicher Bewerbung wurde der Kläger mit Bescheid vom 00.00.2013 nach Anhörung und unter Hinweis auf § 25 Abs. 1 LBG NRW mit Wirkung zum 00.00.2013 an das [Ausbildungsstätte] in T versetzt. Vor Ablauf der Dauer von vier Jahren verlängerte der Dienstherr den Verwendungszeitraum mit Verfügung vom 00.00.2016 bis zum 00.00.2018, mit Verfügung vom 00.00.2017 bis zum 00.00.2020, mit Verfügung vom 00.00.2020 bis zum 00.00.2022 und mit Verfügung vom 00.00.2021 bis zum 00.00.2023. Im Anschluss an die Verwendung beim [Ausbildungsstätte] in T sollte eine Versetzung aus dienstlichen Gründen an eine vom Kläger zu nennende „Wunschbehörde“ erfolgen.
6Die Vorgehensweise des Dienstherrn der Kläger hat ihre Grundlage in einem Erlass […], auf den bezüglich der Einzelheiten Bezug genommen wird. Danach kommt der Rotation im Hinblick auf die Praxisnähe der Aus- und Fortbildung sowie der Personalentwicklung besondere Bedeutung zu. Dozenten sind danach aus dienstrechtlichen Gründen nach Ablauf einer Regelverwendungsdauer oder der im Einzelfall festgelegten Verwendungsdauer in die …behörden zu versetzen. Danach ist die Verwendungsdauer in Aus- und Fortbildungsfunktionen grundsätzlich auf vier Jahre begrenzt mit der Möglichkeit einer einmaligen Verlängerung um zwei Jahre. Nach Ablauf des Verwendungszeitraums erfolgt eine Versetzung aus dienstlichen Gründen zur Wunschbehörde, soweit anderweitige höher zu gewichtende dienstliche Belange nicht entgegenstehen. Die Beamten mit Lehranteil – also die Kläger – erhalten nach dem Erlass ein sog. Verwendungskonzept, was die Rechtsgrundlage dafür bildet, dass eine Versetzung des betroffenen Beamten zu seiner angestrebten Wunschbehörde zu dem angestrebten Zeitpunkt in dem im angestrebten Jahr stattfindenden landesweiten Versetzungsverfahren der …beamten nach der jetzigen Praxis mit der größtmöglichen Punktzahl – also bestmöglich – bevorzugt behandelt werden kann.
7Im Streitjahr verrichteten beide Kläger ihren Dienst als Lehrende in der Ausbildung am Dienstort T.
8In der Einkommensteuererklärung 2020 vom 22. März 2021 erklärten sie für den Kläger Werbungskosten in Höhe von 6.853 EUR, wovon 6.350 EUR (= 162 Arbeitstage x 40 km x 2 x 0,49 EUR tatsächliche Kosten/km) auf Reisekosten entfielen, und für die Klägerin Werbungskosten in Höhe von 4.465 EUR, wovon 3.840 EUR (162 Arbeitstage x 40 km x 2 x 0,30 EUR Pauschale) auf Reisekosten entfielen. Die Anzahl der durchgeführten Fahrten und die Höhe der hierauf entfallenen Kosten sind von den Klägern durch Vorlage von Unterlagen nachgewiesen worden und zwischen den Beteiligten unstreitig.
9Mit Bescheid vom 13. August 2021 setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2020 in Höhe von 16.964 EUR fest. Dabei berücksichtigte der Beklagte bei den Eheleuten anstelle der erklärten Reisekosten jeweils nur eine Entfernungspauschale in Höhe von 1.944 EUR (162 Tage x 40km x 0,30 EUR), weil die Kläger jeweils einer ersten Tätigkeitsstätte – der Dienststelle in T – zugeordnet seien, sodass die Voraussetzungen zur Berücksichtigung der Entfernungspauschale vorliegen würden.
10Mit Schreiben vom 15. August 2021 legten die Kläger Einspruch ein.
11Mit Einspruchsentscheidung vom 7. März 2022 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, dass die Dienststelle in T die erste Tätigkeitsstätte der Kläger im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG sei. Zwar liege keine Zuordnung der ersten Tätigkeitsstätte durch dienst- oder arbeitsrechtliche Festlegungen vor, die erste Tätigkeitsstätte der Kläger in T sei jedoch anhand von quantitativen Kriterien mittels einer ex-ante Betrachtung festzulegen. So seien im Streitjahr der Kläger seit mehr als acht Jahren und die Klägerin seit mehr als neun Jahren typischerweise in T tätig.
12Bezüglich der Einzelheiten der Begründung wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen.
13Am 23. März 2022 haben die Kläger Klage erhoben.
14Die Kläger meinen, sie übten ihren Dienst nur im Rahmen einer befristeten Abordnung als Lehrende aus. Bei dem Verwendungskonzept in der Lehre handele es sich schon vom Grundsatz her um eine vorübergehende Abordnung, also eine befristete und keine dauerhafte Tätigkeit. Die regelmäßige Verwendung betrage nach dem Verwendungskonzept […] vier Jahre und könne dann nach Bedarf jeweils um ein bis drei Jahre verlängert werden, die maximale Verwendungsdauer betrage zehn Jahre. Danach gehe es in jedem Fall zurück in den „normalen“ …dienst. Bei einer Verwendung über vier Jahre hinaus handele es sich damit um eine sogenannte Kettenabordnung, ohne dass eine dauerhafte Tätigkeit begründet werde.
15Im Fall der Kläger handele es sich also um Arbeitnehmer ohne erste Tätigkeitsstätte, die außerhalb ihrer Wohnung auswärts tätig würden entsprechend dem BMF-Schreiben vom 25.11.2020 (IV C 5 – S 2353/1910011:006, Rz. 2, Bundessteuerblatt Teil I – BStBl I – 2020, 1228). Daraus folge, dass es sich bei den Fahrtkosten nicht um Kosten für Fahrten zwischen der Wohnung und einer ersten Tätigkeitsstätte handele, die mit der Pauschale anzusetzen seien, sondern um beruflich veranlasste Fahrten, die mit den tatsächlichen Aufwendungen zu berücksichtigen seien.
16Eine erste Tätigkeitsstätte setze immer voraus, dass eine dauerhafte Zuordnung vorliege, von der ihr Dienstherr aber bewusst abgesehen habe. Er habe dienstrechtliche Festlegungen dahingehend getroffen, dass es keine Tätigkeitsstätte in einem … gebe, sondern ausschließlich die auswärtige befristete Verwendung in T. Eine dienstrechtliche Festlegung fehle also nicht und es fehle ihr auch nicht an der Eindeutigkeit. § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG komme nach Auffassung der Kläger gar nicht zur Anwendung.
17Selbst wenn man der Auffassung sei, der Arbeitgeber müsse eine erste Tätigkeitsstätte festlegen, sodass diese im vorliegenden Fall „fehle“, so habe man in § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG immer noch das ausdrückliche Tatbestandsmerkmal „dauerhaft“. Die Kläger seien zwar arbeitstäglich in T, allerdings nicht dauerhaft, sondern immer nur befristet.
18Für einen Kollegen der Kläger mit gleichen Voraussetzungen, setze die Finanzverwaltung die erklärten Reisekosten anstelle der Entfernungspauschalen an. Es stelle sich die Frage, weshalb das beklagte Finanzamt die Fälle bei gleichem Sachverhalt unterschiedlich behandele.
19Unerheblich für die Frage der steuerlichen Zuordnung sei auch, dass die Kläger beamtenrechtlich „versetzt“ worden seien. Die Abgrenzung von Abordnung und Versetzung habe lediglich organisations- und haushaltsrechtliche Bedeutung. Zudem habe die für Versetzungen maßgebliche Vorschrift des § 25 Abs. 1 LBG NRW im Zeitpunkt der jeweiligen Versetzungen im Wortlaut noch nicht den Zusatz „auf Dauer“ enthalten.
20Die Kläger beantragen,
21den Einkommensteuerbescheid 2020 vom 13. August 2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. März 2022 dahin zu ändern, dass – anstelle der Entfernungspauschalen in Höhe von jeweils 1.944 EUR – Fahrtkosten in Höhe von 6.350 EUR für den Kläger und in Höhe von 3.840 EUR für die Klägerin angesetzt werden;
22hilfsweise, die Revision zuzulassen.
23Der Beklagte beantragt,
24die Klage abzuweisen.
25Der Beklagte verweist auf die Begründung in der Einspruchsentscheidung.
26Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
27Es wird Bezug genommen auf die vom Beklagten übersandten Verwaltungsvorgänge.
28Entscheidungsgründe
29I. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
30II. Die Klage hat Erfolg.
31Der Einkommensteuerbescheid 2020 vom 13. August 2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. März 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
32Der Beklagte hat die Werbungskosten für Fahrten der Kläger zwischen ihrem Wohnsitz in H und dem [Ausbildungsstätte] in T zu Unrecht als Fahrten zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte mit der Entfernungspauschale angesetzt und nicht als Auswärtsfahrten nach Reisekostengrundsätzen mit den – zwischen den Beteiligten unstreitig – tatsächlich gefahrenen Kilometern und den von den Klägern erklärten Kosten berücksichtigt.
331. Werbungskosten im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Beruflich veranlasste Fahrtkosten sind Erwerbsaufwendungen. Handelt es sich bei den Aufwendungen des Arbeitnehmers um solche für die Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 4 EStG, ist zu deren Abgeltung für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die erste Tätigkeitsstätte aufsucht, grundsätzlich eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte von 0,30 EUR anzusetzen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Sätze 1, 2 EStG). Die Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten nach Reisekostengrundsätzen kommt demgegenüber in Betracht, wenn es sich nicht um Wege zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte handelt.
34Erste Tätigkeitsstätte ist nach der Legaldefinition in § 9 Abs. 4 Satz 1 EStG die ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens (§ 15 des Aktiengesetzes) oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten, der der Arbeitnehmer dauerhaft zugeordnet ist. Die Zuordnung im Sinne des Satzes 1 wird gem. § 9 Abs. 4 Satz 2 EStG durch die dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie die diese ausfüllenden Absprachen und Weisungen bestimmt. Von einer dauerhaften Zuordnung ist nach § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG insbesondere auszugehen, wenn der Arbeitnehmer unbefristet, für die Dauer des Dienstverhältnisses oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus an einer solchen Tätigkeitsstätte tätig werden soll.
35Eine Zuordnung ist unbefristet i.S. des § 9 Abs. 4 Satz 3 1. Alternative EStG, wenn die Dauer der Zuordnung zu einer Tätigkeitsstätte aus der maßgeblichen Sicht ex ante nicht kalendermäßig bestimmt ist und sich auch nicht aus Art, Zweck oder Beschaffenheit der Arbeitsleistung ergibt (Bundesfinanzhof – BFH –, Urteil vom 4. April 2019 VI R 27/17, Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFHE – 264, 271, Bundessteuerblatt Teil II – BStBl II – 2019, 536, Rz. 21).
36Die Zuordnung erfolgt gemäß § 9 Abs. 4 Satz 3 2. Alternative EStG für die Dauer des Arbeits- oder Dienstverhältnisses, wenn sie aus der maßgeblichen Sicht ex ante für die gesamte Dauer des Arbeits- oder Dienstverhältnisses Bestand haben soll. Dies kann insbesondere angenommen werden, wenn die Zuordnung im Rahmen des Arbeits- oder Dienstverhältnisses unbefristet oder (ausdrücklich) für dessen gesamte Dauer erfolgt (BFH, Urteil vom 4. April 2019 VI R 27/17, BFHE 264, 271, BStBl II 2019, 536, Rz. 22). Für die Beurteilung, ob eine dauerhafte Zuordnung vorliegt, ist eine auf die Zukunft gerichtete, prognostische Beurteilung (sog. ex-ante-Betrachtung) maßgeblich (zu § 9 Abs. 4 Satz 2 EStG: BFH, Urteil vom 10. April 2019 VI R 6/17, BFHE 264, 258, BStBl II 2019, 539; zu § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG: Bundestagsdrucksache – BT-Drs. 17/10774, Seite 15; Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 14. Juni 2022 13 K 82/21, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2022, 1902).
37Fehlt eine solche dienst- oder arbeitsrechtliche Festlegung auf eine erste Tätigkeitsstätte oder ist sie nicht eindeutig, ist nach § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG die erste Tätigkeitsstätte die betriebliche Einrichtung, an der der Arbeitnehmer dauerhaft (Nr. 1.) typischerweise arbeitstäglich tätig werden soll oder (Nr. 2.) je Arbeitswoche zwei volle Arbeitstage oder mindestens ein Drittel seiner vereinbarten regelmäßigen Arbeitszeit tätig werden soll. Dabei regelt § 9 Abs. 4 Satz 5 EStG, dass der Arbeitnehmer je Dienstverhältnis höchstens eine erste Tätigkeitsstätte hat.
38Der durch das Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts vom 20. Februar 2013 (Bundesgesetzblatt Teil I – BGBl I – 2013, 285) neu eingeführte und in § 9 Abs. 4 Satz 1 EStG definierte Begriff der „ersten Tätigkeitsstätte" tritt an die Stelle des bisherigen unbestimmten Rechtsbegriffs der „regelmäßigen Arbeitsstätte". Nach der gesetzlichen Konzeption – und der die Neuordnung des steuerlichen Reisekostenrechts prägenden Grundentscheidung – wird die erste Tätigkeitsstätte vorrangig anhand der arbeits(vertrag)- oder dienstrechtlichen Zuordnung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber bestimmt, hilfsweise mittels quantitativer Kriterien (vgl. BT-Drs. 17/10774, Seite 15; ebenso BMF-Schreiben vom 24. Oktober 2014, IV C 5 S 2353/14/10002, BStBl I 2014, 1412).
39Zu den arbeits- oder dienstrechtlichen Weisungen und Verfügungen zählen alle schriftlichen, aber auch mündlichen Absprachen oder Weisungen (vgl. BT-Drs. 17/10774, Seite 15). Die Zuordnung kann also insbesondere im Arbeitsvertrag oder durch Ausübung des Direktionsrechts (bspw. im Beamtenverhältnis durch dienstliche Anordnung) kraft der Organisationsgewalt des Arbeitgebers oder Dienstherrn vorgenommen werden. Die Zuordnung zu einer ersten Tätigkeitsstätte muss dabei nicht ausdrücklich erfolgen. Sie setzt auch nicht voraus, dass sich der Arbeitgeber der steuerrechtlichen Folgen dieser Entscheidung bewusst ist. Wird der Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber einer betrieblichen Einrichtung zugeordnet, weil er dort seine Arbeitsleistung erbringen soll, ist diese Zuordnung aufgrund der steuerrechtlichen Anknüpfung an das Dienst- oder Arbeitsrecht vielmehr auch steuerrechtlich maßgebend. Deshalb bedarf es neben der arbeitsrechtlichen Zuordnung zu einer betrieblichen Einrichtung keiner gesonderten Zuweisung zu einer ersten Tätigkeitsstätte für einkommensteuerrechtliche Zwecke. Denn der Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung des steuerlichen Reisekostenrechts auch das Auseinanderfallen der arbeitsrechtlichen von der steuerrechtlichen Einordnung bestimmter Zahlungen als Reisekosten verringern (BT-Drs. 17/10774, Seite 15). Entscheidend ist, ob der Arbeitnehmer aus der ex-ante-Sicht nach den arbeits- oder dienstrechtlichen Festlegungen an einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten tätig werden sollte.
402. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Einzelfall ist der Beklagte zu Unrecht davon ausgegangen, dass die [Ausbildungsstätte] im Streitjahr die erste Tätigkeitsstät te der Kläger war.
41a) Bei der [Ausbildungsstätte] handelt es sich – was zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit steht – um eine ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers der Kläger.
42b) Entgegen der Ansicht des Beklagten waren die Kläger der [Ausbildungsstätte] aber nicht dauerhaft zugeordnet. Es liegen weder dauerhafte dienst- oder arbeitsrechtliche Festlegungen vor (aa) noch kann anhand von quantitativen Erwägungen von einer dauerhaften Zuordnung ausgegangen werden (bb).
43aa) Der Dienstherr der Kläger hat diese zwar im Wege der Versetzung der [Ausbildungsstätte] zugeordnet und damit eine dienstrechtliche Festlegung des Tätigkeitsortes vorgenommen. Nach § 25 Abs. 1 LBG NRW in der im Streitjahr gültigen Fassung ist eine Versetzung die auf Dauer angelegte Übertragung eines anderen Amtes bei einer anderen Dienststelle bei demselben oder einem anderen Dienstherrn. Im Zeitpunkt der Versetzung der Kläger galt jedoch noch das LGB NRW in der Fassung vom 21. April 2009. Dies differenzierte zwischen einer nur vorübergehenden Abordnung (§ 24) und der Versetzung (§ 25), wobei der Gesetzestext in § 25 keine zeitliche Komponente wie in der späteren Fassung enthielt. Gleichwohl ist die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung auch in der alten Gesetzesfassung von der Dauerhaftigkeit der Versetzung ausgegangen und hat ausgeführt, dass sich Abordnung und Versetzung aufgrund ihres Charakters als vorläufige und dauerhafte Maßnahme in ihren Auswirkungen auf das statusrechtliche Amt des Beamten unterscheiden. Eine Abordnung lasse das Amt im statusrechtlichen Sinne unberührt und übertrage dem Beamten nur ein anderes Amt im konkret-funktionellen Sinne (einen Dienstposten). Die Versetzung eines Beamten bedeute hingegen die Übertragung eines anderen Amtes im abstrakt-funktionellen Sinne (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20 April 1977 VI C 154.73, juris; Verwaltungsgericht Aachen, Beschluss vom 4. Juli 2014 1 L 412/14, Der Öffentliche Dienst –DÖD – 2014, 281 m.w.N.).
44Grundsätzlich soll nach der beamtenrechtlichen Konzeption der Einzelne entweder im Rahmen einer kurzfristigen, vorübergehenden Abordnung eingesetzt werden oder durch eine dauerhafte Versetzung Rechtssicherheit für den Beamten geschaffen werden. In der Praxis wird die vorgesehene gesetzliche Trennung zwischen den beamtenrechtlichen Rechtsinstituten aber nicht immer eingehalten, sodass es – wie im vorliegenden Fall – auch zu zeitlich befristeten Versetzungen kommen kann. Dabei tritt das Interesse des Dienstherrn an größtmöglicher Flexibilität in der Einsetzung seiner Bediensteten diametral dem Interesse der Bediensteten an Planungssicherheit entgegen. Dies führt jedoch nicht dazu, dass die beamtenrechtliche Konzeption, die grundsätzlich zwischen dauerhaft und vorübergehend unterscheidet und eine Versetzung als dauerhaftes Rechtsinstitut begreift, auch dann auf die steuerrechtliche Beurteilung durchschlägt, wenn der Bedienstete – entgegen der ursprünglichen Konzeption – von vornherein nur zeitlich begrenzt versetzt wird (ebenso für den umgekehrten Fall der Abordnung „bis auf Weiteres“, vgl. Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 15. Juli 2021 7 K 603/19 EFG 2021, 2044).
45Danach liegen trotz der vom Dienstherrn jeweils gewählten Versetzung bei beiden Klägern keine dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen bzw. ausfüllende Absprachen und Weisungen des Dienstherrn im Sinne des § 9 Abs. 4 Satz 2 EStG vor, aus denen hervorgeht, dass die Kläger dauerhaft ihren Dienst am [Ausbildungsstätte] in T verrichten sollten. Auch liegen die Voraussetzungen für die gesetzliche Regelvermutung nach § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG nicht vor.
46Nach der Festlegung des Dienstherrn sollten die Kläger zunächst jeweils nur vorübergehend – für den Zeitraum von 4 Jahren – und damit nur für einen Zeitraum von 48 Monaten und nicht von mehr als 48 Monaten – ihren Dienst am [Ausbildungsstätte] in T verrichten. Dies folgt aus den Stellenausschreibungen und dem zugrundeliegenden Erlass […], dem zu entnehmen ist, dass die Dozenten in der praktischen Aus- und Fortbildung stets rotieren sollen um die Praxisnähe nicht zu verlieren. Die nachfolgenden mehrfachen Verlängerungen der „Verwendungszeiträume“ beider Kläger durch den Dienstherrn um jeweils zwei Jahre ändern nichts daran, dass es keine dauerhaften Festlegungen auf das [Ausbildungsstätte] in T als Tätigkeitsstätte durch den Dienstherrn gab.
47bb) Entgegen der Ansicht des Beklagten kann das [Ausbildungsstätte] in T auch nicht nach § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG hilfsweise aus quantitativen Erwägungen als erste Tätigkeitsstätte angesehen werden. Zwar trifft es zu, dass der Kläger im Streitjahr 2020 bereits seit mehr als acht Jahren und die Klägerin seit mehr als neun Jahren typischerweise mehrmals in der Woche in T tätig waren. Nach dem Wortlaut von § 9 Abs. 4 Satz 4 EStG müssen diese Voraussetzungen aber dauerhaft gegeben sein, wobei der Senat unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/10774, Seite 15) davon ausgeht, dass die Beurteilung – wie auch bei § 9 Abs. 4 Satz 2 EStG – auf Grundlage einer ex-ante Perspektive und nicht auf Grundlage einer ex-post Perspektive, also im Nachhinein, vorzunehmen ist (Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 14. Juni 2022 13 K 82/21, EFG 2022, 1902; wohl auch: BMF, 25. November 2020, IV C 5-S 2353/19/10011:006, FMNR5cb000020, Rn. 26, Rn. 15 und insbesondere Rn. 19 für den Fall einer sog. Kettenabordnung, wenn die einzelne Abordnung jeweils einen Zeitraum von höchstens 48 Monaten umfasst). Aus einer ex-ante Perspektive sollten die Kläger aber – wie oben ausgeführt – zu keinem Zeitpunkt, d.h. weder bei ihrer von vornherein zeitlich befristeten Versetzung, noch danach im jeweils maßgeblichen Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung, über einen Zeitraum von jeweils mehr als 48 Monaten an der [Ausbildungsstätte] in T tätig werden. Dass sie letztendlich aufgrund der mehrfachen Verlängerung im Streitjahr beide bereits seit mehr als acht bzw. neun Jahren ununterbrochen an der Bildungseinrichtung in T tätig waren, begründet für sich allein keine dauerhafte Zuordnung. Vielmehr verdeutlicht dies nur, dass de facto eine sog. Kettenabordnung vorgelegen hat, bei der der einzelne Zeitraum nie mehr als 48 Monate umfasst hat, der Dienstherr diese aber entgegen der beamtenrechtlichen Konzeption – möglicherweise aus haushalterischen Erwägungen – in das Rechtsinstitut der Versetzung gekleidet hat. Bei einer Versetzung hätte es aber der jeweiligen Verlängerungen gar nicht bedurft, da diese von Anfang an auf Dauer angelegt ist. Da es dem Dienstherrn der Kläger nach seinem Konzept aber gerade auf den flexiblen und zeitlich befristeten Einsatz an der Bildungseinrichtung ankam und dies von vornherein in aller Deutlichkeit auch den Klägern kommuniziert worden ist, schlägt der Umstand, dass das Rechtsinstitut der Versetzung gewählt worden ist, auf die steuerrechtliche Beurteilung nicht durch.
48III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
49IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
50V. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.