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Der Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung der Ablehnungsbescheide vom3. Dezember 2019 und vom 16. Dezember 2019 sowie der Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2020 verpflichtet, die Umsatzsteuer 2011 in Höhe von xxx EUR, die Umsatzsteuer 2012 in Höhe von xxx EUR und die Umsatzsteuer 2013 in Höhe von xxx EUR zu erlassen sowie Zinsen in der gesetzlichen Höhe des § 238 Abs. 1a AO auf den Gesamtbetrag in Höhe von xxx EUR seit dem 25. Februar 2021 festzusetzen und auszuzahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte zu 88 % und der Kläger zu 12 %.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob der Beklagte zu Recht einen Antrag des Klägers auf Erlass von Umsatzsteuernachforderungen und Zinsen zur Umsatzsteuer aus Billigkeitsgründen abgelehnt hat und ggf. ob und wie die zu erlassenden Beträge zu verzinsen sind.
3Der Kläger ist Land- und Forstwirt und betreibt u.a. einen gewerblichen Handel mit (Brenn-)Holz. In den Jahren 2011 bis 2013 erwarb er von verschiedenen Vorlieferanten, mit denen jeweils Nettoentgeltvereinbarungen getroffen worden waren, Holz unter Ausweis der Umsatzsteuer in den jeweiligen Rechnungen in Höhe des Regelsteuersatzes von 19 % (in 2011: xxx EUR zzgl. xxx EUR USt, in 2012: xxx EUR zzgl. xxx EUR USt und in 2013: xxx EUR zzgl. xxx EUR USt). Daneben gab es Vorlieferanten, die ihm das Holz mit dem ermäßigten Steuersatz in Höhe von 7 % oder aber von 5,5 % in Rechnung stellten. Der Kläger veräußerte und lieferte in der Folge das Holz als Brennholz an seine Kunden unter Ausweis des ermäßigten Steuersatzes von 7 %, ohne eine eigene Verarbeitung vorgenommen zu haben. Das Holz wurde lediglich durch die seitens des Klägers beauftragten Fuhrunternehmen für den Transport an die Endkunden bei der Beladung der LKW im Wald auf entsprechende Längen gekürzt.
4Sämtliche Vorlieferanten erklärten jeweils die Umsätze und führten die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer ab. Der Kläger selbst erklärte Ausgangsumsätze zu 7 % und brachte seinerseits den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen jeweils in der Höhe in Abzug, in der die Umsatzsteuer offen ausgewiesen war (19 %, 7 % oder 5,5 %).
5Im Rahmen einer Betriebsprüfung durch das Finanzamt für Groß- und Konzernbetriebsprüfung I im Jahr 2016 vertrat die Prüferin die Auffassung, dass die Beantwortung der Frage, ob ermäßigt zu besteuerndes Brennholz vorliege, sich danach entscheide, ob nach seinem Zustand und seiner Aufmachung im Zeitpunkt des Verkaufs aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers üblicherweise auf eine Verwendung als Brennholz zu schließen sei. Danach dürfte der Verkauf von Stammholz-Abschnitten regelmäßig dem Regelsteuersatz unterliegen, auch wenn der Käufer beabsichtige, dieses Holz als Brennholz zu verwenden. Aus den Rechnungen gingen keine genauen Angaben zum Zustand und der Aufmachung des Holzes hervor. Es werde davon ausgegangen, dass das Holz, welches mit dem Regelsteuersatz von 19 % erworben worden sei, ohne Bearbeitung auch nur mit dem Regelsteuersatz von 19 % verkauft werden könne. Soweit der Wareneinkauf des Klägers unter Ausweis des Regelsteuersatzes erfolgt war (59 % des Wareneinkaufs in 2011, 71 % in 2012 und 79 % in 2013) unterwarf die Prüferin den entsprechenden Prozentsatz der Ausgangsumsätze des Klägers dem Regelsteuersatz, im Übrigen beließ sie es bei der Besteuerung der Ausgangsumsätze zum ermäßigten Steuersatz. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Bp-Bericht vom 6. Juni 2016, insbesondere Tz. 2.2, Bezug genommen.
6Zur Umsetzung der Feststellungen der Betriebsprüfung erließ der Beklagte am 1. September 2016 geänderte Umsatzsteuerbescheide sowie Zinsbescheide zur Umsatzsteuer. Für 2011 wurde die Umsatzsteuer in Höhe von xxx EUR und Zinsen zur Umsatzsteuer in Höhe von xxx EUR, für 2012 wurde die Umsatzsteuer in Höhe von xxx EUR und Zinsen zur Umsatzsteuer in Höhe von xxx EUR und für 2013 wurde die Umsatzsteuer in Höhe von xxx EUR sowie Zinsen zur Umsatzsteuer in Höhe von xxx EUR festgesetzt. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde jeweils aufgehoben. Der Kläger legte gegen sämtliche Bescheide Einspruch ein. Im Einspruchsverfahren verböserte der Beklagte die Festsetzungen für 2011 (auf xxx EUR) und für 2012 (auf xxx EUR), da er nunmehr auch die klägerischen Ausgangsumsätze der unter Ausweis einer Umsatzsteuer in Höhe von 5,5 % von ihm bezogenen Holzlieferungen dem Regelsteuersatz unterwarf. Im sich hieran anschließenden Klageverfahren vor dem Finanzgericht (FG) Münster (Az.:15 K 2794/17 U) bestätigte der Senat im Urteil vom 2. Juli 2019 zwar die Auffassung des Klägers, wonach die strittigen Ausgangsumsätze dem ermäßigten Steuersatz unterlägen. Der Senat vertrat indes aber zugleich die Auffassung, dass auch die Eingangsleistungen, die bislang unter Anwendung und Ausweis des Regelsteuersatzes vom Kläger erworben worden waren, nur dem ermäßigten Steuersatz in Höhe von 7 % unterlägen und er dementsprechend nur einen Vorsteuerabzug in dieser Höhe in Abzug bringen könne, weil nur insoweit eine gesetzlich geschuldete Steuer vorliege. Hierdurch ergab sich eine Vorsteuerkürzung in Höhe von xxx EUR in 2011, xxx EUR in 2012 und xxx EUR in 2013 (insgesamt: xxx EUR, vgl. Seite 21 des Urteils in der Sache 15 K 2794/17 U). Der Senat lehnte die vom Kläger beantragte Beiladung der Vorlieferanten hinsichtlich der Frage des Vorliegens von Rechnungen gemäß § 14c Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) ab und änderte die Umsatzsteuerbescheide 2011, 2012 und 2013 dahingehend, dass die Umsatzsteuer für 2011 auf xxx EUR, für 2012 auf xxx EUR und für 2013 auf xxx EUR festgesetzt wurde. Das Urteil wurde rechtskräftig. In den Urteilsgründen führte der Senat aus, dass im Festsetzungsverfahren nicht geklärt werden könne, ob dem Kläger – ggf. auch nur teilweise – ein Anspruch auf Vorsteuerabzug aus den strittigen Rechnungen im Billigkeitswege unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung – HFR – 2007, 515; EuGH, Urteil vom 26. April 2017, Rs. C-564/15, Farkas, HFR 2017, 552; zur verfahrensrechtlichen Umsetzung nach deutschem Recht vgl. die Urteile des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 30. Juni 2015, VII R 42/14, juris, und ebenfalls vom 30. Juni 2015, VII R 30/14, Entscheidungen des Bundesfinanzhofs – BFHE – 250, 34, HFR 2015, 999) zustehe, sofern seine Vorlieferanten eine Korrektur des Umsatzsteuer-Ausweises in den Eingangsrechnungen des Klägers verweigerten, da der Beklagte bislang – mangels Antrags des Klägers – noch nicht über einen Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren entschieden habe. Bezüglich der Einzelheiten wird auf das Urteil des Senats vom 2. Juli 2019 (15 K 2794/17 U) Bezug genommen.
7In Umsetzung des Urteils vom 2. Juli 2019 forderte der Beklagte Umsatzsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 in Höhe der im Urteil ausgeführten Vorsteuerkürzungen (2011: xxx EUR; 2012: xxx EUR; 2013: xxx EUR) nach und setzte mit Bescheiden vom 30. September 2019 Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 (2011: xxx EUR; 2012: xxx EUR; 2013: xxx EUR) fest. Dies führte hinsichtlich der Zinsen zu Nachforderungsbeträgen in Höhe von xxx EUR (2011), xxx EUR (2012) und xxx EUR (2013).
8Der Kläger wandte sich in der Folge an seine Vorlieferanten, die das Holz mit 19 % in Rechnung gestellt hatten, mit der Bitte, die Rechnungen ihm gegenüber zu berichtigen und den Differenzbetrag auszuzahlen. Sämtliche Vorlieferanten beriefen sich gegenüber dem Kläger hinsichtlich der von ihm geltend gemachten Ansprüche auf Berichtigung der Rechnungen und Rückzahlung des Differenzbetrags auf die zivilrechtliche Einrede der Verjährung. Die Rechnungen wurden nicht berichtigt und der Kläger erhielt auch den Differenzbetrag zwischen der tatsächlich ausgewiesenen und gezahlten und der gesetzlich geschuldeten Umsatzsteuer nicht von den Vorlieferanten zurück.
9Daraufhin stellte der Kläger mit Schreiben vom 24. Oktober 2019 einen Antrag beim Beklagten, ihm die nachgeforderte Umsatzsteuer und die festgesetzten Zinsen zur Umsatzsteuer (Gesamtbeträge 2011: xxx EUR; 2012: xxx EUR; xxx EUR) im Wege der Billigkeit gem. §§ 163, 227 Abgabenordnung (AO) zu erlassen. Dabei nahm er ausdrücklich Bezug auf den vom EuGH entwickelten Direktanspruch (EuGH, Urteile vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41; vom 26. April 2017, Rs.C-564/15, Farkas, EU:C:2017:302, Rn. 53; vom 11. April 2019, Rs. C-691/17, PORR, ECLI:EU:C:2019:327, Rn. 42; vom 10. Juli 2019, Rs. C-273/18, Kursu zeme, ECLI:EU:C:2019:588, Rn. 41). Zur Begründung trug er vor, dass in Höhe der zu viel ausgewiesenen und nicht gesetzlich geschuldeten Umsatzsteuer nebst Zinsen eine ungerechtfertigte Bereicherung des Staates zu Lasten des Klägers vorliege. Der Staat habe zum einen die aus den Lieferumsätzen resultierende Umsatzsteuer in Höhe von 19 % vereinnahmt, müsse aber gleichzeitig dem Kläger nur eine Vorsteuer in Höhe von 7 % anrechnen. Zudem sei die zu viel abgezogene Umsatzsteuer verzinst worden.
10Der Beklagte lehnte die Anträge „auf Erlass“ gem. § 163 AO und gem. § 227 AO mit Bescheiden vom 3. Dezember 2019 und vom 16. Dezember 2019 ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen an, dass der Kläger für die Situation selbst verantwortlich sei. Er hätte bei gesetzestreuem Verhalten die unveränderte Ware nicht mit einem veränderten Steuersatz weiterveräußern dürfen. Er hätte die Eingangsrechnungen zeitnah berichtigen lassen müssen.
11Die hiergegen gerichteten Einsprüche wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2020 als unbegründet zurück und wiederholte u.a. die Argumente aus den Ablehnungsbescheiden. Zwar hätte eine unsichere Rechtslage bestanden, ob die Ausgangsumsätze mit 19 % oder mit 7 % zu besteuern seien, der Kläger hätte aber bereits vor der Betriebsprüfung die Rechnungsaussteller bitten müssen, die Rechnungen mit unzutreffendem Steuerausweis zu berichtigen. Die jetzt eingetretene Verjährung für die Rechnungsberichtigung könne nicht durch einen Billigkeitserlass ausgeglichen werden.
12Eine Prüfung der Voraussetzungen des vom Kläger geltend gemachten Direktanspruchs nach der Rechtsprechung des EuGH erfolgte nicht. Bezüglich der Einzelheiten der Begründung wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen.
13Am 17. August 2020 hat der Kläger Klage erhoben.
14Der Senat hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Vorabentscheidung zur Klärung folgender Frage ersucht (FG Münster, EuGH-Vorlage vom 27. Juni 2022, 15 K 2327/20 AO, Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2022, 1577):
15„Gebieten die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112/EG – insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie der Effektivitätsgrundsatz – unter den Umständen des Ausgangsverfahrens, dass dem Kläger ein Anspruch auf Erstattung der von ihm an seine Vorlieferanten zu viel gezahlten Mehrwertsteuer einschließlich der Zinsen unmittelbar gegen die Finanzbehörde zusteht, auch wenn noch die Möglichkeit besteht, dass die Finanzbehörde durch die Vorlieferanten aufgrund einer Berichtigung der Rechnungen zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommen wird und dann – möglicherweise – nicht mehr Rückgriff beim Kläger nehmen kann, sodass die Gefahr besteht, dass die Finanzbehörde dieselbe Mehrwertsteuer zweimal erstatten muss?“
16Hierzu hat der EuGH mit seinem Urteil vom 7. September 2023 (C-453/22, ECLI:EU:C:2023:639) wie folgt geantwortet:
17„Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz sind dahin auszulegen, dass sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen. Wird die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet, ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der dieser zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen.“
18Der Kläger meint, ihm stehe ein Direktanspruch gegen den Beklagten auf Erlass der gekürzten Vorsteuern nebst den festgesetzten Zinsen im Billigkeitswege gem. §§ 163, 227 AO zu. Das Ermessen des Beklagten sei auf Null reduziert.
19Der Kläger nimmt zur Begründung Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteile vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41; vom 26. April 2017, Rs. C-564/15, Farkas, EU:C:2017:302, Rn. 53; vom 11. April 2019, Rs. C-691/17, PORR, ECLI:EU:C:2019:327, Rn. 42; vom 10. Juli 2019, Rs. C-273/18, Kursu zeme, ECLI:EU:C:2019:588, Rn. 41; und vom 7. September 2023, Rs. C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639). Weil die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (nachfolgend: MwStSystRL) keine eigenen Bestimmungen über die Berichtigung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer enthalte, sei es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden könne. Dabei habe der EuGH bereits ausdrücklich einen Mechanismus gebilligt, wonach – wie in Deutschland – dem Leistenden ein Erstattungsanspruch gegen die Finanzbehörde eingeräumt und der Leistungsempfänger auf den Zivilrechtsweg zur Geltendmachung seines Anspruchs auf Rückzahlung der zu Unrecht gezahlten Mehrwertsteuer verwiesen werde. In Ausnahmefällen bestehe jedoch ein unmittelbarer Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde, wenn die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert werde (EuGH, Urteil vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 38, 39, 41).
20So liege der Fall hier. Ihm, dem Kläger, sei die Durchsetzung seines Verlangens auf Erstattung der Mehrwertsteuer von seinen Lieferanten übermäßig erschwert worden. Die zivilrechtlichen Ansprüche auf Berichtigung der Rechnungen und Erstattung der zu viel gezahlten Mehrwertsteuer gegen die verschiedenen Vorlieferanten seien verjährt und die Vorlieferanten würden auch die zivilrechtliche Einrede der Verjährung erheben.
21Der EuGH habe auf das Vorlageersuchen des Senats in seiner Entscheidung vom7. September 2023 (Rs. C-453/22, Schütte) in Rn. 25 festgestellt, dass eine nationale Regelung oder Praxis, die dazu führe, dass dem Erwerber von Gegenständen die Erstattung der Vorsteuer versagt werde, die ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt worden sei und die er zu viel an seine Lieferer gezahlt habe, nicht nur als Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und den Effektivitätsgrundsatz erscheine, sondern auch unverhältnismäßig sei, wenn es ihm allein aufgrund der Einrede der Verjährung, die diese Lieferer ihm gegenüber erheben würden, unmöglich sei, von diesen diese Erstattung einzufordern, während ihm weder Betrug noch Missbrauch oder nachweisliche Fahrlässigkeit vorzuwerfen seien.
22Ihm, dem Kläger, sei insbesondere auch keine Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Nach dem Urteil des FG Münster vom 2. Juli 2019 habe er seine jeweiligen Vorlieferanten, die den Regelsteuersatz in Rechnung gestellt hätten, allesamt kontaktiert und um Rechnungsberichtigung und Rückerstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer gebeten. Sämtliche Vorlieferanten hätten aber die zivilrechtliche Einrede der Verjährung erhoben. Einer vor Ergehen des Urteils vom 2. Juli 2019 seitens der Vorlieferanten beantragten Berichtigung der Rechnungen über die Holzlieferungen an den Kläger mit Ausweis von 7 % statt 19 % gesetzlicher Umsatzsteuer hätte die Finanzverwaltung angesichts der Vehemenz des bis zum Schluss im Verfahren 15 K 2794/17 U vertretenen Standpunkts, wonach die Lieferungen des Holzes mit 19 % zu besteuern seien, ohnehin nicht zugestimmt.
23Der Anspruch auf Erlass der zu viel bezahlten Umsatzsteuer erstrecke sich auch auf die festgesetzten Zinsen. Auch insoweit sei eine ungerechtfertigte Bereicherung zugunsten des Fiskus eingetreten. Der EuGH leite den Direktanspruch aus dem Neutralitätsgrundsatz ab und wolle durch den Direktanspruch die beim Steuerpflichtigen ausgelöste und getragene wirtschaftliche Belastung neutralisieren. Wegen der nicht möglichen Erstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer durch die Vorlieferanten sei der Kläger auch durch die nach § 233a AO festgesetzten Zinsen wirtschaftlich belastet. Der Beklagte habe keinen Schaden, da er die dem Vorsteuerabzug entsprechende Umsatzsteuer (zeitgleich) bereits vereinnahmt habe. Verzinst werden könnten nach § 233a AO nur Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. Mit Erlass der aufgrund der Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung zurückgeforderten Vorsteuerbeträge sei der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis insoweit gem. § 47 AO erloschen. Mangels bestehenden Steuerschuldverhältnis entfalle auch die Möglichkeit einer Verzinsung gem. § 233a AO. Folglich würde der vom EuGH zuerkannte Direktanspruch auch die festgesetzten Zinsen umfassen.
24Der Direktanspruch gem. §§ 163, 227 AO löse nach Auffassung des EuGH (zusätzlich) einen Anspruch des Klägers auf Verzugszinsen in Höhe der (letztlich) zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuer und Zinsen aus. Soweit der EuGH den Beginn des Zinslaufs insoweit von einer „angemessenen Frist" abhängig mache, innerhalb derer die Finanzbehörde ohne Verzugszinsenzahlungsverpflichtung den Direktanspruch erfüllen könne, sei ein Rückgriff auf die Zinslaufregelung in § 233a Abs. 2 Satz 1 AO zu verneinen.
25Mangels eines für die Verzinsungsregelungen in §§ 233 ff. AO notwendigen Steuerschuldverhältnisses als Folge des aus §§ 163, 227 AO ableitbaren Direktanspruchs scheide ein zwingender Rückgriff auf eine 15-monatige Karenzzeit bis zum Zinslaufbeginn aus. Eine drei- bis sechsmonatige Frist scheine die für eine Erfüllung des begehrten Direktanspruchs ausreichende und angemessene Frist zu sein, die eine Prüfung der Voraussetzungen durch den Beklagten gewährleiste.
26Die Höhe des Zinssatzes sei in entsprechender Anwendung des § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in Höhe von 9 % über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank festzusetzen. Der Zinslauf beginne folglich ab dem 1. Dezember 2020, spätestens aber ab dem 1. März 2021 für sämtliche am 26. August 2020 geleisteten Rückzahlungsbeträge auf die ursprünglich zu viel abgezogene Vorsteuer inklusive der Zinsen gem. § 233a AO (insgesamt: xxx EUR) durch den Kläger.
27Sollte das Gericht die Frage der Angemessenheit dennoch in analoger Anwendung der Regelung in § 233a Abs. 2 Satz 1 AO beantworten, würde der Zinslauf für sämtliche am 26. August 2020 geleisteten Rückzahlungsbeträge (xxx EUR) am 1. April 2022 beginnen. Sollte das Gericht hinsichtlich der Zinshöhe eine analoge Anwendung der Regelung in § 247 BGB ablehnen und auch insoweit analog die Regelung in § 238 Abs. 1a AO in Betracht ziehen, sei hilfsweise ein Zinssatz i.H.v. 1,8 % p.a. anzusetzen.
28Der Kläger beantragt,
29unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide vom 3. und 16. Dezember 2019 sowie der Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2020 den Beklagten zu verpflichten, die Umsatzsteuernachforderungen für 2011 in Höhe von xxx EUR, für 2012 in Höhe von xxx EUR und für 2013 in Höhe von xxx EUR sowie die Zinsen zur Umsatzsteuer 2011 in Höhe von xxx EUR, für 2012 in Höhe von xxx EUR und für 2013 in Höhe von xxx EUR im Wege der Billigkeit zu erlassen, sowie Zinsen entsprechend § 247 BGB in Höhe von 9 % über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank auf den Gesamtbetrag in Höhe von xxx EUR ab dem 1. Dezember 2020 festzusetzen und auszuzahlen;
30hilfsweise, die Revision zuzulassen.
31Der Beklagte beantragt,
32die Klage abzuweisen;
33hilfsweise, die Revision zuzulassen.
34Zur Begründung verweist der Beklagte auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung. Der Vorsteuerabzug im Billigkeitsverfahren setze voraus, dass der Unternehmer gutgläubig gewesen sei und alle Maßnahmen ergriffen habe, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden könnten, um sich von der Richtigkeit der Angaben in den Rechnungen zu überzeugen und seine Beteiligung an einem Betrug auszuschließen.
35Im vorliegenden Fall habe der Kläger Holz mit 19 % Umsatzsteuer eingekauft und dieses dann ohne Bearbeitung mit 7 % Umsatzsteuer wiederverkauft. Der Vorlieferant hätte die Möglichkeit gehabt, die Rechnungen gem. § 14c Abs. 1 Sätze 1 und 2 UStG zu berichtigen. Die Vorsteuer hätte in der Folge gemäß § 17 Abs. 1 UStG berichtigt werden können. Die Voraussetzungen für einen Erlass im Billigkeitsverfahren würden daher nicht vorliegen.
36Im weiteren Verlauf des Verfahrens schloss sich der Beklagte der zwischenzeitlich abgestimmten Auffassung der deutschen Finanzverwaltung an, die im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 12. April 2022, III C 2-S 7358/20/10001:004, FMNR202200749, Bundessteuerblatt Teil I – BStBl I – 2022, 652 zum Ausdruck gebracht wird. Danach sei der Direktanspruch gegenüber dem Fiskus akzessorisch zu dem Anspruch des Leistungsempfängers gegenüber seinem Vertragspartner (dem Leistenden), sodass ein Direktanspruch gegenüber dem Fiskus ausscheide, wenn der Anspruch des Leistungsempfängers gegen den Leistenden aufgrund einer zivilrechtlichen Verjährung dieses Anspruchs (z. B. nach § 195 BGB) nicht mehr durchgesetzt werden könne. Ohnehin sei fraglich, ob die Ansprüche des Klägers gegen die Vorlieferanten auf Berichtigung der Rechnungen und Erstattung des Differenzbetrags bereits verjährt gewesen seien. So könne der Beginn der Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 1 BGB gehemmt gewesen sein. Nach dieser Vorschrift beginne die regelmäßige Verjährung, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt sei, mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden sei und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt habe oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Vorliegend sei es denkbar, dass der Kläger erst durch das Urteil des FG Münster vom 2. Juli 2019 (15 K 2794/17 U) zur Umsatzsteuer 2011 bis 2013 Kenntnis von seinem Anspruch auf Rechnungsberichtigung durch die endgültige Klärung des Steuersatzes erlangt habe. Dann hätte die zivilrechtliche Verjährungsfrist erst 2020 begonnen. Zudem sei denkbar, dass die Verjährung aufgrund von Verhandlungen gehemmt gewesen sei, § 203 BGB. Zugleich gehe er, der Beklagte, aber auch davon aus, dass der Kläger spätestens im Zeitpunkt der Abgabe der Steuererklärung für das Jahr 2011 im Jahr 2014 hätte bemerken müssen, dass das Holz, das er als Brennholz unter Anwendung des ermäßigten Steuersatzes an Endverbraucher verkauft habe, bereits beim Einkauf ein marktidentisches Produkt gewesen sei, das also auch beim Einkauf dem ermäßigten Steuersatz habe unterliegen müssen.
37Dem Kläger sei der Vorwurf der Fahrlässigkeit zu machen, da er Vorkehrungen zur Sicherung seiner zivilrechtlichen Ansprüche – z.B. durch rechtzeitige Einholung des Verzichts auf die Einrede der Verjährung durch die Vorlieferanten – hätte treffen müssen, was er aber nicht getan habe. Jedenfalls sei nach dem Urteil des EuGH nur der Betrag zu erstatten, der der zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer entspreche. Die festgesetzten Zinsen seien hiervon nicht erfasst.
38Durch den Beklagten sei – im Falle des Unterliegens – auch nur ein Betrag in Höhe der nicht abziehbaren Vorsteuerbeträge zu verzinsen, nicht aber die Beträge in Höhe der festgesetzten Zinsen. In Bezug auf die Höhe der Zinsen und den Zinslauf der möglichen Verzugszinsen seien § 233a AO und § 238 Abs. 1a AO analog anzuwenden.
39Der Kläger hat während des Klageverfahrens am 25. August 2020 die Überweisung der Beträge zur Tilgung der offenen Forderungen des Beklagten aus der ursprünglich zu viel abgezogenen Vorsteuer inklusive der Zinsen in Höhe von insgesamt xxx EUR (vgl. insoweit den Abrechnungsteil der auf der Grundlage des Urteils vom 2. Juli 2019 zum Az. 15 K 2794/17 U vom Beklagten erlassenen Umsatzsteuerbescheide für 2011 bis 2013 vom 30. September 2019) angewiesen. Der Betrag ging am 26. August 2020 auf dem Konto des Beklagten ein.
40Es wird Bezug genommen auf die vom Beklagten übermittelten Verwaltungsvorgänge sowie die beigezogene Gerichtsakte zu dem Verfahren 15 K 2794/17 U. Am 20. Dezember 2021 hat ein Erörterungstermin vor dem Berichterstatter stattgefunden. Am 23. Januar 2023 ist vor dem Senat mündlich verhandelt worden. Auf die Protokolle wird Bezug genommen.
41Entscheidungsgründe
42A. Die Klage ist zulässig und überwiegend begründet. Die angefochtenen Ablehnungsbescheide vom 3. Dezember 2019 und vom 16. Dezember 2019 sowie die Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2020 sind im Hinblick auf den Erlass der Umsatzsteuerforderungen rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null einen Anspruch auf Erlass der Umsatzsteuer 2011 bis 2013 aus Billigkeitsgründen in Höhe der Vorsteuerkürzungen aus den Eingangsrechnungen der Lieferanten (I.). Hinsichtlich der Verzinsung ist die Klage nur teilweise begründet, da der zu erlassene Betrag in Höhe von insgesamt xxx EUR – abweichend vom Klagebegehren – erst seit dem 25. Februar 2021 und nur in gesetzlicher Höhe (§ 238 Abs. 1a AO) zu verzinsen ist (II.). Im Übrigen, nämlich soweit der Kläger den Erlass und die Verzinsung der ihm gegenüber festgesetzten und gezahlten Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 2011 bis 2013 beantragt, ist die Klage unbegründet (III. und IV.).
43I. Erlass der Umsatzsteuernachforderungen 2011 bis 2013
44Der Kläger hat einen Anspruch auf Erlass des streitigen Umsatzsteuer 2011 bis 2013 nach § 227 AO bzw. auf entsprechende abweichende Festsetzung der Umsatzsteuer nach § 163 AO aus Billigkeitsgründen in der beantragten Höhe von xxx EUR (2011), xxx EUR (2012) und xxx EUR (2013), § 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
451. Nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und einzelne steuererhöhende Besteuerungsgrundlagen können unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Unter den gleichen Voraussetzungen können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nach § 227 AO ganz oder zum Teil erlassen. Dies betrifft auch Nachzahlungszinsen (vgl. § 233a Abs. 8 Satz 4 AO klarstellend eingefügt durch das Zweite Gesetz zur Änderung der AO und der EGAO mit Wirkung zum 22. Juli 2022, Bundesgesetzblatt Teil I – BGBl I – 2022,1142; zuvor bereits ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Urteile vom 24. Juli 1996, X R 23/94, Sammlung nicht amtlich veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 1997, 92; und vom 3. Dezember 2019, VIII R 25/17, Bundessteuerblatt Teil II – BStBl II – 2020, 214). Die Entscheidung über den auf eine dieser Maßnahmen oder auf beide Maßnahmen abzielenden Antrag des Steuerpflichtigen ergeht in einem gesonderten, vom Festsetzungsverfahren unabhängigen Verwaltungsverfahren durch einen gesonderten Verwaltungsakt i.S.d. § 118 AO (BFH, Beschluss vom 12. Juli 2012, I R 32/11, BStBl. II 2015, 175; BFH, Urteil vom 3. August 1983, II R 144/80, BStBl. II 1984, 321; siehe auch Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 13. März 2023, 6 K 1284/21, juris). Die nach § 163 AO und § 227 AO zu treffende Billigkeitsentscheidung ist eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde, die grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegt (§ 102 FGO). Die ablehnende Entscheidung der Finanzbehörde kann im finanzgerichtlichen Verfahren nur daraufhin überprüft werden, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (ständige Rechtsprechung, vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 19. Oktober 1971, GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603; BFH, Urteile vom 10. Oktober 2001, XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201; vom 7. Oktober 2010, V R 17/09, BFH/NV 2011, 865; vom 6. September 2011, VIII R 55/10, BFH/NV 2012, 269). Stellt das Gericht eine Ermessensüberschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine einzige Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt, sog. Ermessensreduzierung auf Null, ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen und eine Verpflichtung zum Erlass auszusprechen (vgl. z. B. BFH, Urteile vom 17. Dezember 2013, VII R 8/12, BFHE 244, 184; vom 10. Oktober 2001, XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201).
46a) Die Erhebung von Steuern und steuerlichen Nebenleistungen ist grundsätzlich nicht unbillig. Die Unbilligkeit stellt vielmehr die Ausnahme dar. Darum können Härten, die im Gesetz selbst liegen und jeden Einzelfall gleichermaßen treffen, in der Regel nicht durch Billigkeitsmaßnahmen ausgeglichen werden. Die Frage, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, muss unter gegenseitiger Abwägung der schutzwürdigen Interessen der öffentlichen Hand an der gleichmäßigen Einziehung der fälligen Steuerschulden auf der einen und des Steuerpflichtigen auf der anderen Seite beantwortet werden (BFH, Urteil vom 21. Februar 1991, V R 105/84, BStBl II 1991, 498). Dabei sind auch höherrangige Rechtsvorschriften wie das Unionsrecht und seine Wertungen zu berücksichtigen. Als Ergebnis dieser Abwägung kann die Erhebung der Steuer im Einzelfall aus sachlichen Erwägungen heraus unbillig sein (sog. sachliche Unbilligkeit), wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – hätte er sie geregelt – im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH, Urteile vom 26. Oktober 1972, I R 125/70, BStBl. II 1973, 271; und vom 27. Mai 2004, IV R 55/02, BFH/NV 2004, 1555) oder wenn die Erhebung der Steuer den Wertungen des Gesetzes oder des Unionsrechts widerspricht (BFH, Urteil vom 23. September 2004, V R 58/03, BFH/NV 2005, 825), wobei eine Gesamtbeurteilung aller für den Einzelfall maßgeblichen Normen anzustellen ist (BFH, Urteil vom 26. Oktober 1994, X R 104/92, BStBl II 1995, 297).
47b) Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine sachliche Unbilligkeit in diesem Sinne gegeben, wenn und soweit die Tatbestandsvoraussetzungen des vom EuGH entwickelten sog. Reemtsma-Direktanspruchs vorliegen. Ein solcher Anspruch ist nicht im Festsetzungsverfahren, sondern im Wege eines Antrags auf abweichende Festsetzung oder Erlass aus Billigkeitsgründen geltend zu machen (BFH, Urteile vom 30. Juni 2015, VII R 30/14, BStBl II 2022, 246; vom 30. Juni 2015, VII R 42/14, n. v. juris; vom 22. August 2019, V R 50/16, BStBl. II 2022, 290; die Finanzverwaltung hat sich der vom BFH vertretenen Auffassung angeschlossen, vgl. Bundesministerium der Finanzen, Schreiben vom 12. April 2022, III C 2-S 7358/20/10001:004, FMNR202200749, BStBl I 2022, 652).
48c) Nach der Rechtsprechung des EuGH stellt der Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Mehrwertsteuer einen Fundamentalgrundsatz des harmonisierten Mehrwertsteuersystems dar. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität findet seine Ausgestaltung in der systematischen Festlegung, dass die Mehrwertsteuer letztlich nur den privaten Verbrauch besteuern will und der Leistende als Steuerpflichtiger nur als Steuereinnehmer des Staates fungiert, der die Mehrwertsteuer schuldet, obwohl diese als Verbrauch-steuer letztlich vom Endverbraucher getragen wird (EuGH, Urteil vom 21. Februar 2008, Rs. C-271/06, Netto Supermarkt, ECLI:EU:C:2008:105, Rn. 21). Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität besagt, dass die Belastung mit Mehrwertsteuer für den Leistenden grundsätzlich neutral bleiben muss, sie also nicht zu einem wettbewerbsbeeinflussenden Faktor werden darf (EuGH, Urteil vom 21. März 2000, Rs. C-110/98, Gabalfrisa SI u.a., ECLI:EU:C:2000:145, Rn. 44f). Der ebenfalls zu beachtende Grundsatz der Effektivität besagt, dass die nationalen Verfahrensvorschriften nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Ausübung unionsrechtlich gewährleisteter Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (EuGH, Urteil vom 26. April 2018, Rs.C-81/17, Zabrus Siret, ECLI:EU:C:2018:283, Rn. 38).
49Da die MwStSystRL keine Bestimmungen über die Berichtigung von zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer durch den Aussteller der Rechnung enthält, ist es nach Auffassung des EuGH unter Beachtung des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten grundsätzlich Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaates, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer berichtigt werden kann. Dabei hat der EuGH bereits ausdrücklich einen Mechanismus gebilligt, wonach – wie in Deutschland – dem Leistenden ein Erstattungsanspruch gegen die Finanzbehörde eingeräumt wird und der Leistungsempfänger auf den Zivilrechtsweg zur Geltendmachung seines Anspruchs auf Rückzahlung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und gezahlten Mehrwertsteuer gegen den Leistenden verwiesen wird (EuGH, Urteil vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 38 und 39).
50Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht aber in Ausnahmefällen – unter Beachtung des Grundsatzes der Effektivität – ein unmittelbarer Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers gegen die Finanzbehörde, der als sog. Reemtsma-Direktanspruch bezeichnet wird. Voraussetzung hierfür ist, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer für den Leistungsempfänger vom Leistenden unmöglich oder übermäßig erschwert wird (EuGH, Urteil vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41). Hierzu müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Leistungsempfänger ermöglichen, zu Unrecht in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer erstattet zu bekommen (EuGH, Urteil vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41). Auf das Vorabentscheidungsersuchen des erkennenden Senats im vorliegenden Klageverfahren hat der EuGH in seinem Urteil vom 7. September 2023 (Rs.C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639) die Voraussetzungen für den Direktanspruch weiter konkretisiert und entschieden, dass die MwStSystRL sowie der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen (siehe 2a) ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer (siehe 2b), die er an seine Lieferer gezahlt hat (siehe 2c) und die diese an die Staatskasse abgeführt haben (siehe 2d), einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können (siehe 2g), diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung (siehe 2e) nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann (siehe 2f) und zum anderen formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen.
512. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.
52a) Der Kläger ist der Empfänger von Lieferungen von Gegenständen, weil er von den Vorlieferanten Holz gekauft und erhalten hat.
53b) Dem Kläger wurden für diese Lieferungen durch seine Vorlieferanten zu Unrecht zu viel Umsatzsteuer in Rechnung gestellt, denn seine Vorlieferanten haben in den Rechnungen an ihn unzutreffenderweise den Regelsteuersatz und nicht – wie es richtig gewesen wäre (vgl. FG Münster, Urteil vom 2. Juli 2019, 15 K 2794/17 U, juris) – den ermäßigten Steuersatz angewendet und die Umsatzsteuer in Höhe von 19 % des vereinbarten Nettoentgelts offen ausgewiesen.
54c) Der Kläger hat die Rechnungen der Vorlieferanten einschließlich der zu hoch ausgewiesenen Umsatzsteuer bezahlt.
55d) Die Vorlieferanten haben – ebenfalls unstreitig – ihrerseits die erhöhten Umsatzsteuerbeträge in ihren Umsatzsteuererklärungen angegeben und auch an den Fiskus abgeführt.
56e) Die Ansprüche des Klägers gegen die Vorlieferanten auf Berichtigung der Rechnungen und Erstattung des zu viel gezahlten Umsatzsteuerbetrags sind spätestens seit dem 1. Januar 2017 verjährt, §§ 195, 199 Abs. 1 BGB.
57Mangels Eingreifens der besonderen Tatbestände der §§ 196, 197 BGB unterliegen die Ansprüche der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB (BFH, Urteil vom 19. Mai 1993, V R 110/88, BFHE 172, 163, BStBl II 1993, 779; Bundesgerichtshof – BGH –, Urteil vom 2. Dezember 1992, VIII ZR 50/92, HFR 1994, 43, wobei die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB a.F. seinerzeit noch 30 Jahre betrug vor der Änderung des § 195 BGB durch das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz vom 26. November 2001, BGBl I 2001, 3138, mit Wirkung ab dem 1. Januar 2002). Gem. § 199 Abs. 1 BGB beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen.
58aa) Die zivilrechtlichen Ansprüche des Klägers (zur Inanspruchnahme auf Ausstellung einer Rechnung nach § 14 Abs. 1 UStG: BGH, Urteil vom 11. Dezember 1974, VIII ZR 186/73, NJW 1975, 310) auf Berichtigung der zuvor unrichtig ausgestellten Rechnungen mit dem ermäßigten Steuersatz anstelle des Regelsteuersatzes gegen die Vorlieferanten sind jeweils bereits in den Jahren 2011, 2012 und 2013 entstanden. Ein solcher Anspruch, der auf einer durch § 14 Abs. 2 UStG angeordneten Nebenpflicht aus dem zu Grunde liegenden Schuldverhältnis beruht (BFH, Urteil vom 4. März 1982, V R 59/81, BFHE 135, 130, BStBl II 1982, 315, Rn. 16; Scharpenberg in: Hartmann/Metzenmacher, § 14 UStG, Rn. 203 m.w.N.), entsteht bei Leistungen, die jedenfalls unzweifelhaft umsatzsteuerbar sind, im Zeitpunkt der Erteilung der unrichtigen Rechnung. Ein Anspruch auf Erstattung des auf die unrichtigen Rechnungen zu viel gezahlten Umsatzsteuerbetrags folgt aus dem Bereicherungsrecht (siehe z.B.: BGH, Urteil vom 20. Februar 2019, VIII ZR 7/18, BGHZ 221, 145) und entsteht, wenn der Mehrbetrag gezahlt worden ist. Diese Zeitpunkte lagen jeweils unmittelbar nach der Ausführung der einzelnen Lieferungen in den Jahren 2011 bis 2013, da die Rechnungen zeitnah bezahlt worden sind, so dass die jeweilige Verjährungsfrist für die Ansprüche aus dem Zeitraum von 2011 bis 2013 nach § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB mit dem jeweiligen Schluss der Jahre 2011, 2012 und 2013 begann.
59bb) Der Kläger hatte jeweils bei Entstehung der Ansprüche Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners. Dem Kläger war eine rechtzeitige Geltendmachung der Ansprüche – zum Beispiel durch Erhebung einer zivilrechtlichen Klage – möglich und zumutbar, so dass es nicht zu einem Hinausschieben des Verjährungsbeginns gekommen ist.
60(1) Die von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB geforderte Kenntnis des Gläubigers ist vorhanden, wenn er aufgrund der ihm bekannten Tatsachen gegen eine bestimmte Person eine Klage, sei es auch nur eine Feststellungsklage, erheben kann, die bei verständiger Würdigung so viel Erfolgsaussicht hat, dass sie dem Gläubiger zumutbar ist. Die erforderliche Kenntnis setzt keine zutreffende rechtliche Würdigung voraus, es genügt vielmehr die Kenntnis der den Anspruch begründenden tatsächlichen Umstände (z. B. Bundesarbeitsgericht – BAG –, Urteile vom 13. Dezember 2007, 6 AZR 222/07, Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts – BAGE – 125, 216, Rn. 19; vom 13. März 2013, 5 AZR 424/12, BAGE 144, 322, Rn. 24; und vom 17. Dezember 2014, 5 AZR 8/13, BAGE 150, 218, Rn. 13).
61(2) Die Zumutbarkeit der Klageerhebung ist übergreifende Voraussetzung für den Verjährungsbeginn (z. B.: BGH, Urteil vom 28. Oktober 2014, XI ZR 17/14, juris, Rn. 33; BAG, Urteil vom 26. Juni 2019, 5 AZR 178/18, BAGE 167, 144, Rn. 44). Daher kann die Rechtsunkenntnis des Gläubigers den Verjährungsbeginn ausnahmsweise hinausschieben, wenn eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage vorliegt, die selbst ein rechtskundiger Dritter nicht zuverlässig einzuschätzen vermag. Entsprechendes gilt, wenn der Durchsetzung des Anspruchs eine höchstrichterliche Rechtsprechung entgegensteht (BGH, Urteil vom 28. Oktober 2014, XI ZR 348/13, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen – BGHZ – 203, 115, Rn. 35). Maßgeblich für die Beurteilung, ob eine unsichere und zweifelhafte Rechtslage vorliegt, ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Zeitpunkt der Anspruchsentstehung (BGH, Urteil vom 28. Oktober 2014, XI ZR 348/13, BGHZ 203, 115, Rn. 45 m.w.N.). Dass die Rechtslage zu einem späteren Zeitpunkt unsicher wird, nachdem die Verjährung erst einmal zu laufen begonnen hat, verlängert die Verjährungsfrist nicht (BGH, Urteile vom 28. Oktober 2014, XI ZR 17/14, juris, Rn. 43; und vom 28. Oktober 2014, XI ZR 348/13, BGHZ 203, 115, Rn. 45).
62(3) Ausgehend von diesen Grundsätzen war dem Kläger eine rechtzeitige Klageerhebung gegen die Vorlieferanten zumutbar. Vorliegend hatte der Kläger Kenntnis hinsichtlich der den Anspruch begründenden tatsächlichen Umstände. Er kannte seine jeweiligen Vertragspartner und er wusste, dass er auf der Eingangsseite Rechnungen mit einer offen ausgewiesenen Umsatzsteuer in Höhe von 19 % erhielt und er das Holz ohne eigene Verarbeitung mit einer offen ausgewiesenen Umsatzsteuer in Höhe von 7 % an seine Kunden lieferte. Dass der Kläger die Rechnungen bei Bezahlung für umsatzsteuerlich rechtmäßig erachtete und sich seiner Ansprüche gegen die Vorlieferanten möglicherweise überhaupt nicht bewusst war, ändert nichts am Beginn der Verjährungsfristen. Denn hierfür ist nur die Kenntnis der den Anspruch begründenden Umstände maßgeblich, nicht aber auch, dass der Anspruchsteller die zutreffenden Schlussfolgerungen hieraus zieht. Es gab keine unsichere oder gar zweifelhafte Rechtslage, die der Kläger nicht zuverlässig einschätzen konnte.
63Es gab zudem auch keine höchstrichterliche Rechtsprechung hinsichtlich des anzuwendenden Steuersatzes, die sich später änderte, sodass ein Hinausschieben des Verjährungsbeginns vorliegend nicht gegeben ist.
64cc) Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Lauf der Verjährung nach § 206 BGB gehemmt war, sodass die Verjährung der Ansprüche aus den Jahren 2011, 2012 und 2013 mit Ablauf der Jahre 2014, 2015 und 2016 eingetreten ist.
65f) Sämtliche von dem überhöhten Steuerausweis betroffenen Vorlieferanten haben auch – unstreitig – die zivilrechtliche Einrede der Verjährung erhoben. Unerheblich ist insoweit, dass die im Klageverfahren vorgelegten schriftlichen Bestätigungen der Vorlieferanten dafür, dass sie sich auf die Einrede der Verjährung berufen, an die NTX GmbH adressiert waren. Hierbei handelt es sich – wie die Klägerseite in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat – um eine versehentlich falsche Adressierung durch die Vorlieferanten. Der Kläger ist in Anbetracht dieser eindeutigen Äußerungen der Lieferanten jedenfalls nicht gehalten, zivilrechtliche Klagen zu erheben, um zu erfahren, ob an der Geltendmachung der Einrede auch in einem Zivilprozess festgehalten würde.
66Vor dem Hintergrund der Feststellung des Vorliegens des Verjährungseintritts der Ansprüche des Klägers auf Berichtigung der Rechnungen und Zahlung der zu Unrecht ausgewiesenen Umsatzsteuer durch den erkennenden Senat bedarf es keiner Entscheidung, ob bereits bei unklarer Rechtslage der Kläger auf eine gerichtliche Geltendmachung zu verweisen ist oder bereits die schriftliche Geltendmachung der Einrede der Verjährung eine „übermäßige Erschwerung“ i. S. d. EuGH-Rechtsprechung begründet.
67g) Dem Kläger ist kein zum Ausschluss des Direktanspruchs führender Betrug oder Missbrauch oder eine Fahrlässigkeit in Bezug auf die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer in den Jahren 2011 bis 2013 vorzuwerfen.
68Im Streitfall scheidet ein Betrug, Missbrauch oder eine Fahrlässigkeit in Bezug auf die Inanspruchnahme des Rechts auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Umsatzsteuer bereits deshalb aus, weil der Kläger die in den Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer tatsächlich an seine Lieferer gezahlt hat, die ihrerseits diese Steuerbeträge an die Steuerbehörde abgeführt haben. Allein aufgrund des Eintritts der Verjährung, den die Vorlieferanten ihm gegenüber auch als Einrede erhoben haben, war es ihm unmöglich, von diesen die Erstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer, die er aufgrund des Urteils des erkennenden Senates vom 2. Juli 2019 (15 K 2794/17 U) nicht als Vorsteuer abziehen konnte, zu erlangen. Der Kläger begehrt mit seinem Erstattungsanspruch keinen unberechtigten Vorteil, sondern vielmehr den Ausgleich des ihm entstandenen Schadens. Auch ist die Gefahr einer doppelten Erstattung zu Lasten der Steuerbehörde nicht gegeben, da die Lieferanten bislang weder ein Berichtigungsverfahren nach § 14c UStG durchgeführt haben noch ihrerseits zukünftig eine Erstattung verlangen können, nachdem dem Kläger mit diesem Urteil ein Erstattungsanspruch zugesprochen wird (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 7. September 2023, Rs. C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639, Rn. 30).
69Dem Kläger kann jedenfalls auch kein zum Ausschluss des Direktanspruchs führender Vorwurf der Fahrlässigkeit – der sich nach der Entscheidung des EuGH und den hierzu nicht eindeutigen Ausführungen (EuGH, Urteil vom 7. September 2023, Rs. C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639, Rn. 24, 25) nach Auffassung des erkennenden Senats auch auf den Eintritt der Verjährung beziehen könnte – gemacht werden.
70Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt und mithin dasjenige unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Vorliegend hätte der Kläger nicht zu einem Zeitpunkt, in dem noch keine Verjährung eingetreten war, verjährungshemmende Maßnahmen ergreifen müssen. Denn auch wenn ihm die tatsächlichen Umstände hinsichtlich seiner Ansprüche auf Rechnungsberichtigung und Erstattung gegenüber seinen Lieferanten bekannt waren, bedeutet dies nicht, dass der Kläger auch die zutreffenden Schlussfolgerungen hieraus ziehen und an seine Vertragspartner herantreten musste. Denn er hatte wirtschaftlich (zunächst) keinen Schaden, weil er die zu viel entrichtete Umsatzsteuer als Vorsteuer in voller Höhe in seinen Umsatzsteueranmeldungen abzog.
71Im Rahmen der Betriebsprüfung ging die Prüferin davon aus, dass die ausgewiesene Umsatzsteuer in den Eingangsrechnungen zutreffend ist. Gestritten wurde nur über die Höhe des Steuersatzes der Ausgangsumsätze des Klägers. Auch im weiteren Einspruchsverfahren und im Klageverfahren wegen Umsatzsteuer 2011 bis 2013 (15 K 2794/17 U) stritten die Beteiligten zunächst nur über die Höhe des Steuersatzes der Ausgangsumsätze des Klägers. Der Beklagte ist bis zum Urteil des Senats im Verfahren 15 K 2794/17 U offenbar davon ausgegangen, dass die ausgewiesene Umsatzsteuer in den Eingangsrechnungen zutreffend ist. Erst durch die mündliche Verhandlung im Verfahren 15 K 2794/17 U am 2. Juli 2019 und die Entscheidungsgründe des Urteils wurde den Beteiligten zu Kenntnis gebracht, dass die Vorlieferanten rechtsfehlerhaft den Regelsteuersatz anstelle des ermäßigten Steuersatzes in Rechnung gestellt hatten und dass eine Kürzung der Vorsteuern auf der Eingangsseite des Klägers vorzunehmen war. In diesem Zeitpunkt waren die Ansprüche des Klägers auf Rechnungsberichtigung und Erstattung – wie vorstehend ausgeführt – bereits verjährt.
723. Liegen die Voraussetzungen des Reemtsma-Direktanspruchs vor, ist das Ermessen des Beklagten auf Null reduziert. Das Unionsrecht fordert dies zu seiner effektiven Umsetzung (effet utile – st. Rspr. vgl. z.B. BFH, Beschluss vom 6. April 2016, XI R 20/14, BFHE 254, 152, Rn. 59; BFH, Urteile vom 30. Juni 2015, VII R 30/14, BFHE 250, 34, Rn. 27; vom 30. Juli 2008 V R 7/03, BFHE 223, 372, Rn. 49; vom 8. März 2001 V R 61/97, BFHE 194, 517, BStBl II 2004, 373, Rn. 30).
73II. Verzinsung des Erstattungsbetrags
74Der Reemtsma-Direktanspruch des Klägers in Höhe von insgesamt xxx EUR ist seit dem 25. Februar 2021 (1.) in der gesetzlichen Höhe des § 238 Abs. 1a AO (2.) zu verzinsen, auch ohne dass der Kläger die Verzinsung des Erstattungsbetrags bei Beantragung der Billigkeitsmaßnahme beim Beklagten ausdrücklich erwähnt hat (3.).
75Nach der Entscheidung des EuGH ist der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der der zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen, wenn die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird (EuGH, Urteil vom 7. September 2023, Rs. C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639, Rn. 37).
76Genauso wie aus dem Unionsrecht – wie vorstehend ausgeführt – ein Direktanspruch auf Erstattung hergeleitet wird, dessen für die nationalen Finanzbehörde nicht disponible Entstehung unter Anwendung der nationalen Verfahrensmodalitäten (hier: des Billigkeitsverfahrens) eine Ermessensreduzierung auf Null verlangt, gilt dies gleichermaßen für die mit diesem Anspruch einhergehenden Zinsen, die – wie der EuGH ausdrücklich ausführt – entstehen, wenn die Finanzbehörde die Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet. In Ermangelung einer Unionsregelung kommt es dabei nach der Rechtsprechung des EuGH der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen, festzulegen (Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten). Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, d. h. sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (EuGH, Urteile vom 13. Oktober 2022, HUMDA, Rs. C-397/21, EU:C:2022:790, Rn. 33; vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., Rs. C-591/10, EU:C:2012:478, Rn. 27 m.w.N.). Die nationalen Vorschriften, insbesondere über die Berechnung etwaig geschuldeter Zinsen, dürfen nach der Rechtsprechung des EuGH nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen vorenthalten wird, die durch eine nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgende Erstattung dieses Betrags entstanden sind (EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2022, HUMDA, Rs. C-397/21, EU:C:2022:790, HFR 2022, 1189, Rn. 40, 41).
771. Der Erstattungsanspruch des Klägers ist nach Ablauf einer im Streitfall vom erkennenden Senat für angemessen erachteten Frist von 6 Monaten (siehe 1a) beginnend am 26. August 2020 (siehe 1b) und damit ab dem 25. Februar 2021 zu verzinsen.
78a) Die angemessene Frist, innerhalb derer der Beklagte den Anspruch des Klägers hätte festsetzen und auszahlen müssen und die den Zinslauf in Gang setzt, beträgt nach Auffassung des erkennenden Senats im vorliegenden Fall 6 Monate. In diesem Zeitraum hatte der Beklagte ausreichend Zeit, den Antrag zu bearbeiten und die Voraussetzungen des Direktanspruchs zu prüfen.
79aa) Der vom EuGH verwendete Begriff der „Angemessenheit" der Frist ist für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Direktanspruchsverfahrens einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen Verfahrensgrundsätzen – wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen der Verwaltung – andererseits Rechnung tragen. Danach darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Erstattungsverfahrens nicht zu eng gezogen werden, um der Finanzverwaltung ein Spielraum für die Gestaltung des Verfahrens – auch in zeitlicher Hinsicht – einzuräumen. Der EuGH hat dabei gerade keine absolute Grenze für eine angemessene Frist bezeichnet, innerhalb derer ein solches Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte.
80Das nationale Umsatzsteuer- und Verfahrensrecht hält keine speziellen Regelungen zur Verzinsung des Direktanspruchs eines Leistungsempfängers bereit, der die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer an den Rechnungsaussteller gezahlt hat. Ebenso wenig enthält die Abgabenordnung eine gesetzliche Konkretisierung des Begriffs „angemessene Frist“. Vor diesem Hintergrund erkennt der Senat (auch in Anlehnung an § 347 Abs. 1 Satz 2 AO und der hierzu ergangenen Rechtsprechung bzw. Literatur), dass es stets von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt, welche Frist angemessen ist. Dabei sind einerseits Umfang und Kompliziertheit des Einzelfalls zu berücksichtigen, andererseits auch ein etwaiges besonders schutzwürdiges Interesse des Antragstellers, der von der Untätigkeit nachteilig betroffen ist. Bei besonders schutzwürdigem Interesse muss die Behörde u.U. besondere Beschleunigungsmaßnahmen treffen (FG Hamburg, Urteil vom 12. Juni 2003, VI 32/02, juris; Seer in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 347 AO, Rn. 27).
81Die in § 233a Abs. 2 Satz 1 AO enthaltene Regelung zur Verzinsung von Steuererstattungen, wonach der Zinslauf mit Ablauf der Karenzfrist von 15 Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres beginnt, in dem die Steuer entstanden ist, ist nach Auffassung des Senats für eine generelle Übertragung auf die für die Bearbeitung von Anträgen auf den Reemtsma-Direktanspruch zu gewährende Frist nicht geeignet, weil sie eine starre Frist ist, die eine hinreichende Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben und der Besonderheiten des Einzelfalls nicht ermöglicht und dadurch vielfach deutlich zu lang und damit nicht mehr angemessen ist. Zudem ist die allgemeine Karenzfrist des § 233a Abs. 2 Sätze 1 und 2 AO ausgerichtet an dem regelmäßigen Gang der Veranlagungsarbeiten. Innerhalb der Karenzfrist soll die Masse der Veranlagungsfälle erledigt sein (BT-Drs. 11/2157, S. 195). Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (vgl. BT-Drs. 11/2157, S. 194). Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Beim Direktanspruch handelt es sich dagegen nicht um ein (jährliches) Masseverfahren, sondern um einen besonderen Einzelfall.
82bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen beträgt die angemessene Frist nach Auffassung des erkennenden Senats im vorliegenden Fall 6 Monate. Bei der Bemessung hat der Senat einerseits berücksichtigt, dass der Sachverhalt aufgrund der rechtskräftigen Feststellungen im Urteil des Senats vom 2. Juli 2019 (15 K 2794/17 U) zwar grundsätzlich feststand, der Direktanspruch jedoch von anderen Voraussetzungen abhängig ist, die nicht Gegenstand des Urteils waren und ggf. weitere Ermittlungen und rechtliche Überlegungen durch den Beklagten erforderlich machten. Dass es auch im Zeitpunkt der Antragstellung durch den Kläger am 24. Oktober 2019 noch keine zwischen Bund und Ländern abgestimmte Verwaltungsauffassung zur Umsetzung des zu diesem Zeitpunkt bereits über 12 Jahre alten Urteils des EuGH in der Sache Reemtsma Cigarettenfabriken (EuGH, Urteil vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41) gab, mag das Verhalten des Beklagten erklären, es kann aber nicht zum Nachteil des Klägers gereichen, indem hierdurch die Frist zur Bearbeitung verlängert wird.
83Die vom Kläger selbst für angemessen erachtete Frist von 3 Monaten, ist nach Auffassung des Senates unter Berücksichtigung der Gesamtumstände zu kurz bemessen, zumal der Kläger selbst die anspruchsbegründenden Voraussetzungen (hier: Schreiben der leistenden Unternehmer vom 30. November 2021, worin diese gegenüber dem Kläger die Einrede der Verjährung erheben) erstmals im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2021 nachgewiesen hat.
84b) Die sechsmonatige Frist beginnt zur Überzeugung des Senats am Tag nach der Überweisung der Beträge zur Tilgung der offenen Forderungen des Beklagten aus der ursprünglich zu viel abgezogenen Vorsteuer inklusive der Zinsen und damit am 26. August 2020.
85Ebenso wenig wie für die Dauer der Frist machen der EuGH oder das nationale Recht Vorgaben für den Beginn der Frist im Falle des Direktanspruchs. Zur Überzeugung des Senats kann nicht auf den frühestmöglichen Zeitpunkt, nämlich den der Antragstellung gem. §§ 163, 227 AO des Klägers am 24. Oktober 2019, abgestellt werden, da der Kläger trotz Rechtskraft des Urteils vom 2. Juli 2019 die sich aufgrund der Kürzung der Vorsteuerbeträge ergebenden Nachzahlungsbeträge zunächst nicht entrichtet hat und ihm damit bis zu tatsächlichen Zahlung am 25. August 2020 noch kein finanzieller Schaden entstanden war, wie ihn der EuGH in Rn 36 des Urteils vom 7. September 2023 (C-453/22) für die Gewährung von Verzugszinsen fordert.
86Zwar sehen die nationalen Zinsregelungen im Erstattungsfall in § 233a Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 und Abs. 5 Satz 4 AO vor, dass die Verzinsung frühestens mit dem Tag der Zahlung beginnt. Auf diesen Tag für den Zinslauf stellt der EuGH in Rn. 36 seiner Entscheidung vom 7. September 2023 (Rs. C-453/22) jedoch nicht ab, sondern gewährt vielmehr dem Beklagten – wie dargestellt – eine angemessene Frist zur Erstattung (ab Zahlung).
87Zur Überzeugung des Senats gilt auch nicht der spätestmögliche Fristbeginn, nämlich als der Kläger die anspruchsbegründenden Voraussetzungen (hier: Schreiben der leistenden Unternehmer vom 30. November 2021, worin sie die Einrede der Verjährung gegenüber dem Kläger erheben) erstmals im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2021 nachgewiesen hat, da es für den Beklagten auf die Verjährungseinrede nicht ankam und er entsprechende Nachweise daher nicht explizit angefordert hatte und zudem auch nach dem Erbringen der Nachweise (weiterhin) bis zum Ende der mündlichen Verhandlung an seinem klageabweisenden Antrag festgehalten hatte.
88Vor diesem Hintergrund erscheint der Fristbeginn mit dem Zeitpunkt, in dem sowohl der Antrag gestellt als auch der finanzielle Schaden (durch Zahlung) beim Kläger eingetreten war, angemessen. Im Streitfall bedeutet dies, dass die Frist für den Beklagten zur Bearbeitung des Antrags des Klägers vom 24. Oktober 2019 am Tag nach der Zahlung am 25. August 2020 und die Verzinsung nach Ablauf von 6 Monaten am 25. Februar 2021 begann.
892. Der anzuwendende Zinssatz von 0,15 % je vollem Monat entspricht der gesetzlichen Regelung des § 238 Abs. 1a AO für die Verzinsung von Steuererstattungen. Mit dieser durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Abgabenordnung und des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 12. Juli 2022 (BGBl I 2022, 1142) eingeführten Regelung ist der Gesetzgeber seiner aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in seinem Beschluss vom 8. Juli 2021 (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, HFR 2021, 922) resultierenden Verpflichtung zur rückwirkenden Anpassung des Zinssatzes zur Vollverzinsung an das Marktzinsniveau nachgekommen. Es ist angemessen, aber auch ausreichend, die Zinsen unter Anwendung dieses Zinssatzes, und nicht des vom Kläger begehrten höheren Zinssatzes gem. § 247 BGB festzusetzen, da dies der Zinssatz ist, den die nationale Rechtsordnung seit dem 1. Januar 2019 typisierend für die Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen vorsieht und den der erkennende Senat für den Streitzeitraum als realitätsgerecht erachtet. Als Eckwerte dieses Zinssatzes dienen auf Grundlage entsprechender Daten der Deutschen Bundesbank auf der einen Seite die Habenzinsen und auf der anderen Seite Darlehenszinsen für Konsumentenkredite (vgl. BT-Drs. 20/1633, S. 21).
903. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass der Kläger mit Stellung des Antrags auf Erstattung am 24. Oktober 2019 nicht zugleich auch ausdrücklich einen Antrag auf Verzinsung des Erstattungsbetrags gestellt hat. Aus dem Antrag auf Erstattung der zu viel gezahlten Umsatzsteuer sowie der Nachforderungszinsen ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass der Kläger nicht nur den Umsatzsteuerbetrag erstattet haben wollte, sondern auch einen Zinsanteil.
91III. Erlass der Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 2011 bis 2013
92Der Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Erlass der Nachzahlungszinsen in Höhe der sich aus den Bescheiden vom 30. September 2019 ergebenden Nachzahlungsbeträgen ist unbegründet. Insoweit sind die Ablehnungsbescheide sowie die Einspruchsentscheidung rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
93In Umsetzung des Urteils vom 2. Juli 2019 setzte der Beklagte mit Bescheiden vom 30. September 2019 Zinsen zur Umsatzsteuer für die Jahre 2011 bis 2013 (2011: xxx EUR; 2012: xxx EUR; 2013: xxx EUR) fest. Dies führte diesbezüglich zu Nachforderungsbeträgen in Höhe von xxx EUR (2011), xxx EUR (2012) und xxx EUR (2013).
941. Ein Erlass kommt hinsichtlich eines sehr geringen Teils der Zinsen schon deshalb nicht in Betracht, da sie auf Tz. 2.1.6 des Bp-Berichts entfallen und mit der zu Unrecht ausgewiesenen Umsatzsteuer nicht im Zusammenhang stehen.
95Auch soweit für 2012 und 2013 Erstattungen bereits in Höhe von xxx EUR (2012) und xxx EUR (2013) erfolgt sind, wäre – wenn überhaupt - ein Erlass der Höhe nach auf die auf die strittigen Vorsteuerbeträge festgesetzten Zinsen begrenzt, da andernfalls in Höhe der Erstattung eine doppelte Berücksichtigung zu Gunsten des Klägers stattfinden würde, der seinen Klageantrag in Höhe der Nachzahlungsbeträge beziffert hat, und nicht in Höhe der auf die strittigen Vorsteuerbeträge festgesetzten Zinsen.
962. Aber auch hinsichtlich der auf die Vorsteuerkürzung aus den Rechnungen mit zu hohem Steuerausweis festgesetzten Nachzahlungszinsen kommt ein Erlass nicht in Betracht.
97In seiner bisherigen Rechtsprechung hat der EuGH den Reemtsma-Direktanspruch stets auf die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer beschränkt (EuGH, Urteile vom 15. März 2007, Rs. C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken, ECLI:EU:C:2007:167, Rn. 41; vom 26. April 2017, Rs. C-564/15, Farkas, EU:C:2017:302, Rn. 53; vom 11. April 2019, Rs. C-691/17, PORR, ECLI:EU:C:2019:327, Rn. 42; vom 10. Juli 2019, Rs.C-273/18, Kursu zeme, ECLI:EU:C:2019:588, Rn. 41; vom 7. September 2023, Rs.C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639, Rn. 23), sodass steuerliche Nebenleistungen, wie z. B. Zinsen, nicht erfasst waren.
98Auf die ausdrückliche Frage des Senats im Vorabentscheidungsersuchen (FG Münster, EuGH-Vorlage vom 27. Juni 2022, 15 K 2327/20 AO, EFG 2022, 1577), ob der Reemtsma-Direktanspruch auch einen Anspruch auf Erstattung der Zinsen umfasst, hat der EuGH im Tenor seiner Entscheidung ausgeführt, dass der Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, gerichtet ist. In den Gründen seiner Entscheidung verweist der EuGH auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge hat, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind (EuGH, Urteil vom 7. September 2023, Rs. C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639, Rn. 34). Für den Streitfall kommt der EuGH zu dem Schluss, dass nur die Durchführung des Urteils des Senats vom 2. Juli 2019, mit dem der Vorsteuerabzug von 19 % auf 7 % herabgesetzt wurde, zu einer wirtschaftlichen Belastung des Klägers des Ausgangsverfahrens führt, deren Höhe der Differenz zwischen dem Regelsatz und dem ermäßigten Satz der Mehrwertsteuer entspricht (EuGH, Urteil vom 7. September 2023, Rs. C-453/22, Schütte, ECLI:EU:C:2023:639, Rn. 35).
99Der erkennende Senat versteht die Entscheidung des EuGH so, dass der Reemtsma-Direktanspruch Zinsen nur dann umfasst, wenn sie auf Steuern festgesetzt wurden, die wiederum unter Verstoß gegen das Unionsrecht festgesetzt wurden (EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2022, Rs. C-397/21, HUMDA, EU:C:2022:790, Rn. 32) oder wenn die Festsetzung der Zinsen ihrerseits gegen das Unionsrecht verstößt.
1003. Nach diesen Grundsätzen umfasst der Anspruch des Klägers im Streitfall nicht die Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer 2011 bis 2013. Denn es liegt keine Steuer vor, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben wurde, auf die diese Zinsen festgesetzt wurden.
101a) Vielmehr entspricht die Kürzung des Vorsteuerabzugs des Klägers von 19 % auf 7 % den Vorgaben des nationalen Rechts und den Vorgaben der MwStSystRL. Der Kläger konnte aus den Eingangsrechnungen nur den Vorsteuerabzug in Höhe von 7 % in Abzug bringen, weil nur insoweit eine „gesetzlich geschuldete“ Steuer vorlag.
102b) Die Festsetzung von Nachzahlungszinsen zur Umsatzsteuer als solche verstößt ebenfalls nicht gegen Unionsrecht (vgl. hierzu: FG Düsseldorf, Urteil vom 23. Juni 2023, 1 K 1869/22 U, EFG 2023, 1509, n. rk., Revision anhängig, Az. des BFH: V R 14/23).
103c) Auch bei den Vorlieferanten wurde die erhöhte Steuer nicht unter Verstoß gegen das Unionsrecht festgesetzt.
104Nach § 14c Abs. 1 Satz 1 UStG schuldet ein Unternehmer, wenn er in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag, als er nach dem Gesetz für den Umsatz schuldet, gesondert ausgewiesen hat (unrichtiger Steuerausweis), auch den Mehrbetrag. Unionsrechtliche Grundlage hierfür ist Art. 203 MwStSystRL, wonach die Mehrwertsteuer von jeder Person geschuldet wird, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist. Demnach stellt es keinen Verstoß gegen das Unionsrecht dar, wenn eine Steuer bei unrichtigem Steuerausweis in Rechnungen geschuldet wird, vielmehr gebietet das Unionsrecht sogar eine solche Regelung.
105Im Streitfall haben die Vorlieferanten des Klägers in ihren Rechnungen an den Kläger eine überhöhte Steuer ausgewiesen, die sie allein aufgrund dieses unrichtigen Steuerausweises schulden.
1064. Die Verzinsung ist auch nicht deshalb beim Kläger unbillig, weil sich aufgrund der Umsatzsteuerfestsetzungen bei den leistenden Unternehmern per Saldo ein Ausgleich mit dem vom Kläger abgezogenen Vorsteuerbeträgen ergeben hat. Denn § 233a AO stellt nicht auf einen Vorteil des Beklagten, sondern des Steuerpflichtigen ab. Außerdem sind die Entstehungsvoraussetzungen für die Steuer des Leistenden und den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers nicht deckungsgleich (BFH, Urteil vom 20. Januar 1997, V R 28/95, BFHE 183, 353, BStBl II 1997, 716). Die Leistenden schuldeten – wie vorstehend ausgeführt – seit der Rechnungsausstellung die zu hoch ausgewiesene Umsatzsteuer, während der Kläger die zu hoch ausgewiesenen Umsatzsteuerbeträge in Höhe der Differenz von 7 % zu 19 % zu keinem Zeitpunkt als Vorsteuern abziehen durfte.
1075. Etwas Anderes folgt auch nicht aus dem Erlass der Umsatzsteuernachforderungen. Der Erlass der Umsatzsteuer führt zwar gem. § 47 AO zum Erlöschen der Schuld aus dem Steuerschuldverhältnis, dies hat aber keine Auswirkungen auf das Festsetzungsverfahren. Bei den Zinsbescheiden handelt es sich um eigenständige bestandskräftige Festsetzungen.
108IV. Da schon kein Direktanspruch im Hinblick auf die Nachzahlungszinsen bestand, bestand erst Recht kein Anspruch auf eine Verzinsung.
109B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.
110C. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
111D. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Fortbildung des Rechts gem. § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 FGO zuzulassen.