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Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung der Bescheide vom 28.11.2023 und vom 29.11.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 18.01.2024 verpflichtet, Kindergeld für das Kind L für die Monate März 2023 bis Januar 2024 und für das Kind M für die Monate Juli 2023 bis Januar 2024 festzusetzen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu einem Anteil von 4/22 und die Beklagte zu einem Anteil von 18/22.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d
2Streitig ist, ob und ggf. inwieweit der Klägerin ein Anspruch auf Kindergeld für ihre beiden Kinder M und L jeweils für den Zeitraum März 2023 bis Januar 2024 zusteht.
3Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und Mutter des am 00.00.2009 geborenen Kindes L sowie des am 00.00.2022 geborenen Kindes M.
4Sie ist geschieden und seit Januar 2021 in Deutschland wohnhaft. Die Kinder leben mit ihr in häuslicher Gemeinschaft. Sie lebt zurzeit von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
5Unter dem 23.11.2021 – bei der beklagten Familienkasse eingegangen am 06.12.2021 – beantragte die Klägerin Kindergeld für ihren am 00.00.2009 geborenen Sohn L. Sie – die Klägerin – sei seit dem 28.02.2004 verheiratet mit K, der ebenfalls die polnische Staatsangehörigkeit besitze und in Polen wohne. Das Kind L sei das leibliche Kind von ihr und ihrem Ehemann. L lebe derzeit in Polen bei den Großeltern, weil er dort zur Schule gehe. Dem Antrag beigefügt waren u.a. Lohnabrechnungen des Arbeitgebers B aus T („[ ]“) für Juli bis November 2021, nach denen die Klägerin einen monatlichen Aushilfslohn in Höhe von X € bezog. Nach einer ebenfalls vorgelegten Arbeitgeberbescheinigung sei sie in dem Betrieb seit dem 01.07.2021 beschäftigt. Gemäß der vorgelegten Meldebescheinigung zur Sozialversicherung meldete sie ihr Arbeitgeber ab dem 01.07.2021 wegen Beginns einer Beschäftigung bei der Knappschaft an, und zwar mit den Beitragsgruppen zur Kranken- und Rentenversicherung jeweils in Höhe des Pauschalbeitrags für geringfügig Beschäftigte. Gemäß einer Meldebestätigung war sie seit Januar 2021 unter der (auch im hiesigen Rubrum genannten) Anschrift in T als alleinige Wohnung gemeldet. Außerdem legte die Klägerin ihren ab Januar 2021 geltenden Mietvertrag zu dieser Wohnung vor, der bereits im November 2020 geschlossen worden war. Darüber hinaus legte sie einen Arbeitsvertrag zwischen ihr und der Firma „G“ vor, nach welchem ihr Arbeitsverhältnis dort am 03.11.2020 begonnen habe und zum 31.10.2021 hätte beendet werden sollen.
6Den Kindergeldantrag lehnte die beklagte Familienkasse unter dem 25.10.2022 ab dem Monat Juni 2021 ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass L nicht im Haushalt der Klägerin lebe, sondern bei den Großeltern in Polen.
7Im August 2022 stellte die Klägerin für ihren am 00.06.2022 geborenen Sohn M einen Antrag auf Bewilligung von Kindergeld. Sie sei inzwischen geschieden. Vater von M sei der polnische Staatsangehörige R, der in der A-Straße 1 in T wohne. Im Nachgang (beginnend ab Januar 2023) legte die Klägerin der Familienkasse auf deren Anforderungen hin mehrere Nachweise vor, u.a. einen Bescheid über Leistungen nach dem SGB II, wonach sie seit September 2022 entsprechende Leistungen bezog, Lohnabrechnungen des Arbeitsgebers B („[ ]“) für November 2022, nach der sie (weiterhin) einen monatlichen Aushilfslohn in Höhe von X € bezog, den Arbeitsvertrag zwischen ihr und B („[ ]“) vom 22.06.2021 und die ihr gegenüber ausgesprochene Kündigung des B aus betrieblichen Gründen zum 28.02.2023.
8Mit Bescheid vom 09.06.2023 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kindergeld für das Kind M ab dem Monat Juni 2022 ab. Zur Begründung führte sie insbesondere Folgendes aus: In Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union könnten ab dem vierten Monat nach Begründung des Wohnsitzes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, solange die Familienkasse die Voraussetzungen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU als erfüllt ansehe. Dies sei hier nicht der Fall. Die Prüfung habe im Falle der Klägerin ergeben, dass bei ihr die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder 3 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht erfüllt seien. Eine Erwerbstätigkeit liege nur dann vor, wenn die ausgeübte Tätigkeit nicht völlig untergeordnet oder unwesentlich sei. Der zeitliche Umfang der Tätigkeit der Klägerin sei jedoch zu gering. Eine Freizügigkeit als Arbeitnehmerin bestehe daher nicht. Nicht erwerbstätige Personen seien freizügigkeitsberechtigt, wenn sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügten. Dies habe die Klägerin jedoch nicht nachgewiesen.
9Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein. Zur Begründung machte sie geltend, dass sie bis März 2022 berufstätig gewesen sei, bevor sie auf Grund ihrer Schwangerschaft nicht mehr hätte weiterarbeiten können. Sie habe aufgrund der hier aufgebauten sozialen Kontakte nicht vor, Deutschland zu verlassen. Da auch ihr ältester Sohn hier zur Schule gehe und Freundschaften geschlossen habe, liege ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder in Deutschland.
10Mit Einspruchsentscheidung vom 23.06.2023 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Hiergegen hat die Klägerin keine Klage erhoben.
11Unter dem 16.08.2023 stellte die Klägerin für das Kind L und unter dem 21.08.2023 für das Kind M jeweils einen neuen Antrag auf Bewilligung von Kindergeld. Den Anträgen beigefügt war u.a. (neben weiteren Unterlagen) jeweils eine Schulbescheinigung vom 27.03.2023, nach der der Sohn L zurzeit in die 7. Jahrgangsstufe der [ ] Realschule in T gehe und die Schule voraussichtlich bis zum 31.07.2026 besuche.
12Mit Bescheid vom 28.11.2023 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Kindergeld vom 21.08.2023 für das Kind M ab dem Monat Juli 2023 ab. Zur Begründung machte sie im Wesentlichen geltend, dass die Klägerin nicht nachgewiesen habe, über ausreichende Existenzmittel zu verfügen. Vielmehr beziehe sie Leistungen vom Jobcenter [ ].
13Mit gleicher Begründung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29.11.2023 den Antrag der Klägerin auf Kindergeld vom 16.08.2023 – eingegangen bei ihr am 24.08.2023 – für das Kind L ab dem Monat Februar 2023 ab.
14Hiergegen legte die Klägerin durch ihren hiesigen Bevollmächtigten jeweils Einspruch ein.
15Mit Einspruchsentscheidungen vom 18.01.2024 wies die Beklagte die Einsprüche als unbegründet zurück. Zur Begründung legte sie jeweils im Wesentlichen Folgendes dar: Es bestehe kein Anspruch auf Kindergeld, weil die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 62 Abs. 1 Buchst. a Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.V.m. § 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) nicht erfüllt seien. Nicht erwerbstätige Personen und Ihre Familienangehörigen müssten die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU erfüllen. Das bedeute, sie müssten etwa über ausreichende Existenzmittel verfügen. Dazu zählten aber gerade nicht die nach dem SGB II zur Sicherung des Lebensunterhalts an Arbeitsuchende und an die mit ihnen in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Personen zu gewährenden Mittel. Die Klägerin halte sich bereits seit dem 14.01.2021 im Inland auf. Vom 01.07.2021 bis zum 28.02.2023 sei sie bei dem Unternehmen „[ ]“ in T beschäftigt gewesen. Laut vorliegendem Arbeitsvertrag vom 22.06.2021 sei sie als geringfügig Beschäftigte mit einer geringen vertraglichen Arbeitszeit von 4,5 Std. / Woche auf Abruf eingestellt worden. Der Arbeitsvertrag enthalte hierbei keine Angaben zum Bestehen von Ansprüchen auf bezahlten Urlaub, auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder auf die Anwendung eines Tarifvertrags. Die Beschäftigung der Klägerin als geringfügig Beschäftigte bei dem Unternehmen „[ ]“ in T vom 01.07.2021 bis zum 28.02.2023 stelle demnach keine Beschäftigung i.S.v. § 62 Absatz 1a Satz 2 EStG dar und begründe demzufolge auch keinen Anspruch auf Kindergeld. Nach den Angaben der Klägerin sei diese seit dem 01.03.2023 aufgrund ihrer Schwangerschaft bzw. anschließender Kindesbetreuung ohne Beschäftigung bzw. daran gehindert einer Beschäftigung nachzugehen. Sie sei demzufolge auch nicht arbeitsuchend und beziehe nach derzeitiger Aktenlage ausschließlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II bzw. Bürgergeld. Grundsätzlich sei jedoch davon auszugehen, dass ausreichende Existenzmittel nur dann vorliegen, wenn während des Aufenthalts keine Leistungen nach dem SGB II oder dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bzw. Bürgergeld in Anspruch genommen werden.
16Hiergegen hat die Klägerin am 21.02.2024 die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung ihrer Klage trägt die Klägerin insbesondere Folgendes vor: Die Erwägungen der Familienkasse zur Frage, ob sie als geringfügig Beschäftigte Anspruch auf Lohnfortzahlung, Urlaub etc. habe, dürften keine Rolle spielen. Selbstverständlich hätten aber auch geringfügig Beschäftigte Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auch den Anspruch auf Urlaub und andere soziale Vergünstigungen, nur eben im dem Umfang, welcher der Art des Arbeitsvertrages folge. Die Zahlung des Kindergelds sei aber nicht davon abhängig, ob der Betroffene einer Arbeit nachgehe oder nicht. Wer aufgrund der EU-Verordnung leistungsberechtigt sei, müsse genauso behandelt werden wie die Staatsbürger des jeweiligen Landes. Die Zahlung von Kindergeld dürfe also bei EU-Ausländern nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht werden. Vorliegend gehe es bei ihr um eine Klägerin aus Polen, die sich bereits seit dem 14.01.2021 in Deutschland aufhalte und amtlich gemeldet sei. Ihr Kind M sei erst am 16.06.2022 geboren und damit noch keine zwei Jahre alt. Allein das hindere sie daran, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Im Ergebnis seien die Kindergeldbescheide nicht EU-rechtskonform und daher rechtswidrig und aufzuheben. Ihr stehe ein Kindergeldanspruch für beide Kinder ab März 2023 (sechs Monate rückwirkend ab Antragstellung) bis Januar 2024 (Monat des Erlasses der Einspruchsentscheidung) zu.
17Die Klägerin beantragt,
18die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der Bescheide vom 28.11.2023 und vom 29.11.2023 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 18.01.2024 zu verpflichten, Kindergeld für die Kinder L und M jeweils für die Monate März 2023 bis Januar 2024 festzusetzen.
19Die Beklagte beantragt,
20die Klage abzuweisen.
21Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen Folgendes vor: Für das Kind M begehre die Klägerin Kindergeld ab März 2023. Aufgrund der bestandskräftigen Einspruchsentscheidung vom 23.06.2023 komme jedoch eine Kindergeldfestsetzung frühestens ab Juli 2023 in Betracht. Im Übrigen sei sie – die Familienkasse – der Auffassung, dass die Anspruchsvoraussetzungen nicht nachgewiesen worden seien. Insoweit werde auf die Ausführungen in den Einspruchsentscheidungen Bezug genommen. Schließlich liege ihrer Ansicht nach keine aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 abgeleitete Freizügigkeit vor. Ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 könne die kindergeldberechtigte Person dann für sich ableiten, wenn sie ein minderjähriges Kind eines EU- oder EWR-Bürgers während dessen Schulbesuch betreue und das Kind hier seinen Wohnsitz gehabt habe, als eines seiner Elternteile ein Aufenthaltsrecht als Wanderarbeitnehmer hatte. Sie – die Familienkasse – gehe nach Aktenlage davon aus, dass das Kind L erst seit Januar 2023 in Deutschland wohnhaft sei. Denn die Meldebescheinigung vom 16.01.2023 weise als Einzugsdatum den 15.01.2023 aus und der SGB-II-Bescheid vom 25.09.2022 führe als Leistungsbezieher nur die Klägerin und das Kind M an. Nach Aktenlage gehe sie ferner davon aus, dass die im November 2020 bei der Firma G aufgenommene Tätigkeit im Juni 2021 bzw. spätestens im Oktober 2021 endete. Zu diesem Zeitpunkt habe das Kind L jedoch noch nicht in Deutschland gelebt. Die im Juli 2021 aufgenommene Erwerbstätigkeit bei der Firma [ ] in T stelle nach ihrer Auffassung keine zu berücksichtigende Arbeitnehmertätigkeit dar, d.h. Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen, führten ihrer Ansicht nach nicht zu einem Anspruch. Bei Tätigkeiten von regelmäßig mehr als drei und weniger als acht Stunden sei nach einer Dienstanweisung anhand einer Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses zu prüfen, ob die Tätigkeit als tatsächlich und echt anzusehen ist. Danach könnten Kriterien wie z.B. das Bestehen von Ansprüchen auf bezahlten Urlaub oder auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung eines Tarifvertrages auf den Arbeitsvertrag oder der langjährige Bestand des Arbeitsverhältnisses auf eine Arbeitnehmereigenschaft hindeuten. Der Arbeitsvertrag der Klägerin führe hierzu jedoch nichts an, sodass sie – die Familienkasse - aufgrund der vertraglichen Arbeitszeit von 4,5 Std. / Woche auf Abruf von keiner echten Erwerbstätigkeit ausgehe und daher auch kein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) Nr. 492/2011 als erfüllt ansehe.
22Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten Bezug genommen.
23Der Senat hat am 21.11.2024 mündlich verhandelt. Insoweit wird auf das Protokoll verwiesen.
24E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
25Die Klage ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
26Die Bescheide vom 28.11.2023 und vom 29.11.2023 jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 18.01.2024 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO), soweit die Beklagte darin die Festsetzung von Kindergeld für das Kind M für Juli 2023 bis Januar 2024 und für das Kind L für März 2023 bis Januar 2024 abgelehnt hat. Im Übrigen sind die Bescheide rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten.
271. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Kindergeld für Juli 2023 bis Januar 2024 für das Kind M und für März 2023 bis Januar 2024 für das Kind L.
28a) Die Klägerin ist anspruchsberechtigt gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
29Danach hat für Kinder im Sinne des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Einen Wohnsitz hat jemand gemäß § 8 AO dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Neben zum dauerhaften Wohnen geeignete Räume setzt ein Wohnsitz das Innehaben der Wohnung in dem Sinn voraus, dass der Steuerpflichtige tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit, wenn auch in größeren Zeitabständen, aufsucht (vgl. BFH, Urteil vom 23.11.2001 VI R 107/99 , BStBl II 2001, 294).
30Vorliegend ist nicht streitig, dass die Klägerin im Streitzeitraum einen solchen Wohnsitz im Inland (T) hat.
31b) Der Kindergeldanspruch ist auch nicht aufgrund der einschränkenden Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen.
32Danach hat ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates nach Ablauf der ersten drei Monate ab Begründung des inländischen Wohnsitzes einen Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizgG/EU) liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war.
33aa) Die Klägerin ist zwar im streitgegenständlichen Zeitraum (März 2023 bis Januar 2024) nicht freizügigkeitsberechtigt im Sinne des § 2 Abs. 2 oder 3 FreizügG/EU gewesen. Sie hat in diesem Zeitraum nach ihren eigenen Angaben in Deutschland weder gearbeitet noch war sie arbeitssuchend. Ihr Arbeitsverhältnis (geringfügige Beschäftigung) bei B („[ ]“) wurde vielmehr zum 28.02.2023 gekündigt. Sie verfügte auch nicht über ausreichend Existenzmittel, sondern erhielt Leistungen nach dem SGB II. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sie sich im Streitzeitraum auf eine abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung nach § 3 FreizügG/EU berufen könnte.
34bb) Der Klägerin stand jedoch im Streitzeitraum ein sogenanntes abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 (VO 492/2011) zu.
35(1) Art. 10 Satz 1 VO 492/2011 besagt, dass die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen können.
36Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) folgt hieraus aufgrund des Rechts auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zum Unterricht ein eigenes Aufenthaltsrecht des Kindes, wenn es weiter am allgemeinen Unterricht in diesem Mitgliedstaat teilnehmen möchte. Zum anderen erfordert die Anerkennung eines eigenen Aufenthaltsrechts dieses Kindes, dass ein entsprechendes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt, anerkannt wird. Das mit der VO 492/2011 verfolgte Ziel, nämlich die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, erfordert bestmögliche Bedingungen für die Integration der Familie des Arbeitnehmers im Aufnahmemitgliedstaat. Würde den die elterliche Sorge für die Kinder wahrnehmenden Eltern die Möglichkeit versagt, während der Schulausbildung ihrer Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu bleiben, so könnten die Kinder das ihnen vom Unionsgesetzgeber zuerkannte Recht verlieren (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 06.10.2020 C-181/19, Jobcenter Krefeld – Widerspruchsstelle ./. JD, ZAR 2021, 79).
37Daraus folgt, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates in einem anderen Mitgliedstaat ein eigenständiges Recht auf Aufenthalt auf der Grundlage allein von Art. 10 VO 492/2011 zustehen kann, ohne dass er die Voraussetzungen nach der Richtlinie 2004/38 – u.a., dass der Betreffende überausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz in diesem Staat verfügen muss – erfüllen müsste (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 06.10.2020 C-181/19, Jobcenter Krefeld – Widerspruchsstelle ./. JD, ZAR 2021, 79).
38Vorliegend ist unstreitig, dass die Klägerin im Streitzeitraum die elterliche Sorge für die Kinder M und L, die mit ihr in einem Haushalt wohnen, tatsächlich wahrgenommen hat. Das Kind L besuchte im Streitzeitraum zudem die Schule in Deutschland, was sich aus der der Familienkasse vorliegenden Schulbescheinigung vom 27.03.2023, nach der L zurzeit in die 7. Jahrgangsstufe der [ ] Realschule in T gehe und die Schule voraussichtlich noch bis zum 31.07.2026 besuche, ergibt.
39(2) Für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 ist erforderlich, dass das Kind in dem Mitgliedsstaat zu einem Zeitpunkt seinen Wohnsitz genommen hat, in dem der Elternteil dort als (Wander)Arbeitnehmer wohnte bzw. als solcher dort ein Aufenthaltsrecht hatte (vgl. EuGH, Urteile vom 06.09.2012 C-147/11 und C-148/11 Czop und Punakova Rn 26; vom 23.02.2010 C-310/08 Ibrahim and the Secretary of State of the Home Department Rn 40; vom 04.05.1995 C-7/94 Gaal Rn 27; vom 21.06.1988 197/86 Brown Rn 30; ebenso LSG Sachsen-Anhalt vom 29.04.2016 L 4 AS 182/16 B ER Rn 37).
40Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt. Der Senat geht hierbei – wie die Beklagte – davon aus, dass das Kind L (erst) seit Januar 2023 in Deutschland wohnhaft ist. Denn die Meldebescheinigung vom 16.01.2023 weist als Einzugsdatum den 15.01.2023 aus. Zugleich geht der Senat aber davon aus, dass die Klägerin bis zu einem danach liegenden Zeitpunkt, nämlich bis Ende Februar 2023, als Arbeitnehmerin beschäftigt war. Laut den vorliegenden Unterlagen ist ihr Arbeitsvertrag erst zum 28.02.2023 gekündigt worden.
41(3) Die von der Klägerin im Juli 2021 aufgenommene Erwerbstätigkeit bei der Firma [ ] in T stellt auch eine zu berücksichtigende Arbeitnehmertätigkeit im Sinne des Art. 10 VO 492/2011 dar. Auf den Umfang der Beschäftigung (hier: vertraglichen Arbeitszeit von 4,5 Std. / Woche auf Abruf) kommt es dabei nach Ansicht des Senats nicht an. Zwar hat die Beklagte nach einer (internen) Dienstanweisung bei Tätigkeiten von regelmäßig mehr als drei und weniger als acht Stunden anhand einer Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses zu prüfen, ob die Tätigkeit als tatsächlich und echt anzusehen ist. Danach könnten Kriterien wie z.B. das Bestehen von Ansprüchen auf bezahlten Urlaub oder auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung eines Tarifvertrages auf den Arbeitsvertrag oder der langjährige Bestand des Arbeitsverhältnisses auf eine Arbeitnehmereigenschaft hindeuten. An diese Dienstanweisung der Verwaltung ist das Gericht indes nicht gebunden. Auch wenn daher der Arbeitsvertrag der Klägerin zu den genannten Kriterien nichts aussagt, sieht sich der Senat nicht daran gehindert, von einer „echten“ Erwerbstätigkeit der Klägerin auszugehen. Anhaltspunkte dafür, dass das Arbeitsverhältnis tatsächlich nicht ausgeübt worden sei, bestehen nicht.
42(4) Das Finanzgericht Düsseldorf hat angenommen, dass auch ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 492/2011 zu einem Kindergeldanspruch führt. § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG sei insoweit nicht mit dem Unionsrecht vereinbar, als er das abgeleitete Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VGO 492/2011 nicht enthalte. Durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts komme es daher auch für den Fall des Art. 10 VO 492/2011 nicht zu einem Ausschluss des Kindergeldanspruchs (vgl. FG Düsseldorf Urteil vom 30.11.2023, 9 K 1192/23 Kg, DStRE 2024, 394). In der Literatur wird zum Teil sogar davon ausgegangen, dass ein aus Art. 10 VO 492/2011 abgeleitetes Aufenthaltsrecht bereits von der Verweisung auf § 2 Abs. 2 FreizügG/EU in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG erfasst ist und es bereits aus diesem Grund nicht zu einem Ausschluss des Kindergeldanspruchs kommt (vgl. Janda in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 342. Lieferung, 4/2024, § 62 Rn. C 28; so wohl auch Tewocht in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 40. Edition Stand: 01.10.2021, § 3 FreizügG/EU Rn. 29b). Die Dienstanweisung der Familienkassen geht dem Grunde nach inzwischen ebenfalls, jedoch ohne weitere Erläuterung, davon aus, dass es bei Vorliegen eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 10 VO 492/2011 nicht zu einem Ausschluss des Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG kommt (vgl. Abschnitt A 4.2 Abs. 3 Satz 5 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz 2024 --DA-KG 2024--). Der Senat folgt dem und geht ebenfalls davon aus, dass auch im Falle eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 10 VO 492/2011 kein Ausschluss des Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG eingreift. Er lässt hierbei offen, ob dies aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts oder bereits aufgrund einer entsprechenden Auslegung des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG der Fall ist.
43c) Schließlich sind die Kinder M und L als minderjährige Kinder auch gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 32 Abs. 3 EStG berücksichtigungsfähig.
442. Im Übrigen – soweit die Klägerin die Festsetzung von Kindergeld für das Kind M auch für den Zeitraum März 2023 bis Juni 2023 begehrt – steht einem Kindergeldanspruch der Klägerin die Bestandskraft der ablehnenden Einspruchsentscheidung vom 23.06.2023 entgegen.
45II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO.
46III. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zugelassen worden.
47IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.