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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beteiligten streiten darüber, ob für die Jahre 1996 bis 2001 (Streitjahre) festgesetzte Steuern zu erlassen sind.
2Der Kläger, der in den Streitjahren als Rechtsanwalt, Notar und Steuerberater selbständig tätig war, führte unter dem Aktenzeichen 8 K 1667/05 E, U einen Rechtsstreit gegen den Beklagten, in dem es um Hinzuschätzungen zu den im Rahmen seiner freiberuflichen Tätigkeit erzielten Betriebseinnahmen und Umsätzen ging. Dem Streit war eine Steuerfahndungsprüfung für die Jahre 1995 bis 2001 vorausgegangen. Im Urteil vom 31.10.2007 gab das Finanzgericht (FG) der Klage gegen die nach der Steuerfahndungsprüfung erlassenen Änderungsbescheiden vom 22.12.2004 teilweise – insbesondere mit Blick auf als Betriebseinnahmen erfasste Fremdgelder – statt und wies die Klage im Übrigen als unbegründet zurück. Insbesondere beurteilte das FG die Feststellungen und die in Form von Listen zusammengestellten Aufstellungen der Steuerfahndung zu Zahlungseingängen auf Konten, die der freiberuflichen Praxis zugeordnet wurden, als schlüssig (Seite 24 des Urteils). Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen.
3Der Kläger legte gegen die Nichtzulassung der Revision Beschwerde beim Bundesfinanzhof (BFH) ein, die durch Beschluss vom 18.11.2009 (VIII B 16/08) als unbegründet zurückgewiesen wurde. Der BFH setzte sich in dem Beschluss mit dem Vorbringen des Klägers auseinander, ihm sei die Liste der Steuerfahndung nicht bekannt gegeben worden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschluss des BFH Bezug genommen. Nach diesem Beschluss setzte der Beklagte die ihm vom FG nach § 100 Abs. 2 Satz 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) übertragene Neuberechnung der Einkommensteuer und Umsatzsteuer um und erstellte am 02.02.2010 und am 05.03.2010 als Abrechnungen bezeichnete Neuberechnungen der Festsetzungen. Eine vom Kläger gegen den Beschluss vom 18.11.2009 erhobene Anhörungsrüge blieb erfolglos (Beschluss des BFH vom 26.02.2010).
4Mit Schreiben vom 15.03.2010 beantragte der Kläger, die Änderungsbescheide vom 22.12.2004 ersatzlos aufzuheben. Der Verfasser des Steuerfahndungsberichts habe inzwischen als Zeuge ausgesagt, dass er für die von ihm aufgelisteten Zahlungseingänge nicht angeben könne, ob es sich um steuerpflichtigen Honorarumsatz, Fremdgeld oder private Zahlungseingänge gehandelt habe. Zudem habe er, der Kläger, aufgrund seiner Verpflichtung zur Berufsverschwiegenheit – entgegen den Ausführungen des FG – nicht zu den Listen der Steuerfahndung Stellung nehmen müssen. Nach Ablehnung des Antrags machte der Kläger mit dagegen gerichtetem Einspruch geltend, er habe einen Anspruch auf Änderung nach § 173 Abgabenordnung (AO). Das FG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt. Mit Einspruchsentscheidung vom 05.10.2010 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück und führte aus, die Festsetzungsfrist sei (spätestens mit Beendigung des Verfahrens über die Anhörungsrüge) abgelaufen. Die dagegen gerichtete, unter dem Aktenzeichen 8 K 4104/10 E,U geführte Klage wurde mit Urteil vom 25.05.2011 als unzulässig und jedenfalls unbegründet zurückgewiesen. Was die Begründetheit angeht, führte das FG aus: Der begehrten Aufhebung der Bescheide stehe die Rechtskraft des Urteils vom 31.10.2007 (8 K 1667/05) entgegen. Dies gelte auch, soweit der Kläger die Änderung der Bescheide begehre: Der Streitgegenstand des Verfahrens 8 K 4104/10 E,U sei identisch mit dem des Verfahren 8 K 1667/05, weil der Kläger lediglich das im ursprünglichen Klageverfahren Vorgebrachte betreffend die Aufklärung des Sachverhalts durch den Prüfer und das Finanzamt wiederhole und vermeintliche Fehler des FG erneut, wie im Beschwerdeverfahren vor dem BFH, rüge. Der Kläger habe auch keine erheblichen Tatsachen oder Beweismittel geltend gemacht, die erst nachträglich, nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung im Verfahren 8 K 1667/05, bekannt geworden sind. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil vom 25.05.2011 Bezug genommen.
5Im Einspruchsverfahren wegen Einkommensteuer 2015 vertrat der Kläger (der im Jahr 2015 und den Folgejahren neben seiner Rente auch Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung erzielte) soweit ersichtlich erstmals die Auffassung, er müsse keine Einkommensteuererklärung abgeben, weil der Beklagte sich hinsichtlich der Jahre 1996 bis 2001 und „grundsätzlich“ nicht rechtstreu verhalten habe und er, der Kläger, daher nach Treu und Glauben nicht zu rechtstreuem Verhalten verpflichtet sei. Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage wurde mit Urteil vom 05.04.2019 (8 K 3048/17 E) als unbegründet zurückgewiesen; der Auffassung des Klägers zum Wegfall seiner Steuererklärungspflicht wegen einer Verletzung von Treu und Glauben durch den Beklagten folgte das FG nicht (Seite 9 des Urteils).
6Mit Schreiben vom 07.07.2020 machte der Kläger geltend, er habe gegen den Bescheid über Einkommensteuer 2018 am 16.03.2020 Einspruch eingelegt und einen Erlass beantragt; über beides sei noch nicht entschieden. Auf Mitteilung des Beklagten, ein Schreiben vom 16.03.2020 liege ihm nicht vor, übersandte der Kläger am 29.07.2020 ein Fax vom 16.03.2020 samt Sendebericht mit Bestätigung der Sendung, in dem es heißt: „Wegen der offensichtlich rechtswidrigen Festsetzungen 1995-2001 warte ich immer noch auf einen Bescheid über meinen Erlassantrag. […] Vorsorglich stelle ich diesen Antrag hiermit hilfsweise erneut.“ Auf Nachfrage des Beklagten, dass ihm kein Erlassantrag vorliege, reichte der Kläger einen Schriftsatz vom 02.02.2010 an das Landgericht Dortmund im Verfahren 6 O 31/09 ein, in dem Schadensersatz unter anderem wegen der Bescheide vom 22.12.2004 beantragt und Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit der diesen Bescheiden zugrunde liegenden Prüfung aufgeführt wurden.
7Im Klageverfahren wegen Einkommensteuer 2018 (8 K 2487/20 E) nahm der Kläger erneut auf den Erlassantrag Bezug. Der Beklagte habe aufgrund vorsätzlich falscher Steuerfestsetzungen Gelder erlangt, die er zumindest erlassen müsse. Seine, des Klägers, diesbezüglichen Anträge seien noch nicht beschieden. Ohnehin müsse der Beklagte seine Erlassverpflichtungen von Amts wegen prüfen. Mit Schriftsatz vom 27.10.2021 erweiterte er die Anfechtungsklage wegen Einkommensteuer 2018 um den Antrag, den Beklagten zu verpflichten, über seinen, des Klägers, Antrag auf Erlass der Einkommen- und Umsatzsteuer 1995 bis 2001 zu entscheiden. Der Berichterstatter wies darauf hin, dass dieser im Wege der Klageerweiterung gestellte Antrag unzulässig sein dürfte. Die Klage ist insoweit mit Urteil vom 12.01.2023 als unzulässig abgewiesen worden.
8Am 16.01.2022 beantragte der Kläger beim Beklagten den Fortgang des Verfahrens über seinen Erlassantrag. Am 20.03.2022 stellte der Kläger (erneut) einen Antrag auf Erlass beim Beklagten. In dem Schreiben vertritt der Kläger die Auffassung, er habe bereits einen Erlassantrag gestellt, dies könne aber offen bleiben, weil er nunmehr vorsorglich (erneut) einen solchen Antrag stelle. Er machte unter anderem geltend, ihm sei die über die Zahlungseingänge von der Steuerfahndung erstellte Liste nicht bekanntgegeben worden.
9Der Beklagte lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 03.05.2022 ab und führte aus: Die Richtigkeit der Steuerfestsetzung könne nur im Verfahren gegen die Festsetzung geltend gemacht werden. Die Einwendungen des Klägers könnten einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen nicht rechtfertigen, weil die Steuerfestsetzung nicht offensichtlich und eindeutig fehlerhaft sei. Ein Erlassanspruch aus Treu und Glauben scheitere daran, dass er, der Beklagte, keinen Vertrauenstatbestand gesetzt habe.
10Den dagegen gerichteten Einspruch wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 26.09.2022 als unbegründet zurück. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen komme nur in Betracht, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig sei und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen die etwaige Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Der Kläger habe gegen den Beschluss des BFH vom 18.11.2009 keine Anhörungsrüge erhoben oder Verfassungsbeschwerde eingelegt. Zudem sei nicht erkennbar, dass die Steuerfestsetzungen offensichtlich und eindeutig unrichtig wären. Er, der Beklagte, habe auch keinen Vertrauenstatbestand gesetzt. Ein Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen scheitere schon daran, dass der Kläger nicht vorgetragen habe, erlassbedürftig zu sein. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen.
11Mit der dagegen gerichteten Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und trägt ergänzend vor: Das FG habe im Urteil vom 31.10.2007 (8 K 1667/05) eine Hinzuschätzung vorgenommen, weil er, der Kläger, nicht zu den Listen des damaligen Betriebsprüfers Stellung genommen haben solle. Der Beklagte übergehe, dass er, der Kläger, dazu nicht vom Gericht aufgefordert und nicht auf die vom Gericht unterstellten Rechtsfolgen hingewiesen worden sei. Er beantragt diesbezüglich die Beiziehung der damaligen Akten. Überdies habe er, der Kläger, die Unterlagen weder vom Beklagten noch vom Gericht erhalten.
12Nachdem die Beteiligten unter Bezugnahme auf das Urteil des BFH vom 21.07.2016 (X R 11/14, BStBl II 2017, 22) in der Ladung darauf hingewiesen worden sind, dass ein Erlass wegen des zeitlichen Ablaufs der Geschehnisse nicht in Betracht kommen dürfte, trägt der Kläger weiter vor:
13Die zitierte Entscheidung des BFH betreffe § 163 AO. Der Erlass nach § 227 AO bedürfte demgegenüber keines Antrags; der Beklagte begehe dadurch, dass er nicht von Amts wegen tätig geworden sei, eine (fortdauernde) Amtspflichtverletzung. Es wäre ermessensfehlerhaft, wenn sich der Beklagte auf eine von ihm selbst durch eine rechtswidrige Amtspflichtverletzung entstandene Situation berufen würde (was er im Übrigen auch nicht getan habe). Wenn das Gericht dem Beklagten den Zeitablauf zugutehielte, würde dieser in sittenwidriger Weise für sein pflichtwidriges Verhalten belohnt. Vielmehr sei die Vorschrift des § 85 AO zu beachten, wonach die Finanzbehörde sicherzustellen habe, dass Steuern nicht zu Unrecht erhoben würden.
14Zudem sei wegen des fehlerhaften und rechtswidrigen Verhaltens des Beklagten und des FG fraglich, ob der Entscheidung des FG aus dem Jahre 2007 überhaupt eine Rechtskraftwirkung zukomme. Dem stehe § 826 Bürgerliches Gesetzbuch entgegen.
15Es verstieße zudem gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens, wenn sich die Verwaltung auf einen nicht einmal gesetzlich vorgesehenen Fristablauf berufen könnte, ohne vorher darauf hingewiesen zu haben. Das gelte umso mehr, als er, der Kläger, sich seit Jahren auf das rechtswidrige Verhalten des Beklagten berufe. Der Kläger listet beispielhaft auf, welche Fehler seines Erachtens im Rahmen der Steuerfahndungsprüfung gemacht worden seien. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 01.01.2023 Bezug genommen.
16Der Kläger beantragt sinngemäß,
17den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 03.05.2022 und der Einspruchsentscheidung vom 26.09.2022 zu verpflichten, die Einkommen- und Umsatzsteuern 1996 bis 2001 insoweit zu erlassen, als sie auf den Bescheiden vom 22.12.2004 beruhen.
18Der Beklagte beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Er verweist auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
21Der Berichterstatter hat den Beteiligten mitgeteilt, dass die Akten des Verfahrens 8 K 1667/05 E, deren Beiziehung der Kläger beantragt habe, bereits teilvernichtet worden seien und nur das Urteil vom 31.10.2007 noch archiviert sei.
22Die Sache ist am 12.01.2023 vor dem Senat mündlich verhandelt worden. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
Die Klage – über die der Senat entscheiden konnte, obwohl der ordnungsgemäß geladene Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist (§ 91 Abs. 2 FGO) – ist zulässig, aber unbegründet.
24Der Zulässigkeit der Klage steht insbesondere nicht entgegen, dass dem Kläger das Rechtsschutzbedürfnis fehlen würde. Zwar führt der Erlass eines Billigkeitsbescheids nach § 163 AO (eines Grundlagenbescheids, auf den nicht § 181 AO anzuwenden ist) nach § 171 Abs. 10 Satz 3 AO nicht zum gehemmten Ablauf der Festsetzungsfrist der Steuerbescheide (Folgebescheide) nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO. Bei Anwendbarkeit dieser Vorschrift könnte somit ein Antrag auf abweichende Festsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO unzulässig sein (und wegen des identischen Streitgegenstands möglicherweise auch ein solcher nach § 227 AO, vgl. aber AEAO zu § 163 Nr. 4 Satz 2). Die Regelung des § 171 Abs. 10 Satz 3 AO gilt jedoch gemäß Art. 97 § 10 Abs. 12 Einführungsgesetz AO nur für am Tag ihres Inkrafttretens (31.12.2014) noch nicht abgelaufene Festsetzungsfristen (vgl. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 7/2017 Anm. 2). Die Festsetzungsfrist der Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide 1996 bis 2001 war indes am 31.12.2014 bereits abgelaufen; sie trat gemäß § 171 Abs. 3a Satz 3 AO mit Erlass der das Urteil des FG vom 31.10.2007 umsetzenden Bescheide im Februar und März 2010 ein.
25Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erlass der Einkommen- und Umsatzsteuern 1996 bis 2001 oder auf erneute Entscheidung des Beklagten über seinen Erlassantrag, § 101 FGO.
26Gemäß § 227 Halbsatz 1 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig ist. Unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet werden (§ 227 Halbsatz 2 Var. 1 AO). Der Zweck der § 227 AO liegt darin, sachlichen oder persönlichen Besonderheiten des Einzelfalles, die der Gesetzgeber in der Besteuerungsnorm nicht berücksichtigt hat, durch eine nicht den Steuerbescheid selbst ändernde Korrektur des Steuerbetrags insoweit Rechnung zu tragen, als sie die steuerliche Belastung als unbillig erscheinen lassen (BFH, Urteil vom 20.09.2012, VI R 29/10, BStBl. II 2013, 505 m.w.N.). Die Entscheidung über den Erlassantrag stellt eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung dar (§ 5 AO), die gemäß § 102 FGO grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegt (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 19.10.1971, GmS-GB 3/70, BStBl. II 1972, 603; BFH, Urteil vom 20.09.2012, VI R 29/10, BStBl. II 2013, 505). Stellt das Gericht eine Ermessensüberschreitung oder einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes beschränkt. Nur wenn der Ermessensspielraum im konkreten Fall derart eingeengt ist, dass nur eine Entscheidung als ermessensgerecht in Betracht kommt (sog. Ermessensreduzierung auf Null), ist es befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen und eine Verpflichtung zum Erlass auszusprechen (u.a. BFH, Urteil vom 20.09.2012, VI R 29/10, BFHE 238, 518, BStBl. II 2013, 505; Urteil vom 06.09.2011, VIII R 55/10, BFH/NV 2012, 269; Urteil vom 26.10.1994, X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl. II 1995, 297).
27Im Streitfall hat der Kläger keinen Anspruch auf den begehrten Erlass. Das Ermessen des Beklagten war schon deshalb nicht dahingehend auf Null reduziert, dass nur ein Erlass als ermessensgerecht erscheint, weil der Kläger den Erlassantrag unverhältnismäßig spät gestellt hat.
28Zwar kann ein Antrag auf Erlass einer Billigkeitsmaßnahme auch nach Eintritt der Festsetzungsverjährung gestellt werden, weil beide Verfahren voneinander unabhängig sind (BFH, Urteil vom 17.06.2020, I R 7/18, BStBl II 2021, 211; BFH, Urteil vom 17.03.1987, VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620). Allerdings kann auch im Billigkeitsverfahren der Zeitablauf berücksichtigt werden. Es kann im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung liegen, wenn ein unverhältnismäßig spät gestellter Antrag auf Erstattung aus sachlichen Billigkeitsgründen schon mit Rücksicht auf den Zeitablauf als solchen abgelehnt wird (BFH, Urteil vom 17.03.1987, VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620 m.w.N.). Dies gilt sowohl für Verfahren nach § 163 AO als auch für solche nach § 227 AO (BFH, Urteil vom 17.03.1987, VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620; BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22; a.A. Brühl, DStZ 2017, 751, 760: nur im Rahmen des § 163 AO; vgl. auch BFH, Beschluss vom 15.03.1994, VII B 196/93, BFH/NV 1995, 4: Berücksichtigung des Zeitablaufs im Rahmen eines Antrags nach § 130 AO).
29Nach der Rechtsprechung des BFH, der der Senat sich anschließt, können dabei die Zeiträume zwischen Zahlung und Antragstellung (BFH, Urteil vom 17.03.1987, VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620; BFH, Urteil vom 08.10.1980, II R 8/76, BStBl II 1981, 82; BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22) sowie zwischen Bestandskraft der zugrundeliegenden Steuerfestsetzung und Antragstellung (BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22) herangezogen werden (vgl. auch BFH, Urteil vom 03.02.1976, VII R 47/74, BFHE 118, 3: Zeitraum zwischen Entstehung der Steuerschuld und Antragstellung, allerdings mit Blick auf eine entsprechende Antragsfrist in einer Verwaltungsanweisung, vgl. BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22). Der BFH hat offengelassen, inwieweit zusätzlich auch der zeitliche Abstand zu dem Veranlagungszeitraum berücksichtigt werden kann (BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22 bei einem Zeitraum von 15 Jahren). Als Zeitraum, innerhalb dessen ein Antrag nicht unverhältnismäßig spät gestellt worden sei, können die zu Rechtsverlusten führenden gesetzlichen Fristen herangezogen werden (BFH, Urteil vom 17.03.1987, VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620; BFH, Urteil vom 08.10.1980, II R 8/76, BStBl II 1981, 82), insbesondere die regelmäßige Festsetzungsverjährung und Zahlungsverjährungsfristen (BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22). Unter besonderen Umständen – wenn den Steuerpflichtigen eine frühere Antragstellung nicht zumutbar war – kann allerdings auch eine verspätete Antragstellung noch rechtzeitig sein (BFH, Urteil vom 17.03.1987, VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620).
30Nach dieser Maßgabe steht jedenfalls einem auf Stattgabe des Erlassantrags reduzierten Ermessen der unverhältnismäßig späte Antrag des Klägers entgegen. Der Antrag vom 16.03.2020 wurde rund zehn Jahre nach Eintritt der Festsetzungsverjährung der Einkommen- und Umsatzsteuern 1996 bis 2001 gestellt. Dieser Zeitraum überschreitet deutlich die regelmäßige Festsetzungsverjährungsfrist von vier Jahren (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) und die regelmäßige Zahlungsverjährungsfrist von fünf Jahren (§ 228 Satz 2 AO).
31Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger schon zu früheren Zeitpunkten auf die Pflichtverletzungen des Beklagten hingewiesen hat. Selbst wenn der Beklagte dadurch oder durch einen förmlichen Antrag des Klägers Anlass gehabt hätte, eine Entscheidung über den Erlass zu treffen, kann der Zeitablauf zu Lasten des Klägers gewürdigt werden. Dabei kann dahinstehen, ob (wie der Kläger meint) er bereits vor dem 16.03.2020 einen Antrag gestellt hat und (wenn ja) wann genau er diesen gestellt hat. Insbesondere kann dahingestellt sein, ob im Amtshaftungsverfahren vor dem Landgericht Dortmund konkludent ein Antrag auf Erlass gestellt wurde. Denn im Rahmen des Erlassantrags kann auch zu Lasten des Steuerpflichtigen gewürdigt werden, dass er nicht auf eine förmliche Bescheidung seines Erlassanspruchs (ggf. im Wege des Untätigkeitseinspruchs nach § 347 Abs. 1 Satz 2 AO und der Untätigkeitsklage nach § 46 FGO) hingewirkt hat (vgl. BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22 zu § 163 AO). Dies gilt im Verfahren nach § 227 AO ebenso wie im Verfahren nach § 163 AO. Insbesondere kann dagegen nicht eingewandt werden, dass der Erlass nach § 227 AO keines Antrags bedarf. Denn auch die Entscheidung über eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen hängt nicht von einem Antrag des Steuerpflichtigen ab (Oellerich in Gosch, AO/FGO, § 163 AO Rn. 215; Rüsken in Klein, § 163 AO Rn. 136; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 163 AO Rn. 6, 147). Aus dem Vortrag des Klägers und den dem Gericht vorliegenden Unterlagen sind Bemühungen des Klägers auf eine förmliche Bescheidung über seinen etwaigen Erlassanspruch erst zu einem unverhältnismäßig späten Zeitpunkt ersichtlich, nämlich frühestens mit dem Hinweis auf unbeschiedene Erlassanträge im Schreiben vom 16.03.2020. Zwischen diesem Schriftsatz und dem Eintritt der Festsetzungsverjährung liegen rund zehn Jahre; dieser Zeitraum liegt ebenfalls im Bereich der verlängerten Festsetzungs- und Zahlungsverjährungsfristen. Insbesondere hat der Kläger nicht dadurch zu früheren Zeitpunkten auf eine förmliche Bescheidung hingewirkt, dass er auf die (nach seiner Auffassung begangenen) Pflichtverletzungen des Beklagten hingewiesen hat. Denn hierdurch hat der Kläger keinen Erlassanspruch geltend gemacht, sondern seine Auffassung begründet, nach Treu und Glauben nicht zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet zu sein (vgl. dazu die Ausführungen auf Seite 9 des Urteils des Senats vom 05.04.2019, 8 K 3048/17 E).
32Unerheblich ist es diesbezüglich, dass sich der Beklagte nicht ausdrücklich auf den Zeitablauf berufen hat. Zwar lagen den Entscheidungen des BFH zur Bedeutung des Zeitablaufs im Rahmen von Billigkeitsentscheidungen Sachverhalte zugrunde, in denen das Finanzamt sich auf den Zeitablauf berufen hat (vgl. etwa BFH, Beschluss vom 15.03.1994, VII B 196/93, BFH/NV 1995, 4; BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22). Die Entscheidung über eine Ermessensreduzierung auf Null findet jedoch auf Grundlage des Sachverhalts statt, wie er sich objektiv darstellt; das Gericht muss dabei alle Umstände des Einzelfalls würdigen und muss bei seiner Entscheidung auch solche Umstände berücksichtigen, auf die das Finanzamt seine Entscheidung nicht gestützt hat.
33Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf erneute Entscheidung über seinen Erlassantrag. Dies ergibt sich zum einen wiederum aus dem (sehr langen) Zeitablauf zwischen Eintritt der Festsetzungsverjährung und dem Erlassantrag und zum anderen auch daraus, dass die Entscheidung des Beklagten keine den Kläger in seinen Rechten verletzenden Ermessensfehler aufweist.
34Aus dem (sehr langen) Zeitablauf zwischen dem Eintritt der Festsetzungsverjährung und der Stellung des Antrags (bzw. dem Hinwirken auf eine förmliche Entscheidung über einen Erlassanspruch) ergibt sich, dass der Beklagte keine andere Entscheidung treffen konnte, als den Erlassantrag abzulehnen. Wenn wegen einer Ermessensreduzierung auf Null keine andere Entscheidung als eine Antragsablehnung ergehen konnte, ist es selbst bei fehlerhaften Ermessenserwägungen der Finanzverwaltung nicht erforderlich, diese zur erneuten Entscheidung zu verpflichten (vgl. BFH, Urteil vom 23.02.2017, III R 35/14, BStBl. II 2017, 757; BFH, Urteil vom 20.09.2012, IV R 29/10, BStBl. II 2013, 505). Im Streitfall konnte der Beklagte wegen des Zeitablaufs keine andere Entscheidung treffen, als den Erlassantrag abzulehnen. Zwar hat der BFH es (bei einem Zeitablauf von sieben Jahren zwischen Bestandskraft und Zahlung einerseits und Antragstellung andererseits) offengelassen, ob das Ermessen in der Weise auf Null reduziert gewesen sein könnte, dass allein die Ablehnung der Billigkeitsentscheidung rechtmäßig war (BFH, Urteil vom 21.07.2016, X R 11/14, BStBl II 2017, 22; i.E. ebenfalls offen BFH, Beschluss vom 15.03.1994, VII B 196/93, BFH/NV 1995, 4 zu einem Zeitablauf von elf Jahren; vgl. aber BFH, Urteil vom 17.06.2020, I R 7/18, BStBl II 2021, 211, wonach der Zeitablauf bei einem unverhältnismäßig späten Antrag zu einem „Rechtsverlust“ führt). Es kann auch im Streitfall dahinstehen, ob ein Erlassantrag wegen eines Zeitablaufs von sieben Jahren abzulehnen ist. Denn jedenfalls wenn der Zeitraum zwischen Zahlung oder Festsetzungsverjährung und Antragstellung im Bereich der Zeiträume der verlängerten Festsetzungs- und Zahlungsverjährungsfrist von zehn Jahren nach §§ 169 Abs. 2 Satz 2, 228 Satz 2 AO liegt, ist ein Erlassantrag in aller Regel abzulehnen, wenn nicht besondere – im Streitfall nicht ersichtliche – Gründe für die späte Antragstellung vorliegen. Dafür spricht zum einen, dass damit die in den Höchstfristen zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Grundentscheidung anerkannt wird, nach Ablauf von zehn Jahren selbst bei Vorliegen einer Steuerhinterziehung dem Rechtsfrieden den Vorrang einzuräumen. Zum anderen spricht dafür auch die rechtspraktische Erwägung, dass nach Ablauf dieser Zeiträume – wie sich auch im Streitfall anhand der Gerichtsakten des Verfahrens 8 K 1667/05 E gezeigt hat – regelmäßig keine (vollständigen) Unterlagen mehr vorhanden sein dürften. Im Streitfall liegen zwischen dem für den Eintritt der Festsetzungsverjährung nach § 171 Abs. 3a Satz 3 AO maßgeblichen Erlass der Bescheide nach Rechtskraft des Urteil vom 31.10.2007 (mit Erlass der Bescheide am 02.02.2010 und am 03.03.2010) und dem (unter Berücksichtigung der Wiedereinsetzung) am 16.03.2020 gestellten Erlassantrag rund zehn Jahre, sodass der Bereich der verlängerten Festsetzungs- und Zahlungsverjährungsfrist erreicht ist. Auf eine (tag-)genaue Berechnung einer Fristüberschreitung kommt es im Rahmen des Erlassantrags nicht an, weil die Dauer dieser Fristen nur als Anhaltspunkt für die Prüfung, ob ein Antrag unverhältnismäßig spät gestellt wird, herangezogen wird.
35Einem Anspruch auf erneute Entscheidung steht überdies entgegen, dass die Entscheidung des Beklagten keine den Kläger in seinen Rechten verletzenden Ermessensfehler aufweist.
36- Soweit der Beklagte sich nicht auf den Zeitablauf berufen hat, geht dies zu Gunsten und nicht zu Lasten des Klägers.
37- Mit Blick auf eine sachliche Unbilligkeit kommt im Streitfall allein die Fallgruppe in Betracht, in der die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig rechtswidrig ist, es dem Steuerpflichtigen aber nicht möglich und nicht zumutbar war, sich rechtzeitig gegen die Steuerfestsetzung zu wehren. Soweit der Beklagte im Rahmen der Prüfung eines Erlasses aus sachlichen Billigkeitsgründen (unzutreffend) ausgeführt hat, es sei nicht ersichtlich, warum der Kläger gegen den Beschluss des BFH vom 04.08.2009 nicht Anhörungsrüge erhoben habe, ist dies zwar ein Ermessensfehler, weil der Beklagte seiner Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt hat (der Kläger hat Anhörungsrüge erhoben, die der BFH mit Beschluss vom 26.02.2010 zurückgewiesen hat). Dieser Ermessensfehler verletzt den Kläger aber nicht in seinen Rechten, weil der Beklagte die sachliche Unbilligkeit daneben auch – mit zutreffender und eigenständiger Begründung – deshalb abgelehnt hat, weil nicht erkennbar sei, dass die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig sei. Der Kläger macht allein Sachaufklärungspflichtverletzungen und Rechtsfehler (mit Blick auf seine Mitwirkungspflichten) geltend, legt jedoch nicht dar, inwieweit diese angeblichen Fehler zu einer fehlerhaften Steuer geführt haben. Es ergeben sich aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen keine Anhaltspunkte dafür, ob und inwieweit die Steuer ohne die vermeintlichen Sachaufklärungspflichtverletzungen und Rechtsfehler geringer festzusetzen gewesen wäre. Der Beklagte hat zutreffend ausgeführt, der Kläger habe insbesondere nicht dargelegt, welchen Inhalt und welche Bedeutung die nach Auffassung des Klägers fehlerhaften Listen hatten. Dies lässt keine Ermessensfehler erkennen. Aus dem Vortrag des Klägers geht lediglich hervor, dass dieser geltend macht, dass der Steuerfahndungsprüfer bei der Auflistung der Zahlungseingänge nicht geprüft habe, ob es sich dabei um steuerbare Einnahmen oder um Fremdgelder oder private Vorgänge gehandelt habe. Daraus ergibt sich indes keine offensichtliche und eindeutige Unrichtigkeit der Steuerfestsetzungen. Es könnten daraus allenfalls Zweifel an den Feststellungen abgeleitet werden, denen aber im hiesigen auf den Erlass bestandskräftig festgesetzter Steuern gerichteten Verfahren nicht nachzugehen wäre, weil in diesem Verfahren keine erneute Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Bescheide erfolgt, sondern nur eine Korrektur offensichtlicher und eindeutiger, „ins Auge springender“ Unrichtigkeiten möglich ist. Eine offensichtliche und eindeutige Unrichtigkeit der Steuerfestsetzungen ergibt sich auch nicht aus der Berufsverschwiegenheit des Klägers: Was die Auswirkungen dieser Pflicht auf seine Vorlagepflichten im Besteuerungsverfahren angeht, ist er von einer Mitwirkung nicht vollständig befreit, sondern hätte die zur Prüfung erforderlich erscheinenden Unterlagen in neutralisierter Form vorlegen können und müssen (BFH, Urteil vom 28.10.2009, VIII R 78/05, BStBl II 2010, 455). Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht kann eine Schätzung zu seinen Lasten begründen (§ 162 Abs. 2 Satz 2 AO).
38- Die Ausführungen des Beklagten zu einem Erlass aus persönlichen Billigkeitsgründen begegnen schon deshalb keinen Bedenken, weil die (mit‑)tragende Begründung, dass der Kläger seine Erlasswürdigkeit nicht dargelegt hat, ermessensfehlerfrei ist.
39Der Auffassung des Klägers, sein Anspruch auf ein faires Verfahren würde verletzt, wenn die Entscheidung des Gerichts auf den Zeitablauf gestützt würde, obwohl der Beklagte ihn darauf nicht hingewiesen habe, ist nicht zu folgen. Der Beklagte selbst hat seine Entscheidung nicht auf den Zeitablauf gestützt und musste daher nicht darauf hinweisen. Das Gericht hat dem Kläger mit dem Hinweis in der Ladung rechtliches Gehör gewährt, wovon der Kläger mit Schriftsatz vom 01.01.2023 auch Gebrauch gemacht hat.
40Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
41[…] […] […]