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Der Ablehnungsbescheid vom 29.04.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.07.2022 wird aufgehoben.
(*)
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob die Ablehnung eines Stundungsantrags von der sachlich zuständigen Behörde erlassen wurde und – falls nein – ob der Fehler der sachlichen Zuständigkeit durch den Erlass einer Einspruchsentscheidung durch die zuständige Behörde geheilt ist.
31. Der Kläger erhält Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
42. a) Mit (mittlerweile bestandskräftig gewordenem) Bescheid forderte die Familienkasse O die Zahlung zu Unrecht gewährter Kindergeldzahlungen auf (Forderung in Höhe von 1.289 €: Kindergeldforderung in Höhe von 864 € und Säumniszuschläge in Höhe von 425 €). Dieser Rückforderungsbetrag beruht darauf, dass die Familienkasse O an die Mutter des Klägers ohne Rechtsgrund Kindergeld ausgezahlt hatte und den Kläger nach dem Tod der Mutter als einer deren Rechtsnachfolger in Anspruch nahm. Hiergegen hatte der Kläger zunächst erfolglos Einspruch eingelegt und sodann Klage erhoben.
5b) Nachdem die Bundesagentur für Arbeit – Agentur für Arbeit S-Stadt – (im Folgenden: Inkasso-Service Familienkasse) eine Vollstreckungsandrohung gegenüber dem Kläger ausgesprochen hatte, beantragte dieser mit Schreiben vom 10.03.2022 beim Inkasso-Service Familienkasse, den Forderungsbetrag bis zum Abschluss des– zu diesem Zeitpunkt noch laufenden – Klageverfahrens bezüglich des Rückforderungsbescheids zu stunden und von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen insoweit Abstand zu nehmen (Bl. 224 der Akte des Inkasso-Services Familienkasse).
6c) aa) Auf diesen Antrag schrieb der Inkasso-Service Familienkasse die Familienkasse O unter dem 25.03.2022 an. Für die weitere Bearbeitung des Einziehungsbetrages benötige der Inkasso-Service Familienkasse konkrete Angaben zur Entstehung der Forderung nach Maßgabe eines beigefügten Vordrucks. Nach dem Vordruck besteht die Möglichkeit anzukreuzen, ob eine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorgelegen hat. Zusätzlich kann zur Begründung angegeben werden, ob falsche beziehungsweise unvollständige Angaben im Antrag enthalten waren. Außerdem können sonstige Gründe genannt werden (Bl. 173 f. der Akte der Familienkasse O).
7bb) Die Familienkasse O füllte den Vordruck dahingehend aus, dass sie die Verletzung einer Mitwirkungspflicht durch entsprechendes Ankreuzen bejahte. Unter den sonstigen Gründen führte sie aus: „Keine Mitteilung über den Tod der Mutter.“
8cc) (1) Mit Bescheid vom 29.04.2022 wurde der Stundungsantrag, handelnd durch die Sachbearbeiterin Frau L., die nach den Angaben in diesem Bescheid bei der Familienkasse O ihren originären Dienstsitz habe, abgelehnt (Bl. 225 bis 227 der Akte des Inkasso-Services der Familienkasse) den Antrag auf Gewährung einer Stundung ab. Der Bescheid enthält folgende Angaben zur über den Antrag entscheidenden Behörde:
9[Briefkopf:]
10Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse
11O, (PLZ) C-Stadt
12Familienkasse – Inkasso
13Mein Zeichen xyz
14(…)
15Name: Frau L.
16(…)
17E-Mail: Familienkasse-Inkasso@arbeitsagentur.de
18[Fußzeile der ersten Seite (Auszug):]
19Postanschrift
20Familienkasse Nordrhein Westfalen Nord
21(PLZ) C-Stadt
22(…)
23[Rechtsbehelfsbelehrung (Auszug):]
24(…) Der Einspruch ist bei der im Briefkopf angegebenen Familienkasse – Rechtsangelegenheiten schriftlich einzureichen oder dort zur Niederschrift zu erklären oder an Familienkasse-Inkasso-Rechtsbehelf@arbeitsagentur.de elektronisch zu übermitteln. …
25(…)
26Im Auftrag
27L.
28(2) Dieser Bescheid ist damit begründet, dass nach vorliegenden Erkenntnissen die Forderung aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht entstanden sei. Somit liege die für eine Stundung erforderliche Stundungswürdigkeit nicht vor. Daher braucht auf die Stundungsbedürftigkeit als weitere Voraussetzung für eine Billigkeitsmaßnahme nicht weiter eingegangen werden.
29(3) Der Akte des Inkasso-Services Familienkasse lässt sich nicht entnehmen, wann der mit einfachem Brief bekannt gegebene Bescheid zur Post gegeben wurde.
30d) Mit seinem dagegen gerichteten Einspruch vom 02.06.2022 (Eingang beim Inkasso-Service Familienkasse: 03.06.2022 <Freitag>; Eingang bei der Familienkasse O: 07.06.2022, Bl. 176 der Akte der Familienkasse O <Dienstag>) macht der Kläger geltend, dass er finanziell nicht in der Lage sei, die Forderung in einer Summe zu begleichen. Dies beruhe darauf, dass er Leistungen nach dem SGB II beziehe. Es werde daher um Ratenzahlung gebeten. Der Kläger sei stundungswürdig. Er habe zu keinem Zeitpunkt seine Mitwirkungspflicht verletzt. Darüber hinaus habe er zu keinem Zeitpunkt Kenntnis davon gehabt, dass Kindergeldleistungen geflossen seien. Ihm sei kein Kindergeld zugeflossen. Außerdem sei der Kläger stundungsbedürftig. Er lebe von öffentlichen Leistungen und sei nicht in Lage, den Forderungsbetrag auszugleichen. Parallel werde ein Ratenzahlungsantrag gestellt. Der Forderungsbetrag sei zumindest so lange zu stunden, bis über den Ratenzahlungsantrag entschieden worden sei.
31e) Den Ratenzahlungsantrag stellte der Kläger ebenfalls unter dem 02.06.2022.
32f) Die Familienkasse O wies den Einspruch mit am 12.07.2022 bekannt gegebener Einspruchsentscheidung vom 05.07.2022, die unter ihrem Briefkopf ergangen und von einem Mitarbeiter der Familienkasse O unterzeichnet ist, als unbegründet zurück. Der Antrag auf Ratenzahlung sei als ein Antrag auf Stundung gewertet worden. Allerdings lägen die Voraussetzungen einer Stundung nicht vor.
33aa) Es fehle an der Stundungsbedürftigkeit, da der Kläger aufgrund des Bezugs von SGB II-Leistungen durch die Pfändungsfreigrenzen des § 850c der Zivilprozessordnung geschützt werde, sein Existenzminimum sichere und vor Vollstreckungseingriffen bewahre. Überdies sei davon auszugehen, dass der Kläger wegen des Bezugs von SGB II-Leistungen nicht nur vorübergehend in seiner finanziellen Leistungsfähigkeit gemildert sei. Es sei nicht ersichtlich, wie hier in absehbarer Zeit – aufgrund einer absehbaren Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers – die Forderung realisiert werden könnte. Daher liege eine Gefährdung der Forderung vor. Nach dem Gesamtbild der wirtschaftlichen Situation und der Höhe der Forderung bestehe die begründete Annahme, dass auch nach Ablauf des Stundungszeitraums die Einziehung der Forderung nicht oder nur unter erschwerten Voraussetzungen möglich sein werde.
34bb) Ob die Forderung durch Verletzung der Mitwirkungspflicht des Klägers entstanden sei und somit eine Stundungswürdigkeit vorliege, könne hier dahinstehen, da bereits die Stundungsbedürftigkeit zu verneinen sein.
35cc) Die mit einfachem Brief bekannt gegebene Einspruchsentscheidung ist ausweislich einer Verfügung der Familienkasse O am 06.07.2022 <Mittwoch> abgesandt worden.
36g) Das Klageverfahren gegen den Rückforderungsbescheid endete am 28.06.2022 durch Klagerücknahme.
373. Mit seiner Klage gegen den Bescheid über die Ablehnung einer Stundung (Eingang bei Gericht: 12.08.2022) verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Aufgrund seiner finanziellen Lage sei es ihm seinerzeit nicht möglich, den rückständigen Betrag zu zahlen. Er bitte um eine Stundung für ein Jahr oder um eine Ratenzahlung in Höhe von 50 € monatlich.
38Die Begründung in dem Stundungsablehnungsbescheid sei rechtlich nicht haltbar. Unabhängig davon sei der Bescheid aber schon deshalb anzugreifen, weil hier der Antrag des Klägers auf Stundung durch den Inkassoservice und nicht durch die Familienkasse O abgelehnt worden sei. Nach ständiger Rechtsprechung der Finanzgerichte (FG) sei der bundesweite Inkassodienst der Familienkassen nicht für die Entscheidung über den Stundungsantrag zuständig gewesen. Über den Stundungsantrag müsse vielmehr die örtliche Familienkasse entscheiden.
39Der Kläger beantragt,
40den Bescheid vom 29.04.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.07.2022 aufzuheben.
41Die Beklagte beantragt,
42die Klage abzuweisen.
43Es seien zur Stundung keine neuen rechtserheblichen Gesichtspunkte vorgetragen worden. Zur Vermeidung von Wiederholungen werde daher auf die Ausführungen in der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
44Überdies habe die Klage im Hinblick auf die Zuständigkeit der Familienkasse O keine Aussicht auf Erfolg. Werde die Einspruchsentscheidung von der sachlich und örtlich zuständigen Behörde erlassen, werde die Rechtswidrigkeit einer von einer unzuständigen Ausgangsbehörde erlassenen Entscheidung gemäß § 126 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) geheilt (FG Düsseldorf, Urteil vom 28.09.2021 – 9 K 465/21 AO, juris). Bei Entscheidungen, die wie vorliegend die Ausübung von Ermessen voraussetzen, komme es demgemäß auf die Ermessenserwägungen an, die die Finanzbehörde spätestens in der Einspruchsentscheidung getroffen habe. Dabei könne die sachlich zuständige Familienkasse sich sowohl die Ermessenserwägungen des Ausgangsbescheides zu eigen machen als auch selbstständig neue Ermessenserwägungen vornehmen.
45Das Verfahren ist mit Beschluss vom 02.03.2023 gemäß § 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf den Einzelrichter übertragen worden. Am 28.03.2023 hat eine mündliche Verhandlung vor dem Einzelrichter stattgefunden. Auf die Sitzungsniederschrift wird Bezug genommen.
46Entscheidungsgründe
47Die Klage ist zulässig und begründet.
481. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich insgesamt gegen den Inkasso-Service Familienkasse als Beklagte richtet. Der Einzelrichter folgt insoweit der bisherigen Rechtsprechung des 1. Senats des FG Münster (vgl. Urteile vom 21.12.2021 in den Verfahren 1 K 530/18 Kg,AO (Rev. beim Bundesfinanzhof – BFH – III R 6/22), 1 K 2235/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 2/22), 1 K 3188/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 3/22) und 1 K 194/20 Kg,AO (Rev. BFH III R 4/22) vom 27.01.2022 in dem Verfahren 1 K 3565/19 AO (Rev. BFH III R 8/22), vom 22.02.2022 – 1 K 447/20 AO (Rev. BFH III R 13/22) sowie vom 20.10.2022 – 1 K 3789/19 AO, juris).
49a) Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO sein soll (vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl II 2021, 712). Etwas anderes gilt gem. § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn vor Erlass der Einspruchsentscheidung eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist. Diese Vorschrift ist auf einen Wechsel der sachlichen Zuständigkeit entsprechend anzuwenden (BFH, Urteil vom 10.06.1992 I R 142/90, BStBl II 1992, 784).
50b) Im Streitfall hat die Beklagte die beantragte Stundung der rückständigen Beträge abgelehnt, sodass die Klage gegen sie zu richten ist.
51Ein Wechsel der örtlichen beziehungsweise sachlichen Zuständigkeit gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat gerade nicht stattgefunden. Vielmehr wurden nach den Vorstandsbeschlüssen der Bundesagentur für Arbeit vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) von vornherein die Ausgangsentscheidungen und die Einspruchsentscheidungen jeweils von zwei verschiedenen Behörden getroffen. In diesem Fall bleibt die Ausgangsbehörde, die den Rechtsbehelf veranlasst hat, passiv prozessführungsbefugt (vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl II 2021, 712). Der Einzelrichter folgt daher nicht der Gegenansicht des FG Düsseldorf (Urteile vom 14.06.2021 9 K 2976/20 und vom 28.09.2021 9 K 465/21, juris), wonach in Fällen, in denen die Ausgangsentscheidung von der sachlich unzuständigen, die Einspruchsentscheidung dagegen von der sachlich zuständigen Behörde gefällt wird, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO analog anzuwenden sein soll.
52Der Kläger hat wegen der Bezugnahme auf die von der Familienkasse O erlassene Einspruchsentscheidung in seiner Klageschrift zwar diese Familienkasse als Beklagte bezeichnet, jedoch ist die Klageerhebung als Prozesshandlung im Zweifel gemäß §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches auszulegen. Eine Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte. Die Bezeichnung der Familienkasse O als Beklagte beruhte offensichtlich auf der insoweit unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung der Familienkasse in ihrer Einspruchsentscheidung. Die Klage ist dahingehend auszulegen, dass sie auch insoweit gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte gerichtet ist (vgl. FG Münster, Urteil vom 20.10.2022 – 1 K 3789/19 AO, juris, Rz. 22).
53Die in der mündlichen Verhandlung aufgetretene Vertreterin der Familienkassen ist nicht nur zur Vertretung der Familienkasse O, sondern ausweislich der „Untervollmacht für die finanzgerichtliche Vertretung“ vom 18.08.2021 zur Verfahrensvertretung und Terminswahrnehmung in den Verfahren betreffend der Bescheide des Inkasso-Services Familienkasse bevollmächtigt, weshalb sie den Inkasso-Service Familienkasse im Streitfall auch in der mündlichen Verhandlung vertreten und für diesen Verfahrenshandlungen vornehmen durfte.
542. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist sie innerhalb der Klagefrist erhoben worden.
55a) Gemäß § 47 Abs. 1 FGO ist eine Klage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung einzulegen. Diese gilt nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO mit dem dritten Tage nach ihrer Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Bestreitet der Steuerpflichtige oder Kindergeldberechtigte nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern den Erhalt innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, so hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss darauf zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich in Betracht zu ziehen ist. An diese Substantiierung sind aber keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, damit die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Finanzverwaltungsbehörde trifft, nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen oder Kindergeldberechtigten umgekehrt wird (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 20.04.2011 III B 124/10, BFH/NV 2011, 1110, Rz. 7, m. w. N.). Schildert die Finanzbehörde zusätzlich die Maßnahmen, die es getroffen hat, um sicherzustellen, dass u. a. Einspruchsentscheidungen an dem im Verfügungsteil genannten Postaufgabetag auch tatsächlich zur Post gegeben werden, reicht zur Begründung von Zweifeln am Zugang innerhalb der Drei-Tages-Frist ein abweichender Eingangsvermerk nicht aus (BFH, Beschluss vom 30.11.2006 XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389, Rz. 11).
56b) Danach bestehen hier – wie auch zwischen den Beteiligten nicht in Streit steht – Zweifel am Zugang der Einspruchsbehörde bis zum dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, der hier am 11.07.2022, einem Montag, läge. Da der Inkasso-Service Familienkasse keinerlei zusätzliche Maßnahmen zur Sicherstellung einer Übereinstimmung zwischen dem im Verfügungsteil genannten Postaufgabetag und dem Tag der tatsächlichen Aufgabe zur Post hat schildern können, genügt der Posteingangsstempel der Bevollmächtigten des Klägers mit dem Datum des 12.07.2022 zur Überzeugung des Einzelrichters vorliegend aus, um Zweifel an einem Zugang innerhalb der Drei-Tage-Frist des § 122 Abs. 2 1. Halbsatz Nr. 1 AO zu begründen. Da demnach die Einspruchsentscheidung zur Überzeugung des Einzelrichters erst am 12.07.2022 bekannt gegeben worden war, ist die am 12.08.2022 eingegangene Klageschrift innerhalb der Klagefrist eingegangen.
573. Die Klage ist begründet.
58Der Ablehnungsbescheid vom 29.04.2022 ist wegen rechtzeitiger Einlegung eines Einspruchs nicht bestandskräftig geworden (vgl. dazu unter a). Der vorgenannte Ablehnungsbescheid ist von der sachlich unzuständigen Behörde, nämlich dem Inkasso-Service Familienkasse erlassen worden (vgl. dazu unter b) und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dieser Fehler ist weder durch die Einspruchsentscheidung vom 05.07.2022 geheilt worden noch unbeachtlich (vgl. dazu unter c).
59a) Der Kläger hat gegen den Ablehnungsbescheid rechtzeitig, also innerhalb der einmonatigen Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO, Einspruch eingelegt, sodass er nicht bestandskräftig geworden ist.
60Der Ablehnungsbescheid datiert auf den 29.04.2022 (Freitag). Wäre er an diesem Tag zur Post gegeben worden, wäre er aufgrund der Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 1. Halbsatz Nr. 1 AO am 02.05.2022 (Montag) bekannt gegeben worden und die Einspruchsfrist würde am 02.06.2022 (Donnerstag) mit der Folge abgelaufen sein, dass der am 03.06.2022 eingegangene Einspruch nicht rechtzeitig eingelegt worden wäre. Indes greift die Drei-Tages-Bekanntgabefiktion nur dann ein, wenn feststeht, wann der mit einfachem Brief übersandte Verwaltungsakt tatsächlich zur Post aufgegeben worden ist. Im Hinblick darauf, dass dieser Zeitpunkt allein dem Wissens- und Verantwortungsbereich der Finanzbehörde zuzuordnen ist, bedarf es insoweit keines substantiierten Bestreitens durch den Steuerpflichtigen. Lässt sich das Datum der Aufgabe zur Post nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststellen, ist die Fiktion des § 122 Abs. 2 1. Halbsatz Nr. 1 AO nicht anwendbar (BFH, Beschluss vom 26.02.2021 X B 108/20, BFH/NV 2021, 929, Rz. 9, m. w. N.). Da es vorliegend an einem Vermerk über das Datum der Absendung des Ablehnungsbescheids vom 29.04.2022 fehlt, lässt sich dieses Datum nicht feststellen, was zulasten der beweisbelasteten Behörde geht (vgl. BFH, Beschluss vom 26.02.2021 X B 108/20, BFH/NV 2021, 929, Rz. 8, m. w. N.).
61b) Der Inkasso-Service Familienkasse war – wie insbesondere auch der BFH mehrfach entschieden hat (BFH-Urteile vom 25.02.2021 III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; ebenfalls vom 25.02.2021 III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100; vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457 und vom 07.04.2022 III R 33/20, BFH/NV 2022, 824) – nicht die sachlich zuständige Behörde zur Entscheidung über den Stundungsantrag des Klägers.
62aa) Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Erlass bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst.
63Der BFH hat in den vorgenannten Entscheidungen bereits mehrfach erkannt, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens – insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen – beim Inkasso-Service Familienkasse rechtswidrig ist. In diesen Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der BFH dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit (§§ 16 ff. AO) der Grundsatz der Gesamtzuständigkeit gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der Gesamtzuständigkeit für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus. Der BFH hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der Gesamtzuständigkeit, wonach für Entscheidungen des Festsetzungsverfahrens weiterhin die Wohnsitz-Familienkasse, für Entscheidungen des „Inkasso-Bereichs“ hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.
64bb) Im Streitfall hat ausschließlich der Inkasso-Service Familienkasse den Stundungsantrag bearbeitet, diesen abgelehnt und durch sein Personal bearbeitet. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und wird darüber hinaus durch die Art der Aktenführung bestätigt. Der Inkasso-Service Familienkasse hat offenbar gar keinen elektronischen Zugriff auf die Kindergeldakte der Familienkasse O. Er musste vielmehr eine Erklärung zur Frage der Verletzung von Mitwirkungspflichten bei der zuständigen Familienkasse O anfordern. Dies bedeutet zugleich, dass die vom Inkasso-Service Familienkasse geführte Akte für die Familienkasse O möglicherweise gar nicht einsehbar oder erreichbar war und umgekehrt dort die Kindergeldakte nicht zugänglich war. Ansonsten hätte eine Auswertung der Akten nicht angefordert werden müssen. Jedenfalls ist der Bereich Inkasso kein integrativer Teil der Kindergeldakte. Dort finden sich nicht einmal die von der Familienkasse O erstellten Bescheide (wie etwa der der Forderung zugrunde liegende Rückforderungsbescheid).
65Die Bearbeitung des Stundungsantrags durch den Inkasso-Service Familienkasse geschah offenbar ohne Einflussmöglichkeit der nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG umfassend zuständigen Familienkasse O. Dies wird unterstrichen durch das in den Akten der Familienkasse O enthaltene Schreiben vom 25.03.2022 des Inkasso-Services Familienkasse unter einem eigenen Aktenzeichen des Inkasso-Services (zu dem Aktenzeichen xyz, einem anderen Aktenzeichen als dasjenige der Familienkasse O). Vom Inkasso-Service Familienkasse wird lediglich zum Schein nach außen der Briefkopf mit dem Namen der Familienkasse O verwendet. Tatsächlich sind diese Entscheidungen weiterhin der Familienkasse O trotz ihrer Gesamtzuständigkeit entzogen. Die Verwendung eines der Behörde (hier: Inkasso-Service Familienkasse) nicht zustehenden Briefkopfes eines anderen Verwaltungsträgers (hier: Familienkasse O) begründet keine Zuständigkeit für diese Verwaltungsaufgabe.
66Der Inkasso-Service Familienkasse hat damit als sachlich unzuständige Behörde die angefochtenen Bescheide ausgebracht.
67cc) Das Tätigwerden des Inkasso-Services Familienkasse ist zugleich nicht als Amtshilfe oder nach der Rechtsfigur der Organleihe zulässig gewesen.
68(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) bedeutet eine rechtsstaatliche Verwaltungsorganisation zuallererst Klarheit der Kompetenzordnung; denn nur so wird die Verwaltung in ihren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für den einzelnen „greifbar“. Eine hinreichend klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten ist vor allem im Hinblick auf das Demokratieprinzip erforderlich, das eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern fordert und auf diese Weise demokratische Verantwortlichkeit ermöglicht. Demokratische Legitimation kann in einem föderal verfassten Staat grundsätzlich nur durch das Bundes- oder Landesvolk für seinen jeweiligen Bereich vermittelt werden. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist zwar nicht die Form der demokratischen Legitimation staatlichen Handelns entscheidend, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes Legitimationsniveau. Daran fehlt es aber, wenn die Aufgaben durch Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine klare Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen. Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch Vergabe oder Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann. Der Verwaltungsträger, dem durch eine Kompetenznorm des Grundgesetzes Verwaltungsaufgaben zugewiesen worden sind, hat diese Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen. Der Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung schließt zwar die Inanspruchnahme der „Hilfe“ – auch soweit sie sich nicht auf eine bloße Amtshilfe im Einzelfall beschränkt – nicht zuständiger Verwaltungsträger durch den zuständigen Verwaltungsträger nicht schlechthin aus, setzt ihr aber Grenzen: Von dem Gebot, die Aufgaben eigenverantwortlich wahrzunehmen, darf nur wegen eines besonderen sachlichen Grundes abgewichen werden. Daher kann die Heranziehung an sich unzuständiger Verwaltungseinrichtungen nur hinsichtlich einer eng umgrenzten Verwaltungsmaterie in Betracht kommen und ist an besondere Voraussetzungen gebunden (vgl. BVerfG, Urteil vom 20.12.2007 2 BvR 2433/04, BVerfGE 119, 331, Rz. 157 bis 160, m. w. N.).
69(2) Im Streitfall steht bereits nach der Rechtsprechung des BFH fest, dass eine sachliche Zuständigkeit der Familienkasse Inkasso ohne eine gesetzliche Regelung in § 5 FVG durch den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nicht getroffen werden durfte. Ebenso darf keine verschleierte oder faktische „Hilfe“ unter dem Behördennamen einer fremden Behörde erfolgen. Dies würde die klare Zuordnung der rechtsstaatlichen Verwaltungszuständigkeiten untergraben. Der Bürger hätte gar keinen Überblick mehr, wer ihm gegenüber tatsächlich tätig wird. Dafür fehlt der Behörde die Legitimation. Dies ist hier aber geschehen, da das Personal des Inkasso-Services Familienkasse ohne diese Legitimation tätig geworden ist. Die Familienkasse O wäre aber verpflichtet gewesen, auch diese Verwaltungsaufgabe (Erhebung) durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation zu erbringen. Tatsächlich handelte eine andere Behörde und die Familienkasse O hatte nicht einmal Einfluss auf die Entscheidungen.
70Damit steht fest, dass eine derartige umfassende Verwaltungshilfe (Organleihe) ohne gesetzliche Grundlage und ohne Offenbarung der Organisationsentscheidungen dem Bürger gegenüber schlicht rechtswidrig ist. Der Bürger sieht sich einer Vielzahl von Verwaltungsträgern gegenüber, ohne erkennen zu können, wer für die Entscheidung zuständig ist/war und tatsächlich entschieden hat. Im Briefkopf wird im Ablehnungsbescheid die Familienkasse O angegeben. Im Ablehnungsbescheid erscheint dagegen der Inkasso-Service Familienkasse als entscheidende Behörde.
71dd) Darüber hinaus besteht im Rahmen des Verwaltungsrechts keine Befugnis einer Behörde, eine andere Behörde generell für ein Tätigkeitsfeld – wie etwa im Zivilrecht – „zu beauftragen“ und im Außenverhältnis für sie als „Vertreter“ tätig zu werden. So besteht keine gesetzliche Vertretungsbefugnis. Eine rechtsgeschäftliche Vertretung, die die Zuständigkeit nach der rechtsstaatlich definierten Verwaltungsorganisation des hier einschlägigen § 5 FVG untergraben würde, ist verfassungsrechtlich nicht legitimiert. Ansonsten könnte in Zukunft jede deutsche Behörde von der Bundesagentur beauftragt werden, für sie Bescheide auszubringen und Rechtsbehelfsverfahren zu führen.
72Auch eine eventuell durch die Bundesagentur für Arbeit behördenintern angeordnete Vertretung einer nachgeordneten Bundesbehörde durch eine andere nachgeordnete Bundesbehörde wäre nicht ausreichend, um die gesetzlichen Zuordnungen der Gesamtzuständigkeit (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG) zu verändern, und damit unwirksam.
73c) Der vorgenannte Zuständigkeitsmangel wurde weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse O geheilt, noch ist er unbeachtlich.
74aa) Der Umstand, dass die Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse, die für die Entscheidungen über den Stundungsantrag örtlich und sachlich zuständig gewesen wäre, erlassen wurde, führt nicht zu einer Heilung der sachlichen Unzuständigkeit bei Erlass der Ablehnungsbescheide durch den Inkasso-Service Familienkasse. Die Frage der Heilung durch eine Einspruchsentscheidung der für den Ausgangsbescheid zuständigen Behörde wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt (für eine Heilung: FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.06.2020 7 K 14045/18, EFG 2020,1284; FG Münster, Urteil vom 03.12.2020 3 K 2344/20, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 14.06.2021 9 K 2976/20 AO, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 28.09.2021 9 K 465/21 AO, juris; FG Münster, Urteil vom 25.01.2022 4 K 1545/19, juris; Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 16 AO Rz. 55; Schmieszek in Gosch AO/FGO, § 16 Rz. 17; gegen eine Heilung: FG Düsseldorf, Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19, EFG 2021, 513; FG Münster, Urteile vom 14.03.2022 11 K 2046/21 Kg, juris; 11 K 1056/19 Kg, juris; 11 K 55/19 AO, juris; 11 K 2685/19 AO, juris; 11 K 1065/21 Kg, juris; 11 K 3305/18 Kg,AO, juris; 11 K 2253/21 AO, juris und 11 K 2270/18 AO, juris).
75(1) Die wegen des Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit rechtswidrigen Ablehnungsentscheidung des Inkasso-Services Familienkasse wurde nach Auffassung des Einzelrichters nicht gemäß § 126 Abs. 2 AO durch Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt.
76§ 126 AO enthält einen Katalog von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – z. T. sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können. Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO beinhaltet jedoch eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände; er ist angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift abschließend. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind damit von einer Nachholung mit Heilungswirkung i. S. des § 126 AO ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO, § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO, § 126 AO Rz. 3).
77Ein Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit ist in § 126 AO nicht aufgeführt. Für eine Extension auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 126 AO Rz. 16; FG Münster, Urteil vom 20.10.2022 1 K 3789/19 AO, juris, Rz. 31).
78(2) Auch die Gesamtüberprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren führt im Streitfall nicht zu einer Heilung der fehlenden sachlichen Zuständigkeit durch Erlass der Einspruchsentscheidungen. Anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) trifft die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, durch die Zurückweisung des Einspruchs keine Entscheidung in der Sache, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt gemäß § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes träte. Der Einzelrichter folgt insofern der Auffassung des 10. Senats des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO (EFG 2021, 513). § 367 AO ist nicht zu entnehmen, dass einer den Einspruch lediglich zurückweisenden Entscheidung eine derartige rechtliche Bedeutung zukäme. Eine andere Beurteilung hätte zur Folge, dass die sachliche Unzuständigkeit der den angefochtenen Verwaltungsakt erlassenden Behörde – abgesehen von Fällen der Verwerfung des Einspruchs (§ 358 Satz 2 AO) – nie erfolgreich gerügt werden könnte (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513, Rz. 19 m. w. N.). Wenn ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne Weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte, wäre die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich (FG Münster, Urteil vom 20.10.2022 1 K 3789/19 AO, juris, Rz. 32).
79Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass im Einspruchsverfahren im Rahmen der Gesamtüberprüfung (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO) auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist und als Ergebnis dieser Überprüfung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die Entscheidung über den Einspruch auch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, BStBl II 2017, 642). Im Streitfall hat zwar die Familienkasse, in deren örtlichem Zuständigkeitsbereich der Kläger wohnt, die Einspruchsentscheidung erlassen. Dies beruhte aber nicht auf einer Überprüfung und Erkenntnis der fehlenden sachlichen Zuständigkeit des Inkasso-Services Familienkasse im Einspruchsverfahren, sondern darauf, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit mit seinen Beschlüssen vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) der Familienkasse ausdrücklich die „Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes“ zugewiesen hat. Unabhängig davon, ob es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine derartige Regelung fehlte (so der 10. Senat des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513, Rz. 20), kann dies auch unter Berücksichtigung der vorgenannten BFH-Rechtsprechung nicht zu einer Heilung führen. Würde eine Heilung angenommen, würde dies zu einer Rechtsschutzverkürzung für all diejenigen potentiellen Stundungsberechtigten führen, die „zufällig“ im Bezirk der Familienkasse wohnhaft sind; denn gegenüber potentiellen Stundungsberechtigten, die im Bezirk einer anderen Familienkasse wohnen, könnte eine Heilung nicht eintreten und der Weg für eine erneute Sachentscheidung wäre frei. Darüber hinaus versteht der Einzelrichter die Rechtsprechung des BFH dahingehend, dass nur die Überlassung der Entscheidung an die sachlich und örtlich zuständige Behörde im „Bewusstsein“ der eigenen sachlichen und/oder örtlichen Unzuständigkeit zu einer Heilung führen kann (ebenso FG Münster, Urteil vom 20.10.2022 1 K 3789/19 AO, juris, Rz. 33).
80bb) Der Fehler, dass die Ablehnungsbescheide von der sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurden, ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich.
81§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit. Die Aufzählung ist enumerativ. Die Vorschrift ist aufgrund ihres Ausnahmecharakters hinsichtlich anderer Fehler nicht analogiefähig. Eine Erstreckung des § 127 AO auf nicht genannte formelle Mängel, wie hier die Verletzungen der sachlichen Zuständigkeit, kommt daher nicht in Betracht (BFH-Urteil vom 21.04.1993 X R 112/91, BStBl II 1993, 649 Rz. 52; FG Münster, Urteil vom 20.10.2022 1 K 3789/19 AO, juris, Rz. 35; jeweils m. w. N.).
82Zudem ist die Vorschrift des § 127 AO bereits deshalb nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Stundungsantrag, anwendbar, weil bei eingeräumtem Ermessen grundsätzlich (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können (FG Münster, Urteil vom 20.10.2022 1 K 3789/19 AO, juris, Rz. 36).
834. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
845. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
856. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechtsbehelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten.
86(*):
87Am 04.04.2023 erging folgender Berichtigungsbeschluss:
88„Der Tenor des Urteils vom 28.03.2023 wird wie folgt berichtigt (Änderung ist durch Fettdruck hervorgehoben):
89Der Ablehnungsbescheid vom 29.04.2022 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 05.07.2022 wird aufgehoben.
90Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
91Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
92Die Revision wird zugelassen.“
93Gründe:
94I.
95Nach § 107 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) sind Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die in einem finanzgerichtlichen Urteil enthalten sind, jederzeit zu berichtigen. Über die Berichtigung entscheidet das Finanzgericht (FG) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (§ 107 Abs. 2 FGO).
96Der in § 107 FGO verwendete Begriff „offenbare Unrichtigkeit“ umfasst nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), ähnlich wie derjenige in § 129 der Abgabenordnung, alle bei der Abfassung des FG-Urteils unterlaufenen „mechanischen“ Fehler (BFH-Beschlüsse vom 25.01.1996 III B 122/93, BFH/NV 1996, 682; vom 26.07.1999 V B 71/99, BFH/NV 2000, 66; vom 12.03.2004 VII B 239/02, BFH/NV 2004, 1114). Ein solcher liegt vor, wenn eine in dem Urteil enthaltene Aussage die vom FG getroffenen Feststellungen oder die von ihm angestellten Überlegungen nicht zutreffend zum Ausdruck bringt und dies aus dem Urteil selbst heraus erkennbar wird (BFH-Beschlüsse vom 21.08.2003 XI B 239/02, BFH/NV 2004, 67; vom 19.11.2003 I B 47/03, BFH/NV 2004, 515; vom 10.02.2004 X B 75/03, BFH/NV 2004, 663).
97II.
98Im Streitfall ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang des Urteils – hier dem Tenor zur Aufhebung der verfahrensgegenständlichen Bescheide und zur vorläufigen Vollstreckbarkeit sowie den Ausführungen im Urteil zur Kostentragungspflicht nach § 135 Abs. 1 FGO – eindeutig, dass der Einzelrichter der Beklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt hat.