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Der Bescheid vom 27. Januar 2022, der Änderungsbescheid vom 5. Mai 2022 und die Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 2022 werden aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Kindergeldfestsetzung für die Kinder Q. und D. für den Zeitraum Dezember 2021 bis einschließlich März 2022 hat.
3Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige. Sie wohnt seit dem 00. April 2019 in Deutschland. Ihre in Deutschland geborenen Kinder Q. (*00. Dezember 2019) und D. (*00. September 2021) wohnen mit ihr in einem Haushalt. Ab dem 00. November 2021 war die Klägerin bei der Firma „S. GmbH“ als Retourenbucherin beschäftigt. Sie erhielt einen Stundenlohn von 10,45 EUR zuzüglich einer stündlichen Zulage in Höhe von 0,35 EUR. Das Nettogehalt stieg von 42,12 EUR anteilig für November 2021 über 426,34 EUR im Dezember 2021, 606,85 EUR im Januar 2022, 956,26 EUR im Februar bis auf 1.158,20 EUR im März 2022 an. Den Lohnabrechnungen ist zu entnehmen, dass die Klägerin zudem im November 2021 insgesamt 21 Stunden und im Dezember 2021 insgesamt 56 Stunden – unbezahlt – als Ungeimpfte in Quarantäne war. Bezüglich der Einzelheiten wird auf den Arbeitsvertrag und die Lohnabrechnungen Bezug genommen.
4Die Beklagte setzte mit Bescheiden vom 6. Februar 2020 und 3. November 2021 Kindergeld für die beiden Kinder der Klägerin, Q. und D., fest.
5Mit Bescheid vom 00. November 2021 stellte die Stadt C. – Ausländerbehörde – den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit der Klägerin und ihrer beiden Kinder gem. § 5 Abs. 4 FreizügG/EU fest. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Klägerin sich weniger als 5 Jahre in der BRD aufhalte und keine Erwerbstätigkeit ausübe. Die Stadt C. – Ausländerbehörde – ordnete die sofortige Vollziehung an. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
6Die Stadt C. – Ausländerbehörde – erstattete der Beklagten gem. § 18f AZRG Meldung, dass bei der Klägerin der Verlust der Rechte gespeichert wurde, woraufhin die Beklagte eine Rückfrage an die Stadt richtete, ob ein Aufenthaltstitel erteilt wurde, was mit Mitteilung vom 00. Januar 2022 verneint wurde. Die Beklagte hob daraufhin mit Bescheid vom 27. Januar 2022 die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder Q. und D. mit Wirkung ab Dezember 2021 auf. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass die Voraussetzungen des § 62 EStG nicht vorliegen würden.
7Innerhalb der Einspruchsfrist reichte die Klägerin verschiedene Unterlagen bei der Beklagten ein, was die Beklagte als Einspruch gegen den Bescheid auslegte.
8Mit Bescheid vom 00. April 2022 hob die Stadt C. – Ausländerbehörde – die Verlustfeststellungen mit Wirkung zum 00. April 2022 wieder auf. Mit Schreiben vom selben Tage ordnete die Stadt C. – Ausländerbehörde – die Klägerin der Personengruppe des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU und die Kinder der Personengruppe des § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU zu.
9Mit Änderungsbescheid vom 5. Mai 2022 bewilligte die Beklagte daraufhin Kindergeld für beide Kinder ab April 2022. Mit Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 2022 wurde der Einspruch für den verbleibenden Zeitraum Dezember 2021 bis März 2022 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte die Beklagte an, dass für den Streitzeitraum die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht vorliegen würden. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung Bezug genommen.
10Am 20. Juni 2022 hat die Klägerin Klage erhoben.
11Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, dass die Beklagte gem. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG in eigener Zuständigkeit zu prüfen habe, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1a Sätze 2 und 3 EStG erfüllt seien. Da die Klägerin im Streitzeitraum durchgehend eine Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ausgeübt habe, habe sie auch einen Anspruch auf Kindergeld. Die Entscheidung der Stadt C. – Ausländerbehörde – habe keine Tatbestandswirkung.
12Die Klägerin beantragt,
13die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Januar 2022 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 5. Mai 2022 und der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 2022 zu verpflichten, der Klägerin Kindergeld in gesetzlicher Höhe für die Zeit Dezember 2021 bis März 2022 für die Kinder Q., geb. am 00. Dezember 2019 und D., geboren am 00. September 2021, zu gewähren.
14Der Beklagte beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Die Stadt C. – Ausländerbehörde – habe den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU zum 00. November 2021 festgestellt und erst zum 00. April 2022 mit Wirkung für die Zukunft wieder aufgehoben. Die Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1a EStG seien damit für den Streitzeitraum nicht erfüllt gewesen. Auf die Rechtskraft der Verlustfeststellung komme es nicht an.
17Die Prüfung der Familienkasse beschränke sich darauf, ob tatsächlich der Verlust der Freizügigkeit des Kindergeldberechtigten festgestellt worden sei. Ergebe die Prüfung, dass die Meldung zweifelsfrei einem Berechtigten zugeordnet werden könne, habe die Familienkasse zu prüfen, ob die Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld nach § 62 Abs. 2 EStG vorliegen, was aber vorliegend auch nicht der Fall gewesen sei.
18Auf den Inhalt der Kindergeldakte wird Bezug genommen.
19Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
20Entscheidungsgründe
211. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung, § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO).
222. Die Klage ist begründet. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 FGO.
23Die Klägerin hat im Streitzeitraum einen Anspruch auf Kindergeld für die Kinder Q., geb. am 00. Dezember 2019, und D., geboren am 00. September 2021.
24a) Die Klägerin ist kindergeldberechtigt nach §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 EStG.
25Nach diesen Vorschriften hat ein Elternteil einen Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Inland einen Wohnsitz hat und sich seine Kinder im Inland oder in einem Land der EU aufhalten und dort die weiteren Voraussetzungen des § 32 Abs. 3 bis 5 EStG erfüllen.
26Der Kindergeldanspruch richtet sich -dem Monatsprinzip nach § 66 Abs. 2 EStG folgend- danach, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld im jeweiligen Monat vorliegen (BFH, Urteil vom 24. Juli 2013, XI R 8/12, juris).
27Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor: Die Klägerin hat seit April 2019 – und damit auch im Streitzeitraum Dezember 2021 bis März 2022 – einen Wohnsitz in Deutschland und lebt dort in einem Haushalt mit den noch nicht volljährigen Kindern (§ 32 Abs. 3 EStG).
28b) Für den Streitzeitraum steht die Vorschrift des § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG einer Festsetzung des Kindergeldes nicht entgegen.
29Nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ist einem Staatsangehörigen der EU oder des EWR nach Ablauf des – vorliegend nicht relevanten – Drei-Monats-Zeitraums (§ 62 Abs. 1a Satz 1 EStG) Kindergeld zu gewähren, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Absatz 2 oder Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1a Freizügigkeitsgesetzes/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetzes/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war.
30Die Voraussetzungen der Einschränkung sind nicht erfüllt. Denn im Streitzeitraum lagen für die Klägerin die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU – zumindest für die Zwecke der Kindergeldfestsetzung – vor.
31Freizügigkeitsberechtigt ist nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU u.a., wer sich als Arbeitnehmer im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten will. Die Klägerin war ab dem 00. November 2021 bei der Firma „S. GmbH“ als Retourenbucherin beschäftigt. Dass der Klägerin ausweislich der Lohnabrechnungen im November 2021 nur 5,65 Stunden und im Dezember 2021 nur 49 Stunden entlohnt wurden, ist nach den Umständen des Streitfalls unerheblich. Es ist nicht ersichtlich, dass es sich bei dieser Beschäftigung lediglich um eine – die Freizügigkeitsberechtigung nicht eröffnende – untergeordnete oder unwesentliche Tätigkeit handelte (vgl. hierzu statt vieler EuGH, Urteile vom 4. Februar 2010, C-14/09, Genc, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – NVwZ – 2010, 637; vom 30. März 2006, C-10/05, Mattern und Cikotic, NVwZ 2006, 921). Denn die Klägerin wollte – was aus den Lohnabrechnungen für die Folgemonate hervorgeht – in größerem Umfang arbeiten, musste aber im November und Dezember 2021 eine nicht unerhebliche Zeit als Ungeimpfte – ohne Lohnzahlung – in Quarantäne und konnte in dieser Zeit ihrer Beschäftigung nicht nachgehen.
32c) Ohne Bedeutung für die Kindergeldfestsetzung ist, dass die Stadt C. – Ausländerbehörde – den Verlust des Rechts der Klägerin nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU zum 00. November 2021 bestandskräftig festgestellt und erst zum 00. April 2022 mit Wirkung für die Zukunft wieder aufgehoben hat.
33Gem. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1a Satz 2 EStG vorliegen oder gemäß § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch. Der Wortlaut der Vorschrift ist eindeutig. Er gesteht der Familienkasse eine Prüfkompetenz in Bezug auf die Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung zu, die unabhängig ist von einer möglichen parallelen Entscheidung der Ausländerbehörde zur Freizügigkeitsberechtigung. Die Familienkasse ist infolgedessen an Bescheide anderer Behörden nicht gebunden (Hildesheim in: Bordewin/Brandt, EStG, § 62 Abs. 1a Satz4-6, Rn. 150; Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 62, Rn. 15; a. A.: Avvento in: Kirchhof/Seer, EStG, § 62, Rn. 5, wonach eine eigene Überprüfungsmöglichkeit für die Familienkasse abgelehnt wird, wenn die Ausländerbehörde förmlich festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nicht (mehr) besteht).
34Angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG steht einer unabhängigen Prüfung durch die Familienkassen nicht entgegen, dass der Gesetzgeber mit der Regelung jedenfalls nach dem Anlassfall für die Regelung das Ziel verfolgte, den Familienkassen die Einstellung von Zahlungen von Kindergeld an Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der EU oder des EWR bzw. die Nichtzahlung von Kindergeld zu erleichtern. Mit der Einführung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG wollte der Gesetzgeber der Rechtsprechung des BFH zur Frage, wie die Freizügigkeitsberechtigung festzustellen ist, begegnen (BT-Drucks. 19/8691, 63 f.). Der BFH hatte zuvor entschieden, dass die Feststellung der fehlenden Freizügigkeit auch hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten obliegt, nicht jedoch den Familienkassen (BFH, Beschluss vom 00. April 2015, III B 127/14, BStBl. II 2015, 901; BFH, Urteil vom 15. März 2017, III R 32/15, BStBl. II 2017, 963), denn erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU benötigt der Unionsbürger gem. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen. Diese Einschränkung der Prüfungskompetenz der Familienkassen durch den BFH erachtete der Gesetzgeber als ineffektiv, da die Familienkassen erst die Feststellungen der Ausländerbehörde zum Verlust des Freizügigkeitsrechts abwarten mussten, bevor sie die Kindergeldgewährung ablehnen konnten. Stattdessen sollten die Familienkassen nun in begründeten Zweifelsfällen (insbesondere bei Zweifeln an der Erwerbstätigkeit des Unionsbürgers) in eigener Zuständigkeit vom Nichtvorliegen der Freizügigkeitsberechtigung ausgehen und die Kindergeldzahlung einstellen bzw. die Kindergeldgewährung ablehnen können (BT-Drucks. 19/8691, 64). Dass diese Prüfungskompetenz aber entsprechend dem Anlassfall nur dann bestehen sollte, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts nicht ausgesprochen hat, während es im Übrigen auf diese Entscheidung und nicht den materiellen Bestand der Freizügigkeitsberechtigung ankommen sollte, ist dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmen. Liegen – wie vorliegend – die Voraussetzungen des § 2 Absatz 2 oder Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU vor, greift die Einschränkung nicht ein.
353. Die Kostentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Gründe für die Zulassung der Revision sind aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG nicht ersichtlich. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.