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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 30.06.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.02.2021 verpflichtet, unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Erlassantrag zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte zu je 50 %.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Streitig ist, ob der Kläger Anspruch auf Erlass der Kindergeldforderung für seine Kinder Kind 1 (geb. am 00.00.2011) und Kind 2 (geb. am 00.00.2002) für den Zeitraum von Mai 2016 bis Juli 2018 hat.
3Der Kläger lebte ursprünglich mit seinen Kindern und der Kindesmutter, Frau A, zusammen. Mit Bescheid vom 21.12.2011 bewilligte die damals zuständige Familienkasse S gegenüber dem Kläger Kindergeld für beide Kinder.
4Mit Bescheid vom 10.07.2018 hob die Beklagte die Kindergeldbewilligung für beide Kinder ab dem Monat August 2018 auf. Zur Begründung führte sie aus, dass das Kindergeld der Kindesmutter zustünde, nachdem diese die Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe. Mit einem weiteren Schreiben vom 10.07.2018 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass er im Zeitraum von Mai 2016 bis Juli 2018 gegebenenfalls zu Unrecht Kindergeld bezogen habe, und gab diesem Gelegenheit zur Stellungnahme. Weiterhin wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass die Kindergeldrückforderung erlassen werden könne, soweit er das Kindergeld an die Kindesmutter weitergeleitet habe. Für diesen Fall möge der Kläger eine von der Kindesmutter unterschriebene Weiterleitungserklärung bei der Familienkasse einreichen. Mit Schreiben vom 25.09.2018 forderte die Beklagte den Kläger erneut zur Stellungnahme auf. Nachdem der Kläger auch hierauf nicht reagierte, hob die Beklagte die Kindergeldgewährung mit Bescheid vom 24.10.2018 für den Zeitraum von Mai 2016 bis Juli 2018 auf. Zugleich forderte sie den Kläger zur Rückzahlung des Kindesgeldes für diesen Zeitraum in Höhe von insgesamt 10.364,00 € auf. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden.
5Am 07.06.2019 reichte der Kläger ein von der Kindesmutter ausgefülltes und unterschriebenes Formular „Bestätigung über die Weiterleitung von Kindergeld“ ein (Vordruck KG 14). Hierin bestätigte die Kindesmutter, dass der Kläger das Kindergeld für den Zeitraum „April 2017 bis heute“ an sie weitergeleitet habe. Die Felder, in denen die Kindesmutter hätte erklären müssen, dass sie einen Kindergeldantrag bei der Familienkasse gestellt habe bzw. stellen werde, sind in dem Formular nicht ausgefüllt. Die Beklagte teilte dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 11.06.2019 mit, dass der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 24.10.2018 bestandskräftig geworden sei und es bei dieser Entscheidung verbleibe.
6Am 24.07.2019 reichte der Kläger einen erneuten Antrag auf Kindergeld bei der Familienkasse ein. Er erklärte, dass er die Kinder im April 2019 wieder in seinen Haushalt aufgenommen habe. Daraufhin bat die Beklagte die Familienkasse S um Mitteilung, ob der Kindesmutter Kindergeld gewährt worden sei; diese teilte mit, dass der Kindergeldantrag der Kindesmutter am 03.01.2019 abgelehnt worden sei. Mit Bescheid vom 05.09.2019 gewährte die Familienkasse dem Kläger Kindergeld für beide Kinder für den Zeitraum ab Mai 2019.
7Mit Schriftsatz vom 11.07.2019 hatte zwischenzeitlich der Klägerbevollmächtigte die Beklagte über seine Mandatierung informiert und Akteneinsicht beantragt. Nach Ablehnung des Akteneinsichtsantrags beantragte der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 06.09.2019 hilfsweise die Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen gem. § 364 der Abgabenordnung (AO). Zur Erläuterung führte der Klägerbevollmächtigte aus, dass der Kläger über keine Unterlagen zu dem Vorgang verfüge und die gesamten Vorgänge wegen fehlender deutscher Sprachkenntnisse kaum verstehen könne. Die Beklagte teilte dem Klägerbevollmächtigten daraufhin mit Schreiben vom 20.01.2020 Folgendes mit:
8„In Bezug auf Ihr Schreiben vom 06.09.2019 teile ich Ihnen mit, dass eine Änderung des Bescheides vom 24.10.2018 nicht mehr möglich ist. Der Bescheid ist rechtskräftig. Rechtsmittel wurden nicht eingelegt. Desweiteren kommt ein Billigkeitserlass nicht in Betracht, da der Anspruch auf Kindergeld für den Zeitraum der Rückforderung bei der Kindesmutter nicht nachgewiesen ist.“
9(Kindergeldakte Bl. 256).
10Gegen dieses Schreiben, welches nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen war, legte der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 24.01.2020 vorsorglich Einspruch ein (KG-Akte Bl. 270).
11Mit Bescheid vom 30.06.2020 lehnte die Beklagte den Erlass ab (KG-Akte Bl. 362); zur Begründung führte sie aus, dass die Kindesmutter keinen Kindergeldantrag gestellt habe und daher nicht festgestellt werden könne, ob bei dieser ein Anspruch auf Kindergeld gegeben war. Auch gegen diesen Bescheid legte der Kläger fristgemäß Einspruch ein.
12Die Kindergeldakte enthält einen internen Vermerk der Beklagten vom 01.10.2020. Hiernach sei die Kindergeldakte der Kindesmutter zuständigkeitshalber von der Familienkasse S an die Beklagte abgegeben worden. Die Kindesmutter habe im Dezember 2018 einen Kindergeldantrag gestellt, der jedoch mit Wirkung ab Oktober 2018 abgelehnt worden sei. Für den Zeitraum vor Oktober 2018 sei über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs nicht entschieden worden, so dass für den Weiterleitungszeitraum das Bestehen eines Kindergeldanspruchs noch zu prüfen sei (s. Vermerk, KG-Akte Bl. 385).
13Mit Einspruchsentscheidung vom 03.02.2021 wies die Beklagte den Einspruch des Klägers als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen eines Billigkeitserlasses gem. § 227 AO nicht erfüllt seien. Die Kindesmutter habe in der von ihr unterzeichneten Erklärung die Weiterleitung des Kindergeldes nicht für den gesamten Streitzeitraum, sondern lediglich für den Zeitraum von April 2017 bis Juli 2018 bestätigt. Eine wirksame Kindergeldfestsetzung gegenüber der Kindesmutter sei nicht erfolgt. Dass das Kindergeld auf das Konto der Kindesmutter überwiesen worden sei, begründe ebenfalls keinen Erlassanspruch. Da das Kindergeld gegenüber dem Kläger festgesetzt worden sei, müsse er die Leistung an die Kindesmutter gegen sich gelten lassen.
14Zunächst stellte der Kläger beim Finanzgericht einen selbständigen Prozesskostenhilfeantrag, welchem der Senat mit Beschluss vom 10.06.2021 entsprochen hat. Daraufhin hat der Kläger am 23.06.2021 Klage erhoben und einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der Klagefrist gestellt.
15Die Klägerbevollmächtigten weisen darauf hin, dass der Kläger den Verfahrensablauf auch wegen fehlender Deutschkenntnisse nicht vollständig nachvollziehen könne. Den Klägerbevollmächtigten sei im Rahmen des Verwaltungsverfahrens keine Akteneinsicht gewährt worden, so dass auch sie den Verfahrensablauf zunächst hätten rekonstruieren müssen.
16Nach Auffassung des Klägers seien die Erlassvoraussetzungen, welche für die sog. „Weiterleitungsfälle“ gelten, erfüllt. Das Kindergeld für den Streitzeitraum von Mai 2016 bis Juli 2018 sei nachweislich auf ein Bankkonto der Kindesmutter überwiesen worden; entsprechende Kontoauszüge seien der Beklagten vorgelegt worden. Bei dieser Sachlage bedürfe es keiner entsprechenden Bestätigung durch die Kindesmutter. Soweit die Kindesmutter bestätigt habe, dass sie Kindergeld lediglich für den Zeitraum von April 2017 bis Juli 2018 bezogen habe, sei dies unzutreffend.
17Der Umstand, dass gegenüber der Kindesmutter keine Kindergeldfestsetzung erfolgt sei, schließe den Erlassanspruch nicht aus (so auch FG Düsseldorf, Urteil vom 11.01.2019 – 15 K 2506/18, juris). Zudem sei die Kindesmutter offensichtlich kindergeldberechtigt gewesen, da die Kinder bei der Mutter gemeldet gewesen und sie im schulpflichtigen Alter von damals 4 bzw. 14 Jahren gewesen seien.
18Der Kläger beantragt,
19den Bescheid vom 30.06.2020 und die Einspruchsentscheidung vom 03.02.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kindergeldrückforderung aus dem Aufhebungsbescheid vom 24.10.2018 in Höhe von 10.364,00 € zu erlassen,
20hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, den Erlassantrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
21Die Beklagte beantragt,
22die Klage abzuweisen.
23Sie verweist zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung.
24Der Rechtsstreit ist am 21.01.2022 vor dem Berichterstatter erörtert und am 10.05.2023 mündlich vor dem Senat verhandelt worden. Auf die Protokolle wird Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe:
26Die Klage ist zulässig, jedoch nur teilweise begründet. Die Ablehnung des Erlassantrags des Klägers ist ermessenfehlerhaft. Da jedoch keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, wird die Beklagte verpflichtet, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Erlassantrag des Klägers zu entscheiden.
27I. Gemäß § 227 Abs. 1 AO können die Finanzbehörden (zu denen auch die Familienkassen zählen) Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes (BFH) dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, können keinen Billigkeitserlass rechtfertigen. Die generelle Geltungsanordnung des Gesetzes darf durch eine Billigkeitsmaßnahme nicht unterlaufen werden (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 16.11.2005 – X R 3/04, BStBl II 2006, 155, m. w. N.).
28Die Entscheidung über einen Erlassantrag ist eine Ermessensentscheidung, die von den Gerichten nur in den von § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen überprüft werden kann (Beschluss des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 – GmS OGB 3/70, BStBl II 1972, 603). Nach dieser Vorschrift ist die gerichtliche Prüfung des einen Erlass ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Einen Anspruch auf Erlass des konkret begehrten Verwaltungsakts hat der Kläger hingegen nur, wenn nur der Erlass des begehrten Verwaltungsaktes ermessensgerecht ist, sog. Ermessensreduzierung auf Null (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19.05.2022 – III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, mit weiteren Nachweisen aus der BFH-Rechtsprechung).
29Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) hat mit Beschluss vom 19.10.1971 (Az.: GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603) entschieden, dass die nach § 131 Abs. 1 Satz 1 der Reichsabgabenordnung (RAO) zu treffende Entscheidung, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig ist (heute §§ 163, 227 AO), eine Ermessensentscheidung und von den Gerichten nach den für die Überprüfung von Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen sei. Demgegenüber vertritt der Große Senat des BFH die Auffassung, dass es sich bei dem in §§ 163 und 227 AO verwendeten Tatbestandsmerkmal der „Unbilligkeit“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt (Beschluss des Großen Senats vom 28.11.2016 – GrS 1/15, BStBl II 2017, 393). Dieser Streit über die rechtsdogmatische Einordnung des Begriffs der sachlichen Unbilligkeit braucht indes nicht entschieden zu werden, da der Umfang der richterlichen Prüfung in beiden Fällen letztlich keinen bedeutsamen Unterschied aufweist (vgl. dahingehend auch den Beschluss des GrS, juris Rn. 101). Auch wenn man Abschnitt V 37 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG) als eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift ansieht, ist das Finanzgericht zur Prüfung verpflichtet, ob diese Verwaltungsvorschrift ihrerseits den Grundsätzen von Recht und Billigkeit entspricht bzw. den gesetzlich eingeräumten Beurteilungsspielraum nicht überschreitet (in diesem Sinne z.B. auch: BFH-Beschluss vom 08.10.2019 – V R 15/18, BFH/NV 2020, 40, juris Rn. 39; BFH-Beschluss vom 27.07.2011 – I R 44/10, BFH/NV 2011, 2005, juris Rn. 12; BFH-Urteil vom 19.03.2009 – V R 48/07, BStBl II 2010, 92, juris Rn. 50; BFH-Urteil vom 25.11.1980 – VII R 17/78, BStBl II 1981, 204, juris Rn. 18).
30II. Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze ist der angefochtene Bescheid vom 30.06.2020, mit welchem die Beklagte den Erlassantrag des Klägers abgelehnt hat, aufzuheben, da er auf einem unzutreffenden Verständnis des Begriffs der sachlichen Unbilligkeit bzw. – damit verknüpft – auf einer fehlerhaften Ermessensausübung beruht.
311. Das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) hat in Abschnitt V 37 der DA-KG näher dargelegt, unter welchen Voraussetzungen dem nichtberechtigten Elternteil die Kindergeldrückforderung erlassen werden kann. Es handelt sich hierbei um eine normkonkretisierende bzw. ermessensleitende Verwaltungsvorschrift, durch welche die Voraussetzungen für einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen gem. § 227 AO näher bestimmt werden. Es handelt sich nicht – wie in der früheren BFH-Rechtsprechung zeitweise vertreten – um eine bloße Verrechnungsregelung zur Verwaltungsvereinfachung, die dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.
32Zwar erscheinen die in Abschnitt V 37 DA-KG verwendeten Formulierungen in Teilen nicht gänzlich eindeutig: Soweit in Abschnitt V 37 Absatz 2 Satz 7 DA-KG ausgeführt wird, dass der Erstattungsanspruch der Familienkasse gegen den nichtberechtigten Elternteil durch die Weiterleitung erfüllt wird, könnte dies auf eine bloße Verrechnungsregelung schließen lassen, die nicht dem Billigkeits-, sondern vielmehr dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist. Für letzteres könnte auch sprechen, dass nach Abschnitt V 37 Abs. 2 Satz 9 DA-KG in Zweifelsfällen ein Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 1 AO erteilt werden soll. Letztlich maßgeblich erscheint jedoch, dass der Verzicht auf die Kindergeldrückforderung in Weiterleitungsfällen in Abschnitt V 37 Absatz 1 Satz 5 DA-KG sogar ausdrücklich als „Billigkeitsmaßnahme“ bezeichnet wird.
33Auch die BFH-Rechtsprechung zur rechtlichen Einordnung der Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG erscheint uneinheitlich: Ursprünglich ist der BFH davon ausgegangen, dass es sich bei dem Verzicht auf die Kindergeldrückforderung in Weiterleitungsfällen um eine Billigkeitsentscheidung handelt. Dabei hat der BFH es als regelmäßig nicht ermessensfehlerhaft angesehen, die Gewährung des Verzichts von der Vorlage einer Weiterleitungsbestätigung des anderen Elternteils abhängig zu machen, da anderenfalls das Risiko einer doppelten Kindergeldbewilligung bestünde (BFH-Beschluss vom 22.07.1999 – VI B 344/98, BFH/NV 2000, 36; BFH-Beschluss vom 19.05.1999 – VI B 364/98, BFH/NV 1999, 1592; BFH-Beschluss vom 09.04.2001 – VI B 271/00, BFH/NV 2001, 1254). Indes geht teils aus den Entscheidungen des BFH nicht eindeutig hervor, ob er die Prüfung der Voraussetzungen des Abschnitt V 37 DA-KG dem Erhebungs- oder dem Billigkeitsverfahren zuordnet (BFH-Urteil vom 09.12.2002 – VIII R 80/01, BFH/NV 2003, 606); teils wurde dies ausdrücklich offengelassen (BFH-Urteil vom 14.05.2002 – VIII R 64/00, BFH/NV 2002, 1425; BFH-Urteil vom 01.07.2003 – VIII R 94/01, BFH/NV 2004, 25). In späteren Urteilen führte der BFH aus, dass der Verzicht auf die Kindergeldrückforderung in Weiterleitungsfällen „lediglich aus Vereinfachungsgründen von der Familienkasse als Erfüllung des Rückforderungsanspruchs im verkürzten Zahlungsweg berücksichtigt“ werde (BFH-Urteil vom 16.03.2004 – VIII R 48/03, BFH/NV 2004, 1218; BFH-Beschluss vom 12.08.2010 – III B 94/09, BFH/NV 2010, 2062; BFH-Beschluss vom 27.12.2011 – III B 115/11,BFH/NV 2012, 703). Diese geänderte Sichtweise des BFH bedingte, dass er die in der DA-KG niedergelegten Voraussetzungen auch für die Finanzgerichte als unmittelbar verbindlich angesehen hat. Derartige, nicht im Gesetz selbst angeordneten Vereinfachungsregeln seien so auszulegen, wie sie die Verwaltung verstanden wissen wolle; eine Überprüfung der Entscheidung der Finanzverwaltung auf eventuelle Ermessensfehler wurde damit offenbar als ausgeschlossen angesehen (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 13.06.2012 – III B 60/11, BFH/NV 2013, 517, juris Rn. 9). In einem neueren Urteil vom 19.05.2022 geht der BFH allerdings davon aus, dass der Verzicht auf die Kindergeldrückforderung in Weiterleitungsfällen eine Billigkeitsentscheidung i.S. der §§ 163, 227 AO darstellt (BFH-Urteil vom 19.05.2022 – III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160).
34Nach Auffassung des hier befassten Senats sind die Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG – in Übereinstimmung mit der DA-KG sowie dem jüngsten diesbezüglichen BFH-Urteil – als normkonkretisierende bzw. ermessensleitende Verwaltungsvorschrift zur Ausfüllung des Begriffs der sachlichen Unbilligkeit gem. §§ 163, 227 AO anzusehen. Die Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG beinhalten nicht bloß eine Verrechnungsregelung bzw. die Anordnung eines verkürzten Zahlungswegs. Denn die Regelungen gehen in ihren Rechtswirkungen über eine bloße Vereinfachung deutlich hinaus. Sie dienen vielmehr dem Zweck, den unberechtigten Kindergeldempfänger, der das Kindergeld an den materiell-rechtlich „richtigen“ Empfänger weitergeleitet hat, von der ungerecht erscheinenden Kindergeldrückforderung zu befreien. Dies entspricht den Rechtsgedanken des „Wegfalls des Gläubigerinteresses“ bzw. der „Zweckerreichung“, welche in der zivilrechtlichen Literatur als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben angesehen werden (vgl. Staudinger/Looschelders/Olzen (2019) BGB § 242, Rn. 715). Der Grundgedanke liegt darin, dass die Familienkassen kein schützenswertes Interesse an der Rückzahlung des Kindergeldes haben, wenn dieses den tatsächlich Kindergeldberechtigten erreicht hat und für die Kinder verwendet werden konnte.
352. Abschnitt V 37 DA-KG beinhaltet zum einen Regelungen über die materiellen Erlassvoraussetzungen und zum anderen Regelungen über die formellen Erlassvoraussetzungen; aus letzteren folgt, wie der Kindergeldempfänger die materiellen Voraussetzungen nachzuweisen hat (zur Unterscheidung s. nachfolgend Gliederungspunkt a.). Im Hinblick auf die materiellen Erlassvoraussetzungen ist den Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG zuzustimmen (nachfolgend Gliederungspunkt b.). Die Regelungen über die formellen Erlassvoraussetzungen entsprechen nach Auffassung des Senats hingegen nicht den Grundsätzen von Recht und Billigkeit, da dem Anspruchsteller der Nachweis der materiellen Erlassvoraussetzungen in unbilliger Weise erschwert wird. Hierin liegt ein Verstoß gegen den auch im Erlassverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz gem. § 88 Abs. 1 und 2 AO bzw. § 76 Abs. 1 und 4 FGO (nachfolgend Gliederungspunkte c. bis e.).
36a. Den Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG liegt die Erwägung zugrunde, dass die Rückforderung von Kindergeldzahlungen unter folgenden materiellen Voraussetzungen sachlich unbillig ist:
37Der Kindergeldanspruch ist von dem einen auf den anderen Elternteil übergangen,
Das Kindergeld ist aufgrund dieses Übergangs des Kindergeldanspruchs in der Vergangenheit an einen Nichtberechtigten ausgezahlt worden, nämlich an den Elternteil, dessen Kindergeldanspruch entfallen ist,
Der frühere Kindergeldberechtigte hat das Kindergeld an den berechtigten Elternteil weitergeleitet, so dass das Kindergeld zweckentsprechend für die Kinder verwendet worden ist,
Die Familienkasse hat nicht bereits Kindergeldzahlungen an den berechtigten Elternteil geleistet und eine nochmalige Inanspruchnahme für dasselbe Kindergeld ist nicht zu befürchten.
Darüber hinausgehend enthält Abschnitt V 37 der DA-KG jedoch auch Vorgaben dazu, wie der nichtberechtigte Elternteil die materiellen Erlassvoraussetzungen nachzuweisen hat:
43Der nichtberechtigte Elternteil muss einen vom anderen Elternteil ausgefüllten Vordruck „Bestätigung der Weiterleitung von Kindergeld zur Vorlage bei der Familienkasse“ vorlegen,
Der nunmehr berechtigte Elternteil muss einen eigenen Kindergeldantrag für den Weiterleitungszeitraum stellen und gleichzeitig auf seinen Anspruch auf Auszahlung des Kindergeldes verzichten.
b. Im Hinblick auf die materiellen Erlassvoraussetzungen ist den ermessenslenkenden Vorgaben in Abschnitt V 37 DA-KG nach Auffassung des Senats zu folgen.
47Nach der bereits vorstehend dargelegten Auffassung des Senats beruht Abschnitt V 37 DA-KG auf der zutreffenden Erwägung, dass die Rückforderung des zu Unrecht ausgezahlten Kindergeldes unbillig ist, wenn der mit der Kindergeldauszahlung verfolgte Zweck tatsächlich erreicht worden ist. Die Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG stellen auch nicht die generelle Geltungsanordnung der gesetzlichen Vorschriften in Frage, da der Billigkeitserlass nur in der seltenen und besonders gelagerten Konstellation zu gewähren ist, in der das an die falsche Person ausgezahlte Kindergeld an den tatsächlichen Kindergeldberechtigten weitergeleitet worden ist.
48Zwar ist festzustellen, dass der Kläger seine Mitwirkungspflichten gegenüber der Beklagten verletzt hat, indem er ihr den Auszug der Kinder aus seinem Haushalt nicht mitgeteilt hat. Dies steht dem begehrten Erlass jedoch nicht entgegen. Die sog. Weiterleitungsfälle sind stets dadurch gekennzeichnet, dass eine Mitwirkungspflichtverletzung des früheren Kindergeldberechtigten vorliegt, da es anderenfalls nicht zu der Auszahlung des Kindergeldes an den nichtberechtigten Elternteil gekommen wäre. Den Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG lässt sich nach Auffassung des Senats mithin die zutreffende allgemeine Wertung entnehmen, dass eine Mitwirkungspflichtverletzung des früheren Kindergeldberechtigen nur geringes Gewicht beizumessen ist, soweit das Kindergeld tatsächlich den Kindern zugutegekommen ist (so wohl auch BFH-Urteil vom 19.05.2022 – III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, juris Rn. 29).
49Die Gewährung eines Billigkeitserlasses in den sog. Weiterleitungsfällen erscheint nach Auffassung des Senats auch deshalb geboten, weil die Rückforderung des Kindergeldes für die betroffenen Kindergeldempfänger nicht selten zu einer erheblichen Härte führt. So verhält es sich auch im vorliegenden Fall, in welchem der Kläger Kindergeld in Höhe von mehr als 10.000,00 € an die Familienkasse zurückzahlen soll. Angesichts der Einkommensverhältnisse des Klägers erscheint es unwahrscheinlich, dass der Kläger die Kindergeldrückforderung innerhalb der nächsten Jahre wird begleichen können. Auch aus anderen Klageverfahren ist dem Senat bekannt, dass in Weiterleitungsfällen Kindergeld-Rückforderungsbeträge im Raum stehen können, die für die betroffene Person den finanziellen Ruin bedeuten würden. Es erschiene nach Auffassung des Senats in hohem Maße unbillig, wenn eine auf bloßer Nachlässigkeit beruhende Mitwirkungspflichtverletzung, durch die dem tatsächlichen Kindergeldberechtigten und den Kindern kein Schaden entstanden ist und die man einem rechtlichen Laien durchaus nachsehen kann, für die betroffene Person die Insolvenz zur Folge hätte.
50c. Bedenken begegnen die ermessenleitenden Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG allerdings insoweit, als hiernach der Nachweis der Weiterleitung des Kindergeldes an den Kindergeldberechtigten nur durch Vorlage einer Weiterleitungsbestätigung auf amtlichem Vordruck geführt werden kann.
51Die AO und die FGO sehen eine Beschränkung auf bestimmte Beweismittel nicht vor. Soweit die DA-KG in der Vergangenheit in anderweitigen Regelungen vorgesehen hat, dass entscheidungserhebliche Tatsachen nur durch eine entsprechende (rechtzeitige) Erklärung gegenüber der Familienkasse nachgewiesen werden können, hat der BFH hierin einen Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz gem. § 88 Abs. 1 und 2 AO bzw. § 76 Abs. 1 und 4 FGO gesehen (BFH-Urteil vom 17.01.2019 – III R 8/18, BFH/NV 2019, 815, juris Rn. 29, betreffend den Nachweis einer einheitlichen Erst-Ausbildung; BFH-Urteil vom 07.10.2021 – III R 48/19, BFH/NV 2022, 736, juris Rn. 30, betreffend den Nachweis einer vorübergehenden Erkrankung). Der Untersuchungsgrundsatz gilt auch im Billigkeitsverfahren, so dass auch hier die Beschränkung des Antragstellers auf ein bestimmtes formelles Beweismittel, nämlich die Weiterleitungserklärung, nach Auffassung des Senats unzulässig ist (allgemein zur Geltung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. zur Geltung der Amtsermittlungspflicht auch im Billigkeitsverfahren vgl. z.B.: BFH-Urteil vom 23.11.2000 – III R 52/98, BFH/NV 2001, 882, juris Rn. 23; Hübschmann/Hepp/Spitaler-Groll: AO/FGO, § 227 AO, Rn. 295, 380; Gosch-Oellerich, AO/FGO, § 227 AO, Rn. 117). Vielmehr muss dem Kindergeldberechtigten die Möglichkeit eingeräumt werden, das Vorliegen der materiellen Erlassvoraussetzungen auch in anderer Weise als durch Vorlage einer vom anderen Elternteil unterzeichneten Weiterleitungsbestätigung nachzuweisen.
52Hierfür spricht bereits, dass dem Senat aus seiner Tätigkeit Fälle bekannt sind, in denen der nichtberechtigte Elternteil eine durch den anderen Elternteil unterzeichnete Weiterleitungsbestätigung nicht vorlegen kann, weil letzterer nicht mehr erreichbar ist oder seine Mitwirkung vor dem Hintergrund familiengerichtlicher Streitigkeiten treuwidrig verweigert. Insbesondere in derart gelagerten Fällen erscheint es grob unbillig, wenn dem nichtberechtigten Elternteil der Erlass der Kinderrückforderung wegen der fehlenden Mitwirkung des anderen Elternteils versagt wird, auch wenn die Weiterleitung des Kindergeldes an den tatsächlich Kindergeldberechtigten schon durch andere Beweismittel (z.B. durch entsprechende Kontoauszüge) frei von Zweifeln nachgewiesen ist. Dies gilt umso mehr, als es in diesen Fällen auch nicht immer erfolgversprechend erscheint, die Erteilung einer Weiterleitungsbestätigung durch den berechtigten Elternteil im Zivilrechtswege durchzusetzen.
53d. Den Regelungen in Abschnitt V 37 DA-KG kann nach Auffassung des Senats auch insoweit nicht gefolgt werden, als der Erlass der Kindergeld-Rückforderung nur dann gewährt werden soll, wenn der tatsächliche Kindergeldberechtigte den ausdrücklichen Verzicht auf die Kindergeld-Auszahlung erklärt.
54Zwar haben die Familienkassen ein legitimes Interesse daran, dass das Kindergeld für dasselbe Kind nicht zweifach ausgezahlt wird. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass eine doppelte Auszahlung des Kindergeldes nach aktueller Gesetzeslage in den meisten Fällen schon deshalb nicht droht, weil das Kindergeld gem. § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Stellung des Kindergeldantrags ausgezahlt wird. Wenn das Kindergeld wegen verspäteter Antragsstellung ohnehin nicht mehr an den tatsächlichen Kindergeldberechtigten ausgezahlt werden darf, besteht für das Erfordernis einer ausdrücklichen Verzichtserklärung des tatsächlich Kindergeldberechtigten keine sachliche Rechtfertigung.
55Die formelle Voraussetzung des Verzichts des tatsächlichen Kindergeldberechtigten erscheint insbesondere dann unverhältnismäßig, wenn der tatsächliche Kindergeldberechtigte nicht mehr erreichbar ist oder er die Abgabe der Weiterleitungs- und Verzichtserklärung treuwidrig verweigert, während zugleich die Auszahlungssperre des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG greift. Es ist nach Auffassung des Senats nicht nachvollziehbar, dass die Gewährung des Billigkeitserlasses auch dann von der Vorlage einer – vom unberechtigten Empfänger des Kindergeldes ohne eigenes Verschulden nicht oder nur erheblichen Anstrengungen beizubringenden – Verzichtserklärung abhängig gemacht wird, wenn dieser Erklärung aufgrund der Auszahlungssperre des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG tatsächlich keinerlei Rechtswirkungen zukommen.
56e. Bedenken begegnet weiterhin der Umstand, dass nach Abschnitt V 37 der DA-KG ein Billigkeitserlass nur gewährt wird, wenn auch der berechtigte Elternteil ausdrücklich einen Kindergeldantrag gestellt hat und diesem stattgegeben wird. Auch diesbezüglich kann der Fall eintreten, dass der andere Elternteil nicht mehr erreichbar ist oder treuwidrig seine Mitwirkung verweigert. Hier besteht ebenfalls kein Grund, eine derartige fehlende Mitwirkung des anderen Elternteils zu Lasten des nichtberechtigten Elternteils zu berücksichtigen, wenn schon aufgrund anderer Beweismittel zweifelsfrei feststeht, dass ein Kindergeldanspruch des anderen Elternteils bestanden hat.
57Problematisch erscheint zudem, dass das in Abschnitt V 37 DA-KG vorgesehene Verfahren dazu führt, dass die Umstände, die vorliegend zur Ablehnung des Erlassantrags des Klägers geführt haben, nicht vollständig in der für ihn geführten Kindergeldakte dokumentiert sind: Die Regelung in Abschnitt V 37 Absatz 2 Satz 6 DA-KG sieht vor, dass die Frage, ob ein Kindergeldanspruch des anderen Elternteils im Weiterleitungszeitraum bestanden hat, von der für diesen zuständigen Familienkasse geprüft wird; diese soll dann die für den nichtberechtigten Elternteil zuständige Familienkasse über das Ergebnis der Prüfung informieren. Eine solche Abstimmung zwischen den zuständigen Familienkassen ist zweifellos notwendig, da nur so sicher vermieden werden kann, dass Kindergeld für denselben Monat und dasselbe Kind zweifach gewährt wird. Das in Abschnitt V 37 DA-KG vorgesehene Verfahren führt jedoch dazu, dass die für Entscheidung über den Erlassantrag des nichtberechtigten Elternteils zuständige Familienkasse das Bestehen eines Kindergeldanspruchs des berechtigten Elternteils selbst nicht prüft und dass die Gründe, die zur Ablehnung des Kindergeldantrags berechtigten Elternteils geführt haben, auch nicht in der dem Finanzgericht vorzulegenden Kindergeldakte des nichtberechtigten Elternteils dokumentiert sind. Der Senat kann daher anhand der ihm vorliegenden Kindergeldakten nicht vollständig überprüfen, ob die für den Kläger zuständige Familienkasse ihr Ermessen unter Einbeziehung aller entscheidungsrelevanten Tatsachen ausgeübt oder ob sie wesentliche Gesichtspunkte außer Acht gelassen hat.
58III. Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist der Aufhebungsbescheid vom 30.06.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.02.2021 aufzuheben, da er auf einer fehlerhaften Ermessensausübung beruht.
59In der Einspruchsentscheidung vom 03.02.2021 führt die Beklagte aus, dass ein Erlass des Kindergeldrückforderungsanspruchs Folgendes voraussetzt:
60„1. Die Darlegung, dass eine Weiterleitung des (vollen monatlichen) Kindergeldes an den eigentlich berechtigten Elternteil erfolgt ist,
612. Die Vorlage einer schriftlichen Bestätigung des eigentlich berechtigten Elternteils auf Vordruck KG 14 innerhalb der von der Familienkasse gesetzten Frist,
623. Festsetzung von Kindergeld gegenüber der nunmehr Berechtigten ohne Auszahlung des Kindergeldes an diese.“
63Im Weiteren führt die Beklagte aus, dass eine wirksame Festsetzung des Kindergeldes gegenüber der Mutter der Kinder nicht erfolgt sei. Der Umstand, dass das Kindergeld auf das Konto der Mutter der Kinder überwiesen worden sei, führe ebenfalls nicht zu einem Billigkeitserlass, da der Kläger dieses Konto auf seinem damaligen Kindergeldantrag angegeben habe. Er müsse die Zahlung daher gegen sich wirken lassen.
64Diese Ermessenserwägungen der Beklagten sind unter Zugrundelegung der vorstehend dargestellten Rechtsauffassung des Senats fehlerhaft: Entgegen der Begründung der Einspruchsentscheidung setzt der Billigkeitserlass nicht zwingend voraus, dass der Antragsteller einen ausgefüllten Vordruck „Bestätigung der Weiterleitung von Kindergeld zur Vorlage bei der Familienkasse“ (KG 14) vorlegt. Vielmehr hätte die Beklagte nach Auffassung des Senates prüfen können und müssen, ob schon die vorgelegten Kontoauszüge den Beweis für die Weiterleitung des Kindesgeldes an die Kindesmutter erbringen. Die von der Beklagten angeführte Erwägung, dass der Kläger die Überweisung auf das ihm im Kindergeldantrag angegebene Konto gegen sich wirken lassen muss, betrifft im Übrigen allein die Frage, ob die Familienkasse das von ihr festgesetzte Kindergeld mit schuldbefreiender Wirkung auf dieses Bankkonto überweisen konnte; für die Frage des Billigkeitserlasses ist dieser Umstand ohne unmittelbare Bedeutung. Schließlich liegt ein Ermessensfehler auch darin, dass nach Auffassung des Beklagten ein Erlass nur gewährt werden kann, wenn das Kindergeld gegenüber der Kindesmutter durch Bescheid festgesetzt und dennoch nicht an diese ausgezahlt worden ist.
65IV. Die von der Klägerin beantragte Verpflichtung der Beklagten, den Rückforderungsbetrag i.H. von 10.364,00 € zu erlassen, kann der Senat nicht aussprechen.
66Stellt das Finanzgericht einen Ermessensfehler fest, ist es grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung beschränkt. Nur in den Fällen der sog. Ermessensreduzierung auf Null ist das Gericht befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde zu setzen (BFH-Urteil vom 11.12.2013 - XI R 22/11, BStBl II 2014, 332, Rz 30). Eine solche Ermessensreduzierung auf Null kann im vorliegenden Fall indes weder zugunsten noch zuungunsten des Klägers festgestellt werden.
67Die Beklagte wird bei der erneuten Entscheidung über den Erlassantrag des Klägers die folgenden materiell-rechtlichen Voraussetzungen prüfen müssen:
681. Ist der Kindergeldanspruch vom Kläger auf die Kindesmutter übergegangen?
2. Hat der Kläger das Kindergeld an die kindergeldberechtigte Kindesmutter weitergeleitet, so dass davon ausgegangen werden kann, dass das Kindergeld zweckentsprechend für die Kinder verwendet worden ist?
3. Verfügte die Kindesmutter während des Weiterleitungszeitraums materiell-rechtlich über einen eigenen Kindergeldanspruch?
4. Ist eine doppelte Auszahlung des Kindergeldes für dasselbe Kind und denselben Zeitraum an den Kläger und an die Kindesmutter ausgeschlossen (wegen Verzichts der Kindesmutter, jedoch auch wegen Festsetzungsverjährung oder der Auszahlungssperre gem. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG)?
Dabei kann die Beklagte den Kläger durchaus auffordern, eine Weiterleitungsbestätigung vorzulegen, da hierin der einfachste und sicherste Weg zum Nachweis der materiellen Erlassvoraussetzungen liegt. Sollte dem Kläger die Vorlage einer solchen Weiterleitungsbestätigung nicht möglich sein, muss die Beklagte dem Kläger jedoch – wie oben ausgeführt – die Möglichkeit einräumen, die Weiterleitung des Kindesgeldes in anderer Weise nachzuweisen.
74Weiterhin hat die Beklagte in eigener Verantwortung zu prüfen, ob die Kindesmutter während des Weiterleitungszeitraums über einen Kindergeldanspruch verfügte. Falls die Beklagte aus Vereinfachungsgründen das Prüfungsergebnis der für die Kindesmutter zuständigen Familienkasse übernehmen möchte, muss sie die entscheidungserheblichen Umstände vollständig in der für den Kläger geführten Kindergeldakte dokumentieren, um eine gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen. Soweit die Kindesmutter keinen Kindergeldantrag gestellt hat oder aber ihr Kindergeldantrag wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt worden ist, muss die Beklagte dem Kläger Gelegenheit geben, das Bestehen des Kindesanspruchs der Kindesmutter selbst nachzuweisen.
75Der Senat weist weiterhin – ohne Bindungswirkung – auf Folgendes hin: Die vom Kläger vorgelegten Kontoauszüge sind ein gewichtiges Indiz dafür, dass das Kindergeld der tatsächlich berechtigten Kindesmutter zur Verfügung stand. Denn die in den Kontoauszügen dokumentierten Zahlungsvorgänge lassen darauf schließen, dass dieses Konto – jedenfalls ab April 2017 – durch die Kindesmutter als Hauptkonto genutzt worden ist. Ab dem Monat April 2017 sind von diesem Konto die Miete für die damalige Wohnung der Kindesmutter unter der Adresse B-Straße 1, E, sowie die Nebenkostenvorauszahlungen an die Stadtwerke abgebucht worden. Hierbei handelt es sich um die Wohnung, in der während des Weiterleitungszeitraums die Kindesmutter und mit ihr auch die Kinder des Klägers gelebt haben. Weiterhin ist auf dem Konto neben den Kindergeldzahlungen auch der Arbeitslohn der Kindesmutter eingegangen. Außerdem ist von dem Konto offenbar auch das Essensgeld für die Kinder abgebucht worden. Allerdings wird im erneuten Verwaltungsverfahren der Frage nachzugehen sein, weshalb die Kindesmutter in der – nicht formgemäß ausgefüllten – Weiterleitungsbestätigung erklärt hat, dass der Kläger das Kindergeld erst seit dem Monat April 2017 an sie weitergeleitet hat. Dies steht in Widerspruch zu den Angaben des Klägers, der hierzu auch im Klageverfahren keine näheren Angaben gemacht hat. Angemerkt sei, dass die Erklärung der Kindesmutter insoweit plausibel erscheint, als sie offenbar erst im April 2017 die Wohnung unter der Anschrift B-Straße 1, E, bezogen hat (vgl. Meldeauskunft, Gerichtsakte Bl. 191f.). Der Kläger ist im Rahmen des erneut durchzuführenden Verwaltungsverfahrens zur Mitwirkung verpflichtet (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 07.05.2007 – X B 222/06, juris). Falls der Kläger an der Aufklärung des Sachverhalts nicht in angemessener Weise mitwirkt, kann die Beklagte dies zu seinen Lasten berücksichtigen.
76V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zuzulassen.