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Der Ablehnungsbescheid vom 08.01.2020 und die Einspruchsentscheidung vom 07.02.2020 werden aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig voll-streckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Der Kläger begehrt die Stundung einer Erstattungsforderung.
3Der Kläger bezog für seinen Sohn T laufend Kindergeld. Mit Bescheid vom 21.03.2018 hob die Familienkasse NRW die Kindergeldfestsetzung rückwirkend für den Zeitraum von Mai 2017 bis einschließlich Februar 2018 auf und forderte das für diesen Zeitraum gezahlte Kindergeld i.H.v. insgesamt 1.936 EUR zurück. Zur Begründung führte die Familienkasse NRW aus, dass keine Nachweise über eigene Bemühungen von T um einen Ausbildungsplatz vorgelegt worden seien. Der Kläger legte gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid Einspruch ein. Im Verlauf des Einspruchsverfahrens half die Familienkasse NRW dem Einspruch bzgl. der Monate Oktober und November 2018 mit Änderungsbescheid vom 18.06.2018 ab, wodurch sich die Erstattungsforderung auf 1.552 EUR minderte, und wies den Einspruch im Übrigen mit Einspruchsentscheidung vom 19.06.2018 als unbegründet zurück.
4Der Kläger beantragte im Mai 2018 bei der Beklagten eine Ratenzahlung des zu erstattenden Betrages. Die Ehefrau des Klägers nahm in der Folge die Zahlung von Raten in Höhe von monatlich 20,00 EUR auf die Erstattungsforderung auf.
5Mit Mahnung vom 19.09.2019 forderte die Beklagte den Kläger zur Zahlung von 1.548,50 EUR (Restbetrag Forderung i.H.v. 1.529 EUR und Säumniszuschläge für den Zeitraum vom 22.04.2018 bis 29.04.2018 i.H.v. 19,50 EUR) auf.
6Mit Schreiben vom 23.09.2019 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Stundung und Ratenzahlung.
7Mit Bescheid vom 08.01.2020 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Stundung der sich mittlerweile auf 1.497,50 EUR (Restbetrag Forderung i.H.v. 1.449 EUR und Säumniszuschläge für den Zeitraum vom 22.04.2018 bis 11.11.2019 i.H.v. 48,50 EUR) belaufenden Forderung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass Ratenzahlungsvereinbarungen im Bereich des Steuerrechts außerhalb einer Stundung unzulässig seien, weshalb der Bescheid im Rahmen der Stundungsablehnung ergehe. Nach § 222 der Abgabenordnung (AO) dürfe die Bundesagentur für Arbeit Forderungen nur stunden, wenn die sofortige Einziehung mit erheblichen Härten für den Schuldner verbunden wäre und die Forderung durch die Stundung nicht gefährdet werde. Die Einziehung sei für den Schuldner erst dann mit einer erheblichen Härte verbunden, wenn er sich auf die Erfüllung des Anspruchs nicht rechtzeitig habe vorbereiten können oder sich augenblicklich in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinde. Als Ursache für die erhebliche Härte kämen insbesondere persönliche Gründe in Betracht. Voraussetzung für eine Stundung aus persönlichen Gründen seien die Stundungsbedürftigkeit und die Stundungswürdigkeit des Schuldners. Stundungswürdig sei der Schuldner, wenn er seine wirtschaftliche Situation nicht selbst herbeigeführt und nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen habe. Stundungswürdigkeit sei insbesondere dann zu verneinen, wenn der Schuldner die Rückforderung selber verschuldet habe. Laut Mitteilung der Familienkasse NRW sei die Forderung aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht des Klägers entstanden. Stundungswürdigkeit liege somit nicht vor; daher brauche auf die Stundungsbedürftigkeit als weitere Voraussetzung für eine Billigkeitsmaßnahme nicht weiter eingegangen zu werden.
8Am 14.01.2020 legte der Kläger Einspruch gegen die Ablehnung der Stundung ein und machte geltend, dass er nicht in der Lage sei, die Forderung sofort zu begleichen. Er sei seit dem 31.01.2020 arbeitslos. Es seien laufend 20,00 EUR monatlich überwiesen worden und bislang habe es diesbezüglich keine Probleme gegeben. Er habe auch nicht gewusst, dass er Unterlagen hätte einreichen müssen.
9Mit Einspruchsentscheidung vom 07.02.2020 wies die Familienkasse NRW den Einspruch des Klägers gegen die Ablehnung der Stundung als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger wegen seiner Mitwirkungspflichtverletzung nicht stundungswürdig sei. Es möge zutreffen, dass der Kläger derzeit nicht in der Lage sei, die Forderung zu erfüllen. Allerdings handele es sich bei der Entscheidung über eine Stundung um eine Ermessensentscheidung. Hierbei sei nicht allein das Interesse des Antragstellers an einer Stundung in Betracht zu ziehen, sondern es sei abzuwägen gegen das Interesse der Gemeinschaft der Steuerzahler an einer ordnungsgemäßen Verwendung der Steuergelder. Es sei daher neben der Stundungsbedürftigkeit ebenso festzustellen, ob Stundungswürdigkeit gegeben sei. Es könne dahinstehen, ob der Kläger stundungsbedürftig sei, da keine Stundungswürdigkeit vorliege. Stundungswürdigkeit sei gegeben, wenn der Schuldner die mangelnde Leistungsfähigkeit nicht selbst herbeiführe oder durch sein Verhalten nicht in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen habe. Letzteres sei hier aber nicht zutreffend, denn die Beurteilung der Stundungswürdigkeit in dem angegriffenen Bescheid sei sachlich nicht zu beanstanden. Der Kläger habe seine Mitwirkungspflichten verletzt, da er keine Nachweise über Eigenbemühungen seines Kindes T bei der Familienkasse vorgelegt habe. Die Überzahlung des Kindergeldes sei damit aufgrund der Mitwirkungspflichtverletzung des Klägers erfolgt.
10Mit seiner hiergegen erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren, eine Stundung der Rückzahlungsforderung der Beklagten zu erreichen, weiter. Der Kläger trägt zur Begründung vor, dass die Stundung nicht hätte abgelehnt werden dürfen. Seine Ehefrau habe sich seinerzeit mit der Familienkasse in Verbindung gesetzt und mitgeteilt, dass der Kläger aufgrund seiner Unterhaltspflicht für seine Ehefrau und drei Kinder nicht in der Lage sei, zu zahlen. Sie habe eine monatliche Ratenzahlung von 20,00 EUR angeboten und dieser Vorschlag sei akzeptiert worden. Bis heute sei die Forderung bedient worden. Seit Ende Januar 2020 sei der Kläger allerdings arbeitslos und auf Leistungen des Job-Centers angewiesen. Gleichwohl zahle seine Ehefrau weiterhin monatlich 20,00 EUR auf die Forderung der Beklagten. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Beklagte schon vor Jahren einer solchen Ratenzahlungsvereinbarung zumindest konkludent zugestimmt habe, nunmehr aber eine Stundung ablehne.
11Der Kläger beantragt,
12den Bescheid der Beklagten vom 08.01.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 07.02.2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Forderung aus dem Bescheid der Familienkasse NRW vom 21.03.2018 nebst Säumniszuschlägen i.H.v. insgesamt 1.497,50 EUR zu stunden.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen,
15hilfsweise, die Revision zuzulassen.
16Die Beklagte verweist zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung.
17Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 09.02.2022 und die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 10.02.2022 auf mündliche Verhandlung verzichtet.
18Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge und die Verfahrensakte Bezug genommen.
19Entscheidungsgründe
201. Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
212. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte richtet. Der Senat bleibt insoweit bei seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteile vom 21.12.2021 in den Verfahren 1 K 530/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 6/22), 1 K 2235/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 2/22), 1 K 3188/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 3/22) und 1 K 194/20 Kg,AO (Rev. BFH III R 4/22).
22Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO sein soll (vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Etwas anderes gilt gem. § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn vor Erlass der Einspruchsentscheidung eine andere als die ursprünglich zu-ständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist. Diese Vorschrift ist auf einen Wechsel der sachlichen Zuständigkeit entsprechend anzuwenden (BFH, Urteil vom 10.06.1992 I R 142/90, BStBl II 1992, 784).
23Im Streitfall hat die Beklagte den beantragen Erlass der Kindergeldrückforderung ab-gelehnt, so dass die Klage gegen sie zu richten ist. Ein Wechsel der örtlichen bzw. sachlichen Zuständigkeit gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat gerade nicht stattgefunden. Vielmehr wurden nach den Vorstandsbeschlüssen der Bundesagentur für Arbeit vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) von vornherein die Ausgangsentscheidung und die Einspruchsentscheidung von zwei verschiedenen Behörden getroffen. In diesem Fall bleibt die Ausgangsbehörde, die den Rechtsbehelf veranlasst hat, passiv prozessführungsbefugt (vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Der Senat folgt daher nicht der Gegenansicht des FG Düsseldorf (Urteile vom 14.06.2021 9 K 2976/20 und vom 28.09.2021 9 K 465/21, juris), wonach in Fällen, in denen die Ausgangsentscheidung von der sachlich unzuständigen, die Einspruchsentscheidung dagegen von der sachlich zuständigen Behörde gefällt wird, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO analog anzuwenden sein soll.
24Der Kläger hat zwar in seiner Klageschrift die Familienkasse NRW als Beklagte bezeichnet, jedoch ist die Klageerhebung als Prozesshandlung im Zweifel gemäß §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches auszulegen. Eine Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte. Die Bezeichnung der Familienkasse NRW als Beklagte beruht offensichtlich auf der insoweit unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung der Familienkasse NRW in ihrer Einspruchsentscheidung. Die Klage ist dahingehend auszulegen, dass sie gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte gerichtet ist.
253. Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 08.01.2019 und die Einspruchsentscheidung vom 07.02.2020 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO, soweit der Ablehnungsescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde. Soweit der Kläger beantragt, die Beklagte zu einer Stundung der Rückforderung aus dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 21.03.2018 zu verpflichten, ist die Klage unbegründet.
26a) Die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids vom 08.01.2019 folgt bereits daraus, dass dieser Bescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde und dieser Mangel der sachlichen Zuständigkeit weder geheilt wurde noch unbeachtlich ist. Auch in diesem Punkt bleibt der Senat bei seiner bisherigen Rechtsprechung (Urteile vom 21.12.2021 in den Verfahren 1 K 530/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 6/22), 1 K 2235/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 2/22), 1 K 3188/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 3/22) und 1 K 194/20 Kg,AO (Rev. BFH III R 4/22).
27aa) Die Beklagte war für die Entscheidung über den Stundungsantrag sachlich nicht zuständig. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ist für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs, zu dem auch das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen gehört, das Bundeszentralamt für Steuern zuständig. Nach Satz 2 dieser Vorschrift stellt die Bundesagentur für Arbeit diesem zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs kann der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit von den Vor-schriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG). Da die Übertragung bestimmter Sachaufgaben auf eine Familienkasse nicht die örtliche Zuständigkeit betrifft, ist die Übertragung des Bereichs „Inkasso“ auf die Beklagte nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Für diesen Bereich verbleibt es vielmehr bei der sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Familienkasse. Der Senat folgt insoweit den zur Frage der sachlichen Zuständigkeit der Beklagten ergangenen BFH-Urteilen vom 25.02.2021 (III R 36/19, BStBl II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100) und vom 07.07.2021 (III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457) und nimmt auf deren Entscheidungsgründe Bezug (vgl. auch FG Münster, Urteil vom 02.11.2021 1 K 3623/20 AO, juris).
28bb) Dieser Zuständigkeitsmangel wurde weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse NRW geheilt, noch ist er unbeachtlich.
29(1) Der Umstand, dass die Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse NRW, die für die Entscheidung über den Stundungsantrag örtlich und sachlich zuständig gewesen wäre, erlassen wurde, führt nicht zu einer Heilung der sachlichen Unzuständigkeit bei Erlass des Ablehnungsbescheides durch die Beklagte. Die Frage der Heilung durch eine Einspruchsentscheidung der für den Ausgangsbescheid zuständigen Behörde wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt (für eine Heilung: FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.06.2020 7 K 14045/18, EFG 2020,1284; FG Münster, Urteil vom 03.12.2020 3 K 2344/20, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 14.06.2021 9 K 2976/20 AO, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 28.09.2021 9 K 465/21 AO, juris; Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 16 AO Rz. 55; Schmieszek in Gosch AO/FGO § 16 Rz. 17; gegen eine Heilung: FG Düsseldorf, Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris; FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19, EFG 2021, 513).
30(a) Die wegen des Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit rechtswidrige Ablehnungsentscheidung der Beklagten wurde nicht gemäß § 126 Abs. 2 AO durch Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt.
31§ 126 AO enthält einen Katalog von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – z.T. sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können.
32Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände; er ist angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift abschließend. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind damit von einer Nachholung mit Heilungswirkung i.S.d. § 126 ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 126 AO Rz. 3).
33Ein Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit ist in § 126 AO nicht aufgeführt. Für eine Extension auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).
34(b) Auch die Gesamtüberprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren führt im Streitfall nicht zu einer Heilung der fehlenden sachlichen Zuständigkeit durch Erlass der Einspruchsentscheidung. Anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) trifft die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, durch die Zurückweisung des Einspruchs keine Entscheidung in der Sache, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt gemäß § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes träte. Der Senat folgt insofern der Auffassung des 10. Senats des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 (10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). § 367 AO ist nicht zu entnehmen, dass einer den Einspruch lediglich zurückweisenden Entscheidung eine derartige rechtliche Bedeutung zukäme. Eine andere Beurteilung hätte zur Folge, dass die sachliche Unzuständigkeit der den angefochtenen Verwaltungsakt erlassenden Behörde – abgesehen von Fällen der Verwerfung des Einspruchs (§ 358 Satz 2 AO) – nie erfolgreich gerügt werden könnte (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). Wenn ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte, wäre die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich.
35Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass im Einspruchsverfahren auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist und als Ergebnis dieser Überprüfung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die Entscheidung über den Einspruch auch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, BStBl. II 2017, 642). Im Streitfall hat zwar die Familienkasse NRW, in deren örtlichem Zuständigkeitsbereich die Klägerin wohnt, die Einspruchsentscheidung erlassen. Dies beruhte aber nicht auf einer Überprüfung und Erkenntnis der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Beklagten im Einspruchsverfahren, sondern darauf, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit mit seinen Beschlüssen vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) der Familienkasse NRW ausdrücklich die „Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes“ zugewiesen hat. Unabhängig davon, ob es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine derartige Regelung fehlte (so der 10. Senat des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513), kann dies auch unter Berücksichtigung der vorgenannten BFH-Rechtsprechung nicht zu einer Heilung führen. Würde eine Heilung angenommen, würde dies zu einer Rechtsschutzverkürzung für all diejenigen potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten führen, die „zufällig“ im Bezirk der Familienkasse NRW wohnhaft sind, denn gegenüber potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten, die im Bezirk einer anderen Familienkasse wohnen, könnte eine Heilung nicht eintreten und der Weg für eine erneute Sachentscheidung wäre frei. Darüber hinaus versteht der erkennende Senat die Rechtsprechung des BFH dahingehend, dass nur die Überlassung der Entscheidung an die sachlich und örtlich zuständige Behörde im „Bewusstsein“ der eigenen sachlichen und/oder örtlichen Unzuständigkeit zu einer Heilung führen kann.
36(2) Der Fehler, dass der Ablehnungsbescheid von der sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde, ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich.
37§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit. Die Aufzählung ist enumerativ. Die Vorschrift ist aufgrund ihres Ausnahmecharakters hinsichtlich anderer Fehler nicht analogiefähig. Eine Erstreckung des § 127 AO auf nicht genannte formelle Mängel, wie hier die Verletzungen der sachlichen Zuständigkeit, kommt daher nicht in Betracht (BFH-Urteil vom 21.04.1993 X R 112/91 Rz. 52 m.w.N., BStBl. II 1993, 649; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 127 AO Rz. 13; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 127 AO Rz. 11; Drüen in Tipke/Kruse AO/FGO § 16 AO Rz. 15).
38Zudem ist die Vorschrift des § 127 AO bereits deshalb nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Stundungsantrag, anwendbar, weil bei eingeräumtem Ermessen grundsätzlich (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können.
39b) Der Umstand, dass die Beklagte für die Entscheidung über den Stundungsantrag des Klägers sachlich unzuständig war, kann allerdings nur dazu führen, dass die Ablehnungsentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden (vgl. FG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, i. Erg. bestätigt durch BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712; so auch Urteile des erkennenden Senats vom 21.12.2021 in den Verfahren 1 K 530/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 6/22), 1 K 2235/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 2/22), 1 K 3188/18 Kg,AO (Rev. BFH III R 3/22) und 1 K 194/20 Kg,AO (Rev. BFH III R 4/22)). Eine Verpflichtung der Beklagten als sachlich unzuständiger Behörde, die Stundung zu gewähren, kann aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ausgesprochen werden.
404. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO und richtet sich nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
415. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechtsbehelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten. Der BFH hat diese Frage in seinen Entscheidungen vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100 und vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/ NV 1457-1461 ausdrücklich offen gelassen. Gegen die Urteile des erkennenden Senats vom 21.12.2021 in den Verfahren 1 K 530/18 Kg,AO, 1 K 2235/18 Kg,AO, 1 K 3188/18 Kg,AO und 1 K 194/20 Kg,AO sind unter den Az. III R 6/22, III R 2/22, III R 3/22 und III R 4/22 Revisionsverfahren anhängig.