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Der Ablehnungsbescheid vom 11.07.2019 und die Einspruchsentscheidung vom 24.10.2019 werden aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig voll-streckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Klägerin begehrt die Stundung von Erstattungsforderungen nebst Säumniszuschlägen.
3Die Klägerin bezog für ihre Enkel T und U laufend Kindergeld. Mit Bescheid vom 02.06.2010 hob die Familienkasse B die Kindergeldfestsetzung für T für den Zeitraum von Juli 2008 bis September 2009 auf und forderte das für diesen Zeitraum gezahlte Kindergeld i.H.v. 2.400 EUR zurück. Mit weiteren Bescheiden 02.07.2012 und 06.12.2012 hob die Familienkasse B die Kindergeldfestsetzung rückwirkend für die Zeiträume März 2011 bis März 2012 (Kindergeld für T) und September 2012 bis Oktober 2012 (Kindergeld für U) auf und forderte das für die genannten Zeiträume gezahlte Kindergeld i.H.v. 2.392 EUR und 368 EUR zurück. Sämtliche Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide wurden bestandskräftig.
4Die Klägerin nahm die Zahlung von Raten auf die Rückforderungen auf, was bis Juli 2017 zu einer vollständigen Tilgung des mit Bescheid vom 02.06.2010 festgesetzten Rückforderungsbetrages führte.
5Mit Schreiben vom 27.06.2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten weiterhin eine Ratenzahlung der noch zu erstattenden Beträge sowie die Niederschlagung von Säumnis- und Verzugszinsen. Zu diesem Zeitpunkt belief sich die offene Forderung auf 1.755 EUR Kindergeld und 1.445,50 EUR Säumniszuschläge (berechnet bis zum 18.06.2019) aufgrund der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide vom 02.07.2012 und 06.12.2012. Die Beklagte legte den Antrag als einen solchen auf Stundung aus.
6Mit Bescheid vom 11.07.2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Stundung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass Ratenzahlungsvereinbarungen im Bereich des Steuerrechts außerhalb einer Stundung unzulässig seien, weshalb der Bescheid im Rahmen der Stundungsablehnung ergehe. Eine Stundung sei nur möglich, wenn die sofortige Einziehung einer Steuerforderung mit erheblichen Härten für den Schuldner verbunden wäre und die Forderung durch die Stundung nicht gefährdet werde. Eine Einziehung sei dann mit einer erheblichen Härte verbunden, wenn sich der Schuldner auf die Erfüllung des Anspruchs nicht rechtzeitig vorbereiten könne oder er sich augenblicklich in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befinde. Als Ursache für die erhebliche Härte kämen insbesondere persönliche Gründe in Betracht. Voraussetzung für eine Stundung aus persönlichen Gründen sei die Stundungsbedürftigkeit und die Stundungswürdigkeit des Schuldners. Nach den Erkenntnissen der Beklagten sei eine Stundungswürdigkeit zu verneinen, da die Erstattungsforderung aufgrund einer Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin entstanden sei. Eine Stundung komme daher nach pflichtgemäßem Ermessen nicht in Betracht.
7Am 15.08.2019 legte die Klägerin Einspruch gegen die Ablehnung der Stundung ein.
8Mit Einspruchsentscheidung vom 24.10.2019 wies die Familienkasse NRW den Einspruch der Klägerin gegen die Ablehnung der Stundung als unbegründet zurück. Eine Stundung könne nicht gewährt werden. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis können gestundet werden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheine. Die erhebliche Härte sei regelmäßig dann anzunehmen, wenn die Entrichtung der Steuer oder der sonstigen Geldleistungen am Fälligkeitstag dazu führen würde, dass im geschäftlichen oder persönlichen Bereich des Schuldners finanzielle Einschränkungen eintreten würden, die über das mit dem Geldabfluss normalerweise verbundene Ausmaß wesentlich hinausgingen und vom Schuldner auch nicht durch geeignete Vorsorge abgewendet werden könnten. Eine erhebliche Härte könnte durch persönliche oder sachliche Stundungsgründe begründet sein. Persönliche Stundungsgründe seien gegeben, wenn Stundungswürdigkeit und Stundungsbedürftigkeit vorlägen. Stundungswürdig sei der Schuldner, wenn er seine Zahlungsunfähigkeit nicht selbst herbeigeführt und nicht durch sein Verhalten in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen habe. Stundungsunwürdigkeit sei aber gegeben, wenn die Zahlungspflicht auf einem steuerlichen Fehlverhalten beruhe, also ohne dieses Fehlverhalten nicht entstanden wäre. Dies sei vorliegend der Fall. Die Klägerin habe der Familienkasse nicht unverzüglich mitgeteilt, dass das Enkelkind U ihren Haushalt ab September 2012 verlassen habe und somit die Kindsmutter den vorigen Anspruch auf Kindergeld gehabt habe. Die unterlassene Mitteilung der Klägerin sei ursächlich für die Auszahlung des Kindergeldes gewesen, da die Familienkasse keine Kenntnis von dem Auszug des Enkelkindes U Kenntnis gehabt habe. Somit sei es zu einer Überzahlung des Kindergeldes für den Zeitraum September 2012 bis Oktober 2012 kommen. Außerdem habe die Klägerin der Familienkasse nicht unverzüglich mitgeteilt, dass das Kind T nicht mehr als Bewerber um eine berufliche Ausbildungsstelle bei der Ausbildungsstellenvermittlung der Agentur für Arbeit oder des Jobcenters geführt worden sei. Darüber hinaus seien keine Nachweise über eigene Bemühungen um einen Ausbildungsplatz des Kindes T eingereicht worden. Auch hier sei die unterlassene Mitteilung der Klägerin ursächlich für die Auszahlung des Kindergeldes gewesen, weil die Familienkasse keine Kenntnis von der Abmeldung des Kindes von der Ausbildungsstellenvermittlung gehabt habe. Deshalb sei es zu einer Überzahlung des Kindergeldes gekommen. Die Klägerin habe ihre Mitteilungspflicht nach § 68 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gegenüber der Familienkasse verletzt. Danach sei der Antragsteller verpflichtet, Änderungen in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich seien, oder über die im Zusammenhang mit der Steuervergütung Erklärungen abgegeben worden seien, der Familienkasse mitzuteilen. Über die Mitwirkungspflichten sei die Klägerin im Kindergeldantrag belehrt worden und mit ihrer Unterschrift unter den Kindergeldantrag habe sie ihre Mitwirkungspflicht vollumfänglich anerkannt. Die Rückforderung und Überzahlung des Kindergeldes sei allein auf ein Verschulden der Klägerin zurückzuführen und sie habe die Zahlungspflicht durch steuerliches Fehlverhalten herbeigeführt. Die Familienkasse selbst treffe keinerlei Mitverschulden an dem Entstehen der Forderung. Eine Stundungswürdigkeit könne daher unter Berücksichtigung des steuerlichen Fehlverhaltens und alleinigen Verschuldens der Klägerin sowie der Ursächlichkeit für die bestehende Zahlungspflicht nicht angenommen werden. Da Stundungswürdigkeit nicht vorliege, brauche auf die Stundungsbedürftigkeit als weitere Voraussetzung für eine Billigkeitsmaßnahme nicht weiter eingegangen zu werden.
9Mit ihrer gegen die Familienkasse NRW erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren, eine Stundung der Rückzahlungsforderung der Beklagten zu erreichen, weiter. Die Klägerin trägt zur Begründung vor, dass sie, die Monate November und Dezember 2019 und sowie Januar 2020 eingerechnet, zwischenzeitlich insgesamt 3.746,00 EUR auf die Forderung der Beklagten gezahlt habe. Nichts desto trotz verhalte sich die Beklagte wie ein Inkassounternehmen, welches den letzten Cent herauspressen möchte. Die Klägerin werde ständig mit Mahnungen konfrontiert, die offensichtlich dem Zwecke dienten, weitere Geldansprüche gegen die Klägerin geltend zu machen, damit die Hauptforderung nicht getilgt werde. Zuletzt habe die Beklagte mit Schreiben vom 09.01.2020 erneut die Vollstreckung wegen eines noch offenen Betrages von 3.155,00 EUR angedroht. Dabei habe die Beklagte keinerlei Probleme, eine Tilgungsverrechnung auf einen Betrag in Höhe von 368,00 EUR erst gar nicht vornehmen zu wollen, damit weiter Mahngebühren, Verzugszinsen, Vollstreckungskosten etc. geltend gemacht werden könnten. Die Klägerin könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Beklagte sie nicht aus der „Schuldenfalle" herauslassen wolle, um bis zum Lebensende der Klägerin Mahnungen versenden und Forderungen geltend machen zu können. Es sei schlechterdings nicht nachvollziehbar, dass ständig erneut Mahnungen versandt würden, wenn bekannt sei, dass Zahlungen pünktlich jeden Monat geleistet werden würden. Dieses Vorgehen sei aus Sicht der Klägerin sittenwidrig.
10Die Klägerin beantragt sinngemäß,
11den Ablehnungsbescheid vom 11.07.2019 und die Einspruchsentscheidung vom 24.10.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Stundung der Forderung von 3.200,50 EUR (1.755,00 EUR Kindergeld und Säumniszuschläge in Höhe von 1.445,50 EUR) zu gewähren.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Die Beklagte verweist zur Begründung auf die Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, dass die Stundungswürdigkeit der Klägerin zu verneinen sei. Bei der Entscheidung über einen Stundungsantrag handele es sich um eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den Grenzen des § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) überprüft werden könne. Die Beklagte könne keine Ermessensfehler erkennen.
15Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 15.12.2021 und die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 16.11.2021 auf mündliche Verhandlung verzichtet.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge und die Verfahrensakte Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
181. Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung.
192. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte richtet.
20Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO sein soll (vgl. BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Etwas anderes gilt gem. § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn vor Erlass der Einspruchsentscheidung eine andere als die ursprünglich zu-ständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist. Diese Vorschrift ist auf einen Wechsel der sachlichen Zuständigkeit entsprechend anzuwenden (BFH, Urteil vom 10.06.1992 I R 142/90, BStBl II 1992, 784).
21Im Streitfall hat die Beklagte die beantragte Stundung der Kindergeldrückforderung ab-gelehnt, so dass die Klage gegen sie zu richten ist. Ein Wechsel der örtlichen bzw. sachlichen Zuständigkeit gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat gerade nicht stattgefunden. Vielmehr wurden nach den Vorstandsbeschlüssen der Bundesagentur für Arbeit vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) von vornherein die Ausgangsentscheidung und die Einspruchsentscheidung von zwei verschiedenen Behörden getroffen. In diesem Fall bleibt die Ausgangsbehörde, die den Rechtsbehelf veranlasst hat, passiv prozessführungsbefugt (vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Der Senat folgt daher nicht der Gegenansicht des FG Düsseldorf, (Urteile vom 14.06.2021 9 K 2976/20 und vom 28.09.2021 9 K 465/21, juris), wonach in Fällen, in denen die Ausgangsentscheidung von der sachlich unzuständigen, die Einspruchsentscheidung dagegen von der sachlich zuständigen Behörde gefällt wird, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO analog anzuwenden sein soll.
22Die Klägerin hat zwar in ihrer Klageschrift die Familienkasse NRW als Beklagte bezeichnet, jedoch ist die Klageerhebung als Prozesshandlung im Zweifel gemäß §§ 133, 157 BGB auszulegen. Eine Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte. Die Bezeichnung der Familienkasse NRW als Beklagte beruht offensichtlich auf der insoweit unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung der Familienkasse NRW in ihrer Einspruchsentscheidung. Die Klage ist dahingehend auszulegen, dass sie gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte gerichtet ist.
233. Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 11.07.2019 und die Einspruchsentscheidung vom 24.10.2019 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO, soweit der Ablehnungsbescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde. Soweit die Klägerin beantragt, die Beklagte zu einer Stundung der Rückforderung aus den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheiden vom 02.07.2012 und 06.12.2012 zu verpflichten, ist die Klage unbegründet.
24a) Die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids vom 11.07.2019 folgt bereits dar-aus, dass dieser Bescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen und dieser Mangel der sachlichen Zuständigkeit weder geheilt wurde noch unbeachtlich ist.
25aa) Die Beklagte war für die Entscheidung über den Stundungsantrag sachlich nicht zuständig. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ist für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs, zu dem auch das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen gehört, das Bundeszentralamt für Steuern zuständig. Nach Satz 2 dieser Vorschrift stellt die Bundesagentur für Arbeit diesem zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs kann der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit von den Vorschriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden abweichend die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG). Da die Übertragung bestimmter Sachaufgaben auf eine Familienkasse nicht die örtliche Zuständigkeit betrifft, ist die Übertragung des Bereichs „Inkasso“ auf die Beklagte nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Für diesen Bereich verbleibt es vielmehr bei der sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Familienkasse. Der Senat folgt insoweit den zur Frage der sachlichen Zuständigkeit der Beklagten ergangenen BFH-Urteilen vom 25.02.2021 (III R 36/19, BStBl II 2021, 956 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100) und vom 07.07.2021 (III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457) und nimmt auf deren Entscheidungsgründe Bezug (vgl. auch FG Münster, Urteil vom 02.11.2021 1 K 3623/20 AO, juris).
26bb) Dieser Zuständigkeitsmangel wurde weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse NRW geheilt, noch ist er unbeachtlich.
27(1) Der Umstand, dass die Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse NRW, die für die Entscheidung über den Erlassantrag örtlich und sachlich zuständig gewesen wäre, erlassen wurde, führt nicht zu einer Heilung der sachlichen Unzuständigkeit bei Erlass des Ablehnungsbescheides durch die Beklagte. Die Frage der Heilung durch eine Einspruchsentscheidung der für den Ausgangsbescheid zuständigen Behörde wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt (für eine Heilung: FG Berlin-Brandenburg Urteil vom 17.06.2020 7 K 14045/18, EFG 2020,1284; FG Münster Urteil vom 03.12.2020 3 K 2344/20, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 14.06.2021 9 K 2976/20 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 28.09.2021 9 K 465/21 AO, juris; Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 16 AO Rz. 55; Schmieszek in Gosch AO/FGO § 16 Rz. 17; gegen eine Heilung: FG Düsseldorf Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19, EFG 2021, 513).
28(a) Die wegen des Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit rechtswidrige Ablehnungsentscheidung der Beklagten wurde nicht gemäß § 126 Abs. 2 AO durch Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt.
29§ 126 AO enthält einen Katalog von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – z.T. sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können.
30Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände; er ist angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift abschließend. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind damit von einer Nachholung mit Heilungswirkung i.S.d. § 126 ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 126 AO Rz. 3).
31Ein Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit ist in § 126 AO nicht aufgeführt. Für eine Extension auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).
32(b) Auch die Gesamtüberprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchs-verfahren führt im Streitfall nicht zu einer Heilung der fehlenden sachlichen Zuständigkeit durch Erlass der Einspruchsentscheidung. Anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) trifft die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, durch die Zurückweisung des Einspruchs keine Entscheidung in der Sache, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt gemäß § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes träte. Der Senat folgt insofern der Auffassung des 10. Senats des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 (Az. 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). Weder § 126 Abs. 2 AO noch § 367 AO ist zu entnehmen, dass einer den Einspruch lediglich zurückweisenden Entscheidung eine derartige rechtliche Bedeutung zukäme. Wäre dies anders zu beurteilen, so hätte dies zur Folge, dass der Mangel der sachlichen Zuständigkeit der den angefochtenen Verwaltungsakt erlassenden Behörde – abgesehen von Fällen der Verwerfung des Einspruchs (§ 358 Satz 2 AO) – nie erfolgreich gerügt werden könnte (vgl. FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). Wenn ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte, wäre die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich.
33Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass im Einspruchsverfahren auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist und als Ergebnis dieser Überprüfung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die Entscheidung über den Einspruch auch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, BStBl II 2017, 642). Im Streitfall hat zwar die Familienkasse NRW, in deren örtlichem Zuständigkeitsbereich die Klägerin wohnt, die Einspruchsentscheidung erlassen. Dies beruhte aber nicht auf einer Überprüfung und Erkenntnis der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Beklagten im Einspruchsverfahren, sondern darauf, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit mit seinen Beschlüssen vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) der Familienkasse NRW ausdrücklich die „Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes“ zugewiesen hat. Unabhängig davon, ob es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine derartige Regelung fehlte (so der 10. Senat des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513), kann dies auch unter Berücksichtigung der vorgenannten BFH-Rechtsprechung nicht zu einer Heilung führen. Würde eine Heilung angenommen, würde dies zu einer Rechtsschutzverkürzung für all diejenigen potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten führen, die „zufällig“ im Bezirk der Familienkasse NRW wohnhaft sind, denn gegenüber potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten, die im Bezirk einer anderen Familienkasse wohnen, könnte eine Heilung nicht eintreten und der Weg für eine erneute Sachentscheidung wäre frei. Darüber hinaus versteht der erkennende Senat die Rechtsprechung des BFH dahingehend, dass nur die Überlassung der Entscheidung an die sachlich und örtlich zuständige Behörde im „Bewusstsein“ der eigenen sachlichen und/oder örtlichen Unzuständigkeit zu einer Heilung führen kann.
34(2) Der Fehler, dass der Ablehnungsbescheid von der sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde, ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich.
35§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit. Die Aufzählung ist enumerativ. Die Vorschrift ist aufgrund ihres Ausnahmecharakters hinsichtlich anderer Fehler nicht analogiefähig. Eine Erstreckung des § 127 AO auf nicht genannte formelle Mängel, wie hier die Verletzung der sachlichen Zuständigkeit, kommt daher nicht in Betracht (BFH-Urteil vom 21.04.1993 X R 112/91 Rz. 52 m.w.N., BStBl. II 1993, 649; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 127 AO Rz. 13; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 127 AO Rz. 11; Drüen in Tipke/Kruse AO/FGO § 16 AO Rz. 15).
36Zudem ist die Vorschrift des § 127 AO bereits deshalb nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Erlassantrag, anwendbar, weil bei eingeräumtem Ermessen grundsätzlich (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können.
37b) Der Umstand, dass die Beklagte für die Entscheidung über den Erlassantrag der Klägerin sachlich unzuständig war, kann allerdings nur dazu führen, dass die Ablehnungsentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden (vgl. FG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, i. Erg. bestätigt durch BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712). Eine Verpflichtung der Beklagten als sachlich unzuständiger Behörde, den Erlass zu gewähren, kann aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ausgesprochen werden.
38c) Soweit die Klägerin geltend macht, dass sie zwischenzeitlich insgesamt 3.746 EUR auf die Forderung der Beklagten gezahlt habe und von der Beklagten gleichwohl weiter gemahnt und die Vollstreckung angedroht werde, betrifft dies die Verrechnung der Zahlungen der Klägerin auf die Erstattungsforderungen und die Nebenleistungen. Ob diese Verrechnungen zutreffend vorgenommen wurden, ist in einem Verfahren betreffend die Stundung der Rückforderungsbeträge nicht zu entscheiden. Diesbezüglich bleibt es der Klägerin aber unbenommen, bei der Beklagten den Erlass eines Abrechnungsbescheids zu beantragen und auf diesem Weg eine Überprüfung zu erreichen.
394. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO und richtet sich nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
405. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechts-behelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten. Der BFH hat diese Frage in seinen Entscheidungen vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100 und vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457 ausdrücklich offen gelassen.