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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist der Umfang der Änderbarkeit der Umsatzsteuerfestsetzung für 2010 strittig, insbesondere ob gegenüber dem Kläger durch Bescheid vom 14.3.2012 der Vorbehalt der Nachprüfung dieser Steuerfestsetzung wirksam aufgehoben wurde.
3Der Kläger betrieb im Streitzeitraum u.a. ein Restaurant. Zudem war er an mehreren Gesellschaften beteiligt, denen er jeweils die betriebsnotwendige Gewerbeimmobilie vermietete. Der Kläger war im Streitzeitraum alleiniger Gesellschafter der X GmbH und der Y GmbH. Alleiniger Geschäftsführer der X GmbH war im Streitzeitraum hingegen der Vater des Klägers, V C. Von der Y GmbH war zunächst ebenfalls V C Geschäftsführer. Aufgrund Gesellschafterbeschlusses der Gesellschafterversammlung der Y GmbH vom 00.10.2010, eingetragen im Handelsregister am 00.10.2010, wurde V C abberufen und der Kläger als alleiniger Geschäftsführer eingesetzt.
4Mit Schätzungsbescheid vom 27.1.2012 setzte der Beklagte die Umsatzsteuer des Klägers für 2010 auf 764.499,96 € unter dem Vorbehalt der Nachprüfung fest. Mit Umsatzsteuererklärung vom 19.12.2013 erklärte der Kläger eine Umsatzsteuer von 147.360,06 €, der der Beklagte nicht zustimmte. Durch Änderungsbescheid vom 4.8.2015, ergangen unter Hinweis auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) setzte der Beklagte die Umsatzsteuer 2010 auf 782.002,37 € und damit um 17.502,41 € höher fest. In den Erläuterungen zum Bescheid heißt es u.a.: „Dieser Bescheid ändert den Bescheid vom 14.03.2012.“ Dagegen legte der Kläger am 6.8.2015 Einspruch ein, den der Beklagte durch Einspruchsentscheidung vom 24.1.2017 als unbegründet zurückwies. Strittig ist zwischen den Beteiligten, ob der Beklagte zudem einen Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung für die Umsatzsteuer 2010 vom 14.3.2012 erlassen hat, der dem Kläger bzw. seinem steuerlichen Berater zugegangen ist.
5In der Umsatzsteuerfestsetzung für 2010 rechnete der Beklagte – entsprechend der Auffassung der Betriebsprüfung – dem Kläger die Umsatzsteuer der X GmbH und der Y GmbH aufgrund umsatzsteuerlicher Organschaft zu. Die dem Kläger zugerechnete Umsatzsteuer der X GmbH betrug nach den Feststellungen der Betriebsprüfung in 2010 764.500 € und der Y GmbH 91.539,85 €. Die Umsatzsteuererhöhung durch Bescheid vom 4.8.2015 beruhte auf Feststellungen bei den Gesellschaften, deren Umsatzsteuer dem Kläger zugerechnet wurde.
6Am 24.2.2017 hat der Kläger gegen die Einspruchsentscheidung vom 24.1.2017 Klage erhoben. Materiell sei die Umsatzsteuerfestsetzung unzutreffend, da wegen fehlender organisatorischer Eingliederung keine Organschaft vorliege. In verfahrensrechtlicher Hinsicht bestreite er, dass ihm oder seinem Prozessbevollmächtigten der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer 2010 vom 14.3.2012 zugegangen sei. Der Beklagte berufe sich betreffend die Wirksamkeit des Bescheids auf die ihm vorliegende Aktenlage. Die Aktenlage des Beklagten könne aber naturgemäß nichts darüber aussagen, ob der Bescheid dem Adressaten zugegangen also in dessen Machtbereich gelangt sei. Der Beklagte habe keinen Beleg dafür, dass ihm bzw. seinem Prozessbevollmächtigten der Bescheid per Post zugegangen sei bzw. dass das Schriftstück in den Briefkasten eingeworfen worden sei. Unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH, Urteil vom 15.9.1994 XI R 31/94, Sammlung amtlich veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFHE – 175, 327,Bundessteuerblatt – BStBl – II 1995, 41) könne eine weitere Substantiierung des Vortrags nicht verlangt werden, wenn der Adressat, wie hier, bestreite, dass der Bescheid zugegangen sei. Dies sei nämlich unmöglich.
7Er, der Kläger, sei deshalb der Ansicht, dass der Umsatzsteuerbescheid für 2010 noch geändert werden könne und die Umsatzsteuerfestsetzung insgesamt um 834.771,56 € herabzusetzen sei. Zudem würden weitere Gesichtspunkte – auch wenn er, der Kläger, zu einer Substantiierung nicht verpflichtet sei – gegen die Existenz eines derartigen Bescheides sprechen:
8Nach Angaben des steuerlichen Beraters N befinde sich der Bescheid nicht in den Kanzlei- und Archiv-Akten. Es sei zwei Mal intern danach gesucht worden.
Er, der Kläger, habe diesen Bescheid ebenfalls nicht in seinem Besitz.
In den Kanzlei-Akten des steuerlichen Beraters befinde sich auch kein Anschreiben zur Weiterleitung einer Abschrift des Bescheids über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer für 2010 vom 14.3.2012, was aber zwingende kanzleiinterne Anweisung und Praxis gewesen sei.
In der Einspruchsentscheidung betreffend Umsatzsteuer 2010 werde der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nicht erwähnt. Hingegen werde in den Einspruchsentscheidungen des Beklagten betreffend Umsatzsteuer 2006 bis 2009 jeweils auf den entsprechenden Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung explizit Bezug genommen.
Der Erlass eines Bescheids über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung ergebe zudem keinen Sinn. Der Beklagte habe zunächst die Umsatzsteuer 2010 mit Bescheid vom 27.1.2012 ohne konsolidierte Werte geschätzt. Rund sechs Wochen später am 14.3.2012 solle der Vorbehalt der Nachprüfung bereits aufgehoben worden sein, obwohl nur eine Schätzung vorgelegen habe. Den Vorbehalt der Nachprüfung unmittelbar nach Ergehen eines Schätzungsbescheids aufzuheben, sei völlig praxisfremd.
Am 17.9.2013 habe der steuerliche Berater N ihm, dem Kläger, mitgeteilt, dass eine konsolidierte Umsatzsteuererklärung 2010 mangels belastbarer Buchhaltungsdaten nicht erstellt und eingereicht werden könne, da die Gefahr bestehe, dass dieser Erklärung die Wirkungen einer Selbstanzeige versagt würden. Dennoch sei auf seine, des Klägers, Bitte ein Grob-Entwurf der konsolidierten Umsatzsteuererklärung für 2010 mit einer hohen Nachzahlung über 55.823,21 € erarbeitet worden. Am 19.12.2013 habe er, der Kläger, in Absprache mit Herrn Rechtsanwalt Q eigens eine konsolidierte Umsatzsteuererklärung für 2010 beim Beklagten persönlich abgegeben. Diese sei durch den Beklagten bearbeitet und entsprechend veranlagt worden. Hier stelle sich die Frage, warum der Beklagte die Veranlagung nicht abgelehnt habe, wenn die Umsatzsteuerfestsetzung für 2010 aufgrund der Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung bereits bestandskräftig geworden sei.
Auch der weitere Verfahrensverlauf passe nicht zu einer vorherigen Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung. Datierend auf den 14.7.2015 habe der Beklagte einen Betriebsprüfungsbericht u.a. zur Umsatzsteuer 2010 erstellt. Mit bescheiden vom 4.8.2015 habe der Beklagte sodann einen geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2010 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (inkl. der konsolidierten Werte) erlassen. Es sei völlig praxisfremd und es ergebe keinen Sinn, dass der Beklagte einen Änderungsbescheid zur Umsatzsteuer 2010 samt der konsolidierter Werte am 4.8.2015 erlasse, wenn der Vorbehalt der Nachprüfung bereits aufgehoben worden sei.
Es werde daher bestritten, dass ihm, dem Kläger, oder seinem steuerlicher Berater N ein Bescheid vom 14.3.2012 über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer 2010 bekannt gegeben worden sei bzw. es werde bezweifelt, dass es diesen Bescheid überhaupt gegeben habe, da der Erlass eines solchen Bescheids unter Berücksichtigung der geschilderten Chronologie und Veranlagungsschritte keinen Sinn mache.
17In der mündlichen Verhandlung vom 26.4.2022 hat der Beklagte den Bescheid über die Umsatzsteuerfestsetzung für 2010 um 17.502,41 € auf 764.499,96 € herabgesetzt.
18Der Kläger beantragt,
19unter Änderung des Umsatzsteuerbescheids vom 4.8.2015 und der Einspruchsentscheidung vom 24.1.2017, geändert durch Bescheid vom 26.4.2022, die Umsatzsteuer für 2010 um (weitere) 816.969,15 € herabzusetzen,
20hilfsweise, die Revision zuzulassen.
21Der Beklagte beantragt,
22die Klage abzuweisen,
23hilfsweise, die Revision zuzulassen.
24Zur Begründung führt der Beklagte aus, dass der klägerische Vortrag, den Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nicht erhalten zu haben, nicht plausibel sei. Die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung sei mit Bescheiden vom 14.3.2012 für die Jahre 2006 bis 2010 erfolgt. Aus welchem Grund der Kläger ausgerechnet die hier strittige Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung für das Jahr 2010 nicht erhalten haben sollte, während die anderen Jahre dem Kläger ordnungsgemäß mit gleichem Datum zugegangen seien, sei nicht nachvollziehbar.
25Soweit der Kläger vortrage, dass die ordnungsgemäße Bekanntgabe des Bescheids über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nicht angenommen werden könne, weil dieser in der Einspruchsentscheidung über die Umsatzsteuer 2010 nicht erwähnt worden sei, werde diese Auffassung nicht geteilt. Richtig sei, dass dieser Bescheid im Sachverhalt nicht erwähnt werde. Dies sei aber steuerlich nicht von Bedeutung, da hier lediglich der strittige Sachverhalt geschildert worden sei und die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung zu diesem Zeitpunkt nicht in Streit gestanden habe. Darüber hinaus sei in besagter Einspruchsentscheidung auch keine Aussage zum Fortbestand des Vorbehalts der Nachprüfung getroffen worden, was bei einem bestehenden Vorbehalt der Nachprüfung jedoch üblich gewesen wäre.
26Ferner sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund die fehlende Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom Kläger nicht bereits nach Abschluss der Betriebsprüfung thematisiert und aus welchem Grund eine Änderung nach § 173 AO nicht hinterfragt worden sei, wenn nach dem Kenntnisstand des Klägers ein Vorbehalt der Nachprüfung noch bestanden habe. Die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung schaffe für den Kläger Rechtssicherheit. Diese hätte der Kläger folglich nach Abschluss der BP begehren müssen, was nicht der Fall gewesen sei.
27Mit Schriftsätzen vom 8.4.2022 und vom 11.4.2022 hat der Beklagte seinen Vortrag dahingehend ergänzt, dass nun nachgewiesen werden könne, dass das Rechenzentrum der Finanzverwaltung alle Bescheide betreffend die Aufhebung der Vorbehalte der Nachprüfung zur Umsatzsteuer 2006 bis 2010 in einem Postlauf, d.h. in einem Briefumschlag, an den Kläger versandt habe. W F aus dem Referat 000 … des Rechenzentrums bestätige, dass die fraglichen Bescheide nicht unter der genannten Steuernummer, sondern unter der neu vergebenen Steuernummer 000/0000/0000 verschickt worden seien. Alle fünf Bescheide seien Inhalt der Druckdatei […] gewesen und hätten die Sendungsnummer xyz aufgewiesen. Dies sei anhand der Blattanzahl und den Einträgen in dem beigefügten Auszug der entsprechenden Indexdatei zu erkennen. Die Sendung sei, wie man in dem beigefügten Datenbankauszug PrismaAudit erkennen könne, am 8.3.2012, um 9:40 Uhr, mit dem Status "1" kuvertiert und ohne manuelle Bearbeitung durch einen Operator automatisch in die entsprechende Postbox einsortiert und am Absendetag zur Post eingeliefert worden. Bei Problemen wäre dort der Status "11" eingetragen worden, was nicht der Fall sei. Eine Kopie der Originalsendung sei aufgrund des Alters der Sendung im Rechenzentrum der Finanzverwaltung nicht mehr vorhanden. Auf die übersandte Verfahrensdokumentation, das Index-Dokument und die übersandten Screen-Shots über die versandten Bescheide wird Bezug genommen.
28In der Sache ist am 26.4.2022 mündlich vor dem Senat verhandelt und Herr W F als Zeuge vernommen worden. Auf das Protokoll wird Bezug genommen.
29Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
30Entscheidungsgründe
31I. Die Klage ist unbegründet.
321. Der Bescheid des Beklagten betreffend Umsatzsteuer für 2010 vom 4.8.2015 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 24.1.2017, geändert durch Bescheid vom 26.4.2022, der gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Zu Recht hat der Beklagte – aufgrund wirksamer Bekanntgabe des Bescheids über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom 14.3.2012 betreffend die Umsatzsteuer 2010 – eine weitergehende Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung 2010 gemäß § 351 Abs. 1 AO mangels einschlägiger Änderungsnormen abgelehnt.
332. Nach § 351 Abs. 1 AO können Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht, es sei denn, dass sich aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung etwas anderes ergibt. Die Voraussetzungen des § 351 Abs. 1 AO liegen hinsichtlich des Umsatzsteuerbescheids für 2010 vom 4.8.2015 vor.
34a) Mit Bescheid vom 27.1.2012 setzte der Beklagte die Umsatzsteuer des Klägers für 2010 auf 764.499,96 € fest. Mit Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom 14.3.2012, der gemäß § 164 Abs. 3 Satz 2 AO einer Steuerfestsetzung ohne Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht, wurde die Umsatzsteuer für 2010 erneut auf 764.499,96 € festgesetzt.
35b) Der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer 2010 vom 14.3.2012 wurde dem Kläger gegenüber wirksam bekanntgegeben. Der Bescheid wurde in der Folgezeit bestandskräftig.
36aa) Nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Gemäß § 122 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, demjenigen Beteiligten, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen ist, bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
37Der Kläger hat den Zugang des Bescheids über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom 14.3.2012 bestritten. Nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der erkennende Senat anschließt, genügt in derartigen Fällen ein einfaches Bestreiten, da es dem Kläger objektiv unmöglich ist, seinen Vortrag zu substantiieren. Vielmehr ist die Finanzbehörde in dieser Konstellation gehalten, den Zugang des Steuerbescheids nachzuweisen. Der Nachweis des Zugangs eines schriftlichen Verwaltungsaktes nach § 122 Abs. 2 AO kann nicht nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises geführt werden. Es gelten vielmehr die allgemeinen Beweisregeln, insbesondere die des Indizienbeweises. Die den Verwaltungsakt absendende Behörde trägt dabei die Feststellungslast für den Zugang (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 14.3.1989 VII R 75/85, BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534 und vom 12.3.2003 X R 17/99, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2003, 1031).
38bb) Unter Anwendung dieser Rechtsgrundsätze und unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände dieses Einzelfalls steht zur Überzeugung des erkennenden Senats fest, dass dem Prozessbevollmächtigten des Klägers der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom 14.3.2012 zugegangen ist.
39Nach den internen Ermittlungen des Beklagten zum Postversand durch das Rechenzentrum der Finanzverwaltung NRW und die Beförderung des Bescheids durch den Postdienstleister Deutsche Post AG wurde dieser Steuerbescheid am 14.3.2012 zur Post aufgegeben. Denn ausweislich der Mitteilung des Rechenzentrums der Finanzverwaltung NRW vom 7.4.2022 waren alle fünf Bescheide über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer für die Jahre 2006 bis 2010 Inhalt einer Druckdatei mit der Kennung […] und trugen die Sendungsnummer xyz. Die Sendung wurde entsprechend des Datenbankauszugs PrismaAudit am 8.3.2012 um 9:40 Uhr, mit dem Status „1“ kuvertiert und ohne manuelle Bearbeitung durch einen Operator automatisch in die entsprechende Postbox einsortiert und am Absendetag zur Post eingeliefert, wobei der Status „1“ bedeutet, dass keine Fehler im Prozess aufgetreten sind. Bei Problemen wäre dort der Status „11“ eingetragen worden.
40Nach Auffassung des erkennenden Senats sind durch die Vernehmung des Zeugen W F die vorstehenden Umstände umfassend erläutert und nachgewiesen worden. Insbesondere ist der erkennende Senat davon überzeugt, dass es nicht zu einem Fehler im Druck- oder Kuvertierungsprozess gekommen ist, oder dass ein Bescheid, nämlich der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung, betreffend die Umsatzsteuer für 2010 manuell ausgesteuert wurde. Der Zeuge bekundete insoweit, dass „die Druckdaten dann an einen Druckserver übermittelt werden, von dem der jeweilige Drucker die Daten automatisch übernimmt und auf eine Rolle mit ca. 50.000 Blatt ausdruckt. Nach dem Druck wird diese 450 kg große Rolle zur Kuvertiermaschine transportiert und von dort automatisch verarbeitet. Dabei wird der Postmatrix gelesen als Wechsel für einen Briefumschlag. Während der weiteren Verarbeitung wird die Matrix zwischen der Abheftlochung gelesen, der die jeweilige Anzahl des Blattes der gesamten Sendung anzeigt, also in diesem Fall Blatt 1 von 5, Blatt 2 von 5 usw. Sollte bei der Kuvertierung falsch gelesen werden oder ein sonstiger Fehler auftreten, wird die Kuvertierung unterbrochen und die Sendung automatisch ausgesteuert. Wenn nicht, wird sie automatisch durch einen Postroboter in die Postboxen der Post einsortiert. Bis zu diesem Punkt greift bei ordnungsgemäßen Verlauf keiner händisch ein. […] Nach einer nachträglichen Stornierung nach Auftragseingang wäre es nicht mehr möglich gewesen, den Bescheidversand zu stoppen, der Bescheid wäre bestimmt so wie übermittelt versandt worden.“ Da weder eine Unregelmäßigkeit in der entsprechenden Überwachungssoftware angezeigt worden ist und auch im Druckverfahren zwischen der vorangehenden und der nachfolgenden Sendung nur eine Sekunde gelegen hat (9:40 Uhr und 8 Sekunden, bzw. 7 Sekunden und 9 Sekunden vgl. Bl. 539 der Gerichtsakte), schließt der erkennende Senat einen Fehler beim Druck oder der Kuvertierung aus und geht davon aus, dass in dem betreffenden Briefumschlag der Sendung fünf Blätter enthalten waren. Der erkennende Senat hält es zudem für ausgeschlossen, dass das fünfte Blatt ein gesondertes Anschreiben oder eine Sonderseite (z. B. Nachwuchswerbung für die Finanzverwaltung) gewesen sein könnte. Insofern wurde dem Zeugen ein Ausdruck des Bescheides über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer 2010 vom 14.3.2012 aus der Betriebsprüfungsakte gezeigt, worauf der Zeuge erklärte: „Ein solcher Bescheid kann so nur vom Finanzamt ausgedruckt werden, wenn dieser ursprünglich vom Rechenzentrum der Finanzverwaltung als Druckdatei erstellt worden ist. Das Finanzamt selber kann einen solchen Bescheid nicht erstellen.“ Da der Beklagte nur einmalig, nämlich am 6.3.2012 fünf Kurzbescheide (über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung) für die Zeiträume 2006 bis 2010 an das Rechenzentrum der Finanzverwaltung auf elektronischem Weg übersandt hat, wie sich aus dem durch den Beklagten übermittelten Screen-Shot (Bl. 530 der Gerichtsakte) ergibt, ist durch den Umstand, dass der Beklagte während der Außenprüfung in der Lage war, den Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer 2010 vom 14.3.2012 auszudrucken, belegt, dass eben jener Bescheid – und kein Anschreiben oder eine Sonderseite – zusammen mit den anderen Bescheiden am 6.3.2012 an das Rechenzentrum der Finanzverwaltung übermittelt, ordnungsgemäß gedruckt, kuvertiert und versandt worden ist.
41Aufgrund der vorstehenden Umständen ist der erkennende Senat davon überzeugt, dass der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung der Umsatzsteuer 2010 vom 14.3.2012 dem Kläger (konkret: dem steuerlichen Berater N, an dessen Kanzlei der Bescheid adressiert war) zugegangen ist und damit wirksam bekanntgegeben wurde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Sendung ausweislich der Auskunft des Rechenzentrums aus fünf Bescheiden über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung für die Umsatzsteuerfestsetzungen von fünf Jahren (2006 bis 2010) und insgesamt aus fünf Blättern bestand. Der Senat ist vor dem Hintergrund, dass es sich um Kurzbescheide handelt, mit denen der jeweilige Vorbehalt der Nachprüfung der Besteuerungszeiträume 2006 bis 2010 aufgehoben wurde, davon überzeugt, dass diese 5 Bescheide Inhalt der Druckdatei […] gewesen sind und sich mit der Sendungsnummer xyz in nur einem Briefumschlag befanden. Da der Kläger nie bestritten hat, dass er die Bescheide über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom 14.3.2012 betreffend Umsatzsteuer 2006 bis 2009 erhalten hat und die Folgen dieser Bescheide im Verfahrensverlauf auch stets akzeptiert hatte, in dem er sich mit einer beschränkten Änderbarkeit der Umsatzsteuerfestsetzungen 2006 bis 2009 zufrieden gegeben hat, hat der Senat keine Zweifel daran, dass dem steuerlichen Berater des Klägers mit dieser Postsendung neben diesen Bescheiden auch der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom 14.3.2012 betreffend Umsatzsteuer 2010 zugegangen ist. Für die Frage des Zugangs kommt es nicht darauf an, ob der Kläger oder dessen steuerlicher Berater den fraglichen Bescheid zur Kenntnis genommen hat oder ob dieser Bescheid bei ihm auffindbar ist (vgl. FG Köln, Beschluss vom 8.11.2021 11 V 1709/21, Steuer-Eildienst – StE – 2022, 104).
42Die vom Kläger im Übrigen vorgetragenen Umstände, dass in der Einspruchsentscheidung zur Umsatzsteuer 2010 vom 24.1.2017 – anders als im Änderungsbescheid vom 4.8.2015 – der fragliche Bescheid nicht erwähnt wurde, während in den Einspruchsentscheidungen des Beklagten betreffend die Umsatzsteuer 2006 bis 2009 ebenfalls vom 24.1.2017 der entsprechende Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend Umsatzsteuer 2006 bis 2009 vom 14.3.2012 jeweils explizit erwähnt wird, widerlegt nicht den Zugang des Bescheids, sondern kann auch auf einer Ungenauigkeit in der Darstellung des Tatbestands durch den Beklagten beruhen. Zudem ist es zwar ungewöhnlich, dass ein Finanzamt – wie der Beklagte – Ende Januar Besteuerungsgrundlagen schätzt und bereits 6 Wochen später den Vorbehalt der Nachprüfung aufhebt, aber auch diese in der Praxis wenig auftretende Vorgehensweise schließt den Zugang, den der Senat aus vorstehenden Gründen als erfolgt ansieht, nicht zwingend aus.
43Dass der Zugang erfolgt ist, wird andererseits durch die vom Beklagten ergänzend vorgetragenen Indizien gestützt, dass in der Einspruchsentscheidung keine Aussage zum Fortbestand des Vorbehalts der Nachprüfung getroffen wurde, was maschinell ausgesteuert nur der Fall sein kann, wenn der Vorbehalt der Nachprüfung bereits aufgehoben war. Auch der weitere Vortrag des Beklagten, dass nach Abschluss der Betriebsprüfung weder die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung thematisiert wurde noch die Änderung des Bescheids nach § 173 AO hinterfragt worden sei, stützen den Schluss, dass der strittige Bescheid zuvor zugegangen sein musste.
44c) Der nach der Betriebsprüfung am 4.8.2015 ergangene Bescheid mit einer festgesetzten Umsatzsteuer für 2010 in Höhe von 782.002,37 €, der den unanfechtbaren Bescheid vom 14.3.2012 mit einer festgesetzten Umsatzsteuer für 2010 in Höhe von 764.499,96 € änderte, konnte gem. § 351 Abs. 1 AO daher nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht, d.h. in Höhe von 17.502,41 €, da sich aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung kein weiterer Änderungsrahmen ergibt. Da der Beklagte in der mündlichen Verhandlung durch Bescheid vom 26.4.2022 die Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung auf die vormalige Höhe des Bescheids über die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung betreffend die Umsatzsteuer 2010 vom 14.3.2012 berichtigend geändert hat, besteht kein Änderungsrahmen zu Gunsten des Klägers mehr, der ausgeschöpft werden könnte. Zudem ergibt sich auch nicht aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Steuerbescheiden etwas anderes.
45Die im Übrigen einzig in Betracht kommende Änderungsnorm des § 173 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 AO ist nicht einschlägig. Danach sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden. Vorliegend handelt es sich bei dem Umstand, dass der Kläger von der X GmbH nie Geschäftsführer war und von der Y GmbH erst aufgrund des Gesellschafterbeschlusses der Gesellschafterversammlung der Y GmbH vom 00.10.2010 als alleiniger Geschäftsführer eingesetzt wurde, bereits nicht um Tatsachen, die nachträglich bekannt wurden, da dem Beklagten sämtliche, die Geschäftsführung der Gesellschaften betreffenden Umstände bereits zuvor bekannt waren. Zudem hat der Kläger – unterstellt es wäre anders – weder vorgetragen, geschweige denn nachgewiesen, dass ihn kein grobes Verschulden daran treffe, dass die Tatsachen oder Beweismittel dem Beklagten erst nachträglich bekannt geworden seien.
46II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.
47III. Die Revision war nicht zuzulassen, da keine Zulassungsgründe im Sinne des § 115 Abs. 2 FGO vorliegen.