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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 01.09.2020 und der Einspruchsentscheidung vom 25.09.2020 verpflichtet, Kindergeld für die Kinder F. und L. für die Monate Juli bis September 2020 festzusetzen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Die Beteiligten streiten darüber, ob einer Kindergeldfestsetzung die Vorschrift des § 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 Einkommensteuergesetz (EStG) entgegensteht.
2Die Klägerin reiste mit ihren 2009 und 2017 geborenen Kindern F. und L. am 07.07.2020 aus Bulgarien nach Deutschland ein und hat seitdem ihren Wohnsitz im Inland. Sie ist seit Januar 2017 nicht erwerbstätig. Der Ehemann und Kindesvater lebte und arbeitete bereits seit Ende 2019 in Deutschland. Er erzielte (auch in Streitzeitraum Juli bis September 2020) aus einer Vollzeitbeschäftigung Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Alle Familienmitglieder sind bulgarische Staatsangehörige. Seit Juli 2020 leben sie in einem gemeinsamen Haushalt. Im Juli 2020 beantragte die Klägerin Kindergeld für ihre beiden Kinder. Der Kindesvater erklärte sich mit der Auszahlung an die Klägerin einverstanden. Bis Ende Juni 2020 hatte die Klägerin bulgarisches Kindergeld bezogen.
3Mit Bescheid vom 01.09.2020 lehnte die Beklagte den Antrag für den Zeitraum Juli bis September 2020 ab und führte aus, in Deutschland wohnende freizügigkeitsberechtigte Staatsangehörige der Europäischen Union sowie des Europäischen Wirtschaftsraumes, deren Rechtsstellung von dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern geregelt sei, könnten in den ersten drei Monaten nach Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland nur dann Kindergeld erhalten, wenn sie laufende inländische Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit oder aus nichtselbständiger Arbeit erzielten. Diese Anspruchsvoraussetzungen hätten nicht festgestellt werden können. Für die Folgemonate wurde mit gesondertem Bescheid vom gleichen Tag Kindergeld festgesetzt.
4Am 22.09.2020 legte die Klägerin Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid ein und führte aus: Ihr Ehemann sei seit Ende 2019 in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Deshalb sei der Leistungsausschluss in ihrem Fall falsch. Sie brauche als Familienangehörige keinen eigenen Arbeitnehmerstatus. Der Arbeitnehmerstatus ihres Ehemanns, mit dem sie und die (gemeinsamen) Kinder in häuslicher Gemeinschaft lebten, reiche aus.
5Die Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 25.09.2020 als unbegründet zurück und führte aus: Nach dem Wortlaut des § 62 Abs. 1a EStG müsse der Antragsteller selbst inländische Einkünfte erzielen. Die Klägerin erziele aber keine Einkünfte.
6Mit der dagegen gerichteten Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Zwar seien die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a EStG dem Wortlaut nach erfüllt. Diese Vorschrift sei aber unionsrechtswidrig. Der generelle Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten ab Wohnsitznahme, sofern keine steuerpflichtigen Einkünfte erzielt würden, verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot und gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. Die Regelung sei zudem widersprüchlich. Ihr Ehemann gehe einer Beschäftigung in Deutschland nach. Aus der europarechtlichen Koordinierungsrichtlinie zum Kindergeld ergebe sich, dass sie kindergeldberechtigt wäre, wenn sie weiterhin im Ausland leben würde. Insofern sei es nicht nachvollziehbar, dass bei einem Zuzug in das Inland ein dreimonatiger Leistungsausschluss greife.
7Die Klägerin beantragt,
8die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 01.09.2020 und der Einspruchsentscheidung vom 25.09.2020 zu verpflichten, Kindergeld für die Kinder L. und F. für die Monate Juli bis September 2020 festzusetzen,
9hilfsweise, das Verfahren bis zum Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit dem Az. C-411/20 ruhend zu stellen.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen,
12hilfsweise, das Verfahren bis zum Abschluss des Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH mit dem Az. C-411/20 ruhend zu stellen.
13Der Berichterstatter hat darauf hingewiesen, dass es möglicherweise nicht auf die Unionsrechtswidrigkeit ankomme. Auf das Schreiben vom 20.11.2020 wird Bezug genommen. Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Die zulässige Klage, über die der Senat gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Kindergeld für die Monate Juli bis September 2020, § 101 Satz 1 FGO.
15Wie zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig ist, liegen die Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs grundsätzlich vor. Allein streitig ist die Frage, ob § 62 Abs. 1a EStG den Anspruch ausschließt. Dies ist zu verneinen.
16Nach § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG hat ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründet, für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld. Dies gilt nach Satz 2 nicht, wenn er nachweist, dass er inländische Einkünfte im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 4 EStG mit Ausnahme von Einkünften nach § 19 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 EStG erzielt. Nach Satz 4 führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 2 vorliegen, in eigener Zuständigkeit durch.
17Diese Vorschrift ist so auszulegen, dass sie einem Anspruch auf Kindergeld jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn bereits vor der Begründung eines (tatsächlichen) Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ein Anspruch auf (deutsches) Kindergeld bestand.
18Der Wortlaut der Vorschrift ist mit Blick auf die Konstellation des Streitfalls nicht eindeutig. Ob die Voraussetzungen erfüllt sind, hängt davon ab, ob unter das Merkmal „Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts“ auch die streitgegenständliche Konstellation fällt, in der zuvor bereits ein fiktiver Wohnsitz gemäß Art. 67 Satz 1 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union – AblEU – 2004 Nr. L 166, S. 1) – VO Nr. 883/2004 – i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) – VO Nr. 987/2009 – bestand.
19Nach systematischer Auslegung ist davon auszugehen, dass die Konstellation des Streitfalls nicht unter § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG fällt. Die Vorschrift des § 62 Abs. 1a EStG ist eine Einschränkung zu § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, wonach kindergeldberechtigt ist, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. § 62 Abs. 1 EStG erfasst aber nicht diejenigen Kindergeldberechtigten, deren Inlandswohnsitz nach Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 fingiert wird (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.1.2015, C-378/14, „Trapkoswki“, ABlEU 2015, Nr. C 414, 8; BFH, Urteil vom 04.02.2016, III R 17/13, BStBl II 2016, 612). Dies spricht dafür, dass auch § 62 Abs. 1a EStG als Einschränkung zu § 62 Abs. 1 EStG diesbezüglich keine Regelung enthält.
20Diese systematische Auslegung wird durch die Gesetzesbegründung und den Sinn und Zweck der Regelung bestätigt. Nach der Gesetzesbegründung soll der Kindergeldanspruch stärker mit dem unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht verknüpft werden (Bundestags-Drucksache 19/8691, S. 30). Dazu wird in der Gesetzesbegründung auf Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABlEU 2004 Nr. L 158, S. 123) Bezug genommen. Danach könne
21„ein Mitgliedstaat – abweichend vom Gleichbehandlungsgebot des Artikels 24 Absatz 1 – Leistungsausschlüsse für Sozialhilfe vorsehen. Insbesondere ist ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Arbeitnehmerinnen und Selbstständigen und deren Familienangehörigen in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts Sozialhilfe zu gewähren“ (Bundestags-Drucksache 19/8691, S. 64, Hervorhebung nur hier).
22Der Gesetzesbegründung ist mithin zu entnehmen, dass dem Gesetzgeber eine familienbezogene Betrachtung vorschwebte.
23Es entspricht auch nicht dem Sinn und Zweck der Vorschrift, den Kindergeldanspruch für solche Zugezogenen auszuschließen, die ohnehin schon als fiktiv Inlandsansässige einen Kindergeldanspruch hatten. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, das System der sozialen Sicherheit in Deutschland vor einer unangemessenen Inanspruchnahme zu schützen (Bundestags-Drucksache 19/8691, S. 65) und eine Anreizwirkung des Kindergelds für den Zuzug nach Deutschland zu vermeiden (Bundestags-Drucksache 19/8691, S. 64). Verhindert werden sollen aber weder der Zuzug als solcher noch die Inanspruchnahme des Kindergelds als solche, sondern nur der Zuzug zum Zwecke der Inanspruchnahme. Ein Zuzug zum Zwecke der Inanspruchnahme erfolgt aber nicht, wenn ein Kindergeldanspruch schon vor der Wohnsitznahme im Inland bestand.
24Insgesamt ist die Vorschrift deshalb dahingehend auszulegen, dass sie (jedenfalls) Konstellationen wie diejenige des Streitfalls, in der bereits vor der Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ein unionsrechtlich vermittelter Kindergeldanspruch bestand, nicht erfasst.
25Die Vorschrift des § 62 Abs. 1a Sätze 1 und 2 EStG steht bei dieser Auslegung einem Kindergeldanspruch der Klägerin im Streitzeitraum nicht entgegen. Die Klägerin hatte vor dem Streitzeitraum bereits einen Anspruch auf deutsches Kindergeld. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat für Kinder im Sinne des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Klägerin hatte zwar keinen Wohnsitz im Inland. Ein solcher war aber unionsrechtlich nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu fingieren. Diese Verordnungen sind anwendbar. Nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 ist für den Kindesvater als bulgarischem Staatsgenhörigen der persönliche Anwendungsbereich eröffnet. Der sachliche Anwendungsbereich ist nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet. Der Kindesvater unterlag nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 aufgrund der Tätigkeit im Inland den deutschen Rechtsvorschriften. Nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der der Anwendung von Artikel 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Mithin war ein Inlandswohnsitz der Klägerin auch schon vor Juli 2020 zu berücksichtigen. Die Kinder der Klägerin sind als leibliche Kinder nach §§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu berücksichtigten.
26Der Kindergeldanspruch war auch nicht auf die Zahlung von Differenzkindergeld (Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 833/2004) beschränkt, sodass sich auch die Frage nicht stellt, ob der Kindergeldanspruch der Klägerin allein durch den Wohnort begründet wurde und daher die Zahlung von Differenzkindergeld unterbleiben konnte (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004). Denn wegen der Tätigkeit des Kindesvaters im Inland und der fehlenden Erwerbstätigkeit der Klägerin in Bulgarien war Deutschland vorrangig zuständig (Art. 68 Abs. 1 Buchst a der VO Nr. 883/2004). Dass die Klägerin entgegen dieser Rechtslage in den Monaten vor dem Streitzeitraum bulgarisches Kindergeld bezogen hat, ist unerheblich.
27Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
28Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
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