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Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 8.5.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 24.6.2019, geändert durch Bescheide vom 30.1.2020 und 2.3.2020, wird auch bezüglich der Monate Januar sowie Oktober bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar und Februar sowie Oktober bis Dezember 2017 und März bis April sowie August bis Dezember 2018 aufgehoben.
Die Revision wird zugelassen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, soweit nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrags leistet.
Tatbestand:
2Streitig ist, ob die Beklagte die Festsetzung des Kindergelds für das Kind B für die (noch verbleibenden) Monate Januar sowie Oktober bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar und Februar sowie Oktober bis Dezember 2017 und März bis April sowie August bis Dezember 2018 zu Recht gem. § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) aufgehoben und in Höhe von insgesamt (noch verbleibenden) 5.350,00 EUR gem. § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zurückgefordert hat.
3Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und war (jedenfalls) seit dem Jahr 2014 in Deutschland gewerblich tätig. Auf Antrag vom 24.5.2016 setzte die Beklagte mit Bescheid vom 27.6.2016 zugunsten des Klägers Kindergeld für dessen Sohn B, geb. am …2010, ab dem Monat Oktober 2014 bis April 2028 fest. Die Ehefrau des Klägers sowie das gemeinsame Kind B lebten in einem gemeinsamen Haushalt in Polen. Nach eigenen Angaben des Klägers war seine Ehefrau in Polen nicht erwerbstätig.
4In seinem Kindergeldantrag gab der Kläger als inländische Wohnsitzadresse „…, C“ an. Hierzu fügte er den entsprechenden Mietvertrag vom 1.7.2015 bei. Als Mietbeginn war ebenfalls der 1.7.2015 angegeben. Als weitere Nachweise für seinen inländischen Wohnsitz legte der Kläger die entsprechende Meldebescheinigung der Stadt C vom 23.7.2015 sowie eine vorhergehende Meldebescheinigung der Stadt D vom 15.10.2014 vor, wonach der Kläger seinen Wohnsitz vorher unter der Adresse „…, D“ gemeldet hatte.
5Nach eigenen Angaben war der Kläger bereits seit den letzten fünf Jahren vor Antragstellung als Trockenbauer in Deutschland selbständig erwerbstätig. Hierzu meldete der Kläger ausweislich der vorliegenden Gewerbeanmeldungen, auf die im Übrigen Bezug genommen wird, folgende Gewerbe in Deutschland an:
6„GbR X, A und X, E“, …, D, Datum des Beginns der angemeldeten Tätigkeit: 16.10.2014;
„GbR X und X“, …, C, Datum des Beginns der angemeldeten Tätigkeit: 23.7.2015;
„GbR Y und X“, …, D, Datum des Beginns der angemeldeten Tätigkeit: 1.10.2015;
X, A, …, C, Datum des Beginns der angemeldeten Tätigkeit: 13.1.2017.
Laut Einkommensteuerbescheid für 2014 vom 29.1.2016 erzielte der Kläger im Jahr 2014 Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 6.456,00 EUR. Laut Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 10.12.2018 wurden dem Kläger für 2015 Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 33.472,00 EUR zugerechnet. Hierauf entfielen Einkommensteuer i.H.v. 1.198,00 EUR, Zinsen zur Einkommensteuer i.H.v. 115,00 EUR sowie Kirchensteuer i.H.v. 247,32 EUR. Laut Einkommensteuerbescheid 2016 vom 10.12.2018 wurden dem Kläger für 2016 Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 15.896,00 EUR zugewiesen. Laut vorläufiger Gewinnermittlung erzielte der Kläger in 2017 einen Gewinn aus Gewerbebetrieb i.H.v. 18.591,00 EUR. Im Zeitraum vom 3.11.2011 bis 25.9.2015 war der Kläger nach eigenen Angaben zudem unter der Firma „Z A X“ in Polen gewerblich tätig. Hieraus erzielte er laut Bescheinigung EU/EWR der polnischen Steuerbehörden im Jahr 2015 Einkünfte i.H.v. 3.062,82 PLN, die in Polen der Besteuerung unterlagen. Im Zeitraum vom 1.10.2016 bis 12.1.2017 war der Kläger nach eigenen Angaben arbeitsuchend.
12Mit Bescheinigung vom 1.4.2016 bestätigte das polnische Zentrum für Sozialhilfe, dass der Kläger für die Streitzeiträume weder einen Antrag auf Familienleistung für seinen Sohn B gestellt noch derartige Leistungen in Polen bezogen hat.
13Im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug deutschen Kindergelds forderte die Beklagte insbesondere Nachweise über den Umfang der Steuerpflicht des Klägers in Deutschland für die Jahre 2015 bis 2018 an. Die hierauf zum Nachweis seiner inländischen Erwerbstätigkeit übersandten Unterlagen, insbesondere den Bescheid für 2015 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für die „X und X GbR“ vom 23.8.2017, den Bescheid für 2016 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für die „GbR Y und X“, die vorläufige Gewinnermittlung des Klägers als Einzelgewerbetreibender im Zeitraum vom 1.1.2017 bis 30.9.2017 sowie diverse Ausgangsrechnungen mit Leistungsbeschreibung für Leistungszeiträume in 2015 (Februar bis September), 2017 (März bis Juni sowie August und September) und 2018 (Januar und Februar sowie Mai bis Juli), sah die Beklagte nicht als ausreichend an.
14Mit Schreiben vom 19.12.2018 wies die Beklagte den Kläger schließlich darauf hin, dass dieser für die Zeiträume Januar sowie Oktober bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar bis Februar, Mai bis Juli und Oktober bis Dezember 2017 sowie März bis April und August bis Dezember 2018 möglicherweise keinen Anspruch auf Kindergeld habe und das für diese Zeiträume ausbezahlte Kindergeld i.H.v. insgesamt 5.926,00 EUR gegebenenfalls zu erstatten sei. Die Beklagte begründete dies damit, dass für die – vorliegend aus ihrer Sicht allein in Betracht kommende – Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG jeweils nachzuweisen sei, in welchen Monaten der Kläger inländische Einkünfte im Sinne des § 49 EStG erzielt habe. Die angeforderten Nachweise über inländische Einkünfte seien für die relevanten Monate jedoch nicht vorgelegt worden. Dabei ging die Beklagte davon aus, dass der Kläger in Deutschland weder einen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt nachgewiesen habe. Hierauf wurde dem Kläger nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
15Nachdem inzwischen Bescheinigungen des Finanzamts F über die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht des Klägers nach § 1 Abs. 3 EStG für die Jahre 2015 bis 2018 vorlagen, nach Auffassung der Beklagten aber auch weiterhin keine hinreichenden Nachweise über eine konkrete Erwerbstätigkeit des Klägers in Deutschland erbracht worden seien, hob diese die Kindergeldfestsetzung vom 27.6.2016 für das Kind B mit Bescheid vom 8.5.2019 für die bereits angekündigten Zeiträume auf und forderte einen Betrag i.H.v. insgesamt 5.926,00 EUR zurück.
16Gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 8.5.2019 legte der Kläger mit Schreiben vom 13.5.2019 Einspruch ein. Zur Begründung führte der Kläger aus, er habe bereits gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG aufgrund seines Wohnsitzes im Inland Anspruch auf Kindergeld in voller Höhe. Die Voraussetzungen für einen solchen Anspruch hätten die Familienkassen eigenverantwortlich zu prüfen und seien insoweit nicht an die Feststellungen der Finanzämter zum Umfang der Steuerpflicht gebunden. Zum weiteren Nachweis eines inländischen Wohnsitzes übersandte der Kläger nochmals Kopien der Mietverträge über die Wohnung in D für den Zeitraum von Oktober 2014 bis Juni 2015 sowie über die Wohnung in C für den Zeitraum ab dem 1.7.2015. Zudem legte der Kläger Schreiben der jeweiligen Vermieter vor, worin diese bestätigten, dass der Kläger in den Jahren 2015 bis 2018 unter den genannten Adressen eine Wohnung bewohnte und die Mietzahlungen regelmäßig leistete. Ebenfalls beigefügt waren u.a. Rechnungen der Stadtwerke C über Strom- und Gaslieferungen ab dem 1.9.2015.
17Mit Einspruchsentscheidung vom 24.6.2019 wies die Beklagte den Einspruch zurück. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass die Feststellungen des Finanzamts F zur unbeschränkten Steuerpflicht gem. § 1 Abs. 3 EStG bindend seien und entsprechende Nachweise über eine inländische Tätigkeit in den relevanten Monaten nicht beigebracht worden seien. Eine solche sei aber im Rahmen von § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG zwingend erforderlich. Zudem bestimme Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004) eine Rangfolge für den Fall, dass Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Vorrangig seien zunächst die Familienleistungen des Mitgliedstaats, in dem ein Elternteil eine Beschäftigung ausübt. Übt kein Elternteil eine Beschäftigung aus und bezieht auch keine Rente, richte sich der Vorrang nach dem Wohnsitz, wobei der Mitgliedstaat vorrangig zuständig sei, in dem das Kind seinen Wohnsitz hat. Auch ein Anspruch auf einen Unterschiedsbetrag zwischen einem eventuell niedrigeren ausländischen Kindergeld und dem (höheren) deutschen Kindergeld (sog. Differenzkindergeld) komme in diesem Fall nicht in Betracht, da ein solcher nicht für Kinder gewährt werde, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende vorrangige Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnsitz ausgelöst wird. Dies sei vorliegend für die streitigen Monate der Fall, da der Kläger insoweit keine Tätigkeit im Inland nachgewiesen habe. An diesem Ergebnis würde auch ein inländischer Wohnsitz des Klägers nichts ändern. Auch dann wäre Polen als vorrangig verpflichteter Staat anzusehen.
18Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende Klage. Mit Schriftsatz vom 29.8.2019 beantragte der Kläger zudem die gerichtliche Aussetzung der Vollziehung des streitigen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids. Zur Begründung der Klage sowie des Aussetzungsantrags führte der Kläger aus, eine Änderung der Kindergeldfestsetzung vom 27.6.2016 nach § 70 Abs. 2 EStG sei bis einschließlich Juni 2016 bereits verfahrensrechtlich nicht möglich, da insoweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich seien, keine Änderungen eingetreten seien. Zum Zeitpunkt der Kindergeldfestsetzung am 27.6.2016 hätten der Beklagten alle entscheidungserheblichen Tatsachen vorgelegen. Unabhängig davon bleibe es dabei, dass der Kläger Anspruch auf deutsches Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG habe, da er in Deutschland einen Wohnsitz unterhalte. Zum Nachweis des Wohnsitzes seien bereits umfangreiche Unterlagen zum Nachweis eingereicht worden. Zudem seien sämtliche Bescheide und eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen bezüglich der Rückforderung des Kindergeldes an die inländische Wohnanschrift des Klägers adressiert worden. Davon unabhängig stünde dem Kläger aber auch nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG ein Anspruch auf Kindergeld zu. Eine inländische Erwerbstätigkeit sei für sämtliche Monate nachgewiesen. Hierzu legte der Kläger nochmals diverse Ausgangsrechnungen, die laut ihm seiner selbständigen Erwerbstätigkeit zugrunde gelegen haben – mit Ausnahme der Monate Januar 2015, Oktober bis Dezember 2016, Januar, Februar und Oktober 2017 sowie August bis Oktober 2018 – vor. Weiter legte der Kläger Bescheinigungen des polnischen Sozialhilfeamts in G vom 11.9.2019 vor, wonach weder der Kläger noch dessen Ehefrau vom 1.1.2015 bis zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigungen am 11.9.2019 Familienleistungen und Erziehungsleistungen für das Kind B vom Sozialhilfeamt in G bezogen hätten.
19Mit Beschluss vom 3.12.2019 hat der erkennende Senat dem Antrag des Klägers auf Aussetzung der Vollziehung gem. § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) stattgegeben (10 V 2694/19 Kg). Auf den Inhalt des Beschlusses wird Bezug genommen.
20Im Anschluss hieran hat die Beklagte zunächst mit Änderungsbescheid vom 30.1.2020 vorläufig Kindergeld für das Kind B für die Monate Mai und Juni in Höhe des Differenzkindergelds sowie mit weiterem Änderungsbescheid vom 2.3.2020 sodann Kindergeld für das Kind B für den Zeitraum von Mai bis einschließlich Juli in voller Höhe festgesetzt. Daraufhin haben die Beteiligten den Rechtsstreit für die Monate Mai, Juni und Juli übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt. Der Rechtsstreit wurde insoweit zur gesonderten Entscheidung abgetrennt. Streitgegenstand des vorliegenden Klageverfahrens sind die verbleibenden Monate Januar sowie Oktober bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar und Februar sowie Oktober bis Dezember 2017 und März bis April sowie August bis Dezember 2018.
21Der Kläger beantragt sinngemäß,
22den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 8.5.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 24.6.2019, geändert durch Bescheide vom 30.1.2020 und 2.3.2020, auch bezüglich der verbleibenden Monate Januar sowie Oktober bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar und Februar sowie Oktober bis Dezember 2017 und März bis April sowie August bis Dezember 2018 aufzuheben.
23Die Beklagte beantragt,
24die Klage abzuweisen.
25Zur Begründung führt die Beklagte aus, die Anspruchsvoraussetzungen gem. § 62 Abs.1 EStG seien auch weiterhin nicht hinreichend nachgewiesen. Insbesondere sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger in den einzelnen Streitmonaten tatsächlich eine inländische Erwerbstätigkeit ausgeübt habe (§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG). Hierfür sei neben der Vorlage von Rechnungen mit der Angabe von Leistungszeiträumen und Leistungsorten samt dazugehöriger Nachweise über den Zufluss der in Rechnung gestellten Beträge auch ein Nachweis über den Umfang der inländischen Tätigkeit des Klägers innerhalb der jeweiligen GbRs erforderlich. Das Vorliegen eines inländischen Wohnsitzes allein reiche nicht aus, um einen Anspruch auf deutsches Kindergeld zu begründen. Auch für diesen Fall komme es entscheidend darauf an, in welchen Monaten der Kläger in Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Dieser erforderliche Nachweis fehle vorliegend. Eine tatsächliche Erwerbstätigkeit in den auf der jeweiligen Rechnung vermerkten Leistungszeiträumen sei dadurch noch nicht nachgewiesen. Mangels Erwerbsnachweis in Deutschland wäre Polen jedenfalls – entweder aufgrund einer möglichen Erwerbstätigkeit der Kindesmutter nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a) VO 883/2004 oder als Wohnsitzland des Kindes nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b) Ziffer iii) VO 883/2004 – vorrangig zur Gewährung der Familienleistungen zuständig. Eine etwaige Gewährung von Unterschiedsbeträgen sei nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO 883/2004 ebenfalls nicht vorgesehen, da der nachrangige Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wäre. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-611/10 und 612/10 - Hudzinski u.a., da dort der Bezug zu den nach deutschem Recht vorgesehenen Familienleistungen gerade durch eine Erwerbstätigkeit im Inland hergestellt worden sei. Eine Anwendung der genannten Rechtsprechung auch auf Personen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, komme daher nicht in Betracht. Diese Rechtsauffassung sei jüngst durch die höchstrichterliche Rechtsprechung des BFH in seinem Urteil vom 22.2.2018 (III R 10/17) bestätigt worden. Ein Konkurrenzverhältnis zu einem möglichen Anspruch auf ausländische Familienleistungen liege bereits immer dann vor, wenn ein Auslandsbezug – wie vorliegend bei dem Wohnsitz eines grundsätzlich Kindergeldberechtigten (hier Kindesmutter) und/oder des Kindes im EU-Ausland – besteht. In einer solchen Konstellation kämen die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 zur Anwendung, um unter anderem die Frage des Vorrangs der Familienleistungen aufzulösen. Insoweit finde die Vorschrift des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 Anwendung, mit der Folge, dass für die Monate der nicht nachgewiesenen inländischen Erwerbstätigkeit kein Anspruch auf nachrangige deutsche Familienleistungen bestehe. Zu der Problematik, ob in sog. Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellationen ein Anspruch auf deutsches Kindergeld (ggf. in voller Höhe) bestehe, wenn das Kind in dem anderen EU-Staat wohnt, werde auf die vergleichbare Entscheidung des Finanzgerichts Münster vom 10.12.2019 (11 K 2529/18 Kg) verwiesen, gegen welche ein Revisionsverfahren vor dem Bundesfinanzhof anhängig sei (Az. des BFH: III R 10/20).
26Aufgrund des vorgenannten anhängigen Revisionsverfahrens hat die Beklagte das Ruhen des Verfahrens beantragt. Der Kläger hat sich mit einem Ruhen des Verfahrens mit nicht einverstanden erklärt. Auf den entsprechenden Schriftsatz vom 30.3.2020 wird Bezug genommen.
27Beide Beteiligte haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 FGO).
28Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die vorliegende Kindergeldakte sowie die gewechselten Schriftsätze in dem Verfahren 10 V 2694/19 Bezug genommen.
29Entscheidungsgründe:
30Die Klage ist begründet.
31Der angefochtene Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
32I. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gem. § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung. Ein Ruhen des Verfahrens gem. § 251 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 155 FGO kam mangels übereinstimmenden Einverständnisses der Beteiligten nicht in Betracht. Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 30.3.2020 nicht mit dem Ruhen des Verfahrens einverstanden erklärt. Das Verfahren war auch nicht gem. § 74 FGO aufgrund des beim BFH anhängigen Revisionsverfahrens III R 10/20 auszusetzen. Ein Rechtsstreit darf nicht allein deshalb nach § 74 FGO ausgesetzt werden, weil beim BFH ein Revisionsverfahren anhängig ist, das eine vergleichbare Rechtsfrage betrifft, selbst wenn es als Musterverfahren geführt wird (vgl. etwa BFH-Beschluss vom 15.10.2019 – XI B 75/19, BFH/NV 2020, 214).
33II. Der Kläger hat im Streitzeitraum Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn B gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 EStG. Dieser wird weder durch einen vorrangigen Kindergeldanspruch der Ehefrau des Klägers gem. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG noch durch die Konkurrenzregelungen nach Art. 68 VO 883/2004 bzw. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen.
341. Gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld für Kinder i.S.d. § 63 EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Damit knüpft der Gesetzgeber zwar an die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht nach § 1 Abs. 1 EStG an (vgl. Weber-Grellet in Schmidt, 38. Aufl. § 62 EStG Rz. 1). Aus der einkommensteuerrechtlichen Behandlung des Steuerpflichtigen durch die Finanzämter folgt jedoch keine Bindungswirkung für die Kindergeldfestsetzung (vgl. BFH-Urteile vom 18.7.2013 III R 9/09, BStBl. II 2014, 802 und vom 8.5.2014 III R 21/12, BStBl. II 2015, 135; ebenso Sächsisches FG, Urteil vom 25.4.2019 6 K 1720/17 (Kg), juris). Vielmehr haben die Familienkassen in eigener Zuständigkeit und ohne Bindung an die Beurteilung des Finanzamts im Besteuerungsverfahren die Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG zu prüfen (vgl. auch A 2.1.1 Abs. 3 Satz 2 DA-KG 2019). Dem Umstand, dass der Kläger in den Veranlagungszeiträumen 2015 bis 2018 durch das Finanzamt F als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt wurde, kommt daher vorliegend keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Hieraus folgt nicht zwingend, dass für den Kläger allenfalls ein Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG – mit weitergehenden Nachweiserfordernissen – in Betracht kommen kann. Eigenständig und vorrangig zu prüfen ist vielmehr, ob der Kläger – entgegen der einkommensteuerlichen Einordnung nach § 1 Abs. 3 EStG – entweder seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte.
35a. Seinen Wohnsitz hat nach § 8 AO jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Hiernach setzt ein Wohnsitz eine Wohnung, d.h. eine stationäre Räumlichkeit voraus, die auf Dauer zum Bewohnen geeignet ist. Dies wiederum erfordert eine den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Inhabers entsprechende Bleibe (BFH-Urteil vom 19.3.1997 – I R 69/96, BStBl. II 1997, 447). Eine nur vorübergehende oder notdürftige Unterbringungsmöglichkeit reicht hingegen nicht aus (vgl. Buciek in Gosch, AO/FGO, § 8 AO Rz. 16), ebenso nicht eine bloße Schlafstelle in Betriebsräumen (vgl. BFH-Urteil vom 6.2.1985 I R 23/82, BStBl. II 1985, 331). Innehaben der Wohnung bedeutet, dass der Anspruchsteller tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit – wenn auch in größeren Zeitabständen – aufsucht (BFH-Urteil vom 23.11.2000 VI R 107/99, BStBl. II 2001, 294). Die Nutzung muss zu Wohnzwecken erfolgen; eine Nutzung zu ausschließlich beruflichen oder geschäftlichen Zwecken reicht nicht aus (vgl. Buciek in Gosch, AO/FGO., § 8 AO Rz. 27), ebenso nicht ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken (BFH-Urteil vom 23.11.2000 VI R 107/99, BStBl. II 2001, 294). Schließlich muss das Innehaben der Wohnung unter Umständen erfolgen, die darauf schließen lassen, dass die Person die Wohnung beibehalten wird. Hierin kommt u.a. ein Zeitmoment zum Ausdruck. Dabei kann im Rahmen des § 8 AO zur Bestimmung des Zeitmoments als Anhaltspunkt auf die in § 9 S. 2 AO normierte Sechsmonatsfrist zurückgegriffen werden (BFH-Urteil vom 22.8.2007 III R 89/06, BFH/NV 2008, 351). Ob im Einzelfall eine solche Benutzung vorliegt, ist unter Würdigung der objektiv erkennbaren Gesamtumstände nach den Verhältnissen des jeweiligen Veranlagungs- oder Anspruchszeitraums zu beurteilen (vgl. BFH-Urteil vom 8.5.2014 III R 21/12, BStBl. II 2015, 135; Abschn. 1.1 AEAO zu § 8).
36b. Unter Anwendung vorstehender Grundsätze hatte der Kläger im Streitzeitraum in Deutschland einen Wohnsitz. Zwar sind die melderechtlichen Anmeldungen bei der Stadt D aus Oktober 2014 sowie nachfolgend bei der Stadt C aus Juli 2015 hierfür allein noch kein Nachweis, sondern lediglich ein Indiz (vgl. hierzu etwa BFH-Urteile vom 17.5.1995 I R 8/94, BStBl. II 1996, 2 und vom 22.8.2007 III R 89/06, BFH/NV 2008, 351). Jedoch hat der Kläger zum Nachweis eines inländischen Wohnsitzes darüber hinaus auch beide Mietverträge vorgelegt. Zudem haben sowohl die Vermieter der Wohnung in D als auch die Vermieterin der Wohnung in C bestätigt, dass der Kläger die jeweilige Wohnung tatsächlich bewohnt und die monatlichen Mietzahlungen für die Jahre 2015 bis 2018 regelmäßig geleistet hat. Jedenfalls für die Wohnung in C liegen auch Abrechnungen der Stadtwerke C über Strom- und Gaslieferungen vor, die darauf schließen lassen, dass die Wohnung nicht nur gelegentlich für wenige Tage im Jahr genutzt wurde. Aus den vorliegenden Rechnungen über die inländischen Tätigkeiten des Klägers wird ersichtlich, dass dieser im Rahmen der jeweiligen Bauvorhaben oft über mehrere Tage in Deutschland tätig war. Anhaltspunkte dafür, dass die angemieteten Wohnungen – entgegen den Angaben im Mietvertrag – gar nicht für Wohnzwecke geeignet waren oder möglicherweise nicht zu privaten Wohnzwecken, sondern ausschließlich für betriebliche Zwecke – etwa für anfallende Büroarbeiten – genutzt wurden, bestehen vorliegend nicht. Schließlich sind – soweit ersichtlich – auch sämtliche Schreiben und Bescheide im Rahmen des Kindergeldverfahrens an die inländische Wohnanschrift des Klägers in C adressiert worden, so dass offensichtlich auch die Beklagte den inländischen Wohnsitz des Klägers nicht ernsthaft in Abrede stellt. Unschädlich ist, dass der Kläger unstreitig am Aufenthaltsort seiner Familie in Polen ebenfalls einen Wohnsitz hatte. Ein Steuerpflichtiger kann gleichzeitig – im In- oder Ausland – mehrere Wohnungen und mehrere Wohnsitze i.S.d. § 8 AO haben. Dass sich der Kläger möglicherweise wiederholt bei seiner Familie in Polen aufgehalten hat, stellt das Bestehen des Wohnsitzes im Inland ebenfalls nicht infrage (vgl. Gersch in Klein, 14. Aufl., § 8 AO Rz. 6). Schließlich ist nicht erforderlich, dass sich im Inland auch der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klägers befindet. Dieser kann sich auch bei der Familie in Polen befinden. Ausreichend ist, dass der Kläger vorliegend vom inländischen Wohnsitz aus seiner Erwerbstätigkeit nachging (vgl. etwa BFH-Urteil vom 18.12.2013 III R 44/12, BStBl. II 2015, 143).
37c. Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG werden als Kinder alle Kinder i.S.v. § 32 Abs. 1 EStG, insbesondere – wie vorliegend – leibliche minderjährige Kinder, berücksichtigt. Unschädlich ist hierbei, dass B keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, sondern bei seiner Mutter in Polen lebte. Gem. § 63 Abs. 1 Satz 6 EStG werden grundsätzlich lediglich Kinder, die weder einen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt im Inland noch in einem Mitgliedstaat der EU oder des EWR haben, nicht berücksichtigt. Dies ist vorliegend nicht der Fall. B hatte seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt in Polen und damit innerhalb der EU.
382. Der Kindergeldanspruch des Klägers wird nicht durch einen vorrangigen Kindergeldanspruch der Ehefrau des Klägers gem. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ausgeschlossen.
39Demnach wird das Kindergeld (nur und vorrangig) demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Auch die Ehefrau des Klägers kommt zwar grundsätzlich als weitere Berechtigte i.S.v. § 64 EStG in Betracht. Dem steht nicht entgegen, dass sie weder in Deutschland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte noch einer inländischen Erwerbstätigkeit nachging. Ihre Berechtigung kann sich aus § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. Art 67 der VO 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der hierzu ergangenen Durchführungsverordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 (VO 987/2009) ergeben, wonach zu unterstellen ist, dass alle Beteiligten unter die Rechtsvorschrift des betreffenden Mitgliedstaats – hier Deutschland – fallen und dort wohnen. Das Kind des Klägers lebte zwar nicht beim Kläger in Deutschland, sondern bei seiner Mutter in Polen. Hierbei handelt es sich aber um den gemeinsamen Familienwohnsitz des Klägers und seiner Ehefrau sowie des gemeinsamen Kindes. Der Kläger und seine Ehefrau lebten nicht getrennt. Dies hat auch die Beklagte nicht in Abrede gestellt. Da die Wohnsituation der im EU-Ausland lebenden Ehefrau des Klägers und des gemeinsamen Kindes (fiktiv) in das Inland übertragen wird, liegt kein Fall des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vor (anders als etwa im Urteil des BFH vom 13.7.2016, BFH/NV 2016, 1722).
40Die bei der Aufnahme des Kindes in den gemeinsamen Haushalt nach § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG erforderliche Bestimmung des Berechtigten haben der Kläger und seine Ehefrau im Kindergeldantrag dahingehend vorgenommen, dass der Kläger zum Kindergeldberechtigten bestimmt worden ist.
413. Der Kindergeldanspruch des Klägers wird auch nicht durch die Konkurrenzregelungen nach Art. 68 der VO 883/2004 bzw. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Hierbei kann der Senat offen lassen, in welchen Monaten genau der Kläger einer gewerblichen Tätigkeit im Inland nachgegangen ist und ob möglicherweise auch dessen Ehefrau eine Erwerbstätigkeit in Polen ausgeübt hat.
42a. Nach Art. 2 Abs. 1 der VO 883/2004 ist der persönliche sowie nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j) i.V.m. Art. 1 Buchst. z) der VO 883/2004 auch der sachliche Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet. Selbst wenn gem. § 11 Abs. 3 der VO 883/2004 neben Deutschland auch Polen (ggf. vorrangig) für die Gewährung von Familienleistungen an den Kläger zuständig wäre, bestünde im vorliegenden Streitfall kein konkurrierender – einen Anspruch auf deutsches Kindergeld möglicherweise ausschließender – Anspruch auf polnisches Kindergeld i.S.d. Art. 68 der VO 883/2004.
43b. Speziell für Familienleistungen sieht Art. 68 der VO 883/2004 Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen für denselben Familienangehörigen in mehreren Mitgliedstaaten vor. Die Anwendung der Prioritätsregelungen nach Art. 68 der VO 883/2004 setzt aber voraus, dass sich tatsächlich zwei Ansprüche nach widerstreitenden Rechtsvorschriften gegenüberstehen. Art. 68 der VO 883/2004 stellt keine rein abstrakte, vom Bestehen der Ansprüche nach den jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften unabhängige Prioritätsregelung dar. Dies folgt aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004, wonach die dort aufgezählten Prioritätsregelungen nur gelten, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Einer einschränkenden Auslegung ist die Vorschrift nicht zugänglich. Wird somit im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat für ein Kind tatsächlich keine dem Kindergeld vergleichbare Leistung erbracht, weil Einkommens- oder Altersgrenzen hierfür überschritten werden oder andere Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, müssen die in dem anderen Mitgliedstaat nachrangig ausgelösten Ansprüche auf Familienleistungen erfüllt werden (so im Ergebnis auch FG Bremen, Urteil vom 27.2.2017 – 3 K 77/16, juris; Hessisches FG, Urteil vom 1.3.2018 – 3 K 1574/14, juris, Revision anhängig unter BFH III R 71/18; FG Nürnberg, Urteile vom 21.3.2019 – 6 K 1373/18, juris und vom 19.3.2019 – 6 K 508/18, juris, Revision anhängig unter BFH III R 2/20; Sächsisches FG, Urteil vom 25.4.2019 – 6 K 1720/17, juris, Nichtzulassungsbeschwerde anhängig unter BFH III B 94/19; FG Münster, Urteil vom 10.12.2019 – 11 K 2529/18 Kg, juris; Revision anhängig unter BFH III R 10/20; a.A. FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.10.2019 – 7 K 3133/17, juris). Nur eine dahingehende Auslegung von Art. 68 der VO 883/2004 entspricht dem Sinn und Zweck der Prioritätsregelung, grenzüberschreitende Doppelleistungen konkurrierender Kindergeldansprüche zu vermeiden (vgl. zu diesem Zweck etwa BFH-Urteil vom 25.7.2019 – III R 34/18, BFH/NV 2020, 137).
44c. Ein konkurrierender Anspruch des Klägers auf Kindergeld in Polen besteht vorliegend nicht (vgl. zur Rechtslage in Polen Anlage 1 zum Schreiben des Bundeszentralamts für Steuern vom 16.1.2017 St II 2-S 2473-PB/16/00001, BStBl. I 2017, 151). Dies folgt zwar nicht bereits aus dem Umstand, dass der Kläger laut Bescheinigung des polnischen Zentrums für Sozialhilfe weder einen Antrag auf Familienleistungen gestellt noch derartige Leistungen in Polen bezogen hat, sondern ist im Einzelnen zu prüfen. Bis zum 31.3.2016 wurde u.a. polnischen Staatangehörigen in Polen nach dem Gesetz über Familienleistungen vom 28.11.2003 Kindergeld gezahlt, das dem deutschen Kindergeld vergleichbar ist. Familienleistungen wurden demnach aber nur gewährt, wenn das Familieneinkommen pro Familienmitglied eine bestimmte Grenze nicht überschreitet. Diese Grenze betrug im Zeitraum vom 1.11.2014 bis 31.10.2015 574,00 PLN (≈ ca. 132,00 EUR im Jahr 2015) und ab dem 1.11.2015 674 PLN (≈ ca. 148,00 EUR im Jahr 2016). Hierfür ausschlaggebend ist das durchschnittliche monatliche (Netto-)Einkommen im Kalenderjahr, das dem Beihilfezeitraum vorangeht. Ab dem 1.1.2016 gilt das Prinzip „Zloty für Zloty“. Übersteigt das Einkommen die Einkommensgrenze, besteht Anspruch auf Kindergeld in Höhe der Differenz zwischen dem Gesamtanspruch auf Familienleistungen (Kindergeld und Zulagen) und dem Betrag, der die Einkommensgrenze übersteigt. Ab einem entsprechend hohen Einkommen entfällt der Anspruch komplett. Lediglich Geringverdiener werden entlastet. Ab dem 1.4.2016 wird Kindergeld in Polen nach dem Gesetz über staatliche Beihilfen für Kindererziehung vom 11.2.2016 („500+“, Gesetzblatt der Republik Polen vom 17.2.2016, Pos. 195) gewährt. Demnach besteht ein Anspruch auf Kindergeld für das erste Kind, wenn das monatliche Familieneinkommen pro Person 800,00 PLN nicht überschreitet (≈ 180,00 EUR in 2016, ca. 190,00 EUR in 2017 und ca. 187,00 EUR in 2018). Erst ab dem zweiten Kind wird Kindergeld einkommensunabhängig gezahlt.
45Aufgrund der aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlichen Einkommensverhältnisse des Klägers, wobei – wie ausgeführt – jeweils die des Vorjahres entscheidend sind, steht diesem nach summarischer Prüfung in den Streitzeiträumen weder nach altem noch nach neuem Recht in Polen Kindergeld zu. Im Einzelnen: Laut Einkommensteuerbescheid erzielte der Kläger im Jahr 2014 (maßgeblich für einen etwaigen Kindergeldanspruch in 2015) Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 6.456,00 EUR (dies entspricht zugleich dem Nettoeinkommen), was – unter Außerachtlassung etwaiger weiterer Einkünfte aus einer Tätigkeit in Polen – einem monatlichen Durchschnittseinkommen i.H.v. 538,00 EUR entspricht. Die maßgebliche Einkommensgrenze nach polnischem Recht für das Jahr 2015 betrug umgerechnet ca. 132,00 EUR, d.h. unter Berücksichtigung von drei Familienmitgliedern 396,00 EUR. Im Jahr 2015 (maßgeblich für 2016) erzielte der Kläger laut Einkommensteuerbescheid 2015 bereits Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 33.472,00 EUR, wovon nach Abzug der Einkommensteuer, Zinsen und Kirchensteuer ein Betrag i.H.v. 31.911,68 EUR als Nettoeinkommen verbleibt. Dies entspricht einem durchschnittlichen Monatseinkommen i.H.v. ca. 2.659,00 EUR. Die maßgebliche Einkommensgrenze nach polnischem Recht für das Jahr 2016 betrug umgerechnet ca. 148,00 EUR bzw. ab dem 1.4.2016 ca. 180 EUR, d.h. unter Berücksichtigung von drei Familienmitgliedern 444,00 EUR bzw. 540,00 EUR. Die Neuregelung zur Gewährung von einkommensunabhängigem Kindergeld ab dem 1.4.2016 wirkt sich vorliegend nicht aus, da der Kläger lediglich ein Kind hat und daher die o.g. Einkommensgrenzen zur Anwendung kamen. Im Jahr 2016 (maßgeblich für 2017) erzielte der Kläger laut Einkommensteuerbescheid 2016 Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 15.896,00 EUR (zugleich Nettoeinkommen), was einem durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommen i.H.v. ca. 1.325,00 EUR entspricht. Die maßgebliche Einkommensgrenze nach polnischem Recht für das Jahr 2017 betrug umgerechnet ca. 190,00 EUR, d.h. unter Berücksichtigung von drei Familienmitgliedern ca. 570,00 EUR. Im Jahr 2017 (maßgeblich für 2018) erzielte der Kläger laut vorläufiger Gewinnermittlung einen Gewinn aus Gewerbebetrieb i.H.v. 18.591,00 EUR, so dass ein durchschnittliches monatliches Einkommen i.H.v. ca. 1.549,00 EUR zugrunde gelegt werden kann. Die maßgebliche Einkommensgrenze nach polnischem Recht für das Jahr 2018 betrug umgerechnet ca. 187,00 EUR, d.h. unter Berücksichtigung von drei Familienmitgliedern ca. 561,00 EUR.
46d. Da nach polnischem Recht kein Kindergeldanspruch für das Kind B bestand, konnte nach Auffassung des Senats die Prioritätsregelung des Art. 68 der VO 883/2004 im Streitfall insgesamt und für den gesamten Streitzeitraum nicht dazu führen, dass der nach deutschem Recht bestehende Anspruch auf Kindergeld ausgeschlossen wurde.
47Die Beklagte macht demgegenüber geltend, der Kläger habe nicht nachgewiesen, dass er tatsächlich für sämtliche in Rede stehenden Zeiträume durchgehend eine inländische Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Für diese Zeiträume sei daher davon auszugehen, dass der deutsche Kindergeldanspruch alleine durch den inländischen Wohnsitz des Klägers ausgelöst werde und hierdurch – da das Kind in Polen wohne – nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziffer iii) der VO 883/2004 Polen vorrangig für die Gewährung von Kindergeld zuständig sei. In einer solchen sog. Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation führe Art. 68 der VO 883/2004 nicht (nur) zur Anrechnung der ausländischen Familienleistungen und Gewährung von Differenzkindergeld in Deutschland. Vielmehr sei dann nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO 883/2004 der nach deutschem Recht bestehende Anspruch auf Kindergeld vollständig ausgeschlossen. Die Beklagte ist der Auffassung, das gelte nicht nur, wenn in dem anderen Mitgliedstaat ein konkurrierender Anspruch auf Kindergeld tatsächlich bestehe (so der Fall in BFH, Urteil vom 22.2.2018 III R 10/17, BStBl. II 2018, 717), sondern auch dann, wenn kein solcher Anspruch bestehe. Der Senat lässt dahinstehen, ob das vorgenannte Vorbringen des Beklagten zum fehlenden Nachweis einer inländischen Erwerbstätigkeit für sämtliche Zeiträume zutrifft oder nicht und trifft hierzu keine weiteren Feststellungen. Er geht nämlich in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass ein Ausschluss von deutschem Kindergeld nach Art. 68 der VO 883/2004 auch in der vorgenannten Konstellation dann nicht in Frage kommt, wenn – wie im Streitfall – in dem anderen Mitgliedstaat nach den dortigen Rechtsvorschriften kein Anspruch auf Kindergeld besteht (siehe die Ausführungen und die Nachweise aus der finanzgerichtlichen Rechtsprechung unter II.3.b.).
484. Aus vorstehenden Gründen kann vorliegend schließlich auch offen bleiben, ob die Beklagte im Hinblick auf die Kindergeldfestsetzung vom 27.6.2016 überhaupt eine Änderungsbefugnis – sei es wegen Änderungen in den zugrunde liegenden Verhältnissen gem. § 70 Abs. 2 EStG oder wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel gem. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO – hatte.
49III. Da der Kläger nach vorstehenden Ausführungen für den gesamten Streitzeitraum einen Anspruch auf Kindergeld hat, war auch die Rückforderung des Kindergeldes nach § 37 Abs. 2 AO rechtswidrig und damit aufzuheben.
50IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
51V. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
52VI. Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 FGO zuzulassen. Zu der Frage, ob die Prioritätsregelungen in Art. 68 der VO 883/2004 nur Anwendung finden, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten tatsächlich zu gewähren sind – konkret zu sog. Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation, wenn das Kind in dem anderen EU-Staat wohnt –, sind divergierende finanzgerichtliche Entscheidungen ergangen, welche zu beim Bundesfinanzhof noch anhängigen Revisionsverfahren geführt haben (s.o. unter II.3.b.). Eine ausdrückliche höchstrichterliche Entscheidung ist hierzu – soweit ersichtlich – noch nicht ergangen.
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