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Der Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 29.11.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.4.2018 wird aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob eine im Jahre 2011 erteilte Restschuldbefreiung ein rückwirkendes Ereignis darstellt und deshalb die Einkommensteuerbescheide 2005 bis 2012 sowie die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf den 31.12.2005 bis 31.12.2011 geändert werden durften.
3Aus dem Betrieb eines … in Form eines Einzelunternehmens erwirtschaftete der Kläger erhebliche Verluste. Diese resultierten vorwiegend aus dem bei Kauf der Immobilie unterschätzten Sanierungsbedarf der Immobilie.
4Auf den 31.12.2004 stellte der Beklagte (das Finanzamt --FA--) einen verbleibenden Verlustvortrag zur Einkommensteuer von 1.463.000 € fest.
5Anfang Januar 2005 stellte der Kläger einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen. Auf den Betrieb des … hatte dies nach einer chronologischen Aufstellung, die die Kläger in der mündlichen Verhandlung zur Gerichtsakte gereicht haben, zunächst keinen Einfluss. Der Kläger betrieb es hiernach bis zum 27.2.2005 weiter. Anschließend führte Frau A, die bisherige Restaurantleiterin, das Haus fort.
6Über das Vermögen des Klägers eröffnete das Amtsgericht B am ...3.2005 das Insolvenzverfahren (Aktenzeichen: … IN …/05). Die Insolvenzverwalterin, Frau Rechtsanwältin C, veräußerte mit notarieller Urkunde vom 16.6.2005 (Nummer … der Urkundenrolle für 2005 des Notars D) das im Grundbuch des Amtsgerichts E von F Blatt … verzeichnete Immobiliarvermögen für einen Kaufpreis von 1.200.000 €. Wegen der weiteren Details wird auf den Inhalt der Vertragsurkunde Bezug genommen.
7Während des Insolvenzverfahrens ging der Kläger einer nichtselbständigen Arbeit nach. Abgesehen von Einkünften aus Gewerbebetrieb, die aus der Zeit vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens resultierten, erzielte der Kläger Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung (2005 bis 2007) sowie aus Kapitalvermögen (2005 bis 2009). Ab 2008 wurde der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau, der Klägerin, zur Einkommensteuer veranlagt; diese erzielte Einkünfte aus Gewerbebetrieb und Vermietung und Verpachtung.
8Der letzte Einkommensteuerbescheid 2005 vor der streitgegenständlichen Änderung, der weiterhin unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stand, erging unter dem 14.9.2009. Unter dem 3.9.2009 erließ das FA ferner einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2005. Darin verminderte sich der zum Ende des Vorjahres festgestellte Verlustvortrag um 70.828 € auf 1.392.172 €. Beide Bescheide waren an den Kläger „vor Insolvenz“ gerichtet.
9Am 14.9.2009 erließ das FA einen weiterhin unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Änderungsbescheid zur Einkommensteuer 2006, in dem es Einkommensteuer in Höhe von 0 € festsetzte. Der verbleibende Verlustabzug zur Einkommensteuer verringerte sich nach dem Feststellungsbescheid vom 3.9.2009 auf 1.372.172 €. Den Vorbehalt der Nachprüfung hob das FA am 24.11.2011 hinsichtlich beider Bescheide auf.
10Durch Bescheid vom 19.5.2010 setzte das FA die Einkommensteuer für 2007 auf 0 € fest; den verbleibenden Verlustvortrag auf den 31.12.2007 stellte es durch Bescheid vom selben Tag mit 1.351.274 € fest. Die Vorbehalte der Nachprüfung, unter denen die beiden Bescheide standen, hob das FA durch Verfügungen vom 24.11.2011 auf.
11Unter dem 4.8.2010 erging ein Bescheid für 2008 über Einkommensteuer gegenüber den Klägern in Höhe von 0 €. Am selben Tag erließ das FA einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2008, in dem es verbleibenden Verlustvortrag mit 1.302.597 € feststellte.
12Mit Bescheid vom 17.6.2011 setzte das FA Einkommensteuer für 2009 gegenüber den Klägern abermals über 0 € fest. Der verbleibende Verlustvortrag auf den 31.12.2009 verringerte sich auf 1.217.419 €. Beide Bescheide standen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
13Schließlich erließ das FA unter dem 10.10.2011 sowohl eine Einkommensteuerfestsetzung 2010 über 0 € als auch eine Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2010, in der sich der Verlustvortrag auf 1.133.924 € verminderte.
14Nach Ablauf der Wohlverhaltensperiode erteilte das Amtsgericht dem Kläger zum 1.3.2011 die Restschuldbefreiung. Gemäß dem Schlussverzeichnis gemäß § 188 der Insolvenzordnung betrug die Summe der anerkannten Verbindlichkeiten zu diesem Zeitpunkt noch 5.527.254,87 €. Gläubiger war u.a. das FA. Dieses wurde vom Insolvenzgericht über die Restschuldbefreiung informiert.
15Die Einkommensteuererklärung 2011 reichten die Kläger elektronisch ein. Die Klägerin deklarierte gewerbliche Einkünfte aus dem Betrieb eines Hotels/Restaurants sowie aus Vermietung und Verpachtung; der Kläger erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und aus einer Beteiligung. Einkünfte aus Gewerbebetrieb aufgrund der Restschuldbefreiung erklärte der Kläger nicht.
16Der Erklärung fügten die Kläger nicht die ausdrückliche Erläuterung bei, dass es sich auch um eine Erklärung zur gesonderten Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags handeln solle. In dem Übersendungsschreiben zu den Belegen zur Einkommensteuererklärung vom 29.1.2013 erläuterten die Kläger jedoch, der festgestellte Verlustvortrag zur Einkommensteuer werde aufgrund der Restschuldbefreiung nicht weiter vorgetragen.
17In dem Einkommensteuerbescheid 2011 vom 3.4.2013 ging das FA von einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 66.737 € aus; dieser wurde mit einem Verlustvortrag in Höhe von 66.737 € verrechnet, so dass das FA wiederum eine Einkommensteuerschuld von 0 € festsetzte.
18Den zum 31.12.2010 festgestellten Verlustvortrag von 1.133.924 € reduzierte das FA dementsprechend um einen Betrag von 66.737 € und stellte durch Bescheid vom 3.4.2013 für den Kläger einen verbleibenden Verlustvortrag auf den 31.12.2011 in Höhe von 1.067.187 € fest.
19Mit Bescheid vom 29.7.2013 setzte das FA ferner Einkommensteuer für 2012 mit 0 € fest; der verbleibende Verlustvortrag auf den 31.12.2012 verringerte sich nach dem Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf 1.019.375 €.
20Bei der Bearbeitung der Steuererklärung 2013 bemerkte das FA, dass der Verlustvortrag fortgeführt wurde, obwohl bereits 2011 die Restschuldbefreiung erteilt worden war. Das FA sah darin eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 Satz 1 der Abgabenordnung (AO). Von dieser Rechtsauffassung ausgehend erließ das FA am 19.3.2015 einen nur in den Besteuerungsgrundlagen geänderten Einkommensteuerbescheid 2011, der weiterhin eine Steuerschuld von 0 € auswies. Den Bescheid für den Kläger über den gesonderten Verlustvortrag auf den 31.12.2011 hob das FA durch den auf § 10d Abs. 4 Satz 4, 5 des Einkommensteuergesetzes 2009 (EStG 2009) i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 vom 8.12.2010 (BGBl. I 2010, 1768) --EStG 2009 n.F.-- gestützten Änderungsbescheid vom 19.3.2015 auf, weil kein vortragsfähiger Verlust verbleibe.
21Gegen die Änderungsbescheide legten die Kläger erfolglos Einspruch ein. Daraufhin erhoben die Kläger Klage, die auf die Aufhebung der Änderungsbescheide gerichtet war. In Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung wies der Berichterstatter die Beteiligten darauf hin, dass auch die materielle Frage zu prüfen sei, ob die Restschuldbefreiung tatsächlich im Jahr 2011 ertragsteuerlich zu berücksichtigen sei. Diese Frage erörterte der Senat in der mündlichen Verhandlung intensiv mit den Beteiligten. Obwohl in der damaligen mündlichen Verhandlung auch die im Falle einer Klagestattgabe ggf. bestehenden Änderungsmöglichkeiten des FA nach § 174 Abs. 4 AO bezogen auf frühere Veranlagungszeiträume angesprochen worden waren, hielten die Kläger ihren Aufhebungsantrag aufrecht. Der Senat gab der Klage daraufhin durch Urteil vom 21.7.2016 – 9 K 3457/15 E,F, veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2016, 1871, statt. Zu Unrecht sei das FA davon ausgegangen, dass der Einkommensteuerbescheid 2011 und die Verlustfeststellung auf den 31.12.2011, jeweils vom 3.4.2013, hätten geändert werden dürfen. Eine Anwendung der im schriftlichen Verfahren diskutierten Korrekturvorschriften scheide im vorliegenden Fall schon deshalb aus, weil die Ausgangsbescheide materiell nicht rechtswidrig gewesen seien. Die Restschuldbefreiung habe sich auf die Besteuerungsgrundlagen des Jahres 2011 nicht ausgewirkt. Zwar führe die Restschuldbefreiung zu einem Gewinn, weil sie sich auf betriebliche Schulden eines Einzelunternehmers beziehe; steuerlich habe sie aber auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe i.S. des § 16 EStG 2002 zurückgewirkt, d.h. hier auf den Zeitpunkt der Betriebseinstellung, die nach dem unbestrittenen Vortrag der Kläger in der mündlichen Verhandlung etwa im Januar 2005 vor der Insolvenzeröffnung erfolgt sei.
22Die gegen die Entscheidung des erkennenden Senats eingelegte Revision hat sich durch deren Rücknahme seitens des FA im Jahr 2017 erledigt (Aktenzeichen BFH: IX R 30/16), nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) auf das Urteil vom 13.12.2016 X R 4/15 und dessen Veröffentlichung im Bundessteuerblatt (BStBl) hingewiesen hatte.
23Nachfolgend erließ das FA zur „Umsetzung des Urteils des Finanzgerichts Münster“ unter dem 18.10.2017 einen nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geänderten Einkommensteuerbescheid 2011, in dem es eine Einkommensteuer von 0 € festsetzte. Einen Sanierungsgewinn berücksichtigte es nicht mehr. Unter demselben Datum erging ein geänderter Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2011. Den verbleibenden Verlustvortrag wies das FA darin mit 1.067.187 € aus.
24Darüber hinaus erließ das FA am 23.11.2017 einen gemäß § 174 Abs. 4 AO i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geänderten Einkommensteuerbescheid für 2005 gegenüber dem Kläger „vor Insolvenz“. Darin ging es von einem Buchgewinn aus der Erteilung der Restschuldbefreiung in Höhe von 1.463.000 € aus. Das FA erläuterte, durch diesen Bescheid werde die Entscheidung des erkennenden Senats in dem genannten Senatsurteil vom 21.7.2016 umgesetzt. Die 2011 ausgesprochene Restschuldbefreiung wirke auf das Jahr der Betriebsaufgabe (2005) zurück. Aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) werde der Sanierungsgewinn aus der Restschuldbefreiung auf die Höhe des zum 31.12.2004 festgestellten Verlustvortrags begrenzt. Außerdem hob das FA am 23.11.2017 gestützt auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und auf § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG den bisherigen Bescheid über die Verlustfeststellung zum 31.12.2005 gegenüber dem Kläger „vor Insolvenz“ auf.
25Durch einen separaten Bescheid über Zinsen vom 23.11.2017 setzte das FA zunächst Zinsen zur Einkommensteuer 2005 in Höhe von 13.125 € fest. Diesen Bescheid berichtigte das FA unter dem 6.12.2017 und reduzierte die Zinsen auf 5.655 €.
26Am 29.11.2017 erließ das FA zudem einen Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen. Die Aussetzung der Vollziehung sei mit Bescheid vom 9.3.2017 zum 13.4.2017 beendet worden. Zu verzinsen sei ein Betrag von 800 € für die Zeit vom 11.6.2015 bis zum 13.4.2017. Für 22 Monate ergebe sich damit ein Zinssatz von 11 %, mithin ein Gesamtbetrag von 88 €.
27Schließlich ergingen am 5.12.2017 gestützt auf § 174 Abs. 4 AO i.V.m. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO geänderte Einkommensteuerbescheide für 2006 bis 2012, in denen Verlustvorträge nicht weiter berücksichtigt wurden, und gesonderte Feststellungen über die verbleibenden Verlustvorträge auf den 31.12.2006 bis 31.12.2011, in denen Verluste nicht mehr festgestellt wurden. Die Einkommensteuer- und Verlustfeststellungsbescheide 2006 und 2007 waren an den Kläger „vor Insolvenz“ adressiert. Die Verlustfeststellungen auf den 31.12.2008 bis 31.12.2011 ergingen gegenüber den Klägern, beinhalteten allerdings allein die Aufhebung der Verlustfeststellung gegenüber dem Kläger, hinsichtlich dessen zuvor allein Verlustfeststellungen durchgeführt worden waren. Mit den vorgenannten Einkommensteuerbescheiden zusammengefasst wurden Zinsbescheide zur Einkommensteuer 2006 bis 2012.
28Die Kläger legten am 22.12.2017 Einspruch gegen den Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 29.11.2017, den „Abrechnungsbescheid zur Einkommensteuer 2005 sowie Bescheid über Zinsen zur Einkommensteuer 2005 vom 23.11.2017“ sowie gegen die Bescheide für 2005 bis 2012 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer und gegen die Bescheide über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf den 31.12.2005 bis 31.12.2011 vom 23.11.2017 bzw. 5.12.2017 ein. Diesen wies das FA durch Einspruchsentscheidung vom 20.4.2018 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es aus, nicht nur der erkennende Senat, sondern auch der BFH in seinem Urteil vom 13.12.2016 X R 4/15 hätten festgestellt, dass die Erteilung der Restschuldbefreiung zu einem Buchgewinn führe. Nach Auffassung des BFH entstehe dieser zwar grundsätzlich im Jahr der Rechtskraft des Beschlusses; anderes gelte jedoch, wenn der Betrieb vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben worden sei. In diesem Fall führe die Restschuldbefreiung zu einem rückwirkenden Ereignis. Außerdem sei der Einkommensteuerbescheid 2011 vom 19.03.2015 auf Antrag der Kläger geändert worden. Vorliegend habe sich das FA bei Erlass des Einkommensteuerbescheides 2011 in dem Rechtsirrtum befunden, die Restschuldbefreiung wirke nicht zurück. Das FA müsse auch verfahrensrechtlich in die Lage versetzt werden, der Auffassung des erkennenden Senats aus seinem Urteil vom 21.7.2016 Rechnung zu tragen. In Folge dessen habe der Einkommensteuerbescheid 2005 nach § 174 Abs. 4 i.V.m. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden dürfen.
29Die Änderung des Einkommensteuerbescheids 2005, so das FA, sei auch nicht wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung ausgeschlossen. Die Erteilung der Restschuldbefreiung stelle nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ein rückwirkendes Ereignis dar, welches auf das Jahr 2005 zurückwirke. Somit beginne die vierjährige Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 2011, in dem die Restschuldbefreiung eingetreten sei (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AO). Damit sei die Festsetzungsfrist für den Einkommensteuerbescheid 2005 bei Erlass des vormals angefochtenen Einkommensteuerbescheids 2011 vom 19.3.2015 noch nicht abgelaufen gewesen. Folge sei, dass die steuerlichen Folgen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Einkommensteuerbescheides 2011 gezogen werden könnten (§ 174 Abs. 4 Satz 3 AO, unter Hinweis auf den Beschluss des Finanzgerichts München vom 21.4.2011 – 13 V 102/11).
30Am 15.3.2017 erging ferner ein Einkommensteuerbescheid 2015 gegenüber den Klägern, in dem kein Verlustvortrag berücksichtigt wurde. Gleiches galt für die Vorauszahlungsbescheide zur Einkommensteuer 2016 und 2017 vom 15.3.2017. Auch gegen diese Bescheide legten die Kläger Einspruch ein. Während des Einspruchsverfahrens erließ das FA unter dem 5.4.2018 den Bescheid für 2016 über Einkommensteuer und einen geänderten Vorauszahlungsbescheid 2017. Den Einspruch wies das FA durch Einspruchsentscheidung vom 3.5.2018 als unbegründet zurück.
31Mit der daraufhin erhobenen Klage verfolgen die Kläger die Aufhebung der genannten Bescheide. Noch vor der Klageerweiterung (2.6.2018) hinsichtlich der zuletzt genannten Bescheide erließ das FA einen Änderungsbescheid hinsichtlich der Vorauszahlungen zur Einkommensteuer 2017 (24.5.2018). Außerdem ergingen unter dem 1.6.2018 ein geänderter Einkommensteuerbescheid 2016 sowie am 14.1.2019 ein Einkommensteuerbescheid 2017; den Vorbehalt der Nachprüfung, unter dem der Einkommensteuerbescheid 2017 stand, hob das FA am 31.1.2019 auf.
32Die Kläger tragen vor, dass im Zeitpunkt des Erlasses des geänderten Einkommensteuerbescheides 2005 vom 23.11.2017 die Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum 2005 bereits abgelaufen gewesen sei. Das rückwirkende Ereignis falle in das Jahr 2011. Entsprechend beginne die Festsetzungsfrist gem. § 175 Abs. 1 Satz 2 AO mit Ablauf des Jahres 2011 und ende mit Ablauf 2015. Eine Korrektur der Bescheide 2005 im November 2017 aufgrund der Annahme eines rückwirkenden Ereignisses scheide wegen des zwischenzeitlichen Eintritts der Festsetzungsverjährung aus. Habe der Einkommensteuerbescheid 2005 aber nicht geändert werden können, so gelte dies auch für alle Folgeänderungen der weiteren angefochtenen Bescheide.
33Aus § 174 Abs. 3, 4 AO lasse sich im Streitfall keine längere Festsetzungsfrist für den Einkommensteuerbescheid 2005 ableiten. Diese Änderungsnorm setze in Abs. 3 eine erkennbare (aber falsche) Zuordnung eines bestimmten Sachverhalts etwa zu einem anderen Veranlagungszeitraum voraus und in Abs. 4 die irrige Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts. Das FA habe aber beim erstmaligen Erlass des Einkommensteuer- und Verlustfeststellungsbescheides 2005 den Gewinn nicht irrtümlich in der Annahme nicht erfasst, dass dieser in einem anderen Bescheid zu erfassen sei. Die Berücksichtigung habe darauf beruht, dass das FA keine Kenntnis von dem Sachverhalt gehabt habe. Bei Erlass des ursprünglichen Bescheides 2005 habe die Restschuldbefreiung nicht vorgelegen. Entsprechend habe das FA über dessen rechtliche Würdigung und zeitliche Zuordnung auch nicht irren können.
34Ferner könne § 174 Abs. 4 Satz 1 AO nicht dazu dienen, eine bestandskräftige Veranlagung (hier 2011) ohne Änderungsbefugnis aufzuheben oder zu ändern, um hieraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids (hier 2005) herzuleiten (Hinweis auf BFH-Beschluss vom 10.11.1997 GrS 1/96). Eine ohne Änderungsbefugnis vorgenommene Aufhebung des „Erstbescheids“ dürfe dem FA deshalb keine weitergehenden Rechte geben, als es sie vor der Änderung gehabt habe (Hinweis auf das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 21.10.2014 – 5 K 4719/10, juris). § 174 Abs. 4 AO sei nur einschlägig, wenn einzige Ursache der Fehlerhaftigkeit des geänderten Steuerbescheids die materiell-rechtlich unzutreffende Würdigung eines bestimmten Sachverhalts gewesen sei. Die Norm ermögliche es nicht, die richtigen Folgerungen aus der Änderung eines Steuerbescheides zu ziehen, der aus formell-rechtlichen Gründen rechtswidrig gewesen sei (Hinweis auf das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 7.9.2006 – 5 K 1481/06 E, EFG 2007, 482). Das FA habe sie für das Jahr 2011 zunächst erklärungsgemäß veranlagt, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Restschuldbefreiung unstreitig bereits vorgelegen habe und dem FA bekannt gewesen sei. Bei Erkennen des Fehlers sei eine auf § 129 AO gestützte Korrektur des Bescheids erfolgt, die verfahrensrechtlich unzulässig gewesen sei. Der Irrtum des FA habe sich auf die Anwendung des formellen, nicht aber des materiellen Rechts bezogen.
35In seinem Urteil vom 21.11.2017 VIII R 17/15 habe der BFH zudem jüngst entschieden, dass eine Folgeänderung nach § 174 Abs. 4 AO ausscheide, wenn ein rechtmäßiger Bescheid zu Unrecht geändert worden sei. Auch im vorliegenden Fall sei die Änderung des Bescheides für 2011 im Jahre 2015 zu Unrecht erfolgt.
36Einer Änderung der Bescheide stehe des Weiteren § 176 Abs. 1 Satz 3 AO entgegen. Soweit das FA meine, die Rechtslage sei bis zur Entscheidung des BFH unklar gewesen, werde auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF), BStBl I 2010, 18, hingewiesen, in dem dieses die Ansicht vertreten habe, dass die Restschuldbefreiung kein rückwirkendes Ereignis sei. Aus Sicht der Finanzverwaltung sei die Rechtslage gesichert gewesen.Befremdlich erscheine die Auffassung des FA, § 176 Abs. 2 AO sei nicht einschlägig, weil das BMF-Schreiben keine Ausführungen zu Sonderkonstellationen enthalte. Damit werde die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit sämtlicher BMF-Schreiben untergraben. Aus dem Schweigen eines BMF-Schreibens eine Unsicherheit konstruieren zu wollen, führe das ganze Instrument des BMF-Schreibens ad absurdum.
37Schließlich fehle es materiell-rechtlich an einem Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung. Im vorliegenden Fall sei im Jahr 2005 weder eine Schluss- noch eine Aufgabebilanz zur Ermittlung eines Aufgabegewinns aufgestellt worden. Gerade die Anknüpfung an die Funktion der Aufgabebilanz sei aber für den BFH entscheidend gewesen, von einer Rückwirkung der Restschuldbefreiung auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe auszugehen. Ohne eine solche Bilanz bestehekeine Möglichkeit, an das Jahr 2005 anzuknüpfen.
38Die Kläger beantragen,
391. die Bescheide für 2005 bis 2012 über Einkommensteuer vom 23.11.2017 bzw. vom 5.12.2017,
2. die Bescheide über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf den 31.12.2005 bis 31.12.2011 vom 23.11.2017 bzw. 5.12.2017,
3. den Bescheid für 2005 über Zinsen zur Einkommensteuer vom 6.12.2017 sowie die Bescheide über Zinsen zur Einkommensteuer 2006 bis 2012 vom 5.12.2017 sowie
4. den Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 29.11.2017,
jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.4.2018, aufzuheben,
45hilfsweise, die Revision zuzulassen.
46Das FA beantragt,
47die Klage abzuweisen.
48Das FA meint, eine Änderung der Bescheide sei verfahrensrechtlich zulässig gewesen. Es habe sich über die richtige zeitliche Erfassung der Restschuldbefreiung geirrt. Der Berichtigung stehe § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO nicht entgegen. Dessen Voraussetzungen seien nicht erfüllt, da die steuerliche Behandlung einer Restschuldbefreiung bis zur Entscheidung des BFH unklar gewesen sei. Dies sei auch Anlass für den erkennenden Senat gewesen, die Revision zuzulassen. Ergänzend sei hierzu anzumerken, dass nicht die geänderte BFH-Rechtsprechung, sondern die 2011 erteilte Restschuldbefreiung das rückwirkende Ereignis darstelle.
49Ebenso wenig greife § 176 Abs. 2 AO. Die Auffassung des BMF in seinem Schreiben vom 22.9.2009 habe der BFH in seinem Urteil vom 13.12.2016 X R 4/15 grundsätzlich bestätigt. Nur in dem Sonderfall, dass der Betrieb schon vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eingestellt worden sei, liege ein rückwirkendes Ereignis vor. Regelungen zu derartigen Sonderfällen enthalte das BMF-Schreiben nicht.
50Ferner könnten die Kläger nicht einerseits die Änderung der Bescheide 2011 geltend machen und nach Erreichen ihres Rechtsschutzziels geltend machen, sie hätten auf die Anwendung einer früheren Rechtsprechung oder Verwaltungsanweisung vertraut.
51§ 174 Abs. 4 AO sei im vorliegenden Fall auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil sich das FA selbst eine Änderungsgrundlage verschafft habe. Die Norm enthalte ihrem Wortlaut nach insoweit keine Einschränkung. Der BFH habe eine Änderungsmöglichkeit selbst dann noch angenommen, wenn das FA insoweit vorsätzlich fehlerhaft gehandelt habe (Hinweis auf BFH-Urteil vom 10.5.2012 IV R 34/09, BFH/NV 2012, 1644). Vielmehr solle der Steuerpflichtige im Falle seines Obsiegens an seiner Rechtsauffassung festgehalten werden, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen sei. Gelte das sogar im Fall des Vorsatzes eines Behördenmitarbeiters, müsse das erst recht im Fall einer geänderten Rechtsprechung gelten.
52Soweit die Kläger meinten, die Grundsätze des BFH-Urteils vom 13.12.2016 X R 4/15 seien nicht einschlägig, weil es keine Aufgabebilanz gebe, könne dem nicht gefolgt werden. Das Urteil treffe keine Entscheidung für das Jahr der Betriebsaufgabe, sondern für das Jahr der Restschuldbefreiung. Die dortige Bezugnahme auf die Aufgabebilanz, die grundsätzlich für einen Zeitraum vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu erstellen sei, diene lediglich dazu, die Rückwirkung herzuleiten.
53Die Entscheidung des BFH aus dem Verfahren VIII R 17/15 gebe für den vorliegenden Fall nichts her. Dort sei ein rechtmäßiger Bescheid unzutreffend geändert worden und die unrichtige Behandlung habe nicht über § 174 Abs. 4 AO auf andere Bescheide übertragen werden dürfen. Im vorliegenden Fall sei jedoch der rechtswidrige Änderungsbescheid 2011 zugunsten der Kläger berichtigt worden.
54In dem Verfahren ist am 8.5.2019 mündlich verhandelt worden. Der Senat hat in der Sitzung das Verfahren wegen Einkommensteuer 2015 bis 2017 und der Zinsen zur Einkommensteuer 2005 abgetrennt. Wegen der weiteren Einzelheiten der mündlichen Verhandlung wird auf den Inhalt des Protokolls Bezug genommen.
55Entscheidungsgründe
56A. Der Senat legt die Klageschrift (soweit diese sich auf das nach Abtrennung verbliebene Verfahren bezieht) und den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag unter Berücksichtigung der verfahrensrechtlichen Erörterungen in der mündlichen Verhandlung dergestalt aus, dass die Kläger allein die Einkommensteuerbescheide 2008 bis 2012, die Zinsbescheide zur Einkommensteuer 2008 bis 2012, die Verlustfeststellungsbescheide zum 31.12.2008 bis 31.12.2011 und die Festsetzung der Aussetzungszinsen gemeinsam anfechten, während die Einkommensteuerbescheide 2005 bis 2007, die Zinsbescheide zur Einkommensteuer 2006 und 2007 sowie die Verlustfeststellungsbescheide zum 31.12.2005 bis 31.12.2007 allein durch den Kläger angefochten worden sind. Hinsichtlich der letztgenannten Bescheide ist der Kläger der alleinige Adressat und daher auch allein formell beschwert. Soweit die angefochtenen Bescheide gegenüber dem Kläger mit dem Zusatz „vor Insolvenz“ ergangen sind, ändert dies nichts daran, dass diese eindeutig und wegen des bereits zuvor abgeschlossenen Insolvenzverfahrens auch zutreffend den Kläger als Inhaltsadressaten bezeichnen.
57B. Die so ausgelegte Klage ist gleichwohl teilweise unzulässig, soweit der Kläger auch eine Aufhebung der Zinsbescheide 2006 und 2007 und die Kläger eine Aufhebung der Zinsbescheide 2008 bis 2012 beantragt haben. Insoweit fehlt es an der notwendigen Durchführung eines Einspruchsverfahrens gemäß § 44 FGO. Es ist nicht erkennbar, dass der bzw. die Kläger gegen die Zinsfestsetzungen 2006 bis 2012 Einspruch eingelegt haben. Das Einspruchsschreiben betrifft nach seinem Wortlaut zwar (u.a.) den Bescheid über Zinsen zur Einkommensteuer 2005 vom 23.11.2017 (der nach Abtrennung nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist) sowie die Bescheide für 2005 bis 2012 über Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer (vom 23.11.2017 bzw. 5.12.2017), jedoch nicht die Bescheide über Zinsen zur Einkommensteuer 2006 bis 2012. Auch in der Einspruchsbegründung wurden keine Gründe angeführt, die als eigenständiger Angriff auf die Zinsfestsetzungen verstanden werden könnten. Entgegen der Ansicht der Kläger kann allein wegen des Umstands, dass Zinsbescheide gem. § 233a AO regelmäßig --wie hier für die Jahre 2006 bis 2012-- mit dem Einkommensteuerbescheid zusammengefasst werden (vgl. § 233a Abs. 4 AO), ein Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid nicht stets auch als Einspruch gegen den Zinsbescheid ausgelegt werden, zumal mit einem Rechtsbehelf gegen einen Zinsbescheid keine Einwendungen gegen die Höhe der zugrunde liegenden Steuer erhoben werden können. Die ausdrückliche Anfechtung des Zinsbescheides zur Einkommensteuer 2005, der zuvor wegen einer fehlerhaften Zinsberechnung abgeändert worden war, genügt ebenfalls nicht, um von einem Einspruch auch gegen die Zinsbescheide 2006 ff. auszugehen. Die Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes wurde von Klägerseite erstmals in der mündlichen Verhandlung in Frage gestellt, nachdem dieser Gesichtspunkt seitens des Gerichts bezogen auf die Zinsfestsetzung für das Jahr 2005 angesprochen worden war. Dass im Rahmen des Einspruchsverfahrens keine Ausführungen zu dieser Rechtfrage erfolgten, erscheint auch vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass die Frage der Verfassungskonformität des Zinsniveaus durch den BFH erstmals im Beschluss vom 25.4.2018 IX B 21/18 (BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415) für Zeiträume ab April 2015 bezweifelt worden ist. Ausgehend von den vorgenannten Umständen bestehen aber keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, den gelegten Einspruch auch als Einspruch gegen die Zinsbescheide 2006 ff. auszulegen.
58C. Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber nur zu einem geringen Teil begründet. Der Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 29.11.2017 ist insgesamt rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die weiteren angefochtenen Bescheide sind hingegen von Rechts wegen nicht zu beanstanden.
59I. Der Bescheid über die Festsetzung von Aussetzungszinsen vom 29.11.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 20.4.2018 ist aufzuheben.
60Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt worden ist, zu verzinsen, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat (§ 237 Abs. 1 Satz 1 AO). Die endgültige Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs ist Entstehungszeitpunkt der Aussetzungszinsen (Kögel in Gosch, § 237 AO Rz. 28). Endgültig erfolglos geblieben ist der Rechtsbehelf allerdings erst mit dem Eintritt der Bestandskraft des Verwaltungsakts bzw. mit dem Eintritt der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung (Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 237 AO Rz. 18). Hiernach waren im vorliegenden Fall die Aussetzungszinsen noch nicht entstanden, da die Rechtsbehelfe zu der Frage, in welcher Höhe trotz Restschuldbefreiung noch ein vortragsfähiger Verlust besteht, der die Festsetzung einer positiven Einkommensteuerfestsetzung ausschließt, mangels rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidung nicht abgeschlossen sind.
61II. Die im Übrigen angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2005 bis 2012 und die Bescheide auf den 31.12.2005 bis 31.12.2011 über den verbleibenden Verlustvortrag verletzen den Kläger/die Kläger nicht in ihren Rechten.
621. Es mag dahinstehen, ob das FA angesichts der verbleibenden Verbindlichkeiten vor Restschuldbefreiung in Höhe von 5.527.254,87 € zu Recht Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von nur 1.463.000 € angesetzt hat. Es ist jedenfalls dem Grunde nach zutreffend, den Einkommensteuerbescheid 2005 gemäß § 174 Abs. 4 AO aufgrund der gewährten Restschuldbefreiung zu ändern. Die mit der Steuerfestsetzung verbundene Billigkeitsmaßnahme hat der Kläger nicht angefochten; Einwendungen gegen die Billigkeitsmaßnahme wurden von ihm im Einspruchsverfahren nicht erhoben. Selbst wenn die vom FA aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) vorgenommene Begrenzung unzutreffend wäre, wäre dies nicht im vorläufigen Steuerfestsetzungsverfahren zu prüfen (vgl. BFH-Urteil vom 21.09.2000 IV R 54/99, BFHE 193, 301, BStBl II 2001, 178) und ohnehin wäre der Kläger durch eine zu niedrige Steuerfestsetzung jedenfalls nicht in seinen Rechten verletzt.
63a) Ist auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können gemäß § 174 Abs. 4 AO aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn der Steuerbescheid durch das Gericht aufgehoben oder geändert wird. Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheides gezogen werden. War die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen, als der später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid erlassen wurde, gilt dies nur unter den Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO.
64b) Ausgehend von diesen Maßgaben war der Einkommensteuerbescheid 2005 aufgrund der Restschuldbefreiung 2011 gemäß § 174 Abs. 4 AO zu ändern.
65aa) Der Einkommensteuerbescheid 2011 und die gesonderte Verlustfeststellung zum 31.12.2011, jeweils vom 19.3.2015 und in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.9.2015, in denen das FA zunächst die Restschuldbefreiung gewinnerhöhend (und mit der Folge eines Wegfalls des verbleibenden Verlustvortrags zum 31.12.2011) berücksichtigen hatte, sind auf Antrag der Kläger mit Urteil vom 21.7.2016 – 9 K 3457/15 E,F (EFG 2016, 1871) durch den erkennenden Senat aufgehoben worden; das FA hat die zunächst eingelegte Revision im Jahr 2017 zurückgenommen.
66bb) Die Berücksichtigung der Restschuldbefreiung in den o.g. aufgehobenen Bescheiden beruhte auch auf einer irrigen Beurteilung durch das FA.
67aaa) Die von § 174 Abs. 4 Satz 1 AO vorausgesetzte irrige Beurteilung eines Sachverhalts bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts nachträglich als unrichtig erweist. Sachverhalt i.S. der vorgenannten Norm ist der einzelne Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex. Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung ursächliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat (BFH-Urteile vom 2.5.2001 VIII R 44/00, BFHE 195, 14, BStBl II 2001, 562, und vom 21.8.2007 I R 74/06, BFHE 218, 487, BStBl II 2008, 277, jeweils m.w.N.). Eine Änderung wegen der irrigen Beurteilung des Sachverhalts in einem anderen Bescheid soll nach der BFH-Rechtsprechung selbst dann nicht deshalb ausgeschlossen sein, wenn das FA insoweit vorsätzlich fehlerhaft gehandelt hat. Der Steuerpflichtige soll vielmehr im Falle seines Obsiegens mit einem gewissen Rechtsstandpunkt an seiner Auffassung festgehalten werden, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen ist. Der Steuerpflichtige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (BFH-Beschluss vom 21. Mai 2004 V B 30/03, BFH/NV 2004, 1497; BFH-Urteil vom 20.5.2012 IV R 34/09, BFHE 239, 485, BStBl II 2013, 481). Der erkennende Senat kann dahingestellt sein lassen, ob er dieser Rechtsprechung bei einem vorsätzlichen Verhalten der Finanzverwaltung folgen würde (vgl. die BFH-Rechtsprechung ablehnend: FG Rheinland-Pfalz vom 02.04.2014 – 2 K 1972/12, EFG 2014, 1159, aufgehoben durch BFH-Urteil vom 25.10.2016 X R 31/14, BFHE 255, 399, BStBl II 2017, 287; Süß, DStR 2017, 1021; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 174 AO Rz. 236). Jedenfalls schließt selbst eine grob fahrlässige Fehlbeurteilung durch die Finanzverwaltung eine Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 4 AO nicht aus.
68bbb) Im vorliegenden Fall hat sich das FA über die materiell-rechtliche Behandlung der dem Kläger gewährten Restschuldbefreiung geirrt. Es ist unzutreffend davon ausgegangen, diese wirke sich ertragsteuerlich im Jahr der Erteilung aus. Zutreffend wäre es demgegenüber gewesen, die Restschuldbefreiung auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe im Jahre 2005 zurückzubeziehen.
69(1) Zur Vermeidung von Wiederholungen, warum die Restschuldbefreiung zurückwirkt, verweist der Senat zur Begründung auf das Senatsurteil in EFG 2016, 1871 sowie das BFH-Urteil vom 13.12.2016 X R 4/15, BFHE 256, 396, BStBl II 2017, 786.
70(2) Soweit der Kläger --abweichend von seinen Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung in dem Verfahren 9 K 3457/15 E,F-- nunmehr vorgetragen hat, er habe den Betrieb des … nicht bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sondern erst nach dessen Eröffnung im Jahre 2005 aufgegeben, ändert dies hinsichtlich der Frage der Rückwirkung der Restschuldbefreiung auf das Jahr 2005 nach Ansicht des erkennenden Senats nichts. Er vermag der Einschätzung des Klägers nicht zu folgen, dass es nur dann zu einer Rückwirkung der Restschuldbefreiung komme, wenn der Betrieb vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben worden sei. Zwar mag dem zweiten Leitsatz des BFH-Urteils in BFHE 256, 396, BStBl II 2017, 786, bei isolierter und formalistischer Betrachtung eine solche Aussage entnommen werden können. Der erkennende Senat geht allerdings davon aus, dass die Formulierungen der BFH-Entscheidung dem konkret zu beurteilenden Sachverhalt und dementsprechend einer fokussierten Betrachtung des BFH geschuldet sind und keine abschließende Aussage zur Rückwirkungsfrage entnommen werden kann. Wie insbesondere die eingehende Erörterung des Senats mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung gezeigt hat, lässt sich ein legitimierender Grund für eine Differenzierung nach dem Aufgabezeitpunkt auch nicht ermitteln. Im Gegenteil knüpft der BFH in dem o.g. Urteil an die Grundsätze zur Betriebsaufgabe i.S. des § 16 EStG 2002 an, wo sich umfassender die Frage einer Rückwirkung von nach der Betriebsaufgabe eintretenden steuerlich erheblichen Umständen stellt, um den Gewinn auf den Zeitpunkt der Aufgabe dem Grunde und der Höhe nach eindeutig bestimmen zu können (vgl. hierzu eingehend Schmidt/Wacker, EStG, 38. Aufl. 2019, § 16 Rz. 350 ff.).
71Angesichts dessen musste der Senat auch nicht dem Antrag des Klägers nachkommen, über die Frage des Zeitpunkts der Betriebsaufgabe Beweis durch Vernehmung der Zeugin A zu erheben. Nach der materiell-rechtlichen Auffassung des Senats ist allein entscheidend, dass der Betrieb im Verlauf des Jahres 2005 aufgegeben worden ist und deshalb auf diesen Zeitpunkt ein Aufgabegewinn zu ermitteln ist.
72Der Senat vermag ferner der Ansicht des Klägers nicht zu folgen, eine Rückwirkung komme im Streitfall jedenfalls deshalb nicht in Betracht, weil er auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe keine Betriebsaufgabebilanz erstellt habe. Steuerpflichtige können durch ein pflichtwidriges Verhalten nicht den Entstehungszeitpunkt von steuerpflichtigen Gewinnen steuern. Vielmehr folgt der Umstand, dass eine Aufgabebilanz zu erstellen ist, der Entstehung eines Aufgabegewinns nach.
73(3) Es kann ferner nicht argumentiert werden, das FA sei im Zeitpunkt des Erlasses des Einkommensteuerbescheides 2011 vom 19.3.2015 keinem Irrtum unterlegen, weil es sich wegen des BMF-Schreibens vom 22.12.2009 (BStBl I 2010,18) keine Gedanken über die Frage der zeitlichen Zuordnung des Aufgabegewinns gemacht habe; es sei m.a.W. gar nicht auf den Gedanken gekommen, dieser könne nicht dem Veranlagungszeitraum 2011, sondern 2005 zuzuordnen sein. Die irrige Beurteilung setzt nicht voraus, dass sich das FA bewusst zwischen verschiedenen zeitlichen Anknüpfungspunkten entschieden hat. Auch eine „verkürzte“ rechtliche Prüfung, die ggf. durch eine unzutreffende bindende Verwaltungsvorgabe hervorgerufen worden ist, ändert nichts an der Tatsache, dass dem FA der Sachverhalt (Restschuldbefreiung im Jahre 2011) bekannt war, es sich aber für die falsche rechtliche Behandlung entschieden hat.
74(4) Unbeachtlich ist im vorliegenden Fall, ob das FA daneben auch noch einem weiteren Irrtum unterlegen war, weil es der Auffassung war, den Einkommensteuerbescheid 2011 und die Verlustfeststellung auf den 31.12.2011 gemäß § 129 Satz 1 AO ändern zu dürfen. Zwar hat das Finanzgericht Münster in der Vergangenheit die Auffassung vertreten, § 174 Abs. 4 AO sei nur anwendbar, wenn einzige Ursache der Fehlerhaftigkeit des geänderten Steuerbescheides die materiell-rechtlich unzutreffende Würdigung eines bestimmten Sachverhalts gewesen sei; die Norm ermögliche es dagegen nicht, die richtigen Folgerungen aus der Änderung eines Steuerbescheides zu ziehen, der (auch) aus formal-rechtlichen Gründen rechtswidrig war (Urteil des Finanzgerichts Münster vom 7.9.2006 – 5 K 1481/06 E, EFG 2007, 482). Diese Auffassung ist allerdings von der Revisionsinstanz zu Recht nicht geteilt worden. Der BFH hält es allein für entscheidend, dass der „richtige“ Bescheid im Zeitpunkt des Erlasses des verfahrensfehlerhaft erlassenen Bescheides noch hätte geändert werden können (BFH-Urteil vom 11.2.2009 X R 56/06, BFH/NV 2009, 1411). So liegt es auch hier (dazu noch sogleich unterC.II.1. b cc der Entscheidungsgründe).
75cc) Die Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum 2005 war bei Erlass des streitgegenständlichen Änderungsbescheides zur Einkommensteuer 2005 vom 23.11.2017 zwar bereits verstrichen; dies ist jedoch wegen § 174 Abs. 4 Satz 3 AO unbeachtlich.
76aaa) Die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer 2005 lief am 31.12.2015 um 24 Uhr ab. In den Fällen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem das rückwirkende Ereignis eintritt (Fall der Anlaufhemmung, s. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 175 AO Rz. 56; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175 AO Rz. 410). Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass die vierjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) nicht --wie üblich-- mit dem Ablauf des Jahres der Abgabe der Steuererklärung begonnen hat (vgl. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO), das wäre vorliegend der Ablauf des 31.12.2007 gewesen, sondern erst mit Ablauf des 31.12.2011, weil in diesem Jahr das rückwirkende Ereignis (die Restschuldbefreiung) eingetreten ist.
77bbb) Die abgelaufene Festsetzungsfrist ist jedoch gem. § 174 Abs. 4 Satz 3 AO unbeachtlich, da das FA den Einkommensteuerbescheid 2005 innerhalb eines Jahres nach der Aufhebung der fehlerhaften Bescheide geändert hat. Bei einer --wie hier-- Aufhebung oder Änderung im gerichtlichen Verfahren beginnt die Jahresfrist erst mit der Rechtskraft der Entscheidung zu laufen, weil ein Anfechtungsurteil nicht bereits mit seinem Erlass, sondern erst mit Eintritt der Rechtskraft Bindungswirkung entfaltet (BFH-Urteil vom 15.6.2004 VIII R 7/02, BFHE 206, 388, BStBl II 2004, 914; Urteil des Finanzgerichts Münster vom 8.4.2014 – 10 K 3960/12 E, EFG 2014, 1162, rkr.; a.A. von Wedelstädt in Gosch § 174 AO Rz. 119). Hiernach ist im vorliegenden Fall nicht auf das Senatsurteil vom 21.7.2016 abzustellen, sondern auf die Rücknahme der Revision IX R 30/16 durch das FA unter dem 15.8.2017 (nachfolgender Einstellungsbeschluss des BFH vom 4.9.2017). Nur etwas mehr als drei Monate später unter dem 23.11.2017 --und damit innerhalb der Jahresfrist-- änderte das FA den Einkommensteuerbescheid 2005.
78dd) Entgegen der Auffassung der Kläger war die Änderung des Einkommensteuerbescheides 2005 auch nicht aufgrund § 174 Abs. 4 Satz 4 i.V.m. Abs. 3 AO gesperrt. War die Festsetzungsfrist für den ggf. nach § 174 AO zu ändernden Steuerbescheid bereits abgelaufen, als der später aufgehobene oder geänderte Steuerbescheid erlassen wurde, gilt dies nur unter den Voraussetzungen des § 174 Abs. 3 Satz 1 AO. Hiernach kann die Steuerfestsetzung, bei der die Berücksichtigung des Sachverhalts unterblieben ist, insoweit nachgeholt, aufgehoben oder geändert werden, als ein bestimmter Sachverhalt in einem Steuerbescheid erkennbar in der Annahme nicht berücksichtigt worden ist, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt. Diese einschränkenden Maßgaben sind im vorliegenden Fall schon deshalb nicht einschlägig, weil bei Erlass des aufgehobenen Einkommensteuerbescheides 2011 und des aufgehobenen Verlustfeststellungsbescheides zum 31.12.2011 am 19.3.2015 die Festsetzungsfrist für den Einkommensteuerbescheid 2005 noch nicht abgelaufen war (s. unter C.II.1. b cc aaa der Entscheidungsgründe).
79ee) Soweit der Kläger unter Hinweis auf den BFH-Beschluss vom 10.11.1997 GrS 1/96, BFHE 184, 1, BStBl II 1998, 83, ausführt, § 174 Abs. 4 Satz 1 AO könne nicht dazu dienen, eine bestandskräftige Veranlagung (hier 2011) aufzuheben oder zu ändern, um daraus die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids (hier 2005) herzuleiten, steht auch diese Erwägung der vorgenommenen Änderung des Einkommensteuerbescheids 2005 nicht entgegen. Im vorliegenden Fall wurde der angefochtene Einkommensteuerbescheid 2005 nicht erst durch die Aufhebung des Einkommensteuerbescheids 2011 rechtswidrig, sondern war dies materiell bereits seit der Erteilung der Restschuldbefreiung.
80ff) Ebenso wenig kann einer Änderung im vorliegenden Fall entgegen gehalten werden, das FA könne sich nicht durch eine rechtswidrige Änderung des Einkommensteuerbescheides 2011 selbst eine Korrekturbefugnis schaffen; das FA dürfe durch eine unzutreffende Korrektur nicht mehr Befugnisse erlangen, als es sie vor dem Erlass des aufgehobenen Bescheides hatte. Dieses Argument verfängt nicht, weil das FA die Möglichkeit einer Änderung des Einkommensteuerbescheids 2005 nicht mittelbar durch eine vorhergehende rechtswidrige Korrektur des Einkommensteuerbescheids 2011 herbeigeführt hat. Bereits 2015 hätte das FA unmittelbar gestützt auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO den Einkommensteuerbescheid 2005 ändern dürfen.
81Dagegen können die Kläger nicht einwenden, eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2005 sei im Jahre 2015 noch ausgeschlossen gewesen, da das FA zu dieser Zeit noch an das BMF-Schreiben in BStBl I 2010,18, auch für den Fall einer zeitlich weit vor der Restschuldbefreiung liegenden Betriebsausgabe, gebunden gewesen sei. Dieses habe im vorliegenden Fall allein eine Korrektur des Einkommensteuerbescheids 2011 zugelassen, weil es eine Rückwirkung der Restschuldbefreiung verneint habe. Hierdurch wird indes nicht ausreichend berücksichtigt, dass ein BMF-Schreiben als norminterpretierende Verwaltungsvorschrift die objektive Rechtslage nicht beeinflusst, m.a.W. hiernach eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 2005 sehr wohl zulässig und geboten gewesen wäre.
82c) Der Änderung des Einkommensteuerbescheids 2005 stehen auch Vertrauensschutz-erwägungen zugunsten des Klägers nicht entgegen.
83aa) Dies gilt zunächst einmal für § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO. Bei der Änderung eines Steuerbescheids darf hiernach nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofs des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden ist. Entgegen der Auffassung des Klägers lag der ursprünglichen Festsetzung des FA keine Rechtsprechung des BFH zugrunde, die sich später geändert hat. Erstmalig hat sich der BFH --sehr pauschal-- zu der Frage der ertragsteuerlichen Behandlung der Restschuldbefreiung in seinem Urteil vom 3.2.2016 X R 25/12, BFHE 252, 486, BStBl II 2016, 391, und damit weit nach dem Erlass des Einkommensteuerbescheids 2005, geäußert. Von diesem Urteil ist der BFH nach eigenem Bekunden durch sein Urteil vom 13.12.2016 (in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786) nicht abgewichen. Er hat seine Rechtsprechung lediglich für den Fall einer Betriebsaufgabe vor Erteilung der Restschuldbefreiung weiter ausdifferenziert.
84bb) Ferner ist dem Kläger auch kein Vertrauensschutz gemäß § 176 Abs. 2 AO zu gewähren.
85aaa) Bei der Änderung eines Steuerbescheids darf hiernach nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Ungeschriebenes weiteres Tatbestandsmerkmal des § 176 Abs. 2 AO ist, dass die Verwaltungsvorschrift bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung angewendet worden ist, weil sich anderenfalls ein Vertrauenstatbestand nicht bilden kann (Urteil des Finanzgerichts München vom 30.10.1997 – 7 K 1974/93, EFG 1998, 433, rkr.; Klompp in Pfirrmann/Rosenke/Wagner, BeckOK AO, § 176 Rz. 112; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 176 AO Rz. 213; von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 36).
86bbb) Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt. Zwar mag der BFH durch sein Urteil in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786, von dem BMF-Schreiben vom 22.12.2009 (BStBl I 2010, 18), insoweit abgewichen sein, als es für den Teilbereich der Fälle, in denen eine Restschuldbefreiung nach vorangegangener Betriebsaufgabe ausgesprochen wird, von einer Rückwirkung der Restschuldbefreiung auf den Zeitpunkt der Betriebsaufgabe ausgeht. Auf diesem BMF-Schreiben beruhte die fehlerhafte Einkommensteuerfestsetzung 2005 aber nicht. Diese datierte vom 14.9.2009 und damit vor dem Erlass des vorgenannten BMF-Schreibens. Ausgehend von dem Tatbestand des BFH-Urteils in BFHE 256, 392, BStBl II 2017, 786, ging die Finanzverwaltung vor Erlass des BMF-Schreibens selbst noch von einer Rückwirkung der Restschuldbefreiung aus.
87ccc) Selbst wenn der Tatbestand des § 176 Abs. 2 AO erfüllt wäre, könnte sich der Kläger im vorliegenden Fall nach Treu und Glauben nicht auf ihn berufen. Ausnahmsweise kann der Anwendung des § 176 AO der auch im Steuerrecht anwendbare Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehen. So zieht der BFH einen Verstoß gegen Treu und Glauben (venire contra factum proprium) in Betracht, wenn der Steuerpflichtige aufgrund einer Rechtsprechungsänderung die Aufhebung eines ihn belastenden Bescheides fordert und erreicht und später geltend macht, er habe auf die Anwendung der früheren Rechtsprechung vertraut und sei nicht bereit, die für ihn negativen Folgen der Rechtsprechungsänderung hinzunehmen (BFH-Urteil vom 8.2.1995 I R 127/93, BFHE 177, 332, BStBl II 1995, 764). Der vorliegende Fall ist unter wertender Betrachtung nicht anders zu beurteilen. In dem Verfahren 9 K 3457/15 E, F, waren die Beteiligten bereits vor der mündlichen Verhandlung am 21.7.2016 darauf hingewiesen worden, dass es der Senat in Betracht zieht, der Klage deshalb stattzugeben, weil die Restschuldbefreiung Rückwirkung entfalte und der aus der Restschuldbefreiung herrührende Gewinn daher nicht im Veranlagungszeitraum 2011 anzusetzen sei. Auch in der mündlichen Verhandlung ist dieser Punkt ausweislich des Protokolls noch einmal mit den Beteiligten erörtert worden. War dem Kläger deshalb bewusst, dass er sich mit seinem Klagebegehren unter diesem Gesichtspunkt und damit unter Abweichung von dem BMF-Schreiben in BStBl I 2010, 18, durchsetzen kann und hält er seine Klage in Kenntnis dessen aufrecht, so kann er sich in einem späteren Verfahren nicht auf ein Vertrauen auf das BMF-Schreiben berufen, zumal der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 21.7.2016 auf ausdrücklichen Wunsch der Prozessbevollmächtigten auch die Möglichkeit einer Korrektur des Bescheides 2005 gemäß § 174 Abs. 4 AO angesprochen hat.
88Unter diesen Gegebenheiten ist es schließlich gleichgültig, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, im Verfahren 9 K 3457/15 E,F, sei die Aufhebung des Einkommensteuer- und Verlustfeststellungsbescheids allein aus formellen Gründen begehrt worden; die Meinung des Senats sei nicht geteilt worden. Es war seinerzeit jedenfalls bekannt, dass der Senat dem klägerischen Begehren nur unter Rückgriff auf die materielle Beurteilung der Restschuldbefreiung (Rückwirkung) meinte stattgeben zu können.
892. Konnte der Einkommensteuerbescheid 2005 geändert werden, musste dementsprechend gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2002 die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2005 berichtigt werden. Der auf den 31.12.2004 festgestellte Verlust ist vollständig mit dem Gewinn aufgrund der Restschuldbefreiung im Einkommensteuerbescheid 2005 verrechnet worden.
903. Die Einkommensteuerbescheide 2006 bis 2012 waren dementsprechend gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu ändern und die gesonderten Feststellungen des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2006 bis 31.12.2011 gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2002/2009 bzw. (hinsichtlich der Feststellung auf den 31.12.2011) gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG 2009 i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 (JStG 2010) vom 8.12.2010 (BGBl I 2010, 1768) i.V.m. § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO. Hiergegen haben die Kläger keine eigenständigen Einwendungen erhoben.
91D. Die Entscheidung zu den Kosten beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.
92E. Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.