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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 26.08.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.07.2017 verpflichtet, Kindergeld für den Sohn Z. für den Zeitraum Juni und Juli 2016 festzusetzen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
2Die Klägerin ist Witwe und die Mutter des am 29.10.2009 geborenen Z. L.. Sie reiste am 25.06.2016 aus der Russischen Föderation nach Deutschland ein. Damals trug sie noch den Namen M. L1., ihr Sohn trug den Familiennamen L2.. Die Familiennamen ließ sie später in L. ändern.
3Sie beantragte am 08.08.2016 bei der Beklagten Kindergeld für ihren Sohn. Im Antrag gab sie an, russische Staatsangehörige zu sein.
4Mit Bescheid vom 26.08.2016 lehnte die Beklagte die Gewährung von Kindergeld ab Juni 2016 ab mit der Begründung, die Klägerin habe die mit Schreiben vom 12.08.2016 angeforderten Unterlagen nicht eingereicht.
5Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein. Mit Schreiben vom 21.02.2017 forderte die Beklagte die Klägerin zur Vorlage einer Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) auf. Die Klägerin reichte daraufhin eine Kopie ihres Bundespersonalweises ein, aus dem sich ergibt, dass sie seit August 2016 die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
6Daraufhin setzte die Beklagte mit Teilabhilfebescheid vom 23.06.2017 Kindergeld ab August 2016 fest. Der Einspruch hinsichtlich der Monate Juni und Juli 2016 wurde mit Einspruchsentscheidung vom 10.07.2017 als unbegründet zurückgewiesen, weil die Klägerin im Zeitraum Juni und Juli 2016 die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht erfüllt habe. Die Klägerin sei erst ab dem 03.08.2016 deutsche Staatsbürgerin. Im Streitzeitraum habe sie keine Niederlassungs- oder Aufenthaltserlaubnis gehabt. Das Visum für Spätaussiedler gelte nur in Verbindung mit einer Bescheinigung des Bundesverwaltungsamts nach § 15 Abs. 2 BVFG als gültiger Aufenthaltstitel. Diese Bescheinigung sei trotz mehrfacher Aufforderung nicht vorgelegt worden.
7Mit ihrer Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie legt eine vom Bundesverwaltungsamt am 03.08.2016 ausgestellte Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG vor, auf die Bezug genommen wird. Im Verwaltungsverfahren habe die Beklagte die Kindergeldbewilligung stets nur von der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG abhängig gemacht. Es sei nicht klar, warum die jetzt vorgelegte Bescheinigung nicht zur Abhilfe führe. Es könne nicht auf den Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung ankommen, da diese nur feststelle, dass der Betreffende Abkömmling eines Spätaussiedlers sei.
8Die Klägerin beantragt,
9die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 26.08.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.07.2017 zu verpflichten, Kindergeld für ihren Sohn für den Zeitraum Juni und Juli 2016 festzusetzen.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen und
12hilfsweise, die Revision zuzulassen.
13Es sei nicht ersichtlich, warum die am 03.08.2016 ausgestellte Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG auf den Streitzeitraum zurückwirken solle. Aus der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG) ergebe sich, dass die Anspruchsberechtigung erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung bestehe.
14Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
15Entscheidungsgründe
16Die zulässige Klage, über die das Gericht gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld für die Monate Juni und Juli 2016, § 101 Satz 1 FGO. Der Anspruch ergibt sich aus §§ 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG.
17Die Klägerin hatte, wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist, im Streitzeitraum ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Ihr Kind Z. ist nach §§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG berücksichtigungsfähig. Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt die Einschränkung der Kindergeldberechtigung des § 62 Abs. 2 EStG für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer im Streitfall nicht zur Anwendung, weil die Klägerin im Streitzeitraum keine Ausländerin im Sinne des § 62 Abs. 2 EStG war. Deutsche Staatsangehörige und Statusdeutsche unterfallen mit Blick auf die Kindergeldberechtigung gleichermaßen § 62 Abs. 1 EStG (Felix in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 61 Rn. C 3; Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 62 EStG Rn. 12; vgl. auch BFH, Urteil vom 18.12.2008 – III R 93/06 –, BFH/NV 2009, 749; siehe allgemein zur rechtlichen Gleichstellung deutscher Staatsangehöriger und Statusdeutscher Hilgruber in: Beckscher Online-Kommentar Grundgesetz – GG –, Art. 116 Rn. 19 f.; Giegerich in: Maunz/Dürig, GG, Art. 116 Rn. 59).
18Die Klägerin war als Abkömmling eines Spätaussiedlers im Zeitraum ab ihrer Einreise und Aufenthaltnahme bis zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit gemäß § 7 Staatsangehörigkeitsgesetz durch Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG Statusdeutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG (vgl. Herzog/Westphal in: diess., BVFG, § 15 Rn. 46; Hilgruber in: Beckscher Online-Kommentar GG, Art. 116 Rn. 21; Giegerich in: Maunz/Dürig, GG, Art. 116 Rn. 85). Nach Art. 116 Abs. 1 GG ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung Deutscher, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat. Die Klägerin ist nach dem Bescheid des Bundesverwaltungsamts vom 03.08.2016 Abkömmling eines Spätaussiedlers. Das Gericht ist diesbezüglich an die Statusbeurteilung des Bundesverwaltungsamts gebunden (Thüringer Finanzgericht, Urteil vom 19.01.2000 – III 358/98 –, EFG 2000, 573; Felix in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 62 Rn. C 3).
19Der Eigenschaft als Statusdeutsche im Streitzeitraum steht nicht entgegen, dass die Bescheinigung erst im August 2016 ausgestellt wurde. Denn die Bescheinigung nach § 15 BVFG ist nicht konstitutiv, sondern entfaltet als rein deklaratorische Feststellung Rückwirkung auf den Zeitraum ab der Einreise (Herzog/Westphal, in: diess., BVFG, § 4 Rn. 19; § 15 Rn. 11, 44 f.; anders A 2.1.1 Abs. 2 Satz 4 DA-KG). Die Eigenschaft als Statusdeutscher ist mithin nicht vom Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung nach § 15 BVFG abhängig (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.02.1964 – 1 BvR 253/63 –, BVerfGE 17, 224, 227 zu § 15 Abs. 1 BVFG in der Fassung vom 23.10.1961; Wache/Lutz in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 15 BVFG Rn. 1).
20Der Status als Spätaussiedler oder Abkömmling eines Spätaussiedlers entsteht mit der Aufnahme in das Bundesgebiet, also mit der Einreise und ständigen Aufenthaltnahme im Inland (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 12.03.2002 – 5 C 45/01 –, BVerwGE 116, 119, 121). Dieser Zeitpunkt fällt im Streitfall, wie es zwischen den Beteiligten unstreitig und auch in der Bescheinigung nach § 15 Abs. 2 BVFG ausdrücklich aufgeführt ist, auf den 25.06.2016.
21Die Klägerin ist als Statusdeutsche zudem ohne die Notwendigkeit eines gesonderten Titels freizügigkeitsberechtigt und unterfällt auch deshalb nicht § 62 Abs. 2 EStG (vgl. Felix in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 62 Rn. C 3). Das Freizügigkeitsrecht von Statusdeutschen ergibt sich aus Art. 11, 116 GG (Hilgruber in: Beckscher Online-Kommentar Grundgesetz – GG –, Art. 116 Rn. 19 f.; Giegerich in: Maunz/Dürig, GG, Art. 116 Rn. 60).
22Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Für eine Anwendung des § 137 FGO ist kein Raum, da die Beklagte auch im Fall der Vorlage der Bescheinigung im Verwaltungsverfahren dem Begehren nicht stattgegeben hätte. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
23Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 FGO einschlägig ist. Die Rechtslage ist nach Auffassung des Gerichts eindeutig (vgl. BFH, Beschluss vom 05.12.2016 – X B 91/16 –, BFH/NV 2017, 287; Beschluss vom 25.03.2013 – I B 26/12 –, BFH/NV 2013, 1061, jeweils mit weiteren Nachweisen).