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Der Abrechnungsbescheid vom 21.6.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13.9.2018 wird nach Maßgabe der Urteilsgründe geändert.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Aufrechnung zulässig war.
3Die Klägerin ist Mutter mehrerer Kinder. Mit Bescheid vom 11.7.2017, der laut Vermerk am selben Tag abgesandt wurde, hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für die Tochter M für den Zeitraum Oktober 2015 bis Juni 2017 auf. Zugleich forderte sie den überzahlten Betrag in Höhe von insgesamt 4.647 € von der Klägerin zurück. Für die übrigen Kinder H, D und A blieb die Kindergeldfestsetzung bestehen.
4Mit Schreiben vom 22.8.2017 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass der bisher noch nicht beglichene Rückforderungsanspruch ab September 2017 in Höhe von 291 € monatlich gegen den laufenden Kindergeldanspruch aufgerechnet werde. Diese Aufrechnung nahm die Beklagte entsprechend der Ankündigung bis einschließlich Mai 2018 vor.
5Mit Schreiben vom 24.5.2018 teilte der Ehemann der Klägerin in deren Vertretung der Beklagten folgendes mit: „Aufrechnung beenden ab sofort“. Zugleich reichte er einen Bescheid des Jobcenters A-Stadt ein, aus dem sich ergibt, dass die Familie im Zeitraum 1.8.2017 bis 31.5.2018 Leistungen nach dem SGB II bezogen hat.
6Mit Schreiben vom 25.5.2018 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass die Aufrechnung ab Juni 2018 eingestellt werde.
7Die Klägerin beantragte daraufhin mit Schreiben vom 17.6.2018 die Rückzahlung des einbehaltenen Betrages in Höhe von 2.619 €. Zur Begründung führte sie aus, dass eine Einbehaltung ohne Zustimmung des Kindergeldberechtigten gemäß § 75 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht rechtmäßig sei, wenn dieser Leistungen nach dem SGB II erhält.
8Die Beklagte erließ am 21.6.2018 einen Abrechnungsbescheid, aus dem sich unter Anrechnung des einbehaltenen Betrages eine noch offene Forderung in Höhe von 2.028 € ergibt. Zur Begründung führte sie aus, dass die Nachweise der vorliegenden Hilfebedürftigkeit erst am 25.5.2018 eingereicht worden seien. Entsprechend könne der Widerruf nur für die Zukunft nach § 131 der Abgabenordnung (AO) erfolgen. Der in der Kindergeldakte enthaltene „Entwurf“ des Bescheids enthält keinen Absendevermerk. Die Bekanntgabe erfolgte durch einfachen Brief.
9Den hiergegen am 26.7.2018 bei der Beklagten eingegangenen Einspruch verwarf die Beklagte wegen Fristversäumnis als unzulässig.
10Zur Begründung ihrer hiergegen erhobenen Klage reicht die Klägerin einen Briefumschlag mit Poststempel ein, der das Datum 25.6.2018 trägt. Demnach sei der Einspruch nicht verspätet eingelegt worden. Ferner behauptet sie, den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 11.7.2017 nicht erhalten zu haben. Dieser sei auch rechtswidrig, da sich die Tochter in einer Ausbildung an einem Berufskolleg befunden habe. Im Übrigen sei die Aufrechnung unzulässig gewesen.
11Die Klägerin beantragt sinngemäß,
12den Abrechnungsbescheid vom 21.6.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13.9.2018 dahingehend zu ändern, dass der Klägerin ein Betrag in Höhe von 2.619 € zu erstatten ist.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie ist nach Übersendung des Briefumschlags nicht mehr der Auffassung, dass der Einspruch verfristet eingelegt wurde. Die Klage sei allerdings unbegründet. Die Beklagte bestreitet, dass die Klägerin den Bescheid vom 11.7.2017 nicht erhalten habe, weil anderenfalls davon auszugehen wäre, dass die Klägerin der Aufrechnung schon eher widersprochen hätte. Zu ihrer weiterhin vertretenen Auffassung, dass eine Rücknahme der Aufrechnung für die Vergangenheit nicht zulässig sei, verweist die Beklagte auf die Kommentierung in Lange/Novak/Sander/Stahl/Weinhold, Kindergeldrecht im öD, § 75 EStG, Rn. 74 (Bl. 20 der Gerichtsakte).
16Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
17Entscheidungsgründe
18Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
19Obwohl die Klägerin in der Klageschrift vom 8.10.2018 lediglich beantragt hat, die angefochtene Einspruchsentscheidung aufzuheben, ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie überdies auch eine Änderung des mit dem Einspruch angefochtenen Aufrechnungsbescheides begehrt. Dies ergibt sich daraus, dass mit der Klageschrift auch Ausführungen zur materiellen Rechtslage gemacht werden. Überdies hat die Beklagte deutlich gemacht, an ihrer bisherigen Auffassung zur Frage der Aufrechnung festzuhalten, so dass die Klägerin von einer isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung und einer Durchführung des Einspruchsverfahrens keinen Vorteil hätte. Es wäre vielmehr ein erneutes Klageverfahren zu erwarten.
20Einer gerichtlichen Entscheidung steht die Bestandskraft des Abrechnungsbescheids vom 21.6.2018 nicht entgegen. Zwischen den Beteiligten ist inzwischen unstreitig, dass dieser erst am 25.6.2018 zur Post gegangen ist. Gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt er demnach am 28.6.2018 als bekannt gegeben. Die Einspruchseinlegung am 26.7.2018 erfolgte damit innerhalb der Monatsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO.
21Der angefochtene Abrechnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO), soweit die Beklagte mit dem Bescheid eine Erstattung der durch Aufrechnung einbehaltenen Beträge abgelehnt hat.
22Dabei scheitert die Aufrechnung nicht bereits am Fehlen einer Aufrechnungslage. Der Senat geht entgegen der Auffassung der Klägerin davon aus, dass diese den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 11.7.2017 tatsächlich erhalten hat und der Rückforderungsanspruch damit wirksam entstanden ist. Der Bescheid enthält zunächst einen Absendevermerk vom 11.7.2017. Darüber hinaus muss die Klägerin das Schreiben der Beklagten vom 22.8.2017 hinsichtlich der Einbehaltung von Kindergeld im Wege der Aufrechnung erhalten haben. Anderenfalls hätte sie der Aufrechnung nicht widersprechen können. In diesem Schreiben wird auf den Bescheid vom 11.7.2017 und den Rückforderungsanspruch in Höhe von 4.647 € Bezug genommen. Hätte die Klägerin diesen Bescheid nicht erhalten, hätte sie die Aufrechnung nicht über einen Zeitraum von mehreren Monaten hingenommen, sondern dies der Beklagten unverzüglich mitgeteilt.
23Die Aufrechnung scheitert aber an der Regelung in § 75 Abs. 1 EStG. Nach dieser Vorschrift kann die Familienkasse mit Ansprüchen auf Erstattung von Kindergeld bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des SGB XII oder des SGB II wird. Dies gilt auch dann, wenn der Leistungsberechtigte zum Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung bereits hilfebedürftig ist (Reuß in Bordewin/Brandt, Kommentar zum EStG, § 75 Rn. 12, Stand: Februar 2017). Durch die eingereichten Bescheide, wonach die Familie der Klägerin in den Monaten, die von der Aufrechnung betroffen sind, Leistungen nach dem SGB II bezogen hat, hat die Klägerin nachgewiesen, dass sie bereits hilfebedürftig war.
24Dass dieser Nachweis erst neun Monate nach der Aufrechnungserklärung der Beklagten erbracht wurde, steht einer Anwendung der in § 75 Abs. 1 EStG enthaltenen Ausnahmeregelung nicht entgegen. Das Gesetz enthält insoweit keine Fristbestimmung.
25Die Aufrechnungserklärung der Beklagten vom 22.8.2017 konnte auch nicht in Bestandskraft erwachsen, da sie keinen Verwaltungsakt darstellt. Bei einer Aufrechnungserklärung handelt es sich vielmehr lediglich um die Ausübung eines schuldrechtlichen Gestaltungsrechts (BFH-Urteil vom 31.8.1995 VII R 58/94, BStBl. II 1996, 55; BFH-Beschluss vom 29.11.2012 VII B 88/12, BFH/NV 2013, 508 jeweils m. w. N.). Mangels Verwaltungsakts kann auch die von der Beklagten im Abrechnungsbescheid angeführte Vorschrift des § 131 AO, die ausschließlich für Verwaltungsakte gilt, nicht eingreifen.
26Der Senat folgt nicht der von der Beklagten zitierten Literaturmeinung (Lange/Novak/ Sander/Stahl/Weinhold, Kindergeldrecht im öD, § 75 EStG, Rn. 74). Der Verfasser geht hierin offenbar davon aus, dass es sich bei der Aufrechnungserklärung um einen Verwaltungsakt handelt. Hierauf deutet die Verwendung der Formulierung „Rücknahme der Aufrechnung“ hin. Der Terminus „Rücknahme“ wird ebenfalls in § 130 AO in Bezug auf die Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte verwendet. Soweit der Verfasser seine Auffassung damit begründet, dass Hilfebedürftigkeit niemals rückwirkend eintreten kann, wird hierbei der Eintritt der Hilfebedürftigkeit mit deren Nachweis verwechselt. Für einen abgelaufenen Zeitraum kann rückwirkend keine Hilfebedürftigkeit mehr eintreten. So liegt der Streitfall jedoch nicht, da die Klägerin im betroffenen Zeitraum von Anfang an hilfebedürftig war, jedoch lediglich den Nachweis nachträglich erbracht hat.
27Es ist nicht ersichtlich, welche Frist dem Anspruch der Klägerin entgegenstehen sollte. Insbesondere ist die fünfjährige Zahlungsverjährung (§ 228 Satz 2 AO) offensichtlich noch nicht eingetreten.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
29Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 115 Abs. 2 FGO zugelassen. Der Senat geht davon aus, dass es sich bei der Aufrechnung gegen Kindergeldansprüche nicht um einen Einzelfall handelt. Soweit ersichtlich existiert zu der Frage des Nachweises der Hilfebedürftigkeit für abgelaufene Zeiträume noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung.