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Unter Änderung des Bescheids vom 1.2.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.5.2018 wird die Beklagte verpflichtet, die Rückforderung des Kindergelds aus dem Rückforderungsbescheid vom 27.9.2016 einschließlich Säumniszuschlägen in voller Höhe zu erlassen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist strittig, ob dem Kläger die Rückzahlung von Kindergeld für B D in Höhe von 4.482 € zuzüglich Säumniszuschlägen zu erlassen ist.
3Der Kläger ist seit 2007 Betreuer seines schwerbehinderten Bruders B D , geboren am 00.00.1968. Für B D bezog I D , deren Vater, Kindergeld. Am 00.08.2014 verstarb I D. Der Kläger wurde Erbe und Gesamtrechtsnachfolger des Verstorbenen. Das Kindergeld hatte die Beklagte ehemals nach einer Veränderungsmitteilung aus dem Jahr 2002, d.h. auch das den Streitzeitraum betreffende Kindergeld, auf das Konto des Kindes B D bei der T-Bank (Bankleitzahl 000 000 01) unter der Kontonummer 0000001 überwiesen.
4B D bezog im Streitzeitraum (Oktober 2014 bis Juli 2016), wie sich aus den jeweiligen Bescheiden der Stadt H ergibt, Leistungen („Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“) nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (SGB XII). Bei der Berechnung des Leistungsumfangs wurde das Kindergeld leistungsmindernd als Einkommen berücksichtigt und in voller Höhe vom sozialrechtlichen Bedarf B D‘s abgezogen. Die Überweisung der Grundsicherung erfolgte ebenfalls auf das vorstehende Konto B D.
5Mit Bescheid vom 27.9.2016 forderte die Beklagte für die Monate September 2014 bis Juli 2016 überzahltes Kindergeld i. H. von 4.322 € vom Kläger zurück, weil der Anspruchsberechtigte (Vater) verstorben sei und daher kein Anspruch auf Kindergeld für den Sohn B D mehr bestehe. Der Kläger als Erbe seines Vaters habe das überzahlte Kindergeld zu erstatten. Den dagegen eingelegten Einspruch des Klägers wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 3.11.2016 als unbegründet zurück. Die daraufhin erhobene Klage (15 K 2785/17 Kg) nahm der Kläger nach Erörterung des Sach- und Streitstands vor dem Berichterstatter des erkennenden Senats zurück.
6Parallel zur Klage gegen den Rückforderungsbescheid beantragte der Kläger, ihm die Rückforderung des überzahlten Kindergelds zu erlassen. Mit Bescheid vom 1.2.2018 erließ die Beklagte einen Teilbetrag von 184 € (Überzahlung/Rückforderung für den Monat September 2014) und lehnte den Antrag im Übrigen ab. Dagegen legte der Kläger Einspruch ein, den die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 29.5.2018 als unbegründet zurückwies. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass lediglich für den ersten Monat der Überzahlung die Rückforderung auch bei rechtzeitiger Mitwirkung nicht vermeidbar gewesen wäre, so dass nur insoweit ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen auszusprechen sei. Im Übrigen seien Billigkeitsgründe nicht gegeben, da der Kläger seiner Mitwirkungspflicht nach § 68 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht nachgekommen sei. Der Kläger hätte als Erbe und Betreuer B D‘s ihr, der Beklagten, den Tod des Vaters I D‘s mitteilen müssen. Dann wäre es nicht zur Überzahlung gekommen. Die Überzahlung beruhe daher allein auf dem Verschulden des Klägers. Auch die Anrechnung des Kindergelds beim Arbeitslosengeld II (sic! bei der Grundsicherung) ohne nachträgliche Auszahlung durch das JobCenter (sic! die Stadt H) führe zu keinem anderen Ergebnis. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) seien im Billigkeitsverfahren das Verhalten des Kindergeldberechtigten, der Familienkasse und des Sozialleistungsträgers gegeneinander abzuwägen. Im vorliegenden Fall sei ihr, der Beklagten, kein Fehlverhalten anzulasten, das zu einer Überzahlung des Kindergelds geführt habe. Im Rahmen des Ermessens sei zu berücksichtigen, dass eine generelle Verpflichtung zum Erlass des Kindergeldrückforderungsanspruchs bei einer Anrechnung auf die bezogenen SGB II Leistungen (sic! SGB XII Leistungen) die Funktionsfähigkeit der Familienkassen erheblich beeinträchtigen würde. Die Empfänger von SGB II Leistungen könnten dann nämlich folgenlos ihre Mitwirkungspflichten verletzen. Auch eine persönliche Unbilligkeit liege nicht vor, da die wirtschaftliche Existenz des Klägers aufgrund der gesetzlichen Pfändungsfreigrenzen nicht gefährdet sei. Der Kläger sei schließlich nicht erlasswürdig, da die Rückforderung auf der Versäumung seiner Mitwirkungspflichten beruhe.
7Dagegen hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass für den streitgegenständlichen Zeitraum das zugeflossene Kindergeld bei der Grundsicherung als Einkommen berücksichtigt und in selbiger Höhe der Anspruch auf Grundsicherung gekürzt worden sei. Weder er, der Kläger, noch das Kind B D seien durch die Auszahlung des Kindergelds wirtschaftlich besser gestellt, d.h. bereichert, worden.
8Der Kläger beantragt (sinngemäß),
9unter Änderung des Bescheids vom 1.2.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.5.2018 die Beklagte zu verpflichten, die Rückforderung des Kindergelds aus dem Rückforderungsbescheid vom 27.9.2016 einschließlich Säumniszuschlägen in voller Höhe zu erlassen.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Die Beklagte nimmt Bezug auf ihre Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
13Am 17.7.2018 wurde der Sach- und Streitstand mit den Beteiligten erörtert. Im Erörterungstermin erklärten die Beteiligten, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen kann.
14Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge verwiesen.
15Entscheidungsgründe
16I. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
17II. Die Klage ist begründet.
181. Der Bescheid vom 1.2.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.5.2018 ist rechtswidrig, soweit es die Beklagte abgelehnt hat, die Rückforderung des Kindergelds und der Säumniszuschläge in voller Höhe zu erlassen. Insoweit ist der Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 101 Satz 1 FGO). Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass ihm die Rückforderung des Kindergeldes aus dem Rückforderungsbescheid vom 27.9.2016 aus Billigkeitsgründen gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) in voller Höhe erlassen wird.
192. Gemäß § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet werden. Die Entscheidung über einen Erlassantrag ist eine Ermessensentscheidung, die das Gericht grundsätzlich gemäß § 102 Satz 1 FGO lediglich darauf überprüfen kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde.
20Wird eine Ermessensentscheidung – wie im Streitfall – im Wege der Verpflichtungsklage begehrt, kann das Gericht die Behörde nur dann gemäß § 101 Satz 1 FGO verpflichten, den begehrten Verwaltungsakt zu erlassen, wenn das Ermessen der Behörde dem Sachverhalt nach in der Weise eingeschränkt ist, dass nur eine einzige Entscheidung möglich erscheint (sog. „Ermessensreduzierung auf Null“, vgl. etwa BFH-Urteil vom 10.10.2001 XI R 52/00, Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFHE – 196, 572, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2002, 201). Ohne eine „Ermessensreduzierung auf Null“ kann das Gericht bei vorhandenen Ermessensfehlern lediglich gemäß § 101 Satz 2 FGO die Verpflichtung aussprechen, den Beklagten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
213. Ein Erlass kann gemäß § 227 AO aus sachlichen oder aus persönlichen Gründen ausgesprochen werden. Nach Auffassung des erkennenden Senats sind die Voraussetzungen für einen Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen erfüllt.
22a) Sachlich unbillig ist die Festsetzung bzw. Einziehung einer Steuer nach der Rechtsprechung des BFH, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Fall derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer unbillig erscheint (BFH-Urteil vom 17.12.2013 VII R 8/12, BFHE 244, 184, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung – HFR – 2014, 428). So verhält es sich, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte – im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH-Urteile vom 20.9.2012 IV R 29/10, BFHE 238, 518, BStBl II 2013, 505 und vom 17.12.2013 VII R 8/12, BFHE 244, 184, HFR 2014, 428). Bei der Billigkeitsprüfung müssen hingegen solche Umstände außer Betracht bleiben, die der gesetzliche Tatbestand typischerweise mit sich bringt (BFH-Urteil vom 21.7.1993 X R 104/91, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 1994, 597). Eine für den Steuerpflichtigen ungünstige Rechtsfolge, die der Gesetzgeber bewusst angeordnet oder in Kauf genommen hat, rechtfertigt in der Regel ebenfalls keine Billigkeitsmaßnahme (BFH-Urteil vom 7.10.2010 V R 17/09, BFH/NV 2011, 865).
23b) Im Rahmen der Einziehung eines Kindergeld-Rückforderungsanspruchs kann nach der finanzgerichtlichen Rechtsprechung eine Anrechnung des Kindergeldes auf Sozialleistungen einen Erlass des Rückforderungsbetrags aus Billigkeitsgründen nach § 227 AO begründen (FG Düsseldorf, Urteile vom 6.3.2014 16 K 3046/13 AO, Sammlung der Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 2014, 977, und vom 22.9.2011 16 K 1279/11, EFG 2011, 2176; FG Münster, Urteil vom 12.12.2016 13 K 91/16, Neue Zeitschrift für Familienrecht – NZFam – 2017, 183). Ein Billigkeitserlass gemäß § 227 AO ist hiernach in der Regel dann nicht zu versagen, wenn z.B. dem Kindergeldberechtigten die Konsequenzen aus der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses offenbar nicht bewusst waren und zudem die Weitergewährung des Kindergelds (und damit die spätere Rückforderung) auch auf fehlende Kommunikation zwischen den zuständigen Behörden (Arbeitsamt, Familienkasse und Sozialamt) zurückzuführen gewesen ist, oder aber wenn der Kindergeldberechtigte seine Mitwirkungspflichten vollständig erfüllt hat und die Familienkasse die ungerechtfertigte Kindergeldgewährung durch unsorgfältige Bearbeitung mitverursacht hat, z.B. einen gebotenen Hinweis an den Kindergeldberechtigten vergessen hat (FG Düsseldorf, Urteile vom 6.3.2014 16 K 3046/13 AO, EFG 2014, 977, und vom 22.9.2011 16 K 1279/11, EFG 2011, 2176; FG Münster, Urteil vom 12.12.2016 13 K 91/16, NZFam 2017, 183).
24Hierbei besteht allerdings keine generelle Verpflichtung der Familienkasse, einen Billigkeitserlass auszusprechen, wenn das Kindergeld auf Leistungen nach dem SGB II angerechnet wurde und es später mangels eines Kindergeldanspruchs zur Rückforderung des Kindergeldes kommt. Die Familienkasse braucht sich nämlich nicht in jedem Fall die „Ersparnis“ des Sozialleistungsträgers vorhalten zu lassen; sie sei nicht generell daran gehindert, den durch die rechtsgrundlose Überzahlung des Kindergelds eingetretenen eigenen Vermögensnachteil geltend zu machen. Vielmehr sei im Billigkeitsverfahren das Verhalten des Kindergeldberechtigten, des Sozialleistungsträgers und der Familienkasse zu würdigen und gegeneinander abzuwägen. Eine Verletzung der Informationspflichten nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG schließt einen Billigkeitserlass aus (vgl. BFH-Urteil vom 13.9.2018 III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rn. 20 ff. m. w. N.).
25Darüber hinaus hat der BFH in seiner jüngsten Entscheidungen, in der ein Billigkeitserlass bei Anrechnung des Kindergelds auf SGB II Leistungen abgelehnt wurde, ausgeführt, dass er nicht abschließend entscheide, in welchen Fällen ein Billigkeitserlass in Betracht komme. Für denkbare Fälle eines Billigkeitserlasses nimmt der BFH ausdrücklich auf die vorstehend erwähnten finanzgerichtlichen Entscheidungen Bezug (vgl. BFH-Urteil vom 13.9.2018 III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rn. 20 ff. m. w. N.).
26c) Auch die Verwaltung hat die Grundsätze des Billigkeitserlasses in der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG aufgenommen (V 25.2 DA-KG 2018). Danach ist ein Erlass auszusprechen, wenn die Überzahlung des Kindergeldes nicht auf das Verhalten des Berechtigten zurückzuführen ist (V 25.2 Abs. 2 Satz 3 DA-KG 2018). Demgegenüber ist ein Erlass regelmäßig zu versagen, wenn und ggf. soweit der Kindergeldberechtigte die ungerechtfertigte Weitergewährung und damit letztlich die Überzahlung des Kindergelds durch die Verletzung seiner Mitwirkungspflicht nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG selbst herbeigeführt hat.
27d) Unter Berücksichtigung sämtlicher vorstehender Grundsätze, denen sich der erkennende Senat anschließt, sind die Voraussetzungen für einen Erlass der Rückforderung aus sachlichen Billigkeitsgründen im Streitfall erfüllt.
28aa) Das Kindergeld ist bei B D vollständig bei der Bemessung der Grundsicherung (SGB XII Leistungen) angerechnet worden. Ein wirtschaftlicher Vorteil ist daher weder dem Kind, dem ehemaligen Kindergeldberechtigen noch dem Kläger durch Auszahlung des Kindergelds entstanden. Eine Änderung der Bescheide über die Grundsicherung kommt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht in Betracht (vgl. die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – BSG –, Urteil vom 23.8.2011 B 14 AS 165/10 R, Sozialrecht – SozR – 4-4200 § 11 Nr. 43, die auf § 82 SGB XII übertragbar ist), so dass eine Rückforderung zu einer endgültigen Belastung des Klägers führen würde, ohne dass er einen vergleichbaren Vorteil jemals erhalten hätte.
29bb) Dem Kläger dieses Verfahrens kann außerdem ein Verstoß gegen Mitwirkungspflichten nicht vorgeworfen werden. In dem „Merkblatt über das Kindergeld“ ist der Todesfall des Kindergeldberechtigten nicht als Ereignis angegeben, das den Erben zur Mitteilung gegenüber der Familienkasse anhalten soll.
30Aus der Bezeichnung der Steuervergütung als „Kindergeld“ könnte ein Laie auch folgern, dass dem Kind das Kindergeld zustehe. Nach § 1 BKGG wird unter bestimmten Voraussetzungen sogar Vollwaisen eigenes Kindergeld gezahlt. Vor diesem Hintergrund muss es einem rechtlichen Laien nicht als völlig ausgeschlossen erscheinen, dass einem behinderten Kind selbst lebenslang Kindergeld zusteht. Dem Kläger kann die Unkenntnis über die fehlende bzw. weggefallene Anspruchsberechtigung daher nicht als schuldhafte Versäumung der Mitwirkungspflichten vorgehalten werden.
31Ob sich aus den Kindergeldfestsetzungsbescheiden, die letztmalig vor über 20 Jahren ergangen sind, derartige Hinweise der Beklagten ergeben, kann nicht mehr nachgehalten werden. Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten wurden insoweit bereits vernichtet. Außerdem hat der Kläger selbst das Kindergeld ursprünglich nie beantragt und ist selbst nie über die konkreten Pflichten bei Veränderung belehrt worden.
32Zudem fällt der Kläger als Erbe unmittelbar nicht unter den persönlichen Anwendungsbereich des § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG, d.h. er ist nicht mitteilungspflichtig, da er weder Kindergeld für seinen Bruder beantragt noch erhalten hat. Die Festsetzung erfolgte seinerzeit gegenüber dem verstorbenen Vater. Auch § 68 Abs. 1 Satz 2 EStG (Kläger als Betreuer des über 18 Jahre alten Kindes B D) scheidet mangels „Verlangens“ der Beklagten aus. Zwar tritt der Kläger nach ständiger Rechtsprechung des BFH als Gesamtrechtsnachfolger auch materiell- und verfahrensrechtlich in die abgabenrechtliche Stellung des Rechtsvorgängers ein und übernimmt damit die allgemeinen Erklärungspflichten. Hieraus kann aber eine Verpflichtung des Erben zur Mitteilung einer „Veränderung“ i. S. des § 68 Abs. 1 EStG nicht hergeleitet werden. Erst die Veränderung, nämlich der Todesfall, begründet die Pflichtenstellung im Rahmen des § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG. Es handelt sich nicht um eine Veränderung, die erst nach Übernahme der Erklärungspflichten eintritt.
33An der Kenntnis einer zu Unrecht gewährten Steuervergütung, die die allgemeine Berichtigungspflicht nach § 153 AO auslösen würde, mangelt es ebenfalls.
34cc) Nach der Auffassung des erkennenden Senats ist dieser Fall auch nicht mit den den Entscheidungen des BFH vom 13.9.2018 zugrundeliegenden Sachverhalten vergleichbar (III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187 und III R 48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189), in denen die kindergeldberechtigten Bezieher von Arbeitslosengeld II die Beendigung der Ausbildung ihrer Kinder verschwiegen haben und damit ihren Mitwirkungspflichten gegenüber den Familienkassen nicht nachkommen sind. Der Senat kann nämlich nicht feststellen, dass der Kläger seiner Pflichtenstellung teilnahmslos gegenübergestanden hätte; vielmehr hat er sich als ehrenamtlicher Betreuer unentgeltlich um die Belange seines Bruders gekümmert.
35Es kann auch keine Rede davon sein, dass durch eine generelle Verpflichtung zum Erlass des Kindergeldrückforderungsanspruchs in derartigen Fällen (Bezug von SGB XII Leistungen durch behindertes Kind / Tod des Kindergeldberechtigten) – genauso wie bei einer Anrechnung auf bezogene SGB II Leistungen – die Funktionsfähigkeit der Familienkassen erheblich beeinträchtigt sein soll. Dafür sind derartige Fälle viel zu selten.
36dd) Außerdem sind sowohl die sozialrechtlichen Leistungen als auch das Kindergeld auf das Konto des Kindes B D geflossen. Der Kläger hatte daher keinen eigenen unmittelbaren Überblick über die Bezüge des Kindes, die ihn zu sofortigem Handeln hätte Anhalten müssen.
37Aufgrund dieses Gesamtbildes der tatsächlichen Verhältnisse dieses konkreten Einzelfalls ist der Senat überzeugt, dass dem Kläger das Bewusstsein über die kindergeldrechtlichen Konsequenzen aus dem Tod des vormaligen Kindergeldberechtigten fehlte. Eine Verletzung von Mitwirkungspflichten kann nicht festgestellt werden.
384. Vor dem Hintergrund des Vorstehenden ist nicht entscheidungserheblich, ob die Beklagte darüber hinaus den Sachverhalt ermessensfehlerhaft unzureichend aufgeklärt und gewürdigt hat, indem sie allein auf den Bezug von SGB II Leistungen durch das Kind B D rekurriert.
395. Die Sache ist spruchreif. Es liegt ein Fall der „Ermessensreduzierung auf Null“ vor. Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls erscheint nur ein vollständiger Billigkeitserlass der gesamten Rückforderung ermessensgerecht. Neben den bereits beschriebenen Umständen ist auch der aus dem Zeitablauf folgende erhebliche Rückforderungsbetrag von 4.482 € zzgl. Säumniszuschläge zu berücksichtigen. Demgegenüber lebt der Kläger nur von einer geringen Rente an der unteren Grenze des Existenzminimums. Diese Umstände sind nach der zitierten Rechtsprechung des BFH beim Billigkeitserlass nach § 227 AO zu berücksichtigen. Bei der Abwägung und Würdigung des Verhaltens und Verständnisses des Klägers einerseits und des Verhaltens des Sozialleistungsträgers und der Beklagten andererseits erscheint es dem Senat insgesamt als unbillig, dass der Rückforderungsbetrag einzuziehen ist.
40III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
41IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
42V. Die Revision wird nicht zugelassen. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.