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Die Umsatzsteuerbescheide für 2011 und 2012, jeweils vom 3.6.2015, werden von der Vollziehung ausgesetzt.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner zu 51,2% und die Antragstellerin zu 48,8%.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Gründe:
2I. Streitig ist für die Jahre 2011-2013 die Inanspruchnahme der Antragstellerin gemäß dem durch das Kroatien-Steuerrechtsanpassungsgesetz vom 25.7.2014, BStBl I, 1126 eingefügten und am 31.7.2014 in Kraft getretenen § 27 Abs. 19 UStG.
3Gegenstand des Unternehmens der Antragstellerin ist die Ausführung, Lieferung und Verlegung von Estrich, Parkett, Laminat, Teppichböden usw. In den Streitjahren 2011-2013 erbrachte sie unter anderem Leistungen an andere Unternehmer. In Ihren Rechnungen an die unternehmerischen Leistungsempfänger berechnete sie die Nettoentgelte und wies darauf hin, dass die Umsatzsteuer i.H.v. 19 % gemäß § 13 b UStG der Auftraggeber schulde.
4Die Antragstellerin gab ihre Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre wie folgt ab:
52011 |
2012 |
2013 |
|
Abgabezeitpunkt |
5.9.2012 |
29.5.2013 |
5.12.2014 |
erklärte USt |
22.935,86 € |
- 3.919,20 € |
- 10.333,85 € |
Der Antragsgegner verarbeitete die Umsatzsteuererklärung 2011 erklärungsgemäß und stimmte den Erklärungen für 2012 und 2013 jeweils zu.
7Nach Ergehen des BFH-Urteils vom 22.8.2013, V R 37/10, BStBl II 2014,128, mit dem der BFH entschieden hat, dass die Anwendung des § 13 b UStG EU-rechtskonform auf solche bauwerksbezogene Leistungen zu beschränken ist, die der Leistungsempfänger seinerseits zur Erbringung eigener bauwerksbezogener Leistungen verwendet, machten Bauträgerunternehmen, an die die Antragstellerin Leistungen erbracht hatte, Steuererstattungsansprüche geltend. Die Bauträgerunternehmen meinten, sie seien keine Steuerschuldner gemäß § 13 b UStG.
8Der Antragsgegner führte bei der Antragstellerin zwei Umsatzsteuer-Sonderprüfungen für 2011 und 2012 bis II. Quartal 2014 durch. Die Prüferin minderte die bisherigen Umsätze der Antragstellerin gemäß § 13 b UStG nach Maßgabe der von den jeweiligen Bauträgern geltend gemachten Erstattungen und erhöhte dementsprechend die Umsätze der Antragstellerin zu 19 %. Dabei behandelte die Prüferin die Umsatzerhöhungen zu 19 % als Bruttobeträge. Weitere Prüfungsfeststellungen wurden nicht getroffen. Es wird wegen der Einzelheiten auf die Außenprüfungsberichte vom 17.3.2015 verwiesen.
9Der Antragsgegner erließ nach Maßgabe der oben genannten Umsatzsteuer-Sonderprüfungsberichte Umsatzsteuer-Änderungsbescheide vom 3.6.2015 (für 2011 und 2012) und 22.5.2015 für 2013. Die Umsatzsteuer 2011 wurde auf 25.638,49 €, die Umsatzsteuer 2012 auf 33.244,23 € und die Umsatzsteuer 2013 auf 34.945,70 € festgesetzt.
10Dagegen legte die Klägerin fristgemäß Einspruch ein. Das Einspruchsverfahren ruht im Hinblick auf die beim FG Münster anhängigen Verfahren 15 K 1550/15 U, 15 K 1551/15 U und 15 K 1553/15 U. Den gleichzeitig mit der Einspruchseinlegung von der Antragstellerin gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 25.6.2015 ab. Dagegen legte die Antragstellerin am 26.6.2015 Einspruch ein. Mit Schreiben vom 9.7.2015 teilte der Antragsgegner mit, dass der Einspruch gegen die Ablehnung der AdV als unbegründet zurückzuweisen sei und stellte einen Antrag an das Gericht anheim.
11Am 9.7.2015 beantragte die Antragstellerin AdV bei Gericht. Sie meint, sie genieße Vertrauensschutz, denn sie habe sich in den Streitjahren an die damals geltenden Verwaltungsanweisungen (Abschn. 13 b.3 UStAE) gehalten. Daher habe sie zu Recht Netto-Rechnungen erteilt und keine Umsatzsteuer auf ihre erbrachten Leistungen an die Bauträger berechnet. Ihre nachträgliche Heranziehung als Steuerschuldnerin verstoße gegen § 176 Abs. 2 AO. § 27 Abs. 19 S. 2 UStG sei wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot nichtig.
12Der Vertrauensschutzgedanke des § 176 Abs. 2 AO gelte auch für das Streitjahr 2013. Maßgeblich für das Vertrauen der Antragstellerin sei nicht die Abgabe ihrer Umsatzsteuererklärung, sondern der Abschluss der Werkverträge bzw. der Zeitpunkt der Rechnungsstellung. Bis zum 15.2.2014 habe die Antragstellerin nach Maßgabe der deutschen Gesetze und Verwaltungsanweisungen gar nicht anders abrechnen können, als sie es getan habe.
13Die ab dem 15.2.2014 geltenden neuen Regelungen entfalteten eine „echte Rückwirkung“, da bereits abgeschlossene Vorgänge (abgerechnete Bauvorhaben) betroffen seien. Als abgeschlossener Tatbestand seien nicht die Steuererklärung oder ein Bescheid anzusehen, sondern die Bauverträge bzw. Abrechnungen.
14Der Antragsgegner habe inzwischen für nach dem 15.2.2014 abgerechnete Baustellen, bei denen die Antragstellerin im Jahr 2013 Anzahlungen erhalten habe, das Verfahren nach § 27 Abs. 19 S. 3 UStG angeboten. Hierbei handele es sich um abgetretene Forderungen i.H.v. 7.265,51 €. Für 2013 reduziere sich der auszusetzende Betrag somit auf 38.014,04 €.
15Wegen der Einzelheiten des Vortrags der Antragstellerin wird auf ihre Schriftsätze vom 9.7.2015 und 14.9.2015 Bezug genommen.
16Die Antragstellerin beantragt,
17die Umsatzsteuerbescheide für 2011 und 2012 jeweils vom 3.6.2015 insgesamt und den Umsatzsteuerbescheid 2013 vom 22.5.2015 i.H.v. 38.014,04 € von der Vollziehung auszusetzen.
18Der Antragsgegner beantragt,
19den Antrag abzulehnen.
20Er meint, der Inanspruchnahme der Antragstellerin stehe § 176 Abs. 2 AO nicht entgegen. Diese Regelung sei durch § 27 Abs. 19 UStG ausgeschlossen. § 27 Abs. 19 UStG sei verfassungsgemäß.
21Die Vorschrift sei erforderlich, weil im Falle der Geltendmachung von Steuererstattungsansprüchen durch den Leistungsempfänger dieser die bisher abgeschlossenen Abrechnungsvorgänge wieder aufgreife und in Konsequenz daraus der wirkliche Steuerschuldner, im Streitfall die Antragstellerin, die aus der Leistungsbeziehung resultierende Umsatzsteuer zahlen müsse. Ohne die Regelung des § 27 Abs. 19 UStG drohten Steuerausfälle dadurch, dass der Leistungsempfänger die bisher gemäß § 13 b UStG abgeführte Umsatzsteuer (zu Recht) zurückverlange und der wirkliche Steuerschuldner, nämlich der Leistende, verfahrensrechtlich nicht mehr herangezogen werden könne. Der Leistende sei auch nicht schutzwürdig, denn er könne das Beitreibungsrisiko im Hinblick auf den Umsatzsteuer-Nachforderungsbetrag, den er gegenüber dem Leistungsempfänger habe, durch geänderte Rechnungsstellung und Abtretung des Nachforderungsbetrages an die Finanzverwaltung gemäß § 27 Abs. 19 S. 3 und 4 UStG auf die Finanzverwaltung überwälzen. Die Abtretung wirke dann an Zahlungs statt. Zwar sei § 27 Abs. 19 S. 3 und 4 UStG als Ermessensvorschrift ausgestaltet. Die Finanzverwaltung müsse bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 27 Abs. 19 S. 3 und 4 UStG ihr Ermessen jedoch regelmäßig zu Gunsten des leistenden Unternehmers ausüben. Nach zivilrechtlichen Grundsätzen bestehe regelmäßig ein Umsatzsteuernachforderungsanspruch des Leistenden gegen den Leistungsempfänger.
22Wegen der Einzelheiten des Vortrags des Antragsgegners wird auf seinen Schriftsatz vom 19.8.2015 verwiesen.
23II. Der zulässige Antrag ist teilweise begründet.
241) Die Zugangsvoraussetzungen gemäß § 69 Abs. 4 FGO sind erfüllt. Zwar ist über den Einspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 25.6.2015, mit dem der Antragsgegner den AdV-Antrag der Antragstellerin abgelehnt hat, noch nicht entschieden worden. Der Antragsgegner hat jedoch mit Schreiben vom 9.7.2015 deutlich gemacht, dass er an seiner antragsablehnenden Auffassung festhält und gleichzeitig Vollstreckungsmaßnahmen in Aussicht gestellt. Die Antragstellerin musste daher nicht eine formelle Einspruchsentscheidung abwarten, bevor sie einen AdV-Antrag an das Gericht stellt.
252) Der AdV-Antrag ist im Hinblick auf die Jahre 2011 und 2012 begründet und im Hinblick auf das Jahr 2013 unbegründet.
26a) Bei summarischer Prüfung bestehen ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 3 S. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 2 FGO an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide für 2011 und 2012, jeweils vom 3.6.2015.
27Nach den vorgenannten Vorschriften kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit aussetzen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zu Tage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im Aussetzungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (ständige Rechtsprechung, siehe z.B. BFH Beschluss vom 23.8.2007 VI B 42/07, BStBl II 2007, 799).
28Rechtsschutz im Wege der AdV kann nach ständiger Rechtsprechung auch bei ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine einem angefochtenen Verwaltungsakt zu Grunde liegende Rechtsnorm gewährt werden. Aus den ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Norm folgen auch ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids (siehe z.B. BFH Beschluss vom 11.6.2003 IX B 16/03, BStBl II 2003, 663).
29Nach den vorgenannten Grundsätzen bestehen solche Zweifel im Hinblick auf die Umsatzsteuerbescheide für 2011 und 2012 vom 3.6.2015. Insoweit besteht Vertrauensschutz gemäß § 176 Abs. 2 AO. Der Senat hat bei summarischer Prüfung Zweifel, ob die den Vertrauensschutz ausschließende Vorschrift des § 27 Abs. 19 UStG verfassungsrechtlichen Grundsätzen genügt.
30§ 176 Abs. 2 AO bestimmt, dass bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden darf, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Die betreffende Beurteilung des obersten Gerichtshofs muss dabei zeitlich nach dem Erlass des ursprünglichen, aber vor dem Erlass des Änderungsbescheids erfolgt sein (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 176 AO, Rn. 34 m. w. N.). Der Schutz des § 176 Abs. 2 AO beschränkt sich auf Fälle, in denen im Zeitpunkt der Entscheidung des obersten Gerichtshofs bereits ein Steuerbescheid vorliegt (Hey, DStR 2004, 1897). Unerheblich ist indes, ob die Änderung des Steuerbescheids auf § 164 Abs. 2 AO oder einer anderen Änderungsnorm beruht, da § 176 AO für alle Fälle der Änderung von Steuerbescheiden zu berücksichtigen ist (Rüsken in Klein, AO, § 176 Rn. 6 m. w. N.).
31Die Finanzverwaltung legte § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG in der in den Streitzeiträumen 2011 und 2012 geltenden Fassungen zunächst dahingehend aus, dass es für den Wechsel der Steuerschuldnerschaft darauf ankomme, dass der Leistungsempfänger „nachhaltig“ bauwerksbezogene Werklieferungen und sonstige Leistungen erbringe und dabei die Summe dieser Leistungen mehr als 10 % seiner steuerbaren Umsätze betrage, wobei die Finanzverwaltung später präzisiert hat, dass dabei auf den „Weltumsatz“ des Leistungsempfängers abzustellen sei (vgl. Abschn. 182a Abs. 10 Satz 2 UStR 2005, nachfolgend BMF-Schreiben vom 16.10.2009 (BStBl. I 2009, 1298) und sich daran anschließend Abschn. 13b.3 Abs. 2 Satz 1 UStAE in der Fassung des BMF-Schreibens vom 12.12.2011, BStBl. I 2011, 1289). Der BFH entschied hingegen mit Urteil vom 22.8.2013 V R 37/10 (aaO), dass § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG 2005 (im Wesentlichen gleichlautend zu § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG in der in den Streitjahren 2011 und 2012 geltenden Fassung) dahingehend auszulegen sei, dass der Leistungsempfänger nur dann Steuerschuldner sei, wenn er die an ihn erbrachte Werklieferung oder sonstige Leistung mit Bauwerksbezug seinerseits zur Erbringung einer derartigen Leistung verwende. Dies treffe auf Bauträger, die steuerfreie Grundstückslieferungen ausführen würden, nicht zu, so dass diese Vorschrift auf sie nicht anzuwenden sei. Die Voraussetzungen des § 176 Abs. 2 AO liegen vor diesem Hintergrund nach summarischer Prüfung im Streitfall vor. Die ursprünglichen Umsatzsteuerfestsetzungen für 2011 und 2012 datieren vom 25.9.2012 und 17.6.2013 und haben sich an der zu diesen Zeitpunkten maßgeblichen Erlasslage der Finanzverwaltung orientiert. Im Anschluss, d.h. am 22.8.2013, hat der BFH die Auslegung der Finanzverwaltung als nicht mit geltendem Recht in Einklang stehend bezeichnet. Erst im Anschluss an diese Rechtsprechung sind die Änderungsbescheide, die auf den 3.6.2015 datieren, ergangen, so dass nach summarischer Prüfung § 176 Abs. 2 AO für die vorliegenden Umsatzsteuerfestsetzungen für 2011 und 2012 eingreift.
32Die Anwendung der Vertrauensschutzregelung ist nach summarischer Prüfung auch nicht durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG ausgeschlossen. Diese Norm wurde durch Art. 7 Nr. 9 des Gesetzes zur Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 25.7.2014 (BGBl. I 2014, 1266) mit Wirkung vom 31.7.2014 zur Regelung von Fällen geschaffen, in denen sich Bauträger auf die zuvor bezeichnete Rechtsprechung des BFH berufen und die Erstattung der entrichteten Umsatzsteuer beantragen. Als Rechtsfolge sieht § 27 Abs. 19 UStG vor, dass dann, wenn Unternehmer und Leistungsempfänger davon ausgegangen sind, dass der Leistungsempfänger die Steuer nach § 13b UStG auf eine vor dem 15.2.2014 erbrachte steuerpflichtige Leistung schuldet, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt, die gegen den leistenden Unternehmer wirkende Steuerfestsetzung zu ändern ist, soweit der Leistungsempfänger die Erstattung der Steuer fordert, die er in der Annahme entrichtet hatte, Steuerschuldner zu sein. Nach Satz 2 der Norm steht § 176 AO der Änderung nicht entgegen.
33Nach Auffassung des Senats ist ernstlich zweifelhaft, ob die rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer unter Suspendierung des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz – GG –) abgeleiteten Vertrauensschutzes gegen das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen verstößt (so auch FG Münster, Beschluss vom 12.8.2015, 15 V 2153/15 U juris; FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.6.2015, DStR 2015, 1438; a. A. FG Düsseldorf, Beschluss v. 31.8.2015, 1 V 1486/15, juris).
34Eine Rechtsnorm entfaltet „echte Rückwirkung“, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“). Das ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Da eine Norm erst mit der Verkündung rechtlich existent ist, muss der von einem Gesetz Betroffene bis zu diesem Zeitpunkt, zumindest aber bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss, grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird. Die maßgebliche Rechtsfolge steuerrechtlicher Normen ist dabei das Entstehen der Steuerschuld. Im Sachbereich des Steuerrechts liegt eine echte Rückwirkung daher nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG –, Beschluss vom 7.7.2010 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BStBl. II 2011, 76).
35Es spricht viel dafür, dass es sich auch im vorliegenden Fall so verhält. § 27 Abs. 19 UStG greift in die im Zeitpunkt seiner Verkündung bereits entstandene Steuerschuld für 2011 und 2012 nachträglich ein, so dass eine unzulässige echte Rückwirkung jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheint (so auch Hammerl/Fietz, Neue Wirtschaftsbriefe für Steuer- und Wirtschaftsrecht - NWB - 2014, 2688; Schneider/Mann NWB 2014, 3911; Fleckenstein-Weiland, Betriebsberater - BB - 2014, 2391; Langer DStR 2014, 1897; Neeser Umsatzsteuer und Verkehrsteuerrecht - UVR - 2014, 333; Prätzler, Mehrwertsteuerrecht - MwStR - 2014, 680; a.A. Widmann MwStR 2014, 495; Sterzinger UR 2014, 276; differenzierend Listl/Baumgartner, Umsatzsteuerrundschau - UR - 2014, 913). Darüber hinaus scheint diese Gesetzeslage auch gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstoßen, der gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sein müssen und dass ihre Anwendung für den Einzelnen voraussehbar sein muss (vgl. z. B. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union – EuGH – vom 9.10.2014 C-492/13, Traum EOOD, UR 2014, 943). Die beliebige Abbedingung des Vertrauensschutzes nach § 176 AO je nach Kassenlage ist mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und mit der Rechtsstaatlichkeit staatlichen Handelns nicht vereinbar (so FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.6.2005 5 V 5026/15, aaO). Anhaltspunkte dafür, dass eine der nach der Rechtsprechung des BVerfG anerkannten Ausnahmen für die Zulässigkeit rückwirkender belastender Gesetze vorliegen (vgl. etwa Beschluss vom 8.7.1977 – 2 BvR 499/74, BVerfGE 45, 142), vermag der Senat nach summarischer Prüfung nicht zu erkennen.
36Die Entscheidung, ob das Vertrauensschutzkonzept des § 27 Abs. 19 UStG im konkreten Einzelfall den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben genügt, den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO auszuschließen, wenn dem Bauleistenden kein Vermögensschaden droht, d. h. wenn er dem Leistungsempfänger die Umsatzsteuer nachberechnen und dem Finanzamt den zivilrechtlichen Anspruch abtreten kann, ist dem Hauptsachverfahren einer insoweit noch zu erhebenden Klage vorbehalten. Insoweit ist im Rahmen dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens unerheblich, ob dem Leistenden tatsächlich ein Anspruch auf Nachforderung der Umsatzsteuer gegen die Leistungsempfänger zusteht und die Antragstellerin gewillt ist, diesen abzutreten.
37b) Im Hinblick auf den Umsatzsteuerbescheid für 2013 vom 22.5.2015 bestehen bei summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit.
38Die verfahrensrechtliche Änderungsbefugnis für den vorgenannten Bescheid folgt aus § 164 Abs. 2 AO, denn die Steueranmeldung der Antragstellerin vom 5.12.2014, der der Antragsgegner zugestimmt hat, steht gemäß § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleich.
39§ 176 Abs. 2 AO steht dem Erlass des angefochtenen Änderungsbescheids für 2013 nicht entgegen.
40Wie oben ausgeführt wurde, besteht gemäß § 176 Abs. 2 AO nur dann Vertrauensschutz, wenn die Beurteilung eines obersten Gerichtshofes des Bundes, mit dem eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung (hier: Abschnitt 13 b UStAE) als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist, zeitlich nach dem Erlass eines ursprünglichen Bescheides erfolgt ist. Im Streitfall ist das maßgebliche Urteil des BFH, V R 37/10 am 22.8.2013 ergangen und am 14.2.2014 im Bundessteuerblatt veröffentlicht worden. Die bisherige Regelung in Abschnitt 13b.3 UStAE ist mit BMF-Schreiben vom 18.1.2014 an die Rechtsprechung des BFH angepasst worden. Die als Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung geltende Umsatzsteuer-Jahreserklärung der Antragstellerin ist erst am 5.12.2014, also nach den vorgenannten Zeitpunkten, beim Antragsgegner eingegangen.
41Die möglicherweise für Vorauszahlungsbescheide des Jahres 2013 ergangenen Erklärungen oder Bescheide können ebenfalls keinen Vertrauensschutz gemäß § 176 Abs. 2 AO begründen, denn die Vorauszahlungsbescheide werden durch einen Jahresbescheid nicht „aufgehoben oder geändert“ (siehe dazu niedersächsisches FG, Beschluss vom 3.7.2015, 16 V 95/15, juris).
42Zwar trägt die Antragstellerin zu Recht vor, dass die nach Maßgabe des BFH-Urteil des V R 37/10 erfolgte Änderung der Verwaltungsauffassung letztlich abgeschlossene Werkleistungsvorgänge betrifft (Werkverträge, Abrechnungen). Ein schützenswertes Vertrauen des Steuerpflichtigen hat der Gesetzgeber aber nur unter den Voraussetzungen des § 176 AO geregelt, dessen Voraussetzungen für das Streitjahr 2013 nicht vorliegen.
433) Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Absatz 1 S. 1 FGO. Die Beschwerdezulassung erfolgt gem. §§ 128 Abs. 3, 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und des von dieser Entscheidung abweichenden Beschlusses des FG Düsseldorf, 1 V 1486/15 A (U), aaO.