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Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheids vom 01. Oktober 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. November 2012 verpflichtet, die für den Einspruch gegen die Ablehnung der Abzweigung notwendigen Aufwendungen zu 50 v. H. für erstattungsfähig und hierbei die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig zu erklären; im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte jeweils zu 50 v. H.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Auf Antrag der Stadt H zweigte die Beklagte das gegenüber dem Kläger für seinen behinderten Sohn M festgesetzte Kindergeld mit Wirkung ab März 2012 in voller Höhe an die Stadt H als Grundsicherungsträger ab.
3Dagegen legte der Kläger, vertreten durch seine Ehefrau -- die Kindesmutter -- Einspruch ein. Bei der Abzweigungsentscheidung zu berücksichtigende Unterhaltsleistungen des Klägers wurden mit dem Einspruch und einer zweiten Stellungnahme zunächst nur pauschal vorgetragen. Nach Bestellung des Prozessbevollmächtigten bezifferte dieser etwaige Unterhaltsaufwendungen des Klägers im Einzelnen und legte hierzu einzelne Kostenbelege vor.
4Die zum Verfahren hinzugezogene Stadt H nahm zu den vom Prozessbevollmächtigten vorgetragenen Unterhaltsaufwendungen Stellung und verwies auf den von der Grundsicherung gedeckten Lebensbedarf.
5Mit Bescheid vom 1. Oktober 2012 hob die Beklagte den Abzweigungsbescheid auf und verwies „wegen der weiteren Zahlung“ des Kindergeldes auf den beigefügten Abzweigungsbescheid vom 1. Oktober 2012, mit dem das Kindergeld ab März 2012 zur Hälfte an die Stadt H abgezweigt wurde. In dem Aufhebungsbescheid wies die Beklagte darauf hin, dass dem Einspruch damit „in vollem Umfang“ entsprochen worden sei.
6Eine Erstattung der im Einspruchsverfahren entstandenen Kosten lehnte die Beklagte mit dem Aufhebungsbescheid vom 1. Oktober 2012 ab.
7Der dagegen erhobene Einspruch war erfolglos.
8Mit seiner Klage macht der Kläger geltend, eine Kostenerstattung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) komme auch im Abzweigungsverfahren in Betracht (Verweis auf Senatsentscheidung vom 18. Juli 2012 12 K 3884/11 Kg, EFG 2012, 1945, Rev. BFH Az. III R 39/12).
9Der Kläger beantragt,
10die Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 1. Oktober 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. November 2012 zu verpflichten, die für den Einspruch gegen die Abzweigung notwendigen Aufwendungen für erstattungsfähig und hierbei die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig zu erklären.
11Die Beklagte beantragt,
12die Klage abzuweisen.
13Die Beklagte macht im Wesentlichen unter Verweis auf die Einspruchsentscheidung geltend, dass § 77 EStG nur auf Einspruchsverfahren anwendbar sei, welche die Festsetzung von Kindergeld beträfen, nicht hingegen auf Verfahren der Abzweigung von Kindergeld.
14Der Senat hat die Sache mit Beschluss vom 22. Februar 2013 dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen (Bl. 20 der Gerichtsakte).
15Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO)) einverstanden erklärt.
16Entscheidungsgründe:
17Die Klage ist teilweise begründet.
181. § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ist im Verfahren der Abzweigung anwendbar.
19Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG kommt eine Erstattung von Kosten des Vorverfahrens für Einsprüche "gegen die Kindergeldfestsetzung" in Betracht. Darunter fallen Einsprüche gegen eine zu niedrige Festsetzung, aber auch gegen die Ablehnung der Festsetzung oder gegen die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung gerichtete Einsprüche (BFH-Urteil vom 23. Juli 2002 VIII R 73/00, BFH/NV 2003, 25). Letzteres ergibt sich aus einer weiten Auslegung der Vorschrift, die dadurch begründet ist, dass die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung mehr noch als eine positive Festsetzung geeignet ist, den Kindergeldberechtigten in seinen Rechten zu verletzen. Es ist kein Grund ersichtlich, dem Kindergeldberechtigten im Falle des erfolgreichen Einspruchs gegen die Aufhebung der Festsetzung den Anspruch auf Erstattung seiner notwendigen Aufwendungen zu verwehren (BFH in BFH/NV 2003, 25).
20Ob eine Kostenerstattung über den Wortlaut des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG ("gegen die Kindergeldfestsetzung ") hinaus auch bei Einspruchsverfahren in Frage kommt, die sonstige Verwaltungsakte in Kindergeldsachen zum Gegenstand haben, wie namentlich Bescheide im Abzweigungsverfahren, ist in der Literatur umstritten, wobei die herrschende Meinung dies bejaht (dagegen Dürr in Frotscher, EStG, § 77 Rz. 4; dafür Claßen, in Lademann, EStG, § 77 Rn. 2; Greite in Korn, EStG, § 77 Rz. 4; Helmke in Helmke/Bauer, A.I. § 77 EStG Rz. 5; Pust in Littmann, EStG, § 77 Rz. 4; Reuß in Bordewin/ Brandt, § 77 EStG Rz. 5; Weber-Grellet, in Schmidt, EStG, 33. Aufl. 2014, § 74 Rn. 1). Eine Entscheidung des Bundesfinanzhof zu der Frage ist bisher –soweit ersichtlich-- nicht ergangen. Der Senat hat mit Urteil vom 18. Juli 2012 die Anwendbarkeit des § 77 Abs. 1 EStG für das Abzweigungsverfahren grundsätzlich bejaht (Az. 12 K 3884/11 Kg, EFG 2012, 1945, Revisionsverfahren: Az. III R 39/12); auf die Entscheidung beruft sich der Kläger.
21Für eine Anwendung des § 77 Abs. 1 EStG auch im Streitfall spricht eine am Sinn und Zweck der Regelung orientierte weite Auslegung.
22§ 63 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ermöglichte vor der Neuregelung des Kindergeldrechtes durch das Jahressteuergesetz 1996 eine Kostenerstattung grundsätzlich für alle erfolgreichen Widerspruchsverfahren in Kindergeldsachen. Eine Abzweigung des Kindergeldes an das Kind oder andere Personen oder Stellen war nach der Regelung des § 48 Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I), welcher § 74 Abs. 1 EStG nachgebildet ist, ebenfalls vorgesehen, so dass sich die Kostenerstattung nach § 63 SGB X grundsätzlich auch auf derartige Fallkonstellationen erstreckte.
23Nach der Gesetzesbegründung (vgl. Bundestags-Drucks. 13/ 1558, 162) sollte durch § 77 EStG eine Schlechterstellung gegenüber dem bisherigen Recht vermieden werden. Anders als beim außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren nach der Abgabenordnung sollte § 77 EStG „grundsätzlich ein Erstattung von Kosten im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren“ regeln (Bundestags-Drucks. 13/ 1558, 162). Dieses Ziel gebietet eine weite Auslegung der Norm, die zu einer Anwendung im Abzweigungsverfahren führt.
24Wie im Fall des erfolgreichen Einspruchs gegen einen Aufhebungsbescheid ist auch bei dem erfolgreichen Einspruch gegen einen Abzweigungsbescheid kein Grund ersichtlich, dem Einspruchsführer eine Erstattung seiner notwendigen Aufwendungen zu verwehren (ebenso Bergkemper, in Herrmann/Heuer/Raupach, § 77 Anm. 2).
25Der Abzweigungsberechtigte, dem selbst ein Antragsrecht (§ 67 Satz 2 EStG, vgl. dazu u. a. BFH-Beschluss vom 26. Januar 2001 VI B 310/00, BFH/NV 2001, 896) und eine Rechtsbehelfsbefugnis im Festsetzungsverfahren zusteht, wird durch belastende Bescheide im Festsetzungsverfahren gleichermaßen in seinen Rechten betroffen wie durch eine Abzweigung des Kindergeldes an eine andere Person oder Stelle.
26Dem kann nicht entgegen gehalten werden, dass ein Abzweigungsberechtigter eher für ein Einspruchsverfahren im Festsetzungsverfahren einer rechtskundigen Beratung bedarf als in Abzweigungsfällen. Die im Abzweigungsverfahren geltenden Rechtsgrundsätze im allgemeinen wie die eine Abzweigung von Kindergeld für behinderte Kinder an den Grundsicherungsträger betreffenden Rechtsgrundsätze im besonderen sind einem rechtsunkundigen Laien regelmäßig nicht geläufig und müssen dies auch nicht sein, so dass – abgesehen von den das Einspruchsverfahren ggf. betreffenden formalen Rechtsfragen –die Hinzuziehung eines rechtskundigen Bevollmächtigten häufig geboten erscheint.
27Einer extensiven Auslegung steht auch der Ausnahmecharakter der Regelung des § 77 EStG nicht entgegen.
28Das Kindergeldrecht hat aufgrund seiner Doppelfunktion als Steuervergütung einerseits (§ 31 Satz 3 EStG) und als Sozialleistung (§ 31 Satz 2 EStG) andererseits eine Sonderstellung im EStG. Eine Sonderstellung nimmt das Kindergeldrecht auch im Bereich der Kostenerstattung ein. Dies betont die Gesetzesbegründung zu § 77 EStG ausdrücklich, wenn dort der Nichterstattung von Kosten der Rechtsverfolgung bei Rechtsbehelfsverfahren nach der AO „im allgemeinen“ eine grundsätzliche Kostenerstattung im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren in Kindergeldsachen nach § 77 EStG gegenübergestellt wird.
292. Die Kosten des Klägers sind nur zur Hälfte erstattungsfähig. Der Einspruch des Klägers war nur zu 50 v. H. erfolgreich. Der Hinweis im Aufhebungsbescheid vom 1. Oktober 2012, dass dem Einspruch in vollem Umfang entsprochen worden sei, war unzutreffend.
30Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG hat die Familienkasse die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen nur zu erstatten, „soweit der Einspruch“ erfolgreich ist, d. h. soweit keine Einspruchsentscheidung ergehen muss (vgl. § 367 Abs. 2 Satz 3 AO).
31Im Umfang der mit Zweitbescheid vom 1. Oktober 2012 erfolgten Abzweigung an die Stadt H nach Aufhebung des Erstbescheids war der Einspruch nicht erfolgreich; insoweit hätte es einer Einspruchsentscheidung bedurft.
32Nach § 365 Abs. 3 Satz 1 AO wird ein den angefochtenen Verwaltungsakt ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens. Gegen den Änderungs- oder Ersetzungsbescheid kann nicht erneut Einspruch eingelegt werden (BFH BStBl. II 2001, 747 m. w. N.).
33Die Beklagte hat den Abzweigungsbescheid vom 24. Februar 2012 (Abzweigung des vollen Kindergeldbetrags) mit Bescheid vom 1. Oktober 2012 aufgehoben und zugleich einen neuen, den selben Zeitraum betreffenden Abzweigungsbescheid erlassen, mit dem das Kindergeld zur Hälfte an den Grundsicherungsträger abgezweigt wurde. Durch die Aufhebung des Erstbescheids und den Erlass des zweiten Abzweigungsbescheids erfolgte eine Ersetzung des einspruchsbefangenen Erstbescheids i. S. v. § 365 Abs. 3 Satz 1 AO, so dass der zweite Abzweigungsbescheid zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens wurde.
34Der Streitfall ist insoweit mit Fällen vergleichbar, in denen das Finanzamt einen Haftungsbescheid zurücknimmt und einen inhaltlich geänderten Haftungsbescheid erlässt. In derartigen Fällen geht die Rechtsprechung von einer „Ersetzung“ i. S. v. § 68 Satz 1 FGO bzw. § 365 Abs. 3 Satz 1 AO aus (vgl. u. a. BFH-Urteil vom 16. Dezember 2008 I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl. II 2009, 539).
35Aufgrund des Verweises im Aufhebungsbescheid auf den zweiten Abzweigungsbescheid war für den Kläger auch erkennbar, dass bei der Frage des Einspruchserfolges die Regelungsgehalte beider Bescheide vom 1. Oktober 2012 nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern dass eine Gesamtbetrachtung anzustellen ist.
363. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten oder Beistandes, der nach den Vorschriften des Steuerberatungsgesetzes zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen befugt ist, war im Streitfall notwendig.
37Das ist aus der Sicht eines verständigen Bürgers vom Wissens- und Erkenntnisstand des Rechtsbehelfsführers zu beurteilen (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 25). Bei der Entscheidung hierüber sind die zu § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO entwickelten Kriterien entsprechend heranzuziehen (vgl. Urteil des FG München vom 25. Juli 2007 4 K 29/04, EFG 2007, 1704). Regelmäßig sind dabei keine allzu strengen Maßstäbe anzulegen.
38Da die Grundsätze, wann eine (vollständige) Abzweigung des Kindergeldes an den Grundsicherungsträger wegen zu berücksichtigender eigener Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten nicht in Betracht kommt, dem rechtlichen Laien nicht bekannt sind, ist die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten als erforderlich anzusehen.
394. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 FGO.
405. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.
416. Die Revision war im Hinblick auf den in der Literatur strittigen Anwendungsbereich des § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Fortbildung des Rechts zuzulassen.