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Der Aufhebungsbescheid vom 14.8.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 30.10.2012 wird im Hinblick auf den Zeitraum Januar 2012 aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten darüber, ob für den Zeitraum Januar 2012 die Einkünfte des Ehegatten eines verheirateten Kindes dem Kindergeldanspruch entgegenstehen.
3Der Kläger ist Vater der am xx.yy.1988 geborenen Tochter B . Diese machte im Jahr 2009 Abitur und bewarb sich danach zunächst erfolglos um einen Studienplatz.
4Seit Januar 2010 ist B mit M verheiratet und brachte im Februar 2010 den gemeinsamen Sohn O zur Welt. Seit dem Sommersemester 2010 ist sie an der Universität T als Studentin für das Lehramt (Mathematik und Sozialwissenschaften) eingeschrieben.
5M bezog Arbeitslohn aus einer Beschäftigung in einem Supermarkt. Dort arbeitete B ab Juli 2011 ebenfalls als geringfügig Beschäftigte und bezog spätestens ab Februar 2012 Leistungen nach dem BAföG.
6Die Familienkasse ... setzte gegenüber dem Kläger Kindergeld für B ab April 2010 fest und zahlte es im Wege der Abzweigung antragsgemäß nach § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) an die Tochter aus.
7Für den Zeitraum Januar 2011 bis einschließlich Januar 2012 hob die Familienkasse ... die Kindergeldfestsetzung für B gemäß § 70 Abs. 2 EStG auf, da sich das Einkommen des Ehegatten erhöht habe und damit auch der bei dem Kind vom Ehegatten anzurechnende Unterhaltsbeitrag.
8Mit seinem hiergegen eingelegten Einspruch trug der Kläger vor, dass sein Schwiegersohn ab dem 31.8.2011 Krankengeld bezogen habe. Im Übrigen seien zusätzliche Fahrtkosten als Werbungskosten sowie der Kindesunterhalt für O zu berücksichtigen.
9Die Familienkasse ... wies den Einspruch als unbegründet zurück, da für den gesamten Zeitraum (Januar 2011 bis Januar 2012) kein sogenannter „Mangelfall“ vorliege.
10Hiergegen hat der Kläger zunächst im Hinblick auf den gesamten Zeitraum Klage erhoben, mit der er weiterhin die Berücksichtigung zusätzlicher Aufwendungen geltend macht.
11Nach erklärter Klagerücknahme für die Monate Januar bis Dezember 2011 betrifft die Klage nur noch den Zeitraum Januar 2012. Der Kläger beantragt nunmehr sinngemäß,
12den Aufhebungsbescheid vom 14.8.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 30.10.2012 im Hinblick auf den Monat Januar 2012 aufzuheben.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie verweist im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung.
16Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
17Während des Klageverfahrens ist aufgrund einer Umstrukturierungsmaßnahme der Bundesagentur für Arbeit ein Beklagtenwechsel eingetreten.
18Entscheidungsgründe:
19Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
20Die Klage ist zulässig und begründet.
21Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für Januar 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
22Die Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 70 Abs. 2 EStG lagen nicht vor, da der Kläger insoweit einen Anspruch auf Kindergeld für seine Tochter B hat.
23Die Tochter des Klägers erfüllt die besonderen Anspruchsvoraussetzungen für volljährige Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gemäß §§ 62, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG, da sie in diesem Zeitraumstudierte und sich damit in einer Berufsausbildung in diesem Sinne befand. Die Einschränkung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der ab 2012 gültigen Fassung, wonach ein Kind nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung und eines Erststudiums nur dann berücksichtigt wird, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, greift im Streitfall nicht, da es sich um eine Erstausbildung handelt. Ein vorangegangener Besuch des Gymnasiums erfüllt zwar den Berücksichtigungstatbestand der Berufsausbildung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG, stellt aber keine „erstmalige Berufsausbildung“ im Sinne der enger auszulegenden Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG dar. Letztere liegt nur vor, wenn dem Kind alle notwendigen fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse vermittelt wurden, die es für die Ausübung des von ihm angestrebten Berufes benötigt (FG Münster, Urteil vom 30.11.2012 4 K 1569/12 Kg, EFG 2013, 298;Loschelder in Schmidt, EStG, 32. Auflage 2013, § 32 Rn. 49 und BMF-Schreiben vom 7.12.2011, BStBl. I 2011, 1243, Tz. 21).
24Weitere Voraussetzungen enthält das Gesetz nicht. Die Höhe des Arbeitslohns undetwaiger weiterer Bezüge der Tochter ist für den Kindergeldanspruch nicht maßgeblich, da die in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31.12.2011 gültigen Fassung (EStG a.F.) enthaltene Regelung zum 1.1.2012 entfallen ist (Art. 1 Nr. 17 Buchstabe a, Art. 18 Abs. 1 des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 vom 1.11.2011, BGBl. I 2011, S. 2131 ff.). Gleiches gilt für den Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihren Ehemann nach §§ 1608 Satz 1, 1360, 1360a des Bürgerlichen Gesetzbuches, der bis 2011 zu den maßgeblichen Einkünften und Bezügen gehörte (vgl. BFH-Beschluss vom 22.12.2011 III R 8/08, BStBl II 2012, 340).
25Die Einkünfte des Ehemannes der Tochter sind für den Kindergeldanspruch des Klägers ebenfalls nicht von Bedeutung. Ob ein sog. „Mangelfall“ vorliegt, ist unerheblich, weil der Umstand, dass die Tochter verheiratet ist, dem Kindergeldanspruch nicht entgegensteht. Für verheiratete Kinder sieht das Gesetz keinerlei Einschränkungen vor. Der Kindergeldanspruch setzt entgegen der früheren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs keine „typische Unterhaltssituation“ voraus. Nach diesem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal war ein Kindergeldanspruch nicht gegeben, wenn ein Kind verheiratet war und kein sog. „Mangelfall“ vorlag (BFH-Urteile vom 19.4.2007 III R 65/06, BStBl. II 2008, 756) oder das Kind einer Vollzeitbeschäftigung nachging (BFH-Urteile vom 20.7.2006 III R 78/04, BFH/NV 2006, 2248 und III R 58/05, BFH/NV 2006, 2249).
26Das Erfordernis des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der „typischen Unterhaltssituation“ hat der BFH in seiner neueren Rechtsprechung - jedenfalls für die Fälle der Vollzeitbeschäftigung - ausdrücklich aufgegeben (BFH-Urteile vom 17.6.2010 III R 34/09, BStBl II 2010, 982; vom 27.1.2011 III R 57/10, BFH/NV 2011, 1316; vom 22.12.2011 III R 64/10, BFH/NV 2012, 927; III R 65/10, BFH/NV 2012, 929; III R 67/10, BFH/NV 2012, 930; III R 93/10, BFH/NV 2012, 932 und III R 66/10, BFH/NV 2012, 1301). Zur Begründung führt der BFH aus, dass eine typische Unterhaltssituation kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Berücksichtigungstatbestände sei. Die Frage, ob ein Kind typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen seiner Eltern angewiesen ist, sei nach der gesetzlichen Regelung erst im Rahmen der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.) zu prüfen.
27Der Senat schließt sich der geänderten Rechtsprechung an. Mangels gesetzlicher Regelung kann das Fehlen einer typischen Unterhaltssituation einen nach dem Gesetz bestehenden Kindergeldanspruch nicht ausschließen. Daran hat sich mit dem Wegfall der Prüfung der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes zum 1.1.2012 nichts geändert. Nach der gesetzgeberischen Entscheidung ist Kindergeld nunmehr bei Vorliegen eines Berücksichtigungstatbestandes unabhängig von der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes zu gewähren. Dabei hat der Gesetzgeber eine Ausweitung der Begünstigungsfälle bewusst in Kauf genommen. Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs soll diese Ausweitung den Umfang der begünstigten Fälle nicht wesentlich erweitern. Der Wegfall des Grenzbetrages soll vielmehr zu einer erheblichen Entlastung vonEltern, volljährigen Kindern, Familienkassen und Finanzämtern führen (Bundestags-Drucksache 17/5125, S. 41).
28Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation, die sich durch die Höhe des eigenen Einkommens des Kindes ausdrückt, ist bereits nicht mehr gesetzliche Voraussetzung. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung liefe das Erfordernis eines ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals „typische Unterhaltssituation“ zuwider. Hätte der Gesetzgeber den Kindergeldanspruch für verheiratete Kinder ausschließen wollen, hätte ereinen entsprechenden Ausschlusstatbestand eingeführt (so bereits FG Münster, Urteil vom 30.11.2012 4 K 1569/12 Kg, EFG 2013, 298 und FG Köln, Urteil vom 16.7.2013 9 K 935/13, abrufbar über Juris).
29Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
30Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage der Kindergeldberechtigung für verheiratete Kinder nach Wegfall des Grenzbetrags zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO). Zudem widerspricht die Entscheidung einer bundesweit geltenden Verwaltungsanweisung (DA 31.2 FamEStG 2013).