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Die Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 07.04.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.09.2010 verpflichtet, der Klägerin für die Monate Mai bis September 2010 Kindergeld für ihre in Polen lebende Tochter T..... zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Leistung einer Sicherheit in Höhe des Kostener-stattungsanspruchs der Klägerin abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
G r ü n d e:
2I.
3Zu entscheiden ist, ob die Beklagte zu Recht die Kindergeldfestsetzung für die Zeit ab Mai 2010 abgelehnt hat.
4Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und lebte bis Dezember 2009 mit ihrer am 30.12.1999 geborenen Tochter T....., deren leiblicher Vater verstorben ist, in Polen. Dort bezog sie für T..... Familienleistungen. Im Dezember 2009 heiratete die Klägerin einen deutschen Staatsangehörigen und zog nach Deutschland. T..... lebt seitdem bei ihrer Großmutter, der Mutter der Klägerin, in Polen und besucht die dortige Schule. In Deutschland geht die Klägerin keiner beruflichen Tätigkeit nach. Sie betreut ihren am 12.12.2009 geborenen Sohn und wird von ihrem jetzigen Ehemann unterhalten, wobei das monatliche Einkommen der Familie mehr als 1.500 € beträgt.
5Ausweislich einer Bescheinigung der polnischen Behörden vom 20.10.2010, auf die Bezug genommen wird, betreut die Mutter der Klägerin das Kind zwar tatsächlich, hat jedoch keinen Antrag auf Annahme von T..... an Kindes Statt gestellt. Zwischen den Beteiligten ist daher unstreitig, dass die Mutter der Klägerin keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen hat.
6Den Antrag der Klägerin, ihr Kindergeld für ihre bei der Großmutter in Polen lebende Tochter zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07.04.2010 ab.
7Am 21.04.2010 (Eingang bei der Familienkasse am 30.04.2010) übermittelte die zuständige polnische Behörde die Formulare E 001, E 401 und E 411. Aus dem E-Formular 001 geht hervor, die Klägerin habe in Polen bis zum 31.01.2010 Familienleistungen erhalten. Im Formular E 411 bestätigt die polnische Behörde, die Mutter der Klägerin habe für die Zeit vom 01.05.2004 bis "laufend" keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt und sei in der Zeit vom 27.11.2008 bis zum 21.12.2009 sowie vom 26.01.2010 bis "laufend" nicht erwerbstätig gewesen.
8Daraufhin änderte die Beklagte während des Einspruchsverfahrens den Ablehnungsbescheid vom 07.04.2010 mit Bescheid vom 07.09.2010 dahingehend, dass sie der Klägerin Kindergeld für T..... für die Monate Februar bis April 2010 gewährte. Im Übrigen wies sie den Einspruch der Klägerin mit Einspruchsentscheidung vom 08.09.2010 als unbegründet zurück.
9Mit ihrer Klage macht die Klägerin geltend, sie habe auch für die Zeit ab Mai 2010 einen Anspruch auf Gewährung des vollen inländischen Kindergeldes für ihre in Polen lebende Tochter T......
10Die Zahlung von Familienleistungen in Polen sei bereits deshalb ausgeschlossen, weil das Familieneinkommen der Klägerin und ihres Ehemannes den in Polen maßgebenden Betrag von 504 PLN überschreite.
11Bereits aus dem der Beklagten vorliegenden Formular E 411 gehe hervor, dass weder die Klägerin noch die Großmutter des Kindes Anspruch auf polnische Familienleistungen hätten.
12Die Voraussetzungen der §§ 62 Abs. 1 Nr. 1 und 63 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 32 Abs. 1 EStG seien erfüllt. § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG sei ausgeschlossen.
13Die Beklagte verkenne, dass Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (VO (EG) Nr. 883/2004) eindeutig klarstelle, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat leben, einen Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des EU-Beschäftigungsstaates habe. Dies sei im Falle der Klägerin Deutschland.
14Die Klägerin hebt des Weiteren hervor, dass für ihre Tochter als ein in der EU lebendes Kind zumindest von einem EU-Mitgliedstaat Familienleistungen zu erbringen seien. Die Konkurrenzregelungen der EU-Verordnung dürften nicht dazu führen, dass für ihre Tochter in keinem Land ein Anspruch auf Familienleistungen bestehe.
15Die Klägerin beantragt,
16Die Beklagte beantragt,
18die Klage abzuweisen,
19hilfsweise die Revision zuzulassen.
20Zur Begründung verweist sie auf die Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, die Mutter der Klägerin habe in Polen zwar keinen Anspruch auf Familienleistungen für T....., sie sei dennoch die Kindergeldberechtigte, da sie das Kind in ihren Haushalt aufgenommen habe.
21Kindergeld dürfe nach der VO (EG) Nr. 883/2004 für die Zeit ab Mai 2010 nur an den nach § 64 EStG Berechtigten geleistet werden. Dies sei die in Polen lebende Großmutter, die gegebenenfalls in Deutschland nach § 3 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) Kindergeld beantragen könne.
22Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie die Verfahrensakte Bezug genommen.
23II.
24Die Klage ist zulässig und begründet.
25Der Ablehnungsbescheid vom 07.04.2010 in Form der Einspruchsentscheidung vom 08.09.2010 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 101 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Klägerin hat bezogen auf die streitgegenständlichen Monate Mai 2010 bis September 2010 einen Anspruch auf Bewilligung von Kindergeld für ihre in Polen bei der Großmutter lebende Tochter T......
261. Vorliegend war für die Monate Mai bis September 2010 über die Ablehnung einer Kindergeldfestsetzung zu entscheiden. Entgegen der Formulierung der Beklagten im Änderungsbescheid vom 07.09.2010 ist die Kindergeldfestsetzung für die Zeit ab Mai 2010 nicht gem. § 70 Abs. 2 EStG aufgehoben worden. Für die Zeit ab Mai 2010 verblieb es – auch nach der Änderung vom 07.09.2001 – vielmehr bei der bereits am 07.04.2010 ausgesprochenen Ablehnung der Kindergeldfestsetzung. Einer Aufhebung der Kindergeldfestsetzung steht entgegen, dass für die Zeit ab Mai 2010 zuvor kein Kindergeld bewilligt wurde. Im Änderungsbescheid vom 07.09.2010 hat die Beklagte lediglich eine Neuregelung für die Monate Februar bis April 2010 getroffen. Im Übrigen verblieb es bei der Entscheidung vom 07.04.2010.
272. Die Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für die Monate Mai 2010 bis September 2010 gegenüber der Klägerin zu Unrecht abgelehnt. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Bewilligung des vollen Kindergeldes nach deutschem Recht. Sie unterfällt für die Zeit ab Mai 2010 den deutschen Rechtsvorschriften. Eine Anspruchskonkurrenz mit polnischen Familienleistungen besteht nicht.
28a) Welchen Rechtsvorschriften eine Person betreffend die Familienleistungen, zu denen gem. Art. 1 Buchst. z der VO (EG) Nr. 883/2004 auch das Kindergeld gehört, unterliegt, bestimmt sich bei grenzüberschreitenden Sachverhalten für Streitzeiträume ab Mai 2010 – wie vorliegend – nach Art. 11 ff. und Art. 91 der VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 97 der Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 (VO (EG) Nr. 987/2009).
29Die Klägerin unterfällt dem persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung, da sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaates – hier Polen – ist, Art. 2 der VO (EG) Nr. 883/2004.
30Art. 11 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004 bestimmt, dass Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates unterfallen. Nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegt die Klägerin, die ihren Wohnsitz in Deutschland hat, den deutschen Rechtsvorschriften, die ihr gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG einen Anspruch auf Kindergeld für ihr minderjähriges Kind gewähren.
31b) Der Kindergeldanspruch der Klägerin ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht deshalb ausgeschlossen, weil das Kindergeld gem. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG bzw. § 3 Abs. 2 Satz 1 BKGG vorrangig an die Mutter der Klägerin zu zahlen wäre, die das Kind in ihren Haushalt aufgenommen hat.
32Anspruchsberechtigt i.S. d. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG bzw. § 3 Abs. 2 Satz 1 BKGG können nur solche Personen sein, die selbst die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG oder des § 1 Nr. 1 bis Nr. 4 BKGG erfüllen (vgl. die zutreffenden Ausführungen des FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.03.2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323 sowie Urteile des FG München vom 27.10.2011 5 K 1075/11, StE 2012, 39 und 5 K 1145/11, Juris-Datenbank). Dies ist jedoch bei der in Polen lebenden Großmutter von T..... nicht der Fall. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter der Klägerin einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hätte, nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt würde oder nach § 1 Abs. 1 BKGG anspruchsberechtigt wäre.
33c) Ein Kindergeldanspruch der in Polen lebenden Großmutter, der geeignet wäre, den Kindergeldanspruch der Klägerin gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG auszuschließen, lässt sich nach Auffassung des erkennenden Senats auch nicht aus Art. 67 der VO (EG) Nr. 883/2004 i. V. m. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu der weitgehend wortgleichen Bestimmung des Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO (EWG) Nr. 1408/71) herleiten (vgl. die zutreffenden Ausführungen des FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.03.2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323).
34Die Mutter der Klägerin hatte nach der Aktenlage keine Berührungspunkte zur deutschen Sozialordnung. Sie unterliegt aufgrund ihres Wohnortes in Polen nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO (EG) Nr. 883/2004 vielmehr den polnischen Rechtsvorschriften. Im Vordruck E 411 bestätigte die polnische Sozialbehörde für den Zeitraum vom 26.01.2010 bis "laufend", d.h. mindestens bis zum 21.04.2010, dass die Mutter der Klägerin in Polen nicht berufstätig gewesen ist. Weiter bestätigte die polnische Behörde am 20.10.2010, dass die Mutter der Klägerin beim Familiengericht keinen Antrag auf Annahme von T..... an Kindes Statt gestellt hat. Da keine anderweitigen Anhaltspunkte für einen Wohnortwechsel der Großmutter vorliegen, geht der erkennende Senat davon aus, dass diese weiter den polnischen Rechtsvorschriften unterliegt.
35d) Der Kindergeldanspruch der Klägerin nach deutschem Recht ist ferner nicht aufgrund der Regelungen des Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 58 ff. der VO (EG) Nr. 987/2009 ausgeschlossen und tritt nicht gegenüber einem Kindergeldanspruch der Großmutter in Polen zurücktritt.
36Da die Mutter der Klägerin für die Monate Mai bis September 2010 in Polen keinen Anspruch auf Familienleistungen hat, besteht bereits keine Anspruchskonkurrenz, die jedoch Voraussetzung für die Anwendung des Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 ist.
37Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 stellt für den Fall des Zusammentreffens von An-sprüchen für dieselben Familienangehörigen für denselben Zeitraum Prioritätsregeln auf. Die Anwendung der Prioritätsregeln setzt eine Anspruchskonkurrenz voraus (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23.03.2011 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323 sowie Urteile des FG München vom 27.10.2011 5 K 1075/11, StE 2012, 39 und 5 K 1145/11, Juris-Datenbank; FG Niedersachsen Urteil vom 08.12.2011 16 K 291/11, Juris-Datenbank).
38Nach den Angaben der polnischen Behörden hat die Mutter der Klägerin keinen Antrag auf Annahme von T..... an Kindes Statt gestellt. Dies wäre jedoch erforderlich, um als tatsächlicher Betreuer des Kindes einen Anspruch auf polnische Familienleistungen zu erhalten, Art. 4 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. Art. 3 Abs. 14 des Gesetzes über polnische Familienleistungen vom 28.11.2003.
39e) Der Kindergeldanspruch ist ferner nicht nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Weder die Klägerin noch ihre Mutter haben in Polen eine Anspruch auf Gewährung polnischer Familienleistungen für T......
40Als Kindesmutter hat die Klägerin zwar grundsätzlich einen Anspruch auf Familienleistungen nach Art. 4 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über polnische Familienleistungen vom 28.11.2003. Polnischen Staatsangehörigen – wie der Klägerin – werden gem. Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 3 Familienleistungen jedoch nur dann gewährt, soweit sie im Beihilfezeitraum, in dem sie die Familienleistungen beziehen, im Gebiet der Republik Polen ihren Wohnsitz haben, es sei denn die Vorschriften über die Koordinierung der Systeme der Sozialsicherheit bestimmen anderes.
41In den streitgegenständlichen Monaten hatte die Klägerin ihren Wohnsitz in Deutschland.
42Eine Abweichung von dem in Art. 1 Abs. 3 des Gesetzes über polnische Familienleistungen niedergelegten Wohnsitzprinzip lässt sich aus der VO (EG) Nr. 883/2004 für die Klägerin nicht ableiten. Vielmehr bestimmt Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO (EG) Nr. 883/2004, dass die Klägerin aufgrund ihres Wohnsitzes den deutschen Rechtsvorschriften unterliegt.
433. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
444. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit basiert auf § 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.
455. Die Revision war gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 FGO zuzulassen, da die Frage an welchen Berechtigten Kindergeld ab Mai 2010 gem. § 64 EStG zu zahlen ist, wenn sich Ansprüche nach den Vorschriften des EStG und Ansprüche nach den Rechtsvorschriften anderer EU-Mitgliedstaaten gegenüberstehen, grundsätzliche Bedeutung hat und zur Fortbildung des Rechts sowie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtssprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert.