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Die Klage wird abgewiesen.Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten, ob die beklagte Familienkasse bei einer doppelten Bewilligung von Kindergeld zugunsten der Klägerin für ihre Tochter einen der Bewilligungsbescheide und wenn ja, welchen aufheben (3 K 1052/20) und ob sie das doppelte gezahlte Kindergeld von der Klägerin zurückverlangen (3 K 1144/19) darf.
3Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit Niederlassungserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland. Seit 2012 bezog sie für ihren Sohn A von der beklagten Familienkasse Kindergeld unter der Kindergeldnummer ...8 (künftig: …8). Nachdem sie am ....2015 ihre Tochter A1 zur Welt gebracht hatte, stellte sie auch für sie auf dem amtlichen Vordruck der Familienkasse einen Antrag auf Kindergeld und fügte die für das Kindergeld ausgestellte Geburtsurkunde ihrer Tochter bei. Das Feld „Kindergeldnummer“ im Antragsvordruck füllte die Klägerin nicht aus. Ihren Sohn erwähnte sie in dem Antrag nicht, insbesondere nicht bei der Frage: „Für folgende Kinder beziehe ich bereits Kindergeld“. Der Antragsvordruck enthält am Schluss die Versicherung, „dass ich alle Angaben (auch in den Anlagen) vollständig und wahrheitsgetreu gemacht habe.“ Er wurde von der Klägerin unterschrieben.
4Der Antrag ging am 11.8.2015 bei der Familienkasse ein. Diese erkannte nicht, dass für die Klägerin bereits eine Kindergeldnummer existierte. Sie ordnete dem Antrag die neue Kindergeldnummer ...4 (künftig: …4) zu und bat die Klägerin um Übersendung einer Kopie ihres Aufenthaltstitels, was die Klägerin am 25.9.2015 tat.
5Am 8.10.2015 erkundigte sich die Klägerin telefonisch im Servicecenter der Bundesagentur nach dem Bearbeitungsstand ihres Kindergeldantrages für ihre Tochter und gab dabei die Kindergeldnummer …8 an. Da unter dieser kein unbearbeiteter Antrag vorlag, übersandte die Familienkasse der Klägerin mit Schreiben vom 9.10.2015 einen neuen Antrag auf Kindergeld, den diese ausfüllen und wieder einreichen möge. Mit Bescheid - ebenfalls - vom 9.10.2015, aber unter der Kindergeldnummer …4, bewilligte eine andere Sachbearbeiterin der Familienkasse der Klägerin unter Bezugnahme auf den Antrag vom 11.8.2015 für ihre Tochter Kindergeld für den Zeitraum von Juli 2015 bis einschließlich Juli 2033. Es wurde fortlaufend auf das von der Klägerin angegebene Konto bei der B Bank überwiesen.
6Unter dem 30.10.2015 füllte die Klägerin für ihre Tochter A1 auch den ihr zu der Kindergeldnummer …8 übersandten Antrag auf Kindergeld noch aus. Zu der Frage, „ob sie für dieses Kind bereits Kindergeld beantragt oder erhalten“ habe (Nr. 4 der Anlage Kind) kreuzte die Klägerin „Nein“ an. Außerdem fügte die Klägerin eine von der Stadt B erteilte Haushaltsbescheinigung bei, in der beide Kinder aufgeführt sind. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Antrag (Bl. 12 bis 17 der Akte zur Kindergeldnummer …8) Bezug genommen. Er enthielt die gleiche Versicherung der Vollständigkeit und Richtigkeit der Klägerin wie der am 11.8.2015 gestellte Antrag. Auf weitere Nachfrage der Familienkasse teilte die Klägerin unter dem 15.12.2015 noch die steuerliche Identifikationsnummer ihrer Tochter mit und erklärte ferner, dass sie die von der Familienkasse erbetene Geburtsurkunde zur Beantragung von Kindergeld – was zutrifft – bereits abgegeben habe, sie sei bei ihr nicht mehr vorhanden. Stattdessen fügte sie die für die Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft ausgestellte Geburtsurkunde bei. Durch Bescheid vom 14.1.2016 unter der Kindergeldnummer …8 entsprach ein anderer Sachbearbeiter der Familienkasse auch dem (zweiten) Kindergeldantrag für die Tochter für den Zeitraum von Juli 2015 bis einschließlich Juli 2033. Das Kindergeld aufgrund dieses Bescheids wurde ebenfalls fortlaufend auf das Konto bei der B Bank ausgezahlt.
7Erst drei Jahre nach der ersten Bewilligung – durch einen maschinellen Bearbeitungshinweis vom 10.10.2018 aufgrund der steuerlichen Identifikationsnummer der Tochter – wurde die Doppelzahlung bei der Familienkasse entdeckt. Unter der Kindergeldnummer …4 stellte die Familienkasse die Kindergeldzahlung mit Wirkung ab Dezember 2018 ein und erließ gegenüber der Klägerin am 14.12.2018 einen Rückforderungsbescheid gestützt auf § 218 Abs. 2 in Verbindung mit § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO). Sie führte aus, dass der Klägerin für Juli 2015 bis November 2018 (Streitzeitraum) Kindergeld in Höhe von 7.846 € sowohl unter der hiesigen Kindergeldnummer als auch unter der Kindergeldnummer …8 überwiesen worden sei. „Eine der Zahlungen für den Streitzeitraum“ sei ohne Rechtsgrund erfolgt. Der zu viel gezahlte Betrag sei von der Klägerin zu erstatten. Sie möge den Betrag bis zum 10.1.2019 auf ein näher bezeichnetes Konto überweisen.
8Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin durch die Prozessbevollmächtigte am 3.1.2019 Einspruch ein und beantragte Akteneinsicht. Nachdem die Familienkasse einige Kopien aus beiden Akten übersandt hatte, machte die Klägerin geltend, der Rückforderungsbescheid sei rechtswidrig. Er spezifiziere nicht, welche der Zahlungen rechtsgrundlos erfolgt sein solle. Die Zahlungen seien zudem mit Rechtsgrund erfolgt und könnten nicht zurückgefordert werden. Hierzu verwies die Klägerin auf die Kindergeldbescheide vom 9.10.2015 und vom 14.1.2016.
9Unter dem 28.3.2019 erließ die Familienkasse unter der Kindergeldnummer …4 gegenüber der Klägerin folgenden Bescheid über Kindergeld: „Die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind […] wird ab dem Monat Juli 2015 gemäß § 174 Abs. 2 Abgabenordnung aufgehoben“. Zur Begründung führte sie aus, dass das Kindergeld für die Tochter im Streitzeitraum doppelt festgesetzt worden sei und die mehrfache Berücksichtigung aufgrund fehlerhafter Angaben der Klägerin bei der Antragstellung erfolgt sei. Aufgrund dieser Entscheidung(en) sei Kindergeld in Höhe von 7.846 € überzahlt worden und nach § 37 Abs. 2 AO zu erstatten. Bezüglich der Rückforderung werde auf den Bescheid vom 14.12.2018 verwiesen.
10Am 11.4.2019 wies die Familienkasse den Einspruch gegen den Rückforderungsbescheid vom 14.12.2018 als unbegründet zurück. Dieser sei rechtmäßig. Die Familienkasse erläuterte die §§ 218 und 37 AO. Für die Zahlung des Kindergeldes in doppelter Höhe habe der rechtliche Grund gefehlt. Nach den §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 66 Abs. 1 EStG habe nur Anspruch auf einmalige Zahlung des Kindergeldes pro Monat in gesetzlicher Höhe bestanden. Durch die einmalige Zahlung sei der Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis erloschen. Für eine zweite Zahlung habe es am materiellen Anspruch gefehlt. Da ein Anspruch nicht bestanden habe, sei die Kindergeldfestsetzung insoweit aufgehoben worden. Auf den Bescheid vom 28.3.2019 werde insoweit Bezug genommen. Die Erstattungsforderung sei zutreffend beziffert.
11Am 16.4.2019 legte die Klägerin gegen den Aufhebungsbescheid vom 28.3.2019 Einspruch ein. Der Bescheid sei bereits formell rechtswidrig im Hinblick auf den Zeitablauf. Zudem sei er materiell rechtswidrig, weil sie, die Klägerin, entgegen der Behauptung der Familienkasse keine fehlerhaften Angaben gemacht habe.
12Am 3.5.2019 hat die Klägerin die vorliegende Klage gegen den Bescheid vom 14.12.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.4.2019 erhoben und deren Aufhebung beantragt.
13Am 9.4.2020 wies die Familienkasse auch den Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 28.3.2019 als unbegründet zurück. Sie erläuterte den zur Begründung angeführten § 174 Abs. 2 AO. Die Doppelfestsetzung des Kindergelds sei aufgrund fehlerhafter Angaben der Antragstellung erfolgt. Hierzu bezog sich die Familienkasse auf den von ihr in der Einspruchsentscheidung dargestellten Sachverhalt, auf den Bezug genommen wird.
14Am 8.5.2020 hat die Klägerin auch Klage gegen den Aufhebungsbescheid vom 28.3.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8.4.2020 erhoben und deren Aufhebung beantragt. Dieses unter dem Aktenzeichen 3 K 1052/20 geführte Verfahren ist in der mündlichen Verhandlung mit dem Verfahren über die vorliegende Klage zu gemeinsamer Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
15Die Familienkasse hat – nach Aufforderung des Gerichts – beide Kindergeldakten übersandt. Diese sind der Prozessbevollmächtigten zur Einsichtnahme zugesendet worden.
16Die Klägerin hält den Aufhebungsbescheid für rechtswidrig. Sie, die Klägerin, habe keine fehlerhaften Angaben bei der Antragstellung gemacht. Daher könne die Festsetzung des Kindergeldes nicht aufgehoben werden. Die Voraussetzungen des § 174 Abs. 2 AO lägen nicht vor. Der Rückforderungsbescheid sei insoweit rechtswidrig, als lapidar ausgeführt werde, „Eine der Zahlungen erfolgte ohne Rechtsgrund", ohne zu spezifizieren, welche der „Zahlungen" rechtsgrundlos erfolgt sein sollten. Im Übrigen sei der angegriffene Bescheid materiell rechtswidrig. Sie, die Klägerin, sei mit Schreiben vom 9.10.2015 von der Familienkasse aufgefordert worden, einen Antrag auf Kindergeld zu stellen und das habe sie dann auch getan. Ihre Angaben seien wahrheitsgemäß gewesen. Darauf sei der Bescheid vom 16.1.2016 ergangen und die Zahlungen daher nicht ohne Rechtsgrund erfolgt, so dass eine Rückforderung ausscheide. Da die Familienkasse zwei Bescheide erlassen habe und gegen beide Einspruch eingelegt und Klage erhoben worden sei, müssten beide unabhängig voneinander geprüft werden.
17Die Klägerin beantragt, 1) den Bescheid der Beklagten vom 14.12.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.5.2019 aufzuheben, 2) den Bescheid der Beklagten vom 28.3.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8.4.2020 aufzuheben.
18Die beklagte Familienkasse beantragt, die Klage abzuweisen.
19Die Familienkasse verweist auf ihre Einspruchsentscheidungen und trägt ergänzend vor, dass in dem von der Klägerin unterschriebenen Antrag vom 30.10.2015 die Fragen, „ob sie für weitere Kinder Kindergeld erhalte“ und „ob sie für dieses Kind bereits Kindergeld beantragt“ habe, verneint worden seien, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits eine Bewilligung unter der Kindergeldnummer …4 in Gestalt des Bescheids vom 12.10.2015 erfolgt sei.
20Das Gericht hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass bei einer doppelten Festsetzung von Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 174 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 5 AO der fehlerhafte Kindergeldbescheid aufzuheben sei. Nachdem die Familienkasse der Klägerin mit Bescheid vom 9.10.2015 (Kindergeldnummer … 4) bereits Kindergeld für ihre Tochter bewilligt habe, sei die nochmalige Bewilligung durch den Bescheid vom 14.1.2016 (Kindergeldnummer … 8) fehlerhaft gewesen. Tatsächlich aufgehoben habe die Familienkasse jedoch am 28.3.2019 den ersten Kindergeldbescheid vom 9.10.2015 und habe auch dieses Kindergeld (Kindergeldnummer 4) am 14.12.2018 zurückgefordert.
21Die Familienkasse hat ausgeführt, es könne nicht mehr festgestellt werden, warum der Festsetzungsbescheid vom 9.10.2015 (Kindergeldnummer …4) und nicht der Festsetzungsbescheid vom 14.1.2016 (Kindergeldnummer …8) aufgehoben wurde. Sie mutmaße, dass aus verwaltungsinternen Gründen die Aufhebung des (ersten) Festsetzungsbescheids vom 9.10.2015 erfolgt sei, zumal in der Akte zur Kindergeldnummer …4 lediglich ein Kind und unter der anderen Kindergeldnummer …8 beide Kinder geführt würden.
22Das Gericht hat ferner darauf aufmerksam gemacht, dass im Streitfall in Betracht komme, den Aufhebungsbescheid vom 28.3.2019 und den Rückforderungsbescheid vom 14.12.2018 nach § 128 Abs. 1 AO in der Weise umzudeuten, dass sich die Aufhebung auf den Kindergeldbescheid vom 14.1.2016 und die Rückforderung auf das auf dessen Grundlage (Kindergeldnummer 8) gezahlte Kindergeld beziehe.
23Die Klägerin wurde wegen der Umdeutung des Aufhebungsbescheids vom Beklagten mit Schreiben vom 10.2.2022 außergerichtlich und wegen der Umdeutung des Rückforderungsbescheids durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung angehört. Die Klägerin hat der Familienkasse außergerichtlich mit Schreiben vom 3.3.2022 geantwortet, dass es einer Umdeutung des Aufhebungsbescheids nicht bedürfe, da bereits ein Rückforderungsbescheid erlassen worden sei. Zu dessen Umdeutung hat sich die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht geäußert.
24Entscheidungsgründe
25Die zulässige Klage ist unbegründet.
26I. Der angefochtene Bescheid vom 28.3.2019 über die Aufhebung des Kindergelds Juli 2015 bis November 2018 für die Tochter der Klägerin ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
27Gesetzliche Grundlage für den Aufhebungsbescheid ist § 174 Abs. 2 Satz 1 AO in Verbindung mit § 155 Abs. 5 AO. Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind im vorliegenden Fall erfüllt.
281. § 174 Abs. 2 Satz 1 AO gilt in Verbindung mit seinem Abs. 1 Satz 1 für Steuerbescheide bzw. nach der Überschrift der Bestimmung für (widerstreitende) Steuerfestsetzungen. Die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften sind nach § 155 Abs. 5 AO auf die Festsetzung einer Steuervergütung sinngemäß anzuwenden. Das monatlich gezahlte Kindergeld ist eine Einkommensteuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG).
292. Ist ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines Steuerpflichtigen berücksichtigt worden, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen, so ist der fehlerhafte Steuerbescheid nach § 174 Abs. 1 Satz 1 AO auf Antrag aufzuheben. Absatz 1 gilt nach § 174 Abs. 2 Satz 1 AO sinngemäß, wenn ein bestimmter Sachverhalt in unvereinbarer Weise mehrfach zugunsten eines Berechtigten einer Steuervergütung berücksichtigt worden ist; ein Antrag (auf Aufhebung des fehlerhaften Bescheids) ist nicht erforderlich.
30§ 174 Abs. 2 Satz 1 AO greift im Streitfall ein.
31a) Die Tochter der Klägerin ist im Streitzeitraum in mehreren Kindergeldbescheiden gemäß § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG und damit mehrfach zugunsten der Klägerin berücksichtigt worden, nämlich sowohl mit Bescheid vom 9.10.2015 unter der Kindergeldnummer …4 als auch mit Bescheid vom 14.1.2016 unter der Kindergeldnummer …8.
32b) Die nochmalige Berücksichtigung der Tochter durch Bescheid vom 14.1.2016 ist unvereinbar mit ihrer vorherigen Berücksichtigung durch Bescheid vom 9.10.2015. Nach den §§ 62 ff. EStG besteht für ein Kind nur ein Anspruch auf Zahlung der in § 66 Abs. 1 EStG bestimmten Beträge. Das Kindergeld darf für ein und dasselbe Kind nicht doppelt gewährt werden (BFH, Urteile vom 1.7.2003 VIII R 94/01, BFH/NV 2004, 25 und vom 11.12.2013 XI R 42/11, BStBl II 2014, 840, Rn. 31). Das bestreitet auch die Klägerin nicht.
33c) Der fehlerhafte Steuerbescheid darf nach § 174 Abs. 2 Satz 2 AO jedoch nur dann geändert werden, wenn die Berücksichtigung des Sachverhalts auf einen Antrag oder eine Erklärung des Berechtigten der Steuervergütung zurückzuführen ist. Auch dieses Erfordernis ist gewahrt. Die Bewilligung des Kindergelds zu Kindergeldnummer …8 durch den Bescheid vom 14.1.2016 beruht auf dem Antrag der Klägerin vom 30.11.2015. Sie hat damit – entgegen ihrer Auffassung – die Mehrfachberücksichtigung selbst verursacht. Nachdem die Familienkasse unter der Kindergeldnummer …4 das am 11.8.2015 beantragte Kindergeld durch den Bescheid vom 9.10.2015 bewilligt hatte, war für die Klägerin offensichtlich, dass es keines weiteren Kindergeldantrags mehr bedurfte. Die Aufforderung der Familienkasse – ebenfalls vom 9.10.2015 – unter der Kindergeldnummer …8, die Klägerin möge den neuen Antrag auf Kindergeld ausfüllen und wieder einreichen, beruhte alleine auf dem Anruf der Klägerin vom 8.10.2015, in dem sie nicht erwähnt hatte, dass inzwischen zwei Kindergeldnummern vorhanden waren. Die Klägerin hätte die Aufforderung vom 9.10.2015 ohne Weiteres als erledigt betrachten können und müssen, da ihr mit Bescheid vom 9.10.2015 inzwischen das Kindergeld für die Tochter auf ihren ersten Antrag vom 11.08.2015 gewährt und ausgezahlt worden war.
34Mit ihrem Vortrag in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin geltend gemacht, dass es bei der Familienkasse verschiedene Unstimmigkeiten in der Bearbeitung der Kindergeldanträge gegeben habe. Es kann auf sich beruhen, ob die Familienkasse im Streitfall Anlass hatte, den unter der Versicherung der Vollständigkeit und Richtigkeit von der Klägerin unterschriebenen Anträgen zu misstrauen. Denn darauf kommt es für die Aufhebung eines Steuerbescheids nach § 174 Abs. 2 Satz 2 AO nicht an. Entscheidend bleibt nach § 174 Abs. 2 Satz 2 AO, dass der fehlerhafte Steuerbescheid – jedenfalls auch – auf einen Antrag des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist.
35d) Aufzuheben ist nach § 174 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 AO und § 155 Abs. 5 AO der „fehlerhafte“ Steuerbescheid. § 174 Abs. 1 und 2 AO gestatten keine generelle Bescheidkorrektur, sondern ermöglichen nur die Beseitigung des Fehlers, der sich aus der Kollision bzw. dem Widerstreit der unzulässigen Mehrfachberücksichtigung des Sachverhalts ergibt (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 174 AO Rn. 18 [Stand Oktober 2020]). Das berechtigte die Familienkasse im Streitfall zur Aufhebung des (zweiten) Kindergeldbescheids vom 14.1.2016 unter der Kindergeldnummer …8.
36Tatsachlich aufgehoben hat die Familienkasse indessen am 28.3.2019 den rechtmäßigen (ersten) Kindergeldbescheid vom 9.10.2015 unter der Kindergeldnummer …4. Zwar wird das Datum dieses Bescheids im Aufhebungsbescheid nicht ausdrücklich genannt, es heißt lediglich „Die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind […] wird ab dem Monat Juli 2015 aufgehoben.“ Damit kann nur der Bescheid vom 9.10.2015 gemeint sein, da dieser die einzige Festsetzung des Kindergelds unter der Kindergeldnummer …4 enthält, die die Familienkasse aufheben konnte. Der Aufhebungsbescheid vom 28.3.2019 ist jedoch gemäß § 128 Abs. 1 AO durch das Gericht in der Weise umzudeuten, dass durch ihn gemäß § 174 Abs. 2 Satz 1 AO der Kindergeldbescheid vom 14.1.2016 zur Kindergeldnummer …8 aufgehoben wird.
37aa) Die Voraussetzungen von § 128 Abs. 1 AO liegen vor.
38In seiner jetzigen Form ist der Verwaltungsakt im Sinne des § 128 Abs. 1 AO fehlerhaft, weil die Aufhebung sich – wie ausgeführt – auf den falschen Kindergeldbescheid bezieht. Der Verwaltungsakt ist auf das gleiche Ziel gerichtet, nämlich die Aufhebung des fehlerhaften Kindergeldbescheids. Er hätte von der Familienkasse als erlassenden Finanzbehörde (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO) in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig erlassen werden können. Die Voraussetzungen für den Erlass des Aufhebungsbescheids bezogen auf den Kindergeldbescheid vom 14.1.2016 sind nach den vorstehenden Ausführungen gemäß § 174 Abs. 2 Satz 1 AO erfüllt.
39bb) Unter den Voraussetzungen § 128 Abs. 1 AO sind auch die Finanzgerichte zur Umdeutung eines fehlerhaften Verwaltungsakts befugt (BFH, Beschluss vom 24.4.1985 II B 53/84, BFH/NV 1986, 11 und vom 25.1.1994 VIII R 45/92, BStBl II 1994, 603, Urteil vom 22.8.2007 II R 44/05, BFH/NV 2007, 2379; Vorbeck in König, AO, 4. Auflage 2021, § 128 Rn. 9). Wenn der Verwaltungsakt in der umgedeuteten Form – wie hier – rechtmäßig ist, kommt seine Aufhebung durch das Gericht gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht in Betracht.
40cc) § 128 Abs. 2 Satz 1 AO steht der Umdeutung nicht entgegen. Eine Aufhebung des Kindergeldbescheids vom 14.1.2016 widerspräche nicht der erkennbaren Absicht der Familienkasse, und seine Rechtsfolgen wären für die Klägerin nicht ungünstiger als die des fehlerhaften Aufhebungsbescheids.
41dd) Auch § 128 Abs. 2 Satz 2 AO hindert die Umdeutung nicht. Danach ist eine Umdeutung ferner unzulässig, wenn der fehlerhafte Verwaltungsakt nach § 130 AO nicht zurückgenommen werden dürfte. Die Regelung soll verhindern, dass die Rechtsfolgen eines bestandsgeschützten begünstigenden Verwaltungsaktes durch die Umdeutung unterlaufen werden (Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Loseblattausgabe, § 128 AO Rn. 44 [Stand November 2021]). § 128 Abs. 2 Satz 2 AO ist auf Steuerbescheide bzw. wie hier auf Steuervergütungsbescheide schon tatbestandlich nicht anwendbar, weil die Vorschrift mit einer Rücknahme eines Verwaltungsakts an die Regelung in § 130 AO anknüpft, die für Steuerbescheide nicht anwendbar ist (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe d AO). Wenn man § 128 Abs. 2 Satz 2 AO auf Steuerbescheide analog anwenden wollte, müsste die Norm sinngemäß lauten, dass eine Umdeutung ferner unzulässig ist, wenn der fehlerhafte Steuerbescheid nach den §§ 172 ff. AO oder nach anderen Korrekturvorschriften der AO oder der sonstigen Steuergesetze nicht aufgehoben oder geändert werden dürfte (Szymczak in AO, eKommentar, § 128 Rn. 5.2 [Stand November 2019]). Da der fehlerhafte Steuerbescheid hier nach § 174 Abs. 2 AO aufgehoben werden darf, ist eine Umdeutung nicht nach § 128 Abs. 2 Satz 2 AO unzulässig.
42dd) Die Einschränkung in § 128 Abs. 3 AO ist im Streitfall nicht einschlägig. Danach kann eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden. Die Aufhebung des Kindergeldbescheids nach § 174 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Abs. 5 AO ist jedoch keine Ermessensentscheidung, sondern eine gesetzliche gebundene Entscheidung, wie die Formulierung „ist […] aufzuheben“ zeigt.
43ee) Nach § 128 Abs. 4 AO ist § 91 AO entsprechend anzuwenden. Das bedeutet, dass demjenigen, in dessen Rechte der Verwaltung eingreift, Gelegenheit gegeben werden soll, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 91 Abs. 1 Satz 1 AO). Ist die Anhörung nicht bereits im Verwaltungsverfahren erfolgt, kann sie im Klageverfahren gemäß § 126 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 AO nachgeholt werden. Im Streitfall wurde die Klägerin wegen der Umdeutung des Aufhebungsbescheids bereits von der Familienkasse mit Schreiben vom 10.2.2022 angehört.
44II. Der angefochtene Bescheid vom 14.12.2018 über die Rückforderung des Kindergelds Juli 2015 bis November 2018 für die Tochter der Klägerin ist ebenfalls nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Gesetzliche Grundlage für den Rückforderungsbescheid ist § 218 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 37 Abs. 2 AO. Auch die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind im vorliegenden Fall erfüllt.
451. Wenn eine Steuervergütung ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist, so hat nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrags. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
46a) Das monatlich gezahlte Kindergeld ist eine Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG).
47b) Das Kindergeld für die Tochter der Klägerin im Streitzeitraum ist doppelt gezahlt worden, nämlich sowohl aufgrund des Bescheids vom 9.10.2015 unter der Kindergeldnummer …4 als auch aufgrund des Bescheids vom 14.1.2016 unter der Kindergeldnummer …8. Im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO ist die Familienkasse diejenige, auf deren Rechnung die Zahlungen bewirkt worden sind, und die an die Klägerin als den Leistungsempfänger den Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrags hat.
48c) Im Ergebnis ist das Kindergeld unter der Kindergeldnummer …8 im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 1 AO ohne rechtlichen Grund gezahlt worden.
49Das Gericht braucht auf den Theorienstreit für die Bestimmung des rechtlichen Grunds (vgl. dazu Koenig in Koenig, AO, 4. Auflage 2021, § 37 Rn. 49 ff.; Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 37 AO Rn. 27, jeweils m.w.N.) nicht einzugehen. Für die Zahlung des Kindergelds unter der Kindergeldnummer …8 bestand weder nach materiellem Recht noch – jedenfalls in dem hier maßgebenden Zeitpunkt – nach der formellen Bescheidlage ein rechtlicher Grund.
50aa) Materiell ist der Anspruch auf Kindergeld in den §§ 62 ff. EStG geregelt. Danach besteht für ein Kind ein Anspruch auf Zahlung der in § 66 Abs. 1 EStG bestimmten Beträge. Das Kindergeld darf für ein und dasselbe Kind nicht doppelt gewährt werden (BFH, Urteile vom 1.7.2003 VIII R 94/01, BFH/NV 2004, 25 und vom 11.12.2013 XI R 42/11, BStBl II 2014, 840, Rn. 31). Das bestreitet auch die Klägerin nicht.
51bb) Formell bedarf es nach § 70 Abs. 1 Satz 1 EStG einer Festsetzung des Kindergelds durch einen Bescheid der Familienkasse. Der Bescheid vom 9.10.2015 zu Kindergeldnummer …4 ist ein solcher Bescheid. Aus der Festsetzung des Kindergelds ergibt sich ein Anspruch auf Auszahlung (BFH, Urteil vom 19.2.2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704). Durch die unstreitig erfolgte Auszahlung des Kindergelds für den Streitzeitraum unter der Kindergeldnummer …4 sind diese Ansprüche auf Kindergeld erloschen (§ 47 AO). Aus dem Bescheid vom 14.1.2016 zu Kindergeldnummer …8 kann die Klägerin keine Rechte mehr herleiten. Denn dieser Bescheid ist am 28.3.2019 von der Familienkasse rückwirkend aufgehoben worden. Dadurch ist der rechtliche Grund für die unter dieser Kindergeldnummer geleisteten Zahlungen im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 2 AO später weggefallen. Wegen weiteren Einzelheiten wird auf die Ausführungen unter I Bezug genommen.
52Dass der Aufhebungsbescheid erst nach dem angefochtenen Rückforderungsbescheid vom 14.12.2018 ergangen ist, spielt für die Rechtmäßigkeit des Rückforderungsbescheids keine Rolle. Denn Gegenstand der hiesigen Anfechtungsklage ist der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf vom 11.4.2019 gefunden hat (§ 44 Abs. 2 FGO). Verfahrensrechtlich bilden ursprünglicher Verwaltungsakt und Einspruchsentscheidung einen Rechtsverbund bzw. eine Verfahrenseinheit (vgl. BFH, Urteil vom 18.9.2014 VI R 80/13, BStBl II 2015, 115). Im Zeitpunkt der Entscheidung über den Einspruch gegen den Rückforderungsbescheid – am 11.4.2019 – war der Aufhebungsbescheid bekanntgegeben und damit wirksam (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Familienkasse hat sich in der Einspruchsentscheidung zur Frage des rechtlichen Grundes auch ausdrücklich auf den Aufhebungsbescheid vom 28.3.2019 bezogen.
53d) Die Familienkasse hat die Höhe des zurückgeforderten Kindergelds richtig berechnet.Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 EStG betrug das Kindergeld für das zweite Kind monatlich im Jahr 2015 188 €, im Jahr 2016 190 €, im Jahr 2017 192 € und im Jahr 2018 194 € (Art. 1 Nr. 10 und Art. 2 Nr. 8 des Gesetzes vom 16.7.2015, BGBl I S. 1202; Art. 8 Nr. 15 und Art. 9 Nr. 8 des Gesetzes vom 20.12.2016, BGBl I S. 3000). Gezahlt wurden für die sechs Monate des Jahres 2015 1.128 €, für die zwölf Monate der Jahre 2016 2.280 € und 2017 2.304 € und für die elf Monate des Jahres 2018 2.134 €. In der Summe ergibt dies den zurückgeforderten Gesamtbetrag von 7.846 €.
542. Über eine Streitigkeit, die – wie im Streitfall – einen Erstattungsanspruch (§ 37 Abs. 2 AO) betrifft, entscheidet die Finanzbehörde gemäß § 218 Abs. 2 Satz 1 AO ebenso wie nach § 218 Abs. 2 Satz 1 AO durch Abrechnungsbescheid. Familienkassen – wie die hier beklagte Familienkasse – sind Finanzbehörden (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO).
55a) Dass die Familienkasse ihren Bescheid vom 14.12.2018 als „Rückforderungsbescheid“ und nicht als Abrechnungsbescheid im Sinne des § 218 Abs. 2 Satz 1 AO bezeichnet hat, ist für seine Rechtmäßigkeit nicht von Bedeutung (vgl. BFH, Urteil vom 19.2.2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704).
56b) Das Gleiche gilt für den Umstand, dass der Bescheid vom 14.12.2018 zur Kindergeldnummer …4 ergangen ist, obwohl er richtigerweise unter der Kindergeldnummer …8 hätte ergehen müssen. Insoweit ist der Bescheid vom 14.12.2018 ebenso gemäß § 128 Abs. 1 AO umzudeuten wie der zur Kindergeldnummer …4 ergangene Aufhebungsbescheid vom 28.3.2019. Denn er ist auf das gleiche Ziel gerichtet, hätte von der erlassenden Finanzbehörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig erlassen werden können und die Voraussetzungen für dessen Erlass sind erfüllt. Die diesbezügliche Anhörung der Klägerin hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung nachgeholt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird im Übrigen zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen zum Aufhebungsbescheid Bezug genommen. Mit der Umdeutung wird zugleich der Einwand der Klägerin gegenstandslos, der Rückforderungsbescheid spezifiziere nicht, welche der Zahlungen ohne Rechtsgrund gezahlt worden seien. Es handelt sich um das unter der Kindergeldnummer …8 der Klägerin im Streitzeitraum gezahlte Kindergeld.
57III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.