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Unter Änderung des Freistellungsbescheids vom 17. November 2016 und Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 12. September 2019 wird der Beklagte verpflichtet, einen Freistellungsbescheid bezüglich weiterer Abzugsteuern i.H.v. ... € - und damit in Höhe von insgesamt ...€ - zu erlassen und den entsprechenden Betrag zu erstatten.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Der Streitwert wird auf ...€ festgesetzt.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin die begehrte Kapitalertragsteuer-Erstattung im Zusammenhang mit Gewinnausschüttungen, die sie während der gesellschaftsrechtlichen Abwicklung ihrer Tochtergesellschaft erhalten hat, auf der Grundlage von § 50d Abs. 1 EStG i.V.m. § 43b Abs. 1 EStG zusteht.
3Die Klägerin ist eine juristische Person in der Rechtsform einer Sociéte Anonyme (S.A., vergleichbar einer deutschen Aktiengesellschaft) mit Sitz in Luxemburg. Sie war alleinige Gesellschafterin der in Deutschland ansässigen E GmbH. Diese wurde zum ... 2010 aufgelöst (vgl. Gesellschaftsbeschluss vom ... 2010) und befand sich anschließend in Liquidation. Am ... 2015 wurde sie im Handelsregister gelöscht.
4Mit ihrem am 8. Dezember 2015 beim Beklagten eingegangenen Antrag begehrte die Klägerin die Erstattung deutscher Abzugsteuer auf Kapitalerträge i.H.v. ... € (KapESt i.H.v. ... € sowie SolZ i.H.v. ... €) aus zwei Gewinnausschüttungen (Ausschüttungsbeschlüsse vom ... 2013 über ... € und vom ... 2013 über ... €, Auszahlungen am .... sowie am ... 2013). Der Beklagte lehnte den Antrag zunächst mit Bescheid vom 22. September 2016 im Hinblick auf eine erteilte Freistellungsbescheinigung (vom 18. Oktober 2013) ab, erließ jedoch unter dem 17. November 2016 einen Änderungsbescheid, in dem er eine Erstattung i.H.v. insgesamt ... € (KapESt i.H.v. ... € sowie SolZ i.H.v. ... €) gewährte. Hintergrund war, dass das Finanzamt P als zuständiges Betriebstätten-Finanzamt die Freistellungsbescheinigung für nicht anwendbar erachtet hatte, da es sich nach seiner Auffassung bei den Ausschüttungen um Einkünfte nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG und nicht um freigestellte Einkünfte nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG gehandelt habe. Eine Vollabhilfe über den Reststeuersatz von 10 % hinaus versagte der Beklagte im Hinblick darauf, dass die einschlägigen DBA-Regelungen dem Quellenstaat ein Besteuerungsrecht i.H.v. 10 % beließen.
5Den hiergegen eingelegten Einspruch wies der Beklagte mit Entscheidung vom 12. September 2019 als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen von § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG, auf den sich die Klägerin als Anspruchsgrundlage berufe, seien nicht gegeben. Diese Norm setze Einkünfte nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG voraus, während vorliegend von solchen nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG auszugehen sei. Selbst wenn § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG bejaht werden könnte, folge aus § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG die Nichtanwendbarkeit von § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG. Denn zweifellos handele es sich um Ausschüttungen anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft, für die Satz 4 die Anwendbarkeit von Satz 1 ausschließe. Diese Regelungen stünden auch im Einklang mit der Mutter-Tochter-Richtlinie der EU (Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom 30. November 2011 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten, ABl EU L 345, S. 8, nachfolgend MTR).
6Die Entlastung sei zutreffend auf Grundlage des mit Luxemburg bestehenden DBA bis zu einem Reststeuersatz von 10 % erfolgt, Art. 13 Abs. 4 DBA-Luxemburg.
7Mit der hiergegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin weiterhin ihr Begehren einer vollständigen Erstattung der unstreitig einbehaltenen und abgeführten Kapitalertragsteuer.
8Nach ihrer Auffassung sei § 43b EStG i.V.m. § 50d Abs. 1 EStG in Bezug auf die MTR teleologisch ergänzend auszulegen, so dass bei Bezügen im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Kapitalertragsteuererstattung erfolgen könne.
9Der sachliche Anwendungsbereich von Art. 1 MTR erfasse Gewinnausschüttungen, ohne diese spezifisch zu definieren. Nach der Begründung des Rates der Europäischen Union ziele die MTR darauf ab, „Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen“ von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften zu befreien. Art. 5 Abs. 1 MTR verdeutliche, dass darunter sämtliche Arten von Gewinnausschüttungen und damit auch Ausschüttungen im Rahmen einer Liquidation zu verstehen seien. Eine Einschränkung auf Ausschüttungen, wie auf nationaler Ebene nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 43b EStG, solle gemäß MTR ausdrücklich nicht stattfinden.
10Zudem seien sich die EU-Mitgliedstaaten einig, dass die Definition der Gewinnausschüttung nach der MTR übereinstimmend mit derjenigen in Art. 10 Abs. 3 OECD-Musterabkommen (OECD-MA) auszulegen sei. Liquidationsfälle seien nach Art. 5 Abs. 1 MTR demnach gerade nicht auszuschließen.
11Schließlich liege ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EGV und gegen die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 56 EGV insoweit vor, als dass die Besteuerung der Gewinnausschüttung im vorliegenden Fall zu einer höheren Steuerbelastung führe, als die Ausschüttung zwischen inländischen unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaften nach § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG i.V.m. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG und § 8b KStG. Die damit verbundene Definitivbelastung führe zu einer europarechtswidrigen Diskriminierung ausländischer Kapitalgesellschaften. Insoweit sei auf das Urteil des EuGH vom 20. Oktober 2011, C-284/09, zu verweisen.
12Zumindest für den vorliegenden Fall könne es indes letztlich dahinstehen, ob bei Bezügen im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Erstattung gemäß § 43b Abs. 1 EStG erfolgen könne. Denn nach den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2021 sowie infolge der anschließend beigezogenen Akten des Finanzamts P und dabei insbesondere der Bilanzakten bzw. Jahresabschlüsse der E GmbH gingen, so der ergänzende Vortrag der Klägerin, nunmehr beide Beteiligte übereinstimmend davon, dass es sich bei den streitigen Auskehrungen nicht um solche gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG handele, sondern sie ausschließlich unter § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu subsumieren seien. So stammten diese, was sich aus den Unterlagen offenkundig ergebe, aus vor der Liquidation erzielten und bei der E GmbH versteuerten Gewinnen.
13Daher gelange § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG nicht zur Anwendung. Denn nur wenn die in Rede stehenden Ausschüttungen unter § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG fielen, bestünde gemäß § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG eine Ausnahme von der Begünstigung gemäß § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG. Die Formulierung in § 43b Abs. 1 Satz 4 („[...] Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, die anlässlich der Liquidation [...] zufließen.") sei ähnlich der Formulierung in § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG („Bezüge, die nach der Auflösung einer Körperschaft [,.,] im Sinne der Nr. 1 anfallen […]") gefasst, so dass die Sachverhaltsqualifikation des § 43b Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG parallel zu § 20 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG vorzunehmen sei.
14Liquidationsbezogene Sachverhalte i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG stellten ebenso wie solche gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG grundsätzlich Gewinnausschüttungen dar, bildeten jedoch eine klar abgegrenzte Teilmenge zu „regulären" Gewinnausschüttungen i. S. d. Nr. 1. Entsprechend gelte für die Anwendung des § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG, dass § 43b Abs. 1 Sätze 1-3 EStG nur auf Sachverhalte nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG nicht anwendbar seien (vgl. Gersch, in: Kirchhof/Söhn/MeIlinghoff, EStG, 06/2022, § 43b EStG Rn. B 13; Hoffmann, in: Frotscher/Geurts, 02/2019, § 43b ESG, Rn. 13; Hasselmann, in: Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht 10/2019 § 43b Rn. 13).
15Zu diesem Ergebnis gelange man auch unter Berücksichtigung der MTR: Diese verwende an verschiedenen Stellen den Begriff „Gewinnausschüttung", ohne diesen zu definieren (vgl. Kofler, in: Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2020, Rn. 14.41). Aus der Formulierung des Art. 4 Abs. 1 MTR lasse sich jedoch im Umkehrschluss ableiten, dass der Begriff der Gewinnausschüttung i. S. d. MTR auch Liquidationsauskehrungen umfasse (vgl. Kofler in: Schaumburg/Englisch Europäisches Steuerrecht, 2020, Rn. 14.43 Fußnote 3), denn ansonsten hätte es der expliziten Erwähnung der Liquidation als Ausschlusskriterium in Art. 4 Abs. 1 MTR nicht bedurft. § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG verwende den Begriff der Gewinnausschüttung hingegen nicht, sondern stelle auf Kapitalerträge i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG ab. Werde davon ausgegangen, dass § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG die MTR korrekt umsetze, müssten Einkünfte i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG auch sämtliche nach der Richtlinie relevanten Liquidationsauskehrungen umfassen - somit auch solche, welche nach der Systematik des § 20 EStG dem Abs. 1 Nr. 2 unterfielen. Auskehrungen i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 2 ESG würden dann durch § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG als nicht begünstigte Teilmenge ausgesondert.
16Für diese Anwendungssystematik spreche auch die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „anlässlich der Liquidation" des Art. 4 Abs. 1 MTR, welches der Gesetzgeber fast wörtlich („einer“ statt „der“) in § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG übernommen habe. Hieraus könne indes nicht abgeleitet werden, dass die Liquidation i. S. d. Vorschrift bereits dann gegeben sei, sofern der Auflösungsbeschluss der betrachteten Gesellschaft gefasst worden sei, denn die MTR enthalte keine Definition des Begriffs der Liquidation (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Oktober 2012, C-371/11, juris, Rn. 32). Dass das Vorliegen eines Auflösungsgrundes in Gestalt eines entsprechenden Gesellschafterbeschlusses (§ 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) bereits das Merkmal „anlässlich“ im Sinne des Art. 4 MTR erfülle, ergebe sich hieraus jedenfalls nicht. Vielmehr sei die englische Sprachfassung des Art. 4 MTR hinzuzuziehen. In dieser heiße es wörtlich „Where a parent company [...] receives distributed profits, the Member State of the parent company [...] shall, except when the subsidiary is liquidated, either [...]". Die Formulierung in der Vergangenheitsform lasse den Schluss zu, dass der Richtliniengeber lediglich Schlussauskehrungen am Ende des Liquidationszeitraums von der Begünstigung habe ausnehmen wollen.
17Die Formulierung „anlässlich" in der deutschen Fassung des Art. 4 MTR sei daher so zu verstehen, dass die Liquidationshandlungen - insbesondere die Veräußerung von Anlagevermögen oder Restbeständen von Waren - Anlass der Ausschüttung seien.
18Darüber hinaus könne die Auffassung des Beklagten, den Anfangszeitpunkt des Anlasses im Moment des Auflösungsbeschlusses zu sehen, auch deshalb nicht im Sinne des vom Richtlinien- und Gesetzgeber verfolgten Zwecks sein, da eine solche Regelung leicht durch Gewinnausschüttungen vor Fassung des Auflösungsbeschlusses und damit vor Beginn des Liquidationszeitraums umgangen werden könne (vgl. Kokott, Das Steuerrecht der Europäischen Union, 1. Auflage 2018, § 7 Direkte Steuern, Rn. 52). Auch die vom Beklagten angeführte Literaturquelle (Kofler, MTR, Art. 1 Rn. 30) gehe von einem formalen Liquidationsverständnis aus, sodass nur solche Gewinne von der Entlastung des Art. 4 MTR ausgeschlossen seien, welche nach der formellen Beendigung des Liquidationsverfahrens ausgekehrt würden (vgl. jüngere Textstelle des nämlichen Autors: Kofler, in: Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht 2020, Rn. 14.43). Daher seien Gewinnausschüttungen im Zeitraum nach der Einleitung aber vor der Beendigung des Liquidationsverfahrens begünstigt.
19Unabhängig von der Frage, inwieweit die Formulierungen des Art. 4 Abs. 1 MTR Eingang in § 43b Abs. 1 EStG gefunden hätten, dürfe nicht verkannt werden, dass ausgehend von der Systematik der MTR § 43b EStG ausschließlich Art. 5 MTR umsetze (vgl. Kempf/Gelsdorf, IStR 2011, 173, 174 und BT-Drs. 12/1108, S. 63 zur Vorgängerregelung § 44d EStG). Aus der Bezeichnung des Art. 5 MTR („Steuerabzug an der Quelle") sowie dem Wortlaut der Regelung selbst könne geschlossen werden, dass alleiniges Ziel dieses Richtlinienartikels die Quellensteuerbefreiung jeglicher Gewinnausschüttungen sei. Diese Sichtweise decke sich mit der Begründung des Rats der Europäischen Union zur MTR in ihrer aktuellen Form. Im Amtsblatt der Europäischen Union 2004, L007, S. 41 ziele der zweite Erwägungsgrund darauf ab, sämtliche Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an Muttergesellschaften von der Quellensteuer zu befreien und weitere Regelungen zur Besteuerung ebendieser Einkünfte auf Empfängerebene zu treffen. Art. 5 MTR entfalte daher seinen Wirkungskreis ausschließlich auf der Ebene der Tochtergesellschaften. Eine Umsetzung im nationalen Recht dürfe nicht darüber hinausgehen. Insbesondere § 43b EStG, welcher als Regelungsgehalt die Bemessung der Kapitalertragsteuer bei bestimmten Gesellschaften zum Gegenstand habe, dürfe daher nicht eine unsystematische Vermengung mit anderen Normen wie etwa Art. 4 MTR, welcher den Fokus auf die Ebene der Muttergesellschaften lege, vornehmen (so auch die vom Beklagten zitierte Literaturstelle: Kofler, Mutter-Tochter-Richtlinie, Art. 1 Rn. 31). Nach der h. A. gelte die Quellensteuerbefreiung gemäß Art. 5 MTR auch für die Ausschüttung von Liquidationsgewinnen, wobei eine Begründung für diese augenscheinliche Asymmetrie zwischen Art. 4 MTR und Art. 5 MTR im Rahmen der Verhandlungen im Rat nicht gesehen worden sei (vgl. Kofler, in: Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2020, Rn. 14.43 f).
20Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen (u.a. „Bilanz-Vergleich über 5 Jahre“), deren Aussagegehalt hinsichtlich des Zeitraums und der Ursache der Gewinnentstehung vom Gericht mithilfe von beim Finanzamt P angeforderten Akten überprüft worden sei, bereits durch den vormals beauftragten Steuerberater A im laufenden Einspruchsverfahren mit Schreiben vom 28. Juni 2017 dem Beklagten vorgelegt worden seien. Dass besagte Unterlagen erst während der zurückliegenden mündlichen Verhandlung Eingang in den Gerichtsprozess gefunden hätten, könne ihr, der Klägerin, daher nicht zur Last gelegt werden. Selbst wenn die Ansicht vertreten würde, dass sie diesen „informationellen Schiefstand“ früher hätte erkennen und beheben müssen, wäre hierin lediglich ein geringer Grad des Verschuldens zu sehen.
21Die Klägerin beantragt sinngemäß,
22den Beklagten unter Änderung des Freistellungsbescheids vom 17. November 2016 und Aufhebung der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 12. September 2019 zu verpflichten, einen Freistellungsbescheid bezüglich weiterer Abzugsteuern i.H.v. ... € - und damit in Höhe von insgesamt ... € - zu erlassen und den entsprechenden Betrag zu erstatten.
23Der Beklagte beantragt,
24die Klage abzuweisen,
25hilfsweise, die Revision zuzulassen.
26Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch ließe sich nicht auf § 50d Abs. 1 i.V.m. § 43b Abs. 1 EStG stützen. § 43b Abs. 1 EStG lege zwar fest, dass die Kapitalertragsteuer auf bestimmte Kapitalerträge, die einer Muttergesellschaft, die über einen bestimmten Anteilsbesitz verfüge und weder Sitz noch Geschäftsleitung im Inland habe, nicht erhoben würde. Allerdings komme dieses sogenannte Schachtelprivileg nur für bestimmte Kapitalerträge überhaupt in Betracht, nämlich für solche nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Weder für Liquidationsauskehrungen i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG noch für Dividendenzahlungen gem. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, die nach der Liquidationsentscheidung ausgeschüttet würden, greife das Schachtelprivileg ein.
27Anders, als die Klägerin meine, stimme der Ausschluss von Liquidationsauskehrungen bzw. nach der Liquidationsentscheidung zufließender Gewinnausschüttungen in § 43b Abs. 1 EStG sowohl mit den Regelungen der MTR überein als auch mit dem Sinn und Zweck dieser Richtlinie.
28Durch die MTR sei die Etablierung des sogenannten Schachtelprivilegs bezweckt worden. Hintergrund dieses Privilegs sei, dass bei Konzernstrukturen, d. h. Ketten verbundener Kapitalgesellschaften, die individuelle Wertschöpfung jeder Stufe nur einmal der Körperschaftbesteuerung im jeweiligen Ansässigkeitsstaat unterfallen solle. Gesetzliche Grundlage hierfür sei § 50d EStG i.V.m. 43b EStG für in einem anderen EU‑Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaften.
29Erlöse, die im Rahmen einer Liquidation ausgekehrt würden, resultierten vornehmlich aus der Hebung sogenannter stiller Reserven, d. h. Wertschöpfungen, die bei der Tochtergesellschaft während des laufenden Betriebs vor Liquidationseröffnung noch nicht steuerwirksam bilanziert worden seien. Unterfielen auch diese Erlöse der Schachtelprivilegierung, würden sie auf Dauer dem Körperschaftbesteuerungsrecht des Ansässigkeitsstaat der liquidierten Tochtergesellschaft entzogen. Diesem Gedanken folgend seien Liquidationsauskehrungen in Art. 4 Abs. 1 MTR ausdrücklich von der steuerlichen Bevorzugung durch die MTR ausgenommen.
30Entgegen der Einschätzung der Klägerin verstoße der Umstand, dass Liquidationserlöse von den steuerlichen Vorteilen ausgeschlossen seien, auch nicht gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV oder die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV. Denn die Besteuerung der Liquidationsauskehrung führe bei einer dem Klagefall vergleichbaren Sachverhaltskonstellation mit in der BRD unbeschränkt steuerpflichtigen Mutter- und Tochtergesellschaften zu einer Körperschaftssteuerbelastung von 15 %, während die Klägerin infolge des DBA-Luxemburg in der Bundesrepublik Deutschland lediglich mit 10 % besteuert werde. Im Inlandsfall sei § 8b Abs. 1 KStG bei der Muttergesellschaft nicht anwendbar, da dieser u.a. bei Einkünften nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, nicht aber bei solchen nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG Anwendung finde. Folglich erhöhten Liquidationserlöse die Bemessungsgrundlage zur Ermittlung der Höhe der Körperschaftsteuer einer in der BRD unbeschränkt steuerpflichtigen Muttergesellschaft mit der Folge einer definitiven Körperschaftsbesteuerung i.H.v. 15 % (vgl. § 23 Abs. 1 KStG, § 32 Abs. 3 Satz 2 KStG i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG i.V.m. § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG und § 8 KStG).
31Soweit sich aus während der mündlichen Verhandlung eingereichten Unterlagen ergeben habe, dass die relevanten Ausschüttungen zwar nach dem Beginn der Liquidation erfolgt seien, aber aus Gewinnen stammten, die vor der Einleitung der Liquidation der Tochtergesellschaft entstanden seien und der inländischen Körperschaftsbesteuerung unterlegen hätten, bliebe dies letztlich für die Anwendung von § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG folgenlos. Denn bei § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG komme es auf den Zufluss im Zusammenhang mit einer Liquidation an und nicht auf die Entstehung des Gewinns in einem solchen Zusammenhang. Die Regelung des § 43b EStG setze Art. 5 der MTR um und regele im Ergebnis eine antragsgebundene Steuerbefreiung von Kapitalerträgen i. S. d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, die einer EU-Muttergesellschaft von ihrer inländischen Tochtergesellschaft zufließen.
32Nach dem Willen des Gesetzgebers seien vom Anwendungsbereich des § 43b EStG Sachverhaltskonstellationen ausgenommen, in denen die Kapitalerträge „anlässlich der Liquidation oder Umwandlung einer Tochtergesellschaft zufließen“ (§ 43b Abs. 1 Satz 4 EStG). Die Liquidation oder Abwicklung (vgl. §§ 264 ff. AktG) einer Gesellschaft beginne unstreitig mit ihrer Auflösung (vgl. § 264 Abs. 1 AktG und § 66 Abs. 1 GmbHG).
33Der deutsche Gesetzgeber habe die Einführung der Norm damit begründet, dass die MTR nach ihrem Art. 4 auf Kapitalerträge, die anlässlich einer Umwandlung oder Liquidation zufließen würden, keine Anwendung finde, und sei somit davon ausgegangen, dass der Ausschluss für Liquidationsfälle die Besteuerung sowohl auf Ebene der Mutter als auch der Tochter erfasse. Für eine derartige Auslegung spreche, dass die Begründung für den Ausschluss in Art. 4 MTR darin liegen dürfte, dass die Liquidation nicht der Verwirklichung des von der Richtlinie angestrebten Zieles des grenzüberschreitenden Zusammenschlusses von Unternehmen diene (vgl. Kofler, MTRL, Art. 1 Rn. 29). Diese Begründung treffe in gleicher Weise auf die in Art. 5 MTR geregelte Quellensteuerbefreiung zu (vgl. Begründung bei Einführung der Norm durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) vom 7. Dezember 2006, BGBl I S. 2782). Die Mutter-Tochter-Richtlinie solle den grenzübergreifenden Zusammenschluss von Gesellschaften innerhalb der EU fördern. Dies sei der Fall, wenn Gesellschaften in den Markt eines EU-Mitgliedsstaats (mittels einer Tochtergesellschaft) eintreten und an diesem Markt wirtschaftlich agieren würden. Dieser Sinn und Zweck könne jedoch ab dem Moment nicht mehr erreicht werden, in dem die Auflösung der Gesellschaft beschlossen worden sei. Mit der Auflösung der Gesellschaft habe sich die Muttergesellschaft selbst die Möglichkeit genommen, am Markt des EU-Mitgliedsstaats zu agieren. Somit seien zeitlich nach einem Liquidationsbeschluss generierte Gewinnausschüttungen durch § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG zu Recht von einer Freistellung ausgenommen.
34Hinsichtlich einer möglichen Kostenentscheidung sei darauf hinzuweisen, dass entscheidungserhebliche Tatsachen erst während der mündlichen Verhandlung von der Klägerin nachgereicht worden seien (vgl. § 137 FGO).
35Hilfsweise werde die Revision beantragt, da es eine Vielzahl weiterer gleich gelagerter Antragsverfahren gebe, bei denen eine Gewinnausschüttung zu einem Zeitpunkt erfolgt sei, an dem die Liquidation der ausschüttenden Gesellschaft bereits beschlossen worden sei.
36Im Nachgang zur mündlichen Verhandlung vom 15. Dezember 2021, in der eine Vertagung beschlossen wurde, haben beide Beteiligten auf eine (weitere) mündliche Verhandlung verzichtet (vgl. Bl. 168 eFG-Akte, Bl. 186 eFG-Akte).
37Entscheidungsgründe
38Die Klage ist, mit Ausnahme der auf die Abschlusszahlung i.H.v. ... € entfallenden Kapitalertragsteuer, begründet.
39Der Änderungsbescheid vom 17. November 2016 sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 12. September 2019 sind ganz überwiegend rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf die von ihr begehrte zusätzliche Erstattung von Kapitalertragsteuer i.H.v. ... €, da es für die vorliegend im Wesentlichen relevante Ausschüttung über ... € eine weitreichendere Erstattungsgrundlage gibt.
40I. Können Einkünfte, die dem Steuerabzug u.a. vom Kapitalertrag unterliegen, nach § 43b EStG oder nach einem Doppelbesteuerungsabkommen nicht oder nur nach einem niedrigeren Steuersatz besteuert werden, so sind gemäß § 50d Abs. 1 Satz 1 EStG die Vorschriften über die Einbehaltung, Abführung und Anmeldung der Steuer durch den Schuldner der Kapitalerträge ungeachtet der § 43b EStG sowie des Abkommens anzuwenden. Unberührt bleibt nach 50d Abs. 1 Satz 2 EStG der Anspruch des Gläubigers der Kapitalerträge auf Erstattung der einbehaltenen und abgeführten Steuer. Die Erstattung erfolgt nach § 50d Abs. 1 Satz 3 EStG auf Antrag des Gläubigers der Kapitalerträge.
41Verfahrensrechtliche Grundlage der Steuererstattung ist der Freistellungsbescheid i.S. des § 155 Abs. 1 Satz 3 AO, in dem über die Höhe des unbesteuert bleibenden Teils der Vergütung - und damit zugleich des Erstattungsanspruchs - entschieden wird (vgl. BFH-Urteil vom 11. Oktober 2000, I R 34/99, BStBl. II 2001, 291).
42Dieser Freistellungsbescheid ist zu erteilen, wenn die bezeichneten Einkünfte nach einem DBA oder § 43b EStG nicht oder nur nach einem niedrigeren Steuersatz besteuert werden.
43II. Die Klägerin hat von ihrer Tochtergesellschaft, der E GmbH i.L., Ausschüttungen bezogen, auf die gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 EStG (bei Körperschaften i.V.m. § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG) Kapitalertragsteuer erhoben wird. Die Kapitalertragsteuer ist vom inländischen Ausschüttenden bei der zuständigen Finanzbehörde anzumelden und abzuführen (§ 44 Abs. 1 EStG).
44Die Klägerin als ausländische Muttergesellschaft kann unter den Voraussetzungen des § 50d EStG die Erstattung der einbehaltenen und abgeführten Kapitalertragsteuer in dem Umfang beim Beklagten beantragen, der durch die einschlägigen DBA-Bestimmungen oder die Mutter-Tochter-Richtlinie (§ 43b EStG) festgelegt wird.
45III. Der Beklagte hat dem Antrag der Klägerin nach § 50d Abs. 1 Satz 3 EStG auf der Basis der einschlägigen Regelung im DBA-Luxemburg, Art. 13 Abs. 4, im Änderungsbescheid vom 17. November 2016 stattgegeben und eine Erstattung über den in Art. 13 Abs. 4 DBA-Luxemburg enthaltenen Quellensteuersatz von 10 % hinaus festgesetzt.
46IV. Die Voraussetzungen für eine zusätzliche Erstattung auf der Grundlage von § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG i.V.m. § 43b Abs. 1 EStG liegen hinsichtlich der Ausschüttung über ... € vor.
471. § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG gelangt nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur bei Kapitalertragsteuer für Kapitalerträge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zur Anwendung, nicht hingegen für Kapitalerträge i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG.
Einkünfte aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 1 sind z.B. Gewinnanteile (Dividenden), Ausbeuten und sonstige Bezüge aus Aktien, Genussrechten, mit denen das Recht am Gewinn und Liquidationserlös einer Kapitalgesellschaft verbunden ist. Zu den Einkünften aus Kapitalvermögen i.S.d. § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG gehören Bezüge, die nach der Auflösung einer Körperschaft i.S.d. Nr. 1 anfallen und nicht in der Rückzahlung von Nennkapital bestehen. Dabei erfasst Abs. 1 Nr. 2 nur diejenigen Bezüge, die nicht zu den Einnahmen im Sinne der Nr. 1 gehören (vgl. Buge in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 20, Rn. 121).
50Die Tochtergesellschaft E GmbH wurde zum ... 2010 gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG aufgelöst, so dass die am ... 2013 beschlossene Ausschüttung nach ihrer Auflösung angefallen ist.
51Gleichwohl sind die vorliegend zu Grunde liegenden Kapitalerträge i.H.v. ... € nicht als solche gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG zu qualifizieren. Denn von § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG werden Zahlungen, die nach dem Zeitpunkt der Auflösung an Gesellschafter geleistet werden, erfasst, soweit sie sich nicht auf Zeiträume vor Auflösung der Gesellschaft beziehen. Ausschüttungen von Gewinnen aus der Zeit vor der Auflösung der Gesellschaft, die erst nach dem Auflösungsstichtag beschlossen und geleistet werden, fallen vielmehr unter § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG (vgl. BFH-Urteil vom 22. Oktober 1998, I R 15/98, BFH/NV 1999, 829; BMF-Schreiben vom 26. August 2003, BStBl. I 2003, 434, Tz. 10; Ratschow in Brandis/Heuermann, § 20 EStG, Rz. 184; Buge in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 20, Rn. 121).
52Die vorliegend an die Klägerin im Jahr 2013 geleistete Ausschüttung i.H.v. ... € stammt (ebenso wie die Abschlusszahlung i.H.v. ... €) vollständig aus Gewinnen, die zeitlich vor der Auflösung der Tochtergesellschaft erzielt wurden. So bestand zum einen zum ...2009 eine Gewinnrücklage i.H.v. ... € und zum anderen ein Bilanzgewinn i.H.v. ... €. Letzterer wurde als Gewinnvortrag zunächst mit dem Jahresfehlbetrag zum ...2010 i.H.v. ... € verrechnet und sodann im anschließenden Liquidationszeitraum bis zum 31.12.2013 infolge des summierten Fehlbetrags i.H.v. ... € auf einen Gewinnvortrag i.H.v. ... € reduziert (vgl. von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung überlassene Zusammenstellungen „Bilanzvergleich“ sowie „G.u.V.-Vergleich“ jeweils über 5 Jahre, vgl. Bl. 90 ff. eFG-Akte, sowie die vom Finanzamt P übersandten Unterlagen der E GmbH, vgl. Bl. 109 ff. eFG-Akte). Die Summe aus diesen beiden Beträgen ... € (Gewinnrücklage) sowie ... € (Gewinnvortrag) war Gegenstand der im ... 2013 von der Klägerin beschlossenen Ausschüttungen der E GmbH an sie, die Klägerin, i.H.v. ... € (Beschluss vom ... 2013) sowie i.H.v. ... € (Beschluss vom ... 2013). Auf Grund dieses Umstands sowie der ausdrücklichen Bezeichnung im Gesellschafterbeschluss der Klägerin vom ... 2013 als „Gewinnausschüttung“ und nicht etwa als Liquidations- oder Abschlusszahlung, ist vorliegend – in Übereinstimmung mit der Auffassung der Beteiligten – von einer Gewinnausschüttung gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG auszugehen, auch wenn im Beschluss selbst nicht ausdrücklich ein konkreter Zeitraum vor Auflösung der Tochtergesellschaft aufgenommen wurde.
53Da die streitigen Kapitalerträge mithin unter § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu subsumieren sind, gelangt § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG vorliegend unstreitig zur Anwendung.
542. Anders, als der Beklagte meint, liegen die Voraussetzungen von § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG nicht vor, so dass der in dieser Regelung vorgesehene Ausschluss von § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG nicht eingreift.
§ 43b Abs. 1 Satz 4 EStG ist zwar insoweit erfüllt, als dass der Erstattung, wie festgestellt, Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu Grunde liegen. Allerdings sind diese, wie § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG weiter voraussetzt, nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft E GmbH zugeflossen.
57Der Auffassung des Beklagten, der dieses Tatbestandsmerkmal vorliegend bejaht, ist zwar zuzugestehen, dass die am ... 2013 beschlossene Ausschüttung während bzw. in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Liquidation erfolgt ist. Der Begriff „anlässlich“ ist jedoch enger auszulegen und jedenfalls nicht auf Gewinnausschüttungen auszudehnen, die in Abgrenzung zu Bezügen nach § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG, wie z.B. Abwicklungs- bzw. Liquidationserlöse (vgl. Möllenbeck, in Littmann/Bitz/Pust, § 20 EStG, Rz. 452) durch ihren Bezug zu einem Zeitraum vor der Auflösung der Gesellschaft unter § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG subsumiert werden. Diese engere Auslegung kann sowohl mit der Gesetzesentstehung in Einklang gebracht werden, als auch mit Sinn und Zweck der Steuererstattung auf der Grundlage der MTR.
58§ 43b Abs. 1 Satz 4 EStG wurde durch das Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SEStEG) vom 16. November 2006 (BGBl. I. 2006, S. 2785) eingeführt. Nach der Begründung des Finanzausschusses, auf dessen Anregung diese Vorschrift ins Gesetzgebungsverfahren aufgenommen wurde, wurde mit dem neuen Satz 4 die Vorgabe der Richtlinie 90/435/EWG insoweit umgesetzt, als dass für Kapitalerträge im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG, die anlässlich einer Liquidation zufließen, die Richtlinie nach Art. 4 MTR keine Anwendung findet (vgl. Bericht des Finanzausschusses vom 9. November 2006, BT-Drs. 16/3369, S. 6).
59Art. 4 der MTR ist indes allgemeiner und weiter gefasst als § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG. So lautet Art. 4 Abs. 1 Satz 1 MTR „Fließen einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebsstätte aufgrund der Beteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft Gewinne zu, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden…“. Aus dieser Rückausnahme ergibt sich, dass der Begriff der Gewinnausschüttungen i.S.d. Art. 4 MTR weiter gefasst sein muss als derjenige in § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG, der ausdrücklich nur auf Kaitalerträge i.S.d. § 20 Abs. 1 Satz 1 EStG Bezug nimmt (vgl. zur entsprechenden Schlussfolgerung aus dieser Rückausnahme: Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Rz. 14.43, Fn. 3 m.w.N.). Der Begriff der Gewinnausschüttung wird in der MTR selbst nicht definiert, der EuGH legt diesen Begriff weit aus und geht z.B. „von Dividenden und anderen Erträgen von Wertpapieren“ aus (vgl. Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Rz. 14.42 m.w.N.).
60Infolgedessen kann die Formulierung „anlässlich“ innerhalb des Regelungsmechanismus von Art. 4 MTR weiter als im Rahmen von § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG verstanden werden, da bei Anwendung von Art. 4 MTR insbesondere Liquidationsraten und Abwicklungserlöse hierunter subsumiert werden können, was bei einer singulären Auslegung von § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG angesichts der in der Regelung selbst enthaltenen Beschränkung auf Kapitalerträge nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG nicht möglich erscheint. Diese Ausnahme in Art. 4 MTR ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass mit den Regelungen der MTR der Zusammenschluss von Gesellschaften auf Unionsebene gefördert werden soll (vgl. Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Rz. 14.3 m.w.N.), jedoch nicht solche, die sich in Auflösung befinden. Gleichermaßen soll eine sog. wirtschaftliche Doppelbelastung bereits steuerlich bei der Tochtergesellschaft belasteter und an die Muttergesellschaft grenzüberschreitend ausgeschütteter Gewinne vermieden werden (vgl. Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Rz. 14.3 m.w.N.). Hiervon abzugrenzen sind bei der Tochtergesellschaft u.U. vorhandene stille Reserven, die im Zuge der Liquidation realisiert werden und der Muttergesellschaft zu Gute kommen.
61Dies berücksichtigend ist § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG, auch wenn durch ihn Art. 4 Abs. 1 MTR umgesetzt werden soll, nicht so ausufernd auszulegen, als dass der Begriff „anlässlich“ mit „während“ oder „im Zusammenhang mit“ zu verstehen ist.
62Im Übrigen ergibt sich aus der MTR selbst nicht, ob Zahlungsflüsse während des laufenden Liquidationsverfahrens überhaupt unter die Rückausnahme von Art. 4 MTR fallen. Nach in der Literatur vertretener Auffassung soll der Richtlinie ein formales Liquidationsverständnis zu Grunde liegen, so dass nach Art. 4 MTR nur jene Gewinn von der Entlastungsverpflichtung auszunehmen sind, die nach der formellen Beendigung des Liquidationsverfahrens an die Muttergesellschaft ausgeschüttet werden (vgl. Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Rz. 14.43 m.w.N.). Dieses Verständnis auch bei der Auslegung von § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG zu Grunde legend, wäre diese Vorschrift vorliegend keinesfalls anwendbar.
63Schließlich spricht für eine enge Auslegung des Merkmals „anlässlich“ in § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG auch die Systematik der Regelungen Art. 5 MTR einerseits und Art. 4 MTR andererseits. Generell soll durch diese Artikel sichergestellt werden, dass Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind. Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft zur Vermeidung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung Gewinnausschüttungen freistellen oder ggf. eine Anrechnung ermöglichen (Art. 4 MTR) und andererseits muss zur Vermeidung der juristischen Doppelbesteuerung im Staat der Tochtergesellschaft bei der Gewinnausschüttung eine Befreiung von Steuerabzug an der Quelle gewährt werden. Letzteres regelt Art. 5 MTR (vgl. Kofler in Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2. Aufl. 2020, Rz. 14.3f. m.w.N.). Art. 5 MTR ist insbesondere deshalb erforderlich, da Abkommensvorschriften regelmäßig auch bei Schachtelbeteiligungen keine vollständige Reduktion der Quellensteuer auf Gewinnausschüttungen vorsehen. Art. 5 MTR sieht, anders als Art 4 MTR, keine Rückausnahme für Ausschüttungen anlässlich einer Liquidation vor. Da § 43b Abs. 1 EStG den Steuerabzug an der Quelle betrifft, ist Art. 5 MTR ebenfalls bei der Auslegung heranzuziehen und bestärkt die Schlussfolgerung, dass jedenfalls Gewinnausschüttungen, die Zeiträume vor dem Beginn der Liquidation betreffen und nur zeitlich nach dem Beginn tatsächlich erfolgen, jedenfalls nicht i.S.v. § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG als „anlässlich der Liquidation“ verstanden werden können.
64Der Klägerin steht mithin eine weitergehende Erstattung i.H.v. ... € zu.
65V. Hinsichtlich der Ausschüttung über ... € liegen die Voraussetzungen für eine zusätzliche Erstattung auf der Grundlage von § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG i.V.m. § 43b Abs. 1 EStG hingegen nicht vor. Denn insoweit sind bereits keine Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG gegeben. Im Übrigen bestünden insoweit auch keine Zweifel, dass das Tatbestandsmerkmal „anlässlich der Liquidation“ gemäß § 43b Abs. 1 Satz 4 EStG erfüllt wäre, so dass § 43b Abs. 1 Satz 1 EStG nicht zur Anwendung käme.
66Der Betrag i.H.v. ... € wird im Gesellschafterbeschluss vom ... 2013 zwar auch als Gewinnausschüttung bezeichnet. Zudem stammt er aus vor dem Beginn der Liquidation erwirtschafteten Gewinnen. Allerdings wird nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Beschlusses „zur Beendigung der Liquidation ein Restbetrag in Höhe von ... € ausgeschüttet.“ Insoweit ist mithin von einer Abschlusszahlung im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 2 EStG auszugehen, so dass eine Erstattung gem. § 43b EStG ausscheidet.
67VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO. Der Beklagte hat zwar auch teilweise obsiegt, allerdings nur hinsichtlich des geringfügigen Erstattungsbetrags i.H.v. ... €. Im Vergleich zum erfolgreich geltend gemachten Erstattungsbetrag i.H.v. ... € ist die Klägerin daher nur zu einem geringen Teil unterlegen, so dass dem Beklagten die Kosten ganz aufzuerlegen sind.
68Entgegen der Auffassung des Beklagten ergibt sich keine abweichende Kostenverteilung aus § 137 FGO. Gemäß § 137 Satz 1 FGO können einem Beteiligten die Kosten ganz oder teilweise auch dann auferlegt werden, wenn er obsiegt hat, die Entscheidung aber auf Tatsachen beruht, die er früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen. Diese Vorschrift kommt vorliegend zwar deshalb in Betracht, weil die Klägerin während des Klageverfahrens erstmals in der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2021 darauf hingewiesen hat, dass die zu Grunde liegenden Ausschüttungen aus Gewinnen vor Liquidationsbeginn stammten und auch diese Zeiträume beträfen. Allerdings hat sie diese Tatsache bereits im Einspruchsverfahren zumindest in einem Schreiben erwähnt. Unklar ist nach Aktenlage, ob sie auch bereits zuvor den Nachweis geführt hat. So sind in den Verwaltungsakten des Beklagten, die dem Gericht vorliegen, zwar keine von der Klägerin eingereichten Übersichten zur Bilanz- sowie Gewinnentwicklung der E GmbH ab dem 31.12.2009 enthalten. Allerdings ist in den Akten ein Schreiben des vormaligen Beraters der Klägerin, Herrn A, vom 30. Juni 2017 abgeheftet, in dem dieser bereits während des Einspruchsverfahrens auf den Umstand hinweist, dass die ausgeschütteten Gewinne Zeiträume vor Auflösung der Tochtergesellschaft betreffen und er zum Beleg Unterlagen der Klägerin beifügt. Dieses zweiseitige Schreiben wurde u.a. per Fax übermittelt. Der Sendebericht zu diesem Schreiben weist eine Übertragung von 6 Seiten aus, so dass viel dafür spricht, dass die vierseitigen Erläuterungen zur Bilanz- und Gewinnentwicklung, die in der mündlichen Verhandlung exakt in diesem Umfang vorgelegt wurden, bereits im Einspruchsverfahren von der Klägerin eingereicht wurden. Auch wenn der Verbleib dieser 4 Seiten bzw. der Inhalt dieser Seiten nicht restlos aufgeklärt werden kann, spricht im Hinblick auf den Inhalt des Schreibens vom 30. Juni 2017 viel dafür, dass es sich bei den zusätzlichen 4 Seiten um die maßgeblichen Unterlagen gehandelt hat, auf die der Berater als Anlage hingewiesen hat.
69Selbst wenn man bei dieser Aktenlage die Voraussetzungen als gegeben ansehen würden, käme § 137 FGO im Ergebnis nicht zur Anwendung. Denn bei § 137 Satz 1 FGO handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, so dass von ihr im Rahmen der erforderlichen Ermessensentscheidung nur zurückhaltend Gebrauch zu machen ist (vgl. Ratschow in Gräber, § 137 FGO, Rz. 2).
70VII. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
71VIII. Die Revision wird in Ermangelung der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht zugelassen.
72IX. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52, 63 GKG.