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Die Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 wird aufgehoben.Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Einspruchsentscheidung, mit der der Einspruch gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer Forderung der Beklagten zurückgewiesen wurde.
3Die Forderung der Beklagten resultiert aus einem bestandskräftigen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 13.06.2013 für den Zeitraum Mai 2011 bis November 2012 für das Kind A i.H.v. 3.496 €.
4Mit Bescheid vom 14.04.2010 war das Kindergeld für den in Ausbildung befindlichen Sohn A ab April 2010 festgesetzt und bei den Hartz IV-Leistungen, die die in Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Sohn lebende Klägerin aufstockend zu ihrer Rente erhielt, als Einkommen angerechnet worden.
5Im Hinblick auf das Ende der Ausbildung wurde die Klägerin im November 2012 angeschrieben und um entsprechende Nachweise gebeten, woraufhin sie der Beklagten mitteilte, dass A seit dem 01.07.2011 eine Vollzeittätigkeit aufgenommen habe. Die Beklagte, die hiervon bislang keine Kenntnis hatte, hob die Kindergeldfestsetzung daraufhin mit Bescheid vom 13.06.2013 auf und forderte das überzahlte Kindergeld i.H.v. 3.496 € zurück. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. In der Folge traf die Klägerin mit der Agentur für Arbeit B, Inkassoservice Familienkasse (Inkassoservice), eine Ratenzahlungsvereinbarung über die Zahlung von monatlich zehn Euro, die sie bis zum Widerruf dieser Vereinbarung und gleichzeitiger Ablehnung der Stundung durch den Inkassoservice im Dezember 2019 erfüllte. Nach längerem Schriftwechsel mit dem Inkassoservice und Zurückweisung des Einspruchs gegen die Ablehnung der Stundung mit bestandskräftiger Einspruchsentscheidung vom 11.02.2020 durch die Familienkasse B stellte die Klägerin mit Schreiben vom 21.08.2020 hinsichtlich der verbliebenen Forderung i.H.v. 2.833,50 € (2.536 € Rückforderung und 290,50 € Säumniszuschläge) einen Billigkeitsantrag nach § 227 Abs. 1 AO.
6Diesen Antrag lehnte der Inkassoservice nach Prüfung der Anrechnung der Kindergeldbeträge durch den Sozialleistungsträger mit Schreiben vom 30.07.2021 überwiegend ab. Eine Teilforderung von 154 € wurde aufgrund sachlicher Unbilligkeit erlassen, weil die Überzahlung des Kindergeldes für den ersten Monat auch bei rechtzeitiger Mitteilung des Abbruchs der Ausbildung nicht vermeidbar gewesen wäre. Im Übrigen fehle es an der sachlichen Unbilligkeit der Forderung, weil die Klägerin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei, indem sie den Abbruch der Berufsausbildung nicht mitgeteilt habe. Ferner fehle es auch an der persönlichen Unbilligkeit, da - bedingt durch die Pfändungsschutzvorschriften - die wirtschaftliche Existenz der Klägerin nicht gefährdet sei.
7Der hiergegen geführte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 durch die beklagte Familienkasse C als unbegründet zurückgewiesen. Über die erlassenen 154 € hinaus fehle es an der sachlichen Unbilligkeit der Einziehung der Forderung, weil die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht nach § 68 Abs. 1 EStG verletzt habe. Die Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen durch den Sozialleistungsträger allein reiche nicht aus, um eine sachliche Unbilligkeit der Einziehung zu begründen. Auch eine persönliche Unbilligkeit liege nicht vor. Diese setze die Erlassbedürftigkeit und die Erlasswürdigkeit voraus. Die Erlassbedürftigkeit sei im Hinblick auf die Pfändungsschutzvorschriften zu verneinen. Die Erlasswürdigkeit sei gegeben, wenn der Schuldner die mangelnde Leistungsfähigkeit nicht selbst herbeigeführt und durch sein Verhalten nicht in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen habe. Die Einspruchsführerin habe die Rückforderung durch ihr Versäumnis, die notwendigen Unterlagen im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht vorzulegen, selbst herbeigeführt. Soweit die Einspruchsführerin vortrage, dass ihr Ratenzahlung eingeräumt worden sei und diese nunmehr weitergeführt werden müsse, könne sie damit nicht durchdringen, da eine Ratenzahlung im Steuerrecht nicht vorgesehen sei. Die Ratenzahlungsvereinbarung sei ohnehin befristet gewesen. Säumniszuschläge und Mahnkosten seien für den Zeitraum, in dem die Ratenzahlungsvereinbarung bestanden habe, nicht erhoben worden. Im Einzelnen wird auf die Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 verwiesen.
8Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Klage.
9Sie macht geltend, die Argumentation der Beklagten in der Einspruchsentscheidung sei nicht nachvollziehbar. Aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ergebe sich, dass eine Konstellation wie die hiesige gerade einen Grund für einen Billigkeitserlass darstellen könne. Sie sei schwer krank und beziehe eine Rente wegen Erwerbsminderung, die aufgrund der Tatsache, dass diese zum Leben nicht reiche, aufgestockt werde. Sie habe somit ihr niedriges Einkommen, welches sie vor tatsächlichen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen schütze, nicht zu vertreten. Im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Rechtsordnung könne jeder Staatsbürger darüber hinaus darauf vertrauen, dass Entscheidungen rechtmäßig ergingen. Die Beklagte berufe sich darauf, dass sie die Rückforderung selber zu vertreten habe, da sie die Beschäftigung ihres Sohnes nicht unverzüglich gemeldet habe. Dies sei zutreffend. Genauso zutreffend sei allerdings - dies sei im Laufe des hiesigen Verfahrens von der Beklagten auch unstreitig gestellt worden - dass sie von dem Kindergeld überhaupt nicht profitiert habe, da es ja bei der Gewährung von Sozialleistungen angerechnet worden sei. Von ihr als juristischem Laien könne keine Parallelwertung dahingehend erwartet werden, dass es sich bei den Leistungen, die ja formal die gleiche Behörde auswiesen, jeweils um einen anderen Topf handle, der bediene, als bei demjenigen, der abziehe. Es entspreche den Grundsätzen materieller Gerechtigkeit, im vorliegenden Fall eine Billigkeitsentscheidung zu ihren Gunsten zu treffen. Die entgegenstehende Auffassung der Beklagten bedeute, dass die Forderung, die zugrunde liege, sich jeden Monat um mindestens 27 € verteuere. Die Beklagte habe selbst mitgeteilt, dass eine Ratenzahlungsvereinbarung nicht zulässig sei. Es stelle sich daher die Frage, ob die seit dem Jahr 2013 gezahlten Raten durch die Beklagte zurückgezahlt werden müssten, wenn man die Rechtsauffassung der Beklagten zugrunde lege. Bereits im Schriftwechsel mit dem Inkassoservice sei im Hinblick auf ihre geringen Einkünfte beantragt worden, die Gesamtforderung niederzuschlagen. Dies sei bisher nicht geschehen, obwohl die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt seien.
10Nach einem telefonischen Hinweis der Berichterstatterin auf die Ausführungen des BFH in seinem Urteil v. 25.02.2021, III R 36/19, BStBl II 2021, 712 hinsichtlich der richtigen Beklagten und der Frage, ob vorliegend eine Umdeutung in Betracht komme, hat die Klägerin ihr Klagebegehren eingeschränkt.
11Die Klägerin beantragt,
12die Einspruchsentscheidung der Beklagten vom 04.11.2021 aufzuheben.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie nimmt auf die Einspruchsentscheidung Bezug. Ergänzend trägt sie vor, aus Sicht der Beklagten komme im vorliegenden Fall eine Heilung des sachlichen Zuständigkeitsmangels nach § 126 Abs. 2 AO in Betracht, da im Einspruchsverfahren die zuständige Behörde entschieden habe. Diese Rechtsfrage der Heilungsmöglichkeit sei höchstrichterlich noch nicht geklärt, allerdings seien zu dieser Thematik bereits Revisionsverfahren unter den Az.: III R 6/22, III R 2/22, III R 3/22 und III R 4/22 anhängig. Sie habe daher keine Einwände, dass das Verfahren bis zum Abschluss eines der Revisionsverfahren ruhend gestellt werde.
16Ergänzend wird auf die beigezogenen Kindergeldakten der Beklagten sowie die Akten des Inkassoservice Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
18I.
19Die Sache ist entscheidungsreif.
20Das Gericht durfte trotz Ausbleibens der Beklagten auch ohne diese verhandeln und entscheiden. Die Beklagte ist mit richterlicher Verfügung vom 16.02.2022 ordnungsgemäß zum Termin am 10.03.2022 geladen worden, unter Bezugnahme auf den Zusatz in der ursprünglichen Ladung zum 17.02.2022, dass bei Nichterscheinen des Vertreters auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden kann, § 91 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Ausweislich der in den Akten befindlichen Empfangsbekenntnisse sind der Beklagten beide Ladungen zugegangen.
21Das Gericht war auch nicht gehalten, den Termin aufgrund des Schriftsatzes der Beklagten vom 03.03.2022, gemäß § 155 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (§ 227 Abs. 1 ZPO) aufzuheben oder zu verlegen bzw. die Verhandlung zu vertagen. In diesem Schreiben wurde mitgeteilt, dass im Hinblick auf die unveränderte Weisungslage kein Vertreter der Beklagten an der mündlichen Verhandlung teilnehmen werde, vielmehr an dem Klageabweisungsantrag festgehalten werde und im Übrigen Einverständnis bestehe, das Verfahren bis zur Entscheidung der bei dem BFH insoweit anhängigen Verfahren ruhen zu lassen. Ein Antrag auf Terminsverlegung ist nicht gestellt worden.
22Einem Ruhen des Verfahrens hat die Klägerin nicht zugestimmt (§ 155 FGO i.V.m§ 251 ZPO).
23II.
24Die Klage ist zulässig.
25Zwar ist die isolierte Anfechtung einer Einspruchsentscheidung im Regelfall mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig, da sich die Rechtsstellung des Klagenden durch eine isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung üblicherweise nicht bessert. Vorliegend ist allerdings zu beachten, dass der Antrag auf Erlass der Kindergeldrückforderung nach § 227 AO mit Bescheid vom 30.07.2021 durch eine sachlich und örtlich unzuständige Behörde abgelehnt wurde. Hinsichtlich der sachlichen Unzuständigkeit des Inkassoservice für die das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen betreffenden Entscheidungen, zu denen auch das Erlassverfahren nach § 227 AO gehört, folgt der Senat den BFH-Urteilen vom 25.02.2021 (III R 36/19, BStBl II 2021, 956 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100) und vom 07.07.2021 (III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457) und nimmt auf deren Entscheidungsgründe Bezug. Hiergegen werden von der Beklagten auch keine Einwendungen erhoben. Weitere Ausführungen hierzu erübrigen sich daher.
26Vor diesem Hintergrund ist mit der angefochtenen Einspruchsentscheidung eine Rechtschutzverkürzung dergestalt verbunden, als es der Klägerin verwehrt war, sich mit der für den Antrag auf Erlass sachlich und – im Hinblick auf den Wohnort der Klägerin – örtlich zuständigen Beklagten in einem ordnungsgemäßen Vorverfahren auseinanderzusetzen. Zwar bleibt es der Klägerin unbenommen, nunmehr bei der sachlich und örtlich zuständigen Beklagten einen erneuten Antrag auf Erlass der Forderung zu stellen, allerdings kann ein erneuter Erlassantrag nach Bestandskraft der Ablehnung eines vorhergehenden Antrags im Regelfall nicht mehr auf die im ersten Verfahren angeführten Gründe gestützt werden (BFH-Urteil v. 17.03.1987, VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620). Dem hieraus folgenden Interesse der Klägerin, das Einspruchsverfahren gegen den durch die sachlich und örtlich unzuständige Behörde erlassenen Ablehnungsbescheid offen zu halten, um mit gleichbleibender Begründung eine erstmalige Befassung der Beklagten mit ihrem Antrag nebst entsprechender Erörterung im Vorverfahren herbeizuführen, kann durch isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung Rechnung getragen werden.
27III.
28Die Klage ist begründet.
29Die Einspruchsentscheidung der Beklagten vom 04.11.2021 ist bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
30Zwar war die Beklagte für den Erlass der Einspruchsentscheidung sachlich und – im Hinblick auf den Wohnort der Klägerin – örtlich zuständig. Auch insoweit wird auf die bereits zitierten BFH-Urteile vom 25.02.2021 (III R 36/19, BStBl II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100) und vom 07.07.2021 (III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457) Bezug genommen, deren Argumente sich der Senat zu eigen macht. Hiervon gehen im Übrigen auch die Beteiligten aus. Weitere Ausführungen hierzu erübrigen sich daher insoweit.
31Die Rechtswidrigkeit der Einspruchsentscheidung folgt jedoch daraus, dass die Beklagte bei der ihr obliegenden vollumfänglichen Prüfung der Sache (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO) unbeachtet ließ, dass die von dem Inkassoservice getroffene Ausgangsentscheidung vom 30.07.2021, mit dem diese den Erlassantrag der Klägerin abgelehnt hatte, aufgrund deren sachlicher und örtlicher Unzuständigkeit unter einem Verfahrensmangel leidet. Im Hinblick auf diesen Verfahrensmangel hätte die Beklagte die Entscheidung des Inkassoservice nicht durch eine den Einspruch zurückweisende Einspruchsentscheidung bestätigen dürfen, da der Verfahrensmangel weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt werden konnte, noch aus anderen Gründen unbeachtlich ist.
321.
33Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des von einer sachlich und örtlich unzuständigen Behörde erlassenen Bescheids vom 30.07.2021 wird auf die Ausführungen unter II. verwiesen. Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt eine Heilung des dort näher beschriebenen Verfahrensmangels nach § 126 Abs. 2 AO nicht in Betracht.
34Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände. Es handelt sich dabei um Verstöße gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – betreffend die Ziff. 2 bis 5 sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens (§ 126 Abs. 2 AO) – geheilt werden können. Die einzelnen Tatbestände folgen dem Grundsatz, dass Verfahrens- und Formfehler nur dann Auswirkungen auf den Bestand des Verwaltungsaktes haben sollen, wenn durch sie die Entscheidung beeinflusst wurde. Die in § 126 Abs. 1 AO geregelten Heilungstatbestände sind angesichts ihres Ausnahmecharakters abschließend; andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind damit von einer Nachholung mit Heilungswirkung i.S.d. § 126 AO ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 126 AO Rz. 3). Die Entscheidung durch eine sachlich unzuständige Behörde wird von diesem Katalog ersichtlich nicht erfasst. Für eine Erweiterung der Vorschrift auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO (s. u. 2.) nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; s. auch FG Münster v. 21.12.2021, 1 K 530/18 Kg,AO, juris).
35Auch die zeitliche Erweiterung des § 126 Abs. 2 AO, auf die die Beklagte abstellt, bietet keine eigenständige Heilungsmöglichkeit, sondern nimmt auf die Tatbestände des Abs. 1 Ziff. 2 bis 5 Bezug und ist daher mangels Vorliegen eines dieser enumerativ aufgezählten Tatbestände vorliegend nicht einschlägig.
362.
37Der hier unstreitig vorliegende Verfahrensmangel – nämlich der Erlass eines ablehnenden Bescheides durch eine sachlich unzuständige Behörde – ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich. Nach § 127 AO kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können.
38§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit, nicht dagegen den Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit. Die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit fallen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht unter die in § 127 AO genannten Vorschriften über das Verfahren (BFH-Urteil v. 25.02.2021, III R 36/19, BStBl II 2021, 712). Vielmehr begründet die sachliche Unzuständigkeit die Vermutung der sachlichen Unrichtigkeit der Entscheidung. Eine Erstreckung des § 127 AO auf die Verletzung der sachlichen Zuständigkeit, kommt daher nicht in Betracht (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO § 127 AO Rz. 11; von Wedelstädt in Gosch, AO/FGO, § 127 AO, Rz. 14). Hinzu kommt, dass die Vorschrift des § 127 AO bereits ihrem Wortlaut nach grundsätzlich nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Erlassantrag, anwendbar ist, weil bei eingeräumtem Ermessen (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können.
393.
40Der Verfahrensmangel der sachlichen Unzuständigkeit ist auch nicht aus anderen Gründen unbeachtlich.
41a)
42Insbesondere führt die Verpflichtung zur vollumfänglichen Prüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO nicht zur Unbeachtlichkeit der fehlenden sachlichen Zuständigkeit des Inkassoservice durch Erlass der Einspruchsentscheidung, auch wenn diese Prüfung – wie im Streitfall – durch die sachlich und örtlich zuständige Behörde durchgeführt wird. Abgesehen davon, dass bei einer den Einspruch zurückweisenden Einspruchsentscheidung – anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) – die Behörde, die über den Einspruch entscheidet, keine Entscheidung in der Sache trifft, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt gemäß § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes tritt (vgl. hierzu FG Münster v. 21.12.2021, 1 K 530/18 Kg, AO, juris), hätte dies zur Folge, dass der Mangel der sachlichen Zuständigkeit der den angefochtenen Verwaltungsakt erlassenden Behörde nie erfolgreich gerügt werden könnte. Wenn nämlich ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte, wäre die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich. Dies widerspräche insbesondere den Wertungen der §§ 126, 127 AO, in denen zum Ausdruck kommt, dass Verfahrens- und Formfehler immer dann von Bedeutung – d.h. weder heilbar noch unbeachtlich – sind, wenn sie Auswirkungen auf die Entscheidung haben oder haben können. Durch die Annahme der Unbeachtlichkeit in den Fällen der sachlichen Unzuständigkeit würde sowohl der abschließende Charakter der Heilungstatbestände des § 126 AO konterkariert, als auch die Beschränkung der Unbeachtlichkeit in den Fällen des § 127 AO auf gebundene Entscheidungen.
43b)
44Dem steht auch nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des BFH (Urteil v. 19.01.2017, III R 31/15, BStBl II 2017, 642) die den Verwaltungsakt erlassende Behörde selbst im Einspruchsverfahren verpflichtet ist, auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen und als Ergebnis dieser Überprüfung – statt im Falle der Unzuständigkeit ihren Bescheid aufzuheben und den Antrag an die zuständige Behörde weiterzuleiten – die Entscheidung über den Einspruch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen kann. Anders als hier war in dem vom BFH entschiedenen Fall Streitgegenstand eine gebundene Entscheidung, die von einer örtlich unzuständigen Familienkasse getroffen wurde, mit der Folge, dass der Verfahrensmangel nach § 127 AO unbeachtlich war. Vorliegend konnte demgegenüber das Ergebnis einer Überprüfung im Einspruchsverfahren nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO durch die sachlich und örtlich zuständige Familienkasse nach Weiterleitung des Einspruchs an sie nur die Aufhebung der Ausgangsentscheidung sein, da die Missachtung der sachlichen Zuständigkeit – anders als die Missachtung der örtlichen Zuständigkeit – immer beachtlich ist (s. o. III, 2). Dies wäre selbst dann der Fall, wenn es sich bei der hier streitigen Entscheidung um eine gebundene Entscheidung handeln würde und nicht um eine Ermessensentscheidung.
45c)
46Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass bei Ermessensentscheidungen, wie der Entscheidung über einen Erlass nach § 227 AO, für die gerichtliche Überprüfung grundsätzlich die Ermessensausübung in der Einspruchsentscheidung maßgebend ist und auch Ermessenserwägungen in der Einspruchsentscheidung erstmals vorgenommen werden können (so aber FG Düsseldorf vom 22.01.2020, 9 K 2688/19 KV, AO, juris). Denn die ersetzende Funktion der Einspruchsentscheidung bei einer Ermessensentscheidung kann sich nur auf die in der ursprünglichen Entscheidung fehlende oder fehlerhafte Ermessensausübung beziehen, nicht aber auf andere Verfahrensfehler, bei denen auch im Rahmen der Überprüfung einer Ermessensentscheidung die für die Einspruchsentscheidung zuständige Familienkasse zu prüfen hat, ob solche nicht in Zusammenhang mit der Ermessensausübung stehenden Verfahrensfehler vorliegen und ob sie nach § 126 AO heilbar oder ggf. nach § 127 AO unbeachtlich sind. Diese Vorschriften (s.o. III, 1 und 2) würden sinnentleert, wenn bei Ermessensentscheidungen jegliche Art von Mängeln im Rahmen der Einspruchsentscheidung aufgrund ihrer ersetzenden Funktion geheilt werden könnten.
474.
48Im Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Einspruchsentscheidung bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen erübrigen sich Ausführungen zu der Frage, ob die Entscheidung der Beklagten über den Erlassantrag der Klägerin frei von Ermessensfehlern ist.
49IV.
50Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechtsbehelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten. Der BFH hat diese Frage in seinen Entscheidungen vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100 und vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/ NV 1457-1461 ausdrücklich offen gelassen. Zwischenzeitlich sind dort mehrere Verfahren zu dieser Rechtsfrage anhängig (Az. des BFH: III R 6/22, III R 2/22, III R 3/22 und III R 4/22).
51V.
52Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO