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Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Kläger ihren gegen die Einkommensteuerfestsetzung 2011 eingelegten Einspruch wirksam zurückgenommen haben.
3Für den Kläger wurde mit Bescheid vom 29.08.2011 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2008 ein verbleibender Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften i.S.d. § 23 des Einkommensteuergesetzes – EStG – in der bis zum 31.12.2008 anzuwendenden Fassung i.H.v. 952.573 € festgestellt.
4Am 21.12.2012 reichten die Kläger, die als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, ihre unter Mithilfe des Steuerbüros Q in U, erstellte Einkommensteuererklärung 2011 ein, mit der sie in der Anlage KAP unter Zeile 23 lediglich der tariflichen Einkommensteuer unterliegende Kapitalerträge i.H.v. 8350 € deklarierten. Unter der Zeile 59 (Antrag auf Verrechnung von Verlusten nach § 23 EStG nach der bis zum 31.12.2008 geltenden Rechtslage) nahmen sie hingegen keine Eintragungen vor. In dem hierzu übersandten Begleitschreiben vom 21.12.2012 teilte der Kläger mit, dass die Anlage KAP nur insofern ausgefüllt wurde, dass Darlehenszinsen von der X GmbH ausgewiesen wurden. Alle anderen Kapitalerträge seien entsprechend der neuen Abgeltungssteuer nicht mehr aufgeführt.
5Der Beklagte setzte die Einkommensteuer 2011 mit Bescheid vom 10.06.2013 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung – AO – mit Ausnahme eines geltend gemachten Verlustes aus Gewerbebetrieb gemäß § 17 EStG antragsgemäß fest.
6Mit Schreiben vom 11.07.2013 legte der Kläger im eigenen Namen und im Namen der Klägerin Einspruch gegen diesen Einkommensteuerbescheid ein, den er wie folgt begründete:
7„Wie jedes Jahr legen wir vorsorglich Einspruch, insbesondere bezüglich der Nichtverrechnung der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften, ein. Hierzu ist – wie Ihnen bekannt – seit geraumer Zeit ein Verfahren beim FG Köln anhängig.
8Ferner erstreckt sich der Einspruch auf die Nichtanerkennung von Aufwendungen nach § 35a EStG. Die Handwerkerleistungen i.H.v. 1972 € wurden gar nicht berücksichtigt, andere Leistungen wurden gekürzt. Leider geben die Erläuterungen hierzu keine Auskunft.“
9In entsprechender Weise verfuhren die Kläger hinsichtlich der Nichtverrechnung der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften in den – vorliegend nicht streitbefangenen – Veranlagungszeiträumen 2009-2010 und 2012.
10Im Rahmen der Erörterung der vorgebrachten Einspruchsgründe teilte der Kläger mit Schreiben vom 21.08.2013 mit, dass er den Einspruch „bezüglich der 35a-Aufwendungen“ zurückziehe. Nachdem der Beklagte den Klägern mit Schreiben vom 27.08.2013 mitgeteilt hatte, dass der Einspruch hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Verrechnungsverbotes für Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften, § 23 EStG, im Hinblick auf das Verfahren vor dem Finanzgericht Köln 11 K 1217/09 gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 AO ruhend gestellt werde, half er dem Einspruch im Übrigen (Veräußerungsverlust nach § 17 EStG) mit dem nach § 164 Abs. 2 AO geänderten Einkommensteuerbescheid vom 05.09.2013 ab und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf. In den Erläuterungen zu diesem Änderungsbescheid wies der Beklagte darauf hin, dass der Einspruch hierdurch nicht erledigt sei, sondern das Verfahren fortgesetzt werde. Aufgrund einer Mitteilung des Finanzamts (im Folgenden: FA) M über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen wurde die Einkommensteuerfestsetzung mit Bescheid vom 25.11.2013 erneut gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert.
11Mit dem Begleitschreiben zur Einkommensteuererklärung 2013 vom 24.12.2014 legte der Kläger Erträgnisaufstellungen der E-Bank für die Jahre 2009-2013 vor und beantragte „entsprechende Verrechnung von Altverlusten und Steuererstattung“. In der Erträgnisaufstellung für das Jahr 2011 wurden Kapitalerträge (Zeile 7 Anlage KAP) i.H.v. 55.373,45 € und darin enthaltene Gewinne aus Kapitalerträgen (Zeile 8 Anlage KAP) i.H.v. 29.836,64 € sowie entsprechende Beträge der Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags aufgeführt. Den – auch unter dem Briefkopf der Klägerin am 25.04.2015 eingelegten – Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2013 vom 13.04.2015 begründete der Kläger u.a. damit, dass sie, die Kläger, zur Erstattung/Verrechnung von in den Jahren 2009-2013 zu viel gezahlter Kapitalertragsteuer weder im Bescheid noch in den Erläuterungen etwas gefunden hätten und um entsprechende Anerkennung bäten.
12Mit Schreiben vom 08.07.2015 teilte die zuständige Sachbearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle ... des Beklagten, Frau G, den Klägern mit Bezug auf das Ruhen des Einspruchs gegen die Einkommensteuerfestsetzungen 2007-2012 wegen der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Verrechnungsverbotes für Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 EStG mit, dass der BFH nunmehr mit Urteil vom 28.05.2015 die Nichtzulassungsbeschwerde als unbegründet zurückgewiesen habe. Die Kläger würden daher gebeten zu prüfen, ob sie im Hinblick auf diese Entscheidungen die Einsprüche wegen Einkommensteuer 2007 bis 2012 zurücknehmen wollten. Auf die entsprechende Nachfrage des Klägers vom 18.07.2015 erläuterte der Beklagte im Schreiben vom 11.08.2015, dass die ursprünglich unter dem Az. IX B 136/14 geführte Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln mit dem Az. 11 K 1217/09 vom X. Senat übernommen und unter dem Az. X B 171/14 weiter geführt worden sei, und bat um erneute Prüfung und Mitteilung, ob die Kläger die Einsprüche wegen Einkommensteuer 2007 bis 2012 zurücknehmen wollten.
13Mit Fax-Schreiben vom 19.08.2015 teilte der Kläger – auch unter dem Briefkopf der Klägerin – daraufhin folgendes mit:
14„Steuernummer: ...
15Ihr Schreiben vom 08.07.2015
16Einsprüche wegen Einkommensteuer 2007 bis 2012
17Sehr geehrte Frau G,
18entsprechend dem soeben geführten Telefongespräch nehmen wir die Einsprüche (s.o.) zurück.“
19Mit Schreiben vom 07.09.2015 nahm die für die Veranlagung der Einkommensteuer 2013 zuständige Sachbearbeiterin des Beklagten, Frau H, wie folgt zu dem gegen den Einkommensteuerbescheid 2013 vom 13.04.2015 eingelegten Einspruch Stellung:
20„Sie haben der Steuererklärung 2013 Steuerbescheinigungen der E-Bank für die Jahre 2009-2013 beigefügt und beantragen nun die Erstattung der jeweils ausgewiesenen Kapitalertragsteuern. Die Einkünfte aus diesen Kapitalanlagen wurden laut Aktenlage bislang nicht besteuert. Bitte teilen Sie mit, warum sie diese Angaben erst in 2013 nachholen und warum Sie der Meinung sind, dass die Kapitalertragsteuer der Altjahre mit den Steuern für 2013 zu verrechnen sind. Grundsätzlich hätten diese Steuerbescheinigungen gemeinsam mit entsprechend ausgefüllten Anlagen Kap bei der Erstellung der jeweiligen Steuererklärungen 2009-2012 mit abgegeben werden müssen. Die Anlagen Kap wurden jedoch für keines der Jahre korrekt ausgefüllt, selbst auf der Anlage Kap für das Jahr 2013 fehlen die entsprechenden Angaben aus der zugehörigen Steuerbescheinigung. Bitte nehmen Sie hierzu Stellung.“
21Daraufhin teilte der Kläger mit Schreiben vom 30.09.2015 unter dem Betreff „Einspruch wegen Einkommensteuer 2009 bis 2013“ mit, dass es nicht um die Verrechnung oder Erstattung gezahlter Steuern entsprechend einer Einkommensteuerveranlagung gehe, sondern um die Verrechnung gezahlter Abgeltungssteuer mit einem vom FA gesondert festgestellten Verlustvortrag. Die Bank habe ihn diesbezüglich an das FA verwiesen, da die Banken nur einen internen Verlustausgleich berechneten und gutschrieben. Die Frage sei also, wie ein Verlustvortrag ausgeglichen werden könne, wenn gerade keine Erklärung der Kapitalerträge mehr in der Anlage KAP erfolge bzw. erfolgt sei. Die Abgeltungssteuer müsse ja gerade nicht in der Anlage KAP aufgeführt werden.
22Der Beklagte entgegnete mit Schreiben vom 05.10.2015 unter dem Betreff „Einkommensteuer 2013; Ihr Einspruch vom 25.04.2015“, dass die Steuerfestsetzungen der Jahre 2009-2012 nach der erfolgten Rücknahme der jeweiligen Einsprüche rechtskräftig seien. Eine Änderung nach § 173 AO/§ 32d EStG komme analog dem BFH-Urteil vom 12.05.2015 – VIII R 14/13 – nicht mehr in Betracht. Für das Jahr 2013 sei eine Änderung durch Verlustverrechnung im Bereich eventueller Aktiengewinne hingegen noch möglich, wenn die Kläger eine entsprechende Steuerbescheinigung ihrer Bank vorlegen könnten.
23Mit Schreiben vom 07.10.2015, 21.11.2015 und 02.04.2018 vertraten die Kläger – bzw. der Kläger auch im Namen der Klägerin – daraufhin die Auffassung, dass die Verrechnung von Abgeltungssteuer für die Jahre 2009-2013 nach wie vor offen sei. Die diesbezüglichen Einsprüche hätten sie nie zurückgenommen. Bei dem Schreiben vom 19.08.2015 handele es sich ausschließlich um eine Rücknahme der Einsprüche bezüglich des inzwischen abgeschlossenen BFH-Verfahrens X B 171/14. Die Sachbearbeiterin Frau G habe den Kläger telefonisch gebeten, den Einspruch diesbezüglich zurückzunehmen, damit sie sich die Arbeit zur Erstellung von Einspruchsentscheidungen ersparen könnte. Dementsprechend enthalte das Schreiben vom 19.08.2015 die Einschränkung, dass die Einsprüche „entsprechend dem soeben geführten Telefongespräch“ zurückgenommen würden. Diese Teilrücknahme könne nicht als Einspruchsrücknahme für den gesamten Zeitraum und für alle Steuertatbestände umgedeutet werden. Sie hätten die Einsprüche „insbesondere bezüglich der Nichtverrechnung der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften“ eingelegt und nie das Ruhen des Verfahrens im Hinblick auf die seinerzeit anhängige Klage vor dem Finanzgericht Köln mit dem Az. 11 K 1217/09 beantragt. Die Einsprüche seien nur bezüglich der Anrechenbarkeit von Verlusten aus Wertpapiergeschäften entsprechend der zuvor anhängigen Verfahren zurückgenommen worden. Diese hätten sich auf die Frage bezogen, ob ein gewerblicher Wertpapierhandel vorliege und ob bei Wertpapieren, bei denen bereits beim Kauf klar gewesen sei, dass sie innerhalb der einjährigen Spekulationsfrist endfällig würden, auch ein Abzug der Verluste zulässig sei. Ein Antrag auf die Verrechnung von Altverlusten aus Veräußerungsgeschäften mit der Abgeltungssteuer unterliegenden Kapitalerträgen nach § 32d Abs. 4 i.V.m. § 20 Abs. 6 EStG könne sinnvollerweise erst gestellt werden, wenn sicher sei, dass noch ein vortragsfähiger und verrechenbarer Verlust existiere. Sonst führe ein solcher Antrag zu einer erheblichen Erhöhung der Steuerlast. Deshalb hätten das Verfahren vor dem Finanzgericht Köln und die nachfolgende Nichtzulassungsbeschwerde unter dem Az. X B 171/14, in denen geklärt worden sei, dass die vertikale Verlustausgleichsbeschränkung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG 2002 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, erst abgewartet werden müssen, ehe überhaupt an die Verrechnung von gezahlter Abgeltungssteuer mit Altverlusten zu denken gewesen wäre. Darüber hinaus wäre aber z.B. mit dem Verfahren IX R 48/15 vor dem BFH noch die Frage zu klären gewesen, ob das definitive Verrechnungsverbot von Kapitaleinkünften mit einem Altverlustvortrag nach dem Jahr 2013 verfassungsgemäß sei. Erst nach Abschluss dieses Verfahrens hätte klar sein können, dass eine Verrechnung von Altverlusten nur bis zum Jahr 2013 möglich gewesen wäre.
24Mit dem Schreiben vom 21.11.2015 legte der Kläger auch die Steuerbescheinigungen der E-Bank für die Jahre 2009-2013 vor, ausweislich deren der Kläger im Jahr 2011 Gewinne aus Kapitalerträgen im Sinne des § 20 Abs. 2 EStG in Höhe von 29.836,64 € erzielt hatte.
25In einem Aktenvermerk vom 11.02.2019 äußerte sich die Sachbearbeiterin Frau G in Bezug auf das der Einspruchsrücknahme vom 19.08.2015 vorausgehende Telefonat mit dem Kläger wie folgt:
26„Ich kann mich daran erinnern, dass ich mit P telefoniert habe in Bezug auf die o.g. Einspruchsverfahren. An den genauen Inhalt des Telefonats kann ich mich nicht mehr erinnern.
27Fest steht allerdings, dass ich keine Einspruchsrücknahme angeregt hätte, wenn ein Verfahren, das für die anhängigen Einsprüche von Bedeutung gewesen wäre, anhängig und mir bekannt war. Ich hätte in diesem Fall angeregt, unter Hinweis auf dieses Verfahren den Antrag auf weiteres Ruhen der Einspruchsverfahren zu stellen. Ich hätte dann auch einen entsprechenden Aktenvermerk gefertigt. Da ich das nicht getan habe, gehe ich davon aus, dass andere anhängige Verfahren nicht Gegenstand des Telefonats waren.
28Das Verfahren IX R 48/15 war zum Zeitpunkt unseres Telefonats noch nicht anhängig, denn das Vorverfahren (Sächsisches FG 2 K 741/15) wurde erst mit Urteil vom 10.11.2015 abgeschlossen. Erst danach kann das BFH-Verfahren anhängig geworden sein. Das Telefonat erfolgte 3 Monate vorher.
29Nach meinen Erfahrungen während meiner Zuständigkeit für diesen Fall und nach der Aktenlage ist Herr P erfahren im Umgang mit Rechtsbehelfen und Anträgen. Das Schreiben vom 19.08.2015 war so klar formuliert, dass ich keine Zweifel am Erklärungswillen des Herrn P gehabt habe.“
30Mit Einspruchsentscheidung vom 23.04.2020 verwarf der Beklagte die Einsprüche der Kläger gegen die Einkommensteuerfestsetzungen 2009 bis 2012 mit der Begründung als unzulässig, dass die Einsprüche mit dem Schreiben vom 19.08.2015 wirksam zurückgenommen worden seien. Hierzu führte er aus, dass die Erörterung der Einsprüche wegen Einkommensteuer 2007-2012 durch die Rechtsbehelfsstelle des FA mit Schreiben vom 08.07.2015 und 11.08.2015 nur noch bezüglich des letzten noch offenen Einspruchspunktes der „Frage der Verfassungsmäßigkeit des Verrechnungsverbotes für Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 EStG“ erfolgt sei. Hierbei sei darauf hingewiesen worden, dass der BFH die deswegen anhängige Nichtzulassungsbeschwerde unter dem Az. X B 171/14 mit Beschluss vom 28.05.2015 zurückgewiesen habe. Daraufhin sei mit Schreiben der Kläger vom 19.08.2015 die Rücknahme der Einsprüche wegen Einkommensteuer 2007-2012 erfolgt. Vor dem Hintergrund dieses Schriftwechsels und des Telefonats des Klägers mit der seinerzeit zuständigen Sachbearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle, Frau G, sei das Schreiben vom 19.08.2015 nach seinem objektiven Erklärungswert dahingehend zu verstehen, dass die Einsprüche für die Jahre 2009-2012 insgesamt zurückgenommen worden seien. Denn abgesehen von der von dem BFH im Verfahren X B 171/14 entschiedenen Rechtsfrage wären sämtliche weiteren ursprünglich vorgebrachten Einwendungen der Kläger zwischenzeitlich erledigt gewesen. Weitere offene Gesichtspunkte, aufgrund derer die Einsprüche noch hätten offenbleiben sollen, hätten nicht vorgelegen und seien von den Klägern auch nicht benannt worden. Dementsprechend sei dem Schreiben vom 19.08.2015 auch keinerlei Einschränkung der Rücknahmeerklärung zu entnehmen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Behauptung der Kläger, dass erst noch das bei dem BFH unter dem Az. IX R 48/15 anhängige Verfahren hätte abgewartet werden sollen. Denn dieses Verfahren hätte erst nach dem Ergehen des vorinstanzlichen Urteils des Sächsischen Finanzgerichts vom 10.11.2015 anhängig werden können und sei daher zum Zeitpunkt der Einspruchsrücknahme noch gar nicht existent gewesen.
31Mit der hiergegen gerichteten Klage halten die Kläger daran fest, dass mit dem Schreiben vom 19.08.2015 der Einspruch wegen Einkommensteuer 2011 nicht zurückgenommen, sondern nur hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit der vertikalen Verlustausgleichsbeschränkung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG 2002 (Urteil des Finanzgerichts Köln 11 K 1217/09; nachfolgende NZB unter X B 171/14) eingeschränkt worden sei.
32Auf die Aufforderung des Berichterstatters vom 18.05.2020 konkret und detailliert vorzutragen, welchen Inhalt das am 19.08.2015 zwischen Frau G und dem Kläger geführte Telefongespräch gehabt habe, haben die Kläger mit Schreiben vom 21.05.2020 Folgendes ausgeführt:
33Bei dem Telefonat vom 19.08.2015 habe Frau G darauf hingewiesen, dass das Verfahren vor dem BFH ja nunmehr verloren wäre und sie deswegen die Einsprüche aus den Jahren 2007-2012 wegen der Verlustverrechnung ablehnen müsste. Sie habe daher zu ihrer Arbeitserleichterung gebeten, dass die Kläger ihre Einsprüche diesbezüglich zurückziehen. Der Kläger habe daraufhin seinerseits darauf hingewiesen, dass er sich mit der Sache noch nicht genau befasst hätte, aber gerne bereit wäre, bezüglich der endgültig verlorenen Prozesse die Einsprüche zurückzunehmen, so dass Frau G diesbezüglich nicht mehr tätig werden müsste. Er habe zugesagt, unverzüglich die Einsprüche im verabredeten Umfang zurückzunehmen. Dies habe er dann noch am selben Tag gemacht. Frau G hätte daher klar sein müssen, dass die Einsprüche nur in Bezug auf die Verfahren vor dem FG Köln unter dem Az. 11 K 1217/09 und die nachfolgende NZB unter dem Az. X B 171/14 zurückgenommen werden sollten. Im Übrigen liege ja auf der Hand, dass bei den hohen festgestellten Vortragsverlusten noch eine Verrechnung mit der Abgeltungssteuer sinnvoll gewesen wäre, andernfalls das Rechtsbehelfsverfahren wegen Einkommensteuer 2011 keinen Sinn gehabt hätte. Es wäre daher Sache des Beklagten gewesen, die Umstände der angeblichen Einspruchsrücknahme aufzuklären. Auch das Fehlen einer zeitnahen Dokumentation des Inhalts des Telefonats vom 19.08.2015 müsse zulasten des Beklagten gehen. Von Seiten der Kläger sei nie behauptet worden, dass es in dem Telefongespräch um das bei dem Sächsischen FG unter dem Az. 2 K 741/15 anhängige Verfahren oder um das Verfahren vor dem BFH unter dem Az. IX R 48/15 gegangen sei.
34Mit Schreiben vom 10.08.2020 hat der Berichterstatter die Kläger auf Folgendes hingewiesen:
35„In der (vorliegenden) Sache streiten die Beteiligten um die Frage, ob die Rücknahme der Einsprüche mit dem Schreiben vom 19.08.2015 „im Hinblick auf das soeben geführte Telefongespräch“ mit der Sachbearbeiterin des Beklagten, Frau G, lediglich als Einschränkung der anhängigen Einsprüche zu verstehen war oder ob hiermit aus der Sicht des Beklagten als Erklärungsempfänger die Einsprüche vollumfänglich zurückgenommen wurden.
361. Für diese Unterscheidung dürfte von wesentlicher Bedeutung sein, ob der Kläger in dem Telefonat vom 19.08.2015 mit Frau G deutlich gemacht hat, dass er über die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Nichtverrechnung von Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften hinaus (Urteil des Finanzgerichts Köln 11 K 1217/09; nachfolgende NZB unter X B 171/14) weitere Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzungen verfolgen wollte.
37Als derartige weitere Einwendung käme im Streitfall wohl nur die Verrechnung von im Streitjahr 2011 angefallenen Veräußerungsgewinnen aus Kapitalvermögen im Sinne des § 20 Abs. 2 EStG mit dem auf den 31.12.2009 festgestellten verbleibenden Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 EStG a.F. (963.955 €) nach Maßgabe des § 23 Abs. 3 S. 9 und 10 EStG a.F. in Betracht.
38Indessen haben die Kläger in ihren Ausführungen zum Inhalt dieses Telefonats mit Schriftsatz vom 21.05.2020 selbst nicht vorgetragen, dass in dem Telefonat vom 19.08.2015 mit Frau G eine zukünftig zu beantragende Verrechnung von Altverlusten aus Veräußerungsgeschäften gemäß § 23 Abs. 3 S. 9 und 10 EStG mit den Gewinnen des Klägers aus Kapitalerträgen im Sinne des § 20 Abs. 2 EStG erstmals angesprochen oder angekündigt worden wäre…..
393. Für Tatsachenfeststellungen, die die Auffassung der Kläger stützen könnten, dass die Rücknahme der Einsprüche mit dem Schreiben vom 19.08.2015 wegen des Bezugs auf das Telefongespräch mit Frau G lediglich als Einschränkung der anhängigen Einsprüche zu verstehen war, sieht der Berichterstatter nach alledem bisher keine tragfähige Grundlage.
40Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage, über welche streitigen Tatsachen eine Beweisaufnahme durch Vernehmung der Frau G erfolgen sollte. Für den Fall, dass solche erheblichen Beweistatsachen nicht in das Wissen der Zeugin G gestellt werden könnten, käme die Durchführung einer solchen Beweisaufnahme nicht in Betracht.“
41Daraufhin haben die Kläger mit Schriftsatz vom 02.09.2020 vorgetragen, dass der Kläger sich – nach nochmaligem Nachdenken über den Inhalt des Gesprächs mit Frau G – sicher sei, dass er in dem Gespräch darauf aufmerksam gemacht habe, sich mit der Sache noch nicht befasst zu haben, dies aber bald tun würde, um eventuelle Verrechnungsmöglichkeiten noch zu prüfen.
42Für den Inhalt des Telefonats vom 19.08.2015 seien nicht sie, sondern der Beklagte beweispflichtig. Da sich Frau G nicht an den Inhalt des Gesprächs erinnern könne, sei also grundsätzlich zu Gunsten der Kläger zu entscheiden.
43Frau G sei sich sicher im Klaren darüber gewesen, dass bei der Einkommens- und Vermögenslage der Kläger mit höchster Wahrscheinlichkeit noch Verrechnungspotenzial vorhanden sein dürfte. Auf derartige Umstände müsse der Steuerzahler vom FA hingewiesen werden. Es bestehe ja nach § 89 AO eine Beratungspflicht des FA. Es gebe keine Notwendigkeit, dass der Steuerzahler konkret benenne, welchen Inhalt seine Einwendungen gegen eine Steuerfestsetzung haben könnten. Im vorliegenden Fall habe der Kläger diese aber sogar konkret benannt. Soweit auf eine Anregung des FA abgegebene Willenserklärungen des Steuerzahlers nicht ausreichend klar seien, müsse das FA hierzu eine Stellungnahme des Steuerzahlers einholen.
44Die Kläger hätten bereits in dem Schreiben vom 24.12.2014 angegeben, dass Abgeltungssteuer angefallen sei. Nur die Höhe sei damals noch nicht erklärt worden. Hierdurch sei völlig klar gewesen, dass entsprechende Verrechnungsmöglichkeiten noch bestanden hätten. Wenn Frau G dennoch keine Kenntnis von der gezahlten Abgeltungssteuer gehabt haben sollte, gehe das zu Lasten des Beklagten. Soweit die Bearbeitung der Steuererklärung 2013 nicht durch Frau G, sondern durch den zuständigen Veranlagungsbezirk erfolgt sei, könne auch der Umstand, dass Frau G keine Kenntnis von der beantragten Verrechnung von Altverlusten erlangt haben könnte, nicht zu Lasten der Kläger gehen. Denn es könne nicht Aufgabe des Steuerzahlers sein, Briefe auch noch innerhalb der Organisation des FA zu verteilen. Die Unsinnigkeit eines Antrags auf Verrechnung von Altverlusten vor dem Abschluss des BFH-Verfahrens X B 171/14 ergebe sich unmittelbar aus dem Gesetz, so dass es hierfür keines Vortrags der Kläger bedurft hätte.
45Bei der Entscheidung müsse berücksichtigt werden, dass in der Nichtweiterleitung der in dem Schreiben vom 24.12.2014 betreffend die Einkommensteuerveranlagung 2013 enthaltenen Anträge zur Verlustverrechnung der Jahre 2009 bis 2012 ein Organisationsversagen des Beklagten liege, auf Grund dessen dem FA als Erklärungsempfänger das Wissen von dem Inhalt dieses Schreibens auch bei der Auslegung der Erklärung zur Rücknahme der Einsprüche vom 19.08.2015 zuzurechnen sei. Schließlich hätten die Einsprüche nicht wirksam zurückgenommen werden können, weil in dem Schreiben vom 19.08.2015 in Bezug auf das vorangegangene Telefongespräch eine Bedingung formuliert worden sei.
46Auf die Anfrage des Gerichts vom 23.10.2020 haben die Kläger mitgeteilt, dass an dem Beweisantrag auf Vernehmung der Frau G als Zeugin festgehalten werde.
47Die Kläger beantragen,
481. den Einspruchsbescheid vom 23.04.2020 aufzuheben,
2. hilfsweise, die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
52die Klage abzuweisen.
53Nach seiner Auffassung ist das Schreiben des Klägers vom 19.08.2015 bezüglich der Einspruchsrücknahme eindeutig, ohne dass im Hinblick auf den vorangegangenen Verfahrensablauf ein Raum für abweichende Interpretationen bestehe. Wenn der Kläger in dem vorangegangenen Telefonat deutlich gemacht hätte, dass er seine Einsprüche lediglich einschränken wolle, wären weitere Erörterungen gegenüber den Klägern erfolgt bzw. über die Einsprüche durch Einspruchsentscheidungen entschieden worden. Dies sei aber gerade nicht geschehen. Nach dem Akteninhalt hätten keine offenen Einspruchspunkte mehr vorgelegen, die zu Änderungen der Einkommensteuerfestsetzungen 2009-2012 hätten führen können. Im Übrigen sei auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung zu verweisen.
54Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung Beweis durch die Vernehmung der Zeugin G erhoben. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll Bezug genommen.
55Entscheidungsgründe
56Die Klage ist unbegründet.
57Die angegriffene Einspruchsentscheidung vom 23.04.2020 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –). Denn der Beklagte hat den Einspruch gegen die Einkommensteuerfestsetzung 2011 zu Recht als unzulässig verworfen, da dieser Einspruch mit dem Schreiben vom 19.08.2015 wirksam zurückgenommen wurde.
581. Nach § 362 Abs. 1 Satz 1 AO kann ein gegen einen Verwaltungsakt der Finanzbehörde eingelegter Einspruch bis zur Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch zurückgenommen werden. Die Rücknahme des Einspruchs hat nach § 362 Abs. 2 Satz 1 AO den Verlust des eingelegten Einspruchs zur Folge.
59Die Rücknahmeerklärung erfolgt nach § 362 Abs. 1 Satz 2 AO in derselben Form wie die Einspruchseinlegung, d.h. schriftlich oder zur Niederschrift. Die Rücknahme des Einspruchs besteht in der Erklärung, das Einspruchsverfahren nicht mehr durchführen zu wollen, ohne dass es dabei auf die Verwendung des Wortes „Rücknahme“ ankommt (§ 362 Abs. 1 Satz 2 i.V. mit § 357 Abs. 1 Satz 4 AO). Es handelt sich wie beim Einspruch selbst um eine empfangsbedürftige, bedingungsfeindliche Willenserklärung des Verfahrensrechts. Der Inhalt der Rücknahmeerklärung ist unter Anwendung der Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches – BGB – zu ermitteln. Entscheidend ist, wie die Finanzbehörde als Erklärungsempfänger den objektiven Erklärungsgehalt der Rücknahmeerklärung verstehen musste. Dabei sind auch Umstände in Betracht zu ziehen, die sich nicht aus dem Rücknahmeschreiben selbst ergeben, die jedoch der entscheidenden Behörde und ggf. den anderen Verfahrensbeteiligten bekannt sind (BFH-Urteil vom 08. Juni 2000 – IV R 37/99 –, BFHE 193, 85, BStBl II 2001, 162; Brandis in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 159. Lieferung 01.2020, § 362 AO Rn. 5 m.w.N.; Werth in: Gosch, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. Aufl. 1995, 151. Lieferung, § 362 Rn. 13 m.w.N.). Bei einer nur dem Wortlaut nach eindeutigen, tatsächlich aber auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Einspruchsrücknahme kann das FA nach Lage des Einzelfalls gehalten sein, die bestehenden Zweifel daran, ob die Einspruchsführer wirklich den Einspruch zurücknehmen wollten, zu beseitigen und Klarheit zu schaffen (vgl. dazu Urteil des Sächsisches Finanzgerichts vom 12. Dezember 2018 – 4 K 1032/15 –, juris).
60Eine Teilrücknahme ist grundsätzlich unzulässig. Denn die Einspruchsbehörde muss, solange der Einspruch nicht vollen Umfangs zurückgenommen worden ist, die Sache in vollem Umfang erneut prüfen (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO; Brandis, a.a.O, § 362 AO Rn. 6 m.w.N.; Werth, a.a.O., § 362 AO Rn. 15 m.w.N.). Allerdings kann die Erklärung einer Teilrücknahme als Einschränkung des Antrags i.S.d. § 357 Abs. 3 Satz 2 AO zu deuten sein mit der Folge, dass dadurch die Intensität der Aufklärung durch die Behörde eingeschränkt wird (Brandis, a.a.O, § 362 AO Rn. 6).
61Die Rücknahmeerklärung ist unwirksam, wenn sie nicht in der zutreffenden Form oder mit dem erforderlichen Inhalt abgegeben worden ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, führt die nachträgliche Geltendmachung der Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme zur Wiederaufnahme des Einspruchsverfahrens. War die Einspruchsrücknahme dagegen wirksam, ist der gleichwohl fortgeführte Einspruch als unzulässig zu verwerfen (Tz. 3 Satz 4 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung – AEAO – zu § 362 AO; Brandis, a.a.O, § 362 AO Rn. 11; Werth, a.a.O., § 362 AO Rn. 24).
622. Im Streitfall hat der Kläger mit dem von ihm unterschriebenen Fax-Schreiben vom 19.08.2015 eine formgerechte Rücknahmeerklärung zu den anhängigen Einsprüchen wegen Einkommensteuer 2007-2012 abgegeben. Entgegen der Auffassung der Kläger ergibt sich aus dem Hinweis, dass die Rücknahme „entsprechend dem soeben geführten Telefongespräch“ erfolge, noch keine Bedingung für die Wirksamkeit dieser Verfahrenserklärung. Da diese Erklärung auch unter dem Briefkopf der Klägerin abgegeben wurde, hat der Kläger hierbei für sich in Anspruch genommen, zugleich in Vollmacht für die Klägerin zu handeln. In gleicher Weise hatte der Kläger bereits mit dem Schreiben vom 11.07.2013 im eigenen Namen und im Namen der Klägerin Einspruch gegen den hier streitbefangenen Einkommensteuerbescheid 2011 eingelegt. Einer weiteren Überprüfung des Bestehens dieser Vollmacht bedarf es nicht, weil andernfalls bereits die Einspruchseinlegung für die Klägerin nicht wirksam erfolgt wäre und es somit auf die wirksame Rücknahme eines solchen nicht existenten Einspruchs für die Entscheidung des Streitfalls nicht ankommen könnte.
633. Diese Rücknahmeerklärung konnte aus der Sicht des Beklagten als Erklärungsempfänger nach ihrem objektiven Erklärungsinhalt unter Beachtung des Empfängerhorizonts auch inhaltlich nur in dem Sinne verstanden werden, dass der die streitbefangene Einkommensteuer 2011 betreffende Einspruch unbedingt und in vollem Umfang zurückgenommen werden sollte. Ein anderer, auf die bloße Einschränkung des Einspruchsbegehrens abzielender Erklärungswille kann nicht aus der Bezugnahme auf den Inhalt des Telefonats vom 19.08.2015 abgeleitet werden. Das Bestehen weiterer, über den Streitpunkt der Verfassungsmäßigkeit der vertikalen Verlustabzugsbeschränkung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG 2002 hinausgehender Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung war dem Erklärungsempfänger schließlich bis zum Eingang der Rücknahmeerklärung auch nicht in anderer Weise bekannt geworden.
643.1. Zum Nachteil der insoweit beweisbelasteten Kläger ist nicht feststellbar, dass der Kläger in dem Telefonat vom 19.08.2015 mit der zuständigen Sachbearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle, Frau G, deutlich gemacht hat, dass er über die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Nichtverrechnung von Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften hinaus (Urteil des Finanzgerichts Köln 11 K 1217/09; nachfolgende NZB unter X B 171/14) weitere Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzungen verfolgen wollte.
65Zunächst hat die Vernehmung der Frau G als Zeugin den von der Klägerseite in ihr Wissen gestellten Sachverhalt nicht bestätigt, dass der Kläger in dem Telefonat vom 19.08.2015 auf die von ihm beabsichtigte Prüfung weiterer, nicht die Verfassungsmäßigkeit der vertikalen Verlustabzugsbeschränkung betreffender, Verrechnungsmöglichkeiten hingewiesen und insoweit seine Bereitschaft zur Einspruchsrücknahme eingeschränkt habe. Vielmehr hat die Zeugin bekundet, dass sie sich an einen derartigen Inhalt des Telefonats vom 19.08.2015 nicht erinnern könne.
66Die erst nachträglich mit dem Schriftsatz vom 02.09.2020 in das Verfahren eingeführte Behauptung, dass der Kläger in dem Telefonat die Prüfung weiterer Verrechnungsmöglichkeiten in Bezug auf den auf den 31.12.2009 festgestellten Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften thematisiert habe, erscheint darüber hinaus auch wenig glaubhaft, weil ein solcher Sachvortrag weder im außergerichtlichen Vorverfahren noch auf die gerichtliche Aufforderung im vorliegenden Klageverfahren vom 18.05.2020 zur konkreten und detaillierten Darlegung des Inhalts des am 19.08.2015 zwischen Frau G und dem Kläger geführten Telefongesprächs erfolgt ist. Denn auf diese Aufforderung hin haben die Kläger den Inhalt des Telefonats noch so dargestellt, dass der Kläger sich gegenüber Frau G bereit erklärt habe, bezüglich der endgültig verlorenen Prozesse (Urteil des Finanzgerichts Köln 11 K 1217/09; nachfolgende NZB unter X B 171/14) die Einsprüche im verabredeten Umfang zurückzunehmen, so dass sie (Frau G) diesbezüglich nicht mehr tätig werden müsste. Die Änderung dieses Vortrags ist erst in Reaktion auf den gerichtlichen Hinweis vom 10.08.2020 erfolgt, dass aufgrund dieser Darstellung des Inhalts des Telefonats vom 19.08.2015 nicht erkennbar wäre, welche erheblichen Beweistatsachen in Bezug auf das Bestehen weiterer Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzungen in das Wissen der Frau G gestellt werden sollten. Dieser wechselnde Tatsachenvortrag legt die Annahme nahe, dass der mit dem Schriftsatz vom 02.09.2020 erstmals vorgetragene Sachverhalt auf Schlussfolgerungen der Kläger aus dem gerichtlichen Hinweis vom 10.08.2020 und nicht auf der Erinnerung an konkrete Tatsachen beruht.
67Wenngleich den Beklagten die Beweislast für die Abgabe einer die Einspruchsrücknahme beinhaltenden Erklärung der Kläger trifft, steht die Existenz einer solchen Erklärung im Streitfall überhaupt nicht infrage, da sie in Gestalt der ihrem Wortlaut nach eindeutigen schriftlichen Rücknahmeerklärung unstreitig vorliegt. Streitig ist demgegenüber lediglich, ob diese Rücknahmeerklärung aufgrund eines außerhalb ihrer selbst liegenden Sachverhalts, nämlich nach dem Inhalt des darin in Bezug genommenen Telefonats vom 19.08.2015, als bloße Einschränkung der Einsprüche hätte aufgefasst werden müssen. Für derartige außerhalb der Rücknahmeerklärung liegende Sachverhaltsumstände, die deren Verständnis entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch in ihr Gegenteil wandeln sollen, kann indessen nicht den Beklagten die Beweislast treffen, sondern nur die sich hierauf unter Umkehrung des Verhältnisses von Regel und Ausnahme zu ihren Gunsten berufenden Kläger. Dem Beklagten kann nicht zusätzlich die Beweislast für die negative Tatsache aufgebürdet werden, dass der Kläger in dem Telefonat vom 19.08.2015 nicht die Prüfung weiterer Verrechnungsmöglichkeiten in Bezug auf den auf den 31.12.2009 festgestellten Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften angesprochen hat.
683.2. Der Wille des Klägers, die anhängigen Einsprüche wegen weiterer Einwendungen gegen die Steuerfestsetzungen aufrechterhalten zu wollen, kann auch nicht aus dem vorgetragenen Umstand abgeleitet werden, dass er die angekündigte Einspruchsrücknahme in dem Telefonat vom 19.08.2015 auf die endgültig verlorenen Prozesse (Urteil des Finanzgerichts Köln 11 K 1217/09; nachfolgende NZB unter X B 171/14) bezogen habe. Denn hierfür müsste der diese Erklärung entgegennehmenden Sachbearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle zusätzlich erkennbar gewesen sein, dass im Übrigen noch weitere Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzungen bestanden.
69Im Streitfall ergeben sich indessen keine Anhaltspunkte dafür, dass die für die Bearbeitung der Einsprüche zuständige Beamtin zu diesem Zeitpunkt (19.08.2015) aufgrund des bisherigen Verfahrensablaufs wusste oder aufgrund des Akteninhaltes zumindest hätte erkennen können, dass die Kläger die Verrechnung von in den einspruchsbefangenen Jahren angefallenen Veräußerungsgewinnen aus Kapitalvermögen im Sinne des § 20 Abs. 2 EStG mit dem auf den 31.12.2009 festgestellten verbleibenden Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften im Sinne des § 23 EStG a.F. gemäß § 23 Abs. 3 S. 9 und 10 EStG a.F. beabsichtigten.
70Denn zum Zeitpunkt der Erklärung der Einspruchsrücknahme hatten die Kläger im Verfahren der Veranlagung der Einkommensteuer 2009-2012 weder entsprechende Veräußerungsgewinne aus Kapitalvermögen erklärt und damit einhergehend das Wahlrecht gemäß § 32d Abs. 4 EStG ausgeübt noch die zugehörigen Steuerbescheinigungen der E-Bank vorgelegt. Auch aus den Begleitschreiben der Kläger zur Abgabe der Steuererklärungen 2009-2012 vom 24.12.2010, 14.12.2011, 21.12.2012 und 26.12.2013 ergeben sich keine Hinweise auf die Absicht einer derartigen Verlustverrechnung. Soweit die Kläger darin das „noch schwebende Finanzgerichtsverfahren bezüglich der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften“ angesprochen haben, bezieht sich dies allein auf das die Frage der Verfassungsmäßigkeit der vertikalen Verlustausgleichsbeschränkung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG 2002 betreffende Verfahren vor dem Finanzgericht Köln unter dem Az. 11 K 1217/09. Gleiches gilt für die Ausführungen der Kläger in den Einspruchsschreiben zur Einkommensteuer 2009-2012 vom 20.06.2011, 16.05.2012, 11.07.2013 und 14.06.2014. Die der Rücknahme des Einspruchs wegen Einkommensteuer 2009-2012 vorausgehende schriftliche Erörterung mit Schreiben vom 08.07., 18.07. und 11.08.2015 bezog sich demgemäß ausschließlich auf das anhängige Verfahren vor dem Finanzgericht Köln 11 K 1217/09 und die nachfolgende Nichtzulassungsbeschwerde vor dem BFH unter dem Az. X B 171/14. Die Steuerbescheinigungen 2009-2012 haben die Kläger sodann erstmals am 21.11.2015, also nach dem Telefonat vom 19.08.2015 und der am gleichen Tag übermittelten Einspruchsrücknahme, vorgelegt.
71Die in Übereinstimmung mit diesem Verfahrensablauf stehende Aussage der Zeugin G, dass sie weder gewusst habe, dass die Kläger eine Verrechnung der vorgetragenen Verluste aus Veräußerungsgeschäften mit Einkünften aus Kapitalvermögen anstrebten, noch dass solche verrechenbaren Einkünfte aus Kapitalvermögen überhaupt existierten, hält der Senat für plausibel und glaubhaft.
72Der hier zu beurteilende Sachverhalt ist daher nicht mit der dem BFH-Urteil vom 08. Juni 2000, a.a.O., zu Grunde liegenden Fallgestaltung vergleichbar, dass dem für die Bearbeitung der Einsprüche zuständigen Beamten aufgrund eines vorangegangenen Telefongesprächs bekannt war, dass sich die angekündigte Rücknahme tatsächlich auf einen anderen Verwaltungsakt beziehen sollte. Ebenso fehlt es an einer Vergleichbarkeit mit der von dem Sächsischen Finanzgericht mit Urteil vom 12. Dezember 2018, a.a.O., entschiedenen Fallgestaltung, dass der für die Rechtsbehelfsbearbeitung zuständige Sachbearbeiter des Finanzamts vor der Einspruchsrücknahme seine Bereitschaft erklärt hatte, dem Einspruch vollständig abzuhelfen, so dass die hierdurch erkennbare offensichtliche Interessenlage der Einspruchsführer bei der Auslegung der Rücknahmeerklärung berücksichtigt werden musste.
733.3. Nach dem maßgebenden Verständnis der Rücknahmeerklärung aus Sicht des Empfängerhorizonts kann deren Auslegung als bloße Einschränkung der Einsprüche im Hinblick auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der vertikalen Verlustausgleichsbeschränkung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG 2002 auch nicht darauf gestützt werden, dass die Kläger bereits mit dem Begleitschreiben zur Einkommensteuererklärung 2013 vom 24.12.2014 die Erträgnisaufstellungen der E-Bank für 2009-2013 vorgelegt und entsprechende Verrechnung und Steuererstattung beantragt hatten.
74Für die Auslegung einer Erklärung über die Einspruchsrücknahme aus Sicht des Empfängerhorizonts kann nach Auffassung des erkennenden Senats nur auf den Kenntnisstand der das Finanzamt repräsentierenden und für die Bearbeitung der Einsprüche zuständigen Beamten abgestellt werden. Die dem zu Grunde liegende Bestimmung des Erklärungsempfängers nach Maßgabe der innerbehördlichen organisatorischen Zuständigkeit wird zunächst durch das BFH-Urteil vom 08. Juni 2000, a.a.O., gestützt, in dem allerdings nicht über die Frage zu entscheiden war, ob mit dieser – dort inhaltsgleich wiedergegebenen – Definition der Kreis der als Empfänger einer gegenüber dem FA abgegebenen Erklärung in Betracht kommenden Personen abschließend umschrieben ist. Als Argument für die zuständigkeitsbezogene Abgrenzung dieses Personenkreises und die Maßgeblichkeit des bei ihnen vorliegenden Kenntnisstandes für die Auslegung des Inhalts einer gegenüber dem FA abgegebenen Erklärung kann aber weiterhin auch die ständige Rechtsprechung des BFH zur Frage des nachträglichen Bekanntwerdens neuer Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO herangezogen werden (vgl. dazu zuletzt Urteil vom 10. September 2020 IV R 6/18, juris, m.w.N.). Denn danach kommt es für das Bekanntsein einer Tatsache im Zeitpunkt der abschließenden Zeichnung eines Steuerbescheids auf die positive Kenntnis derjenigen Personen an, die innerhalb der zuständigen Finanzbehörde organisationsmäßig für den Erlass dieses Steuerbescheids berufen sind. Denn nur diese Personen können die Finanzbehörde gegenüber dem Steuerpflichtigen repräsentieren und den Steuerbescheid verantworten. Diesen Gesichtspunkt der Repräsentation der Finanzbehörde durch die für die Bearbeitung einer bestimmten Steuerangelegenheit zuständigen Beamten sieht der erkennende Senat auch für die Bestimmung des Empfängers einer gegenüber dieser Behörde abgegebenen Erklärung und die Auslegung dieser Erklärung nach dem Kenntnisstand der zuständigen Personen als maßgeblich an.
75Aufgrund der danach gebotenen zuständigkeitsbezogenen Abgrenzung des Erklärungsempfängers kann der Inhalt des Begleitschreibens zur Einkommensteuererklärung 2013 vom 24.12.2014 nicht unabhängig von der positiven Kenntnis dieses Empfängers zur Auslegung der an die Rechtsbehelfsstelle gerichteten Rücknahmeerklärung herangezogen werden. Erklärungsempfänger der Einspruchsrücknahme mit Schreiben vom 19.08.2015 war nach dem darin ausgewiesenen Betreff (RBST ..., Ihr Schreiben vom 08.07.2015, Einsprüche wegen Einkommensteuer 2007-2012) und der Anredeformel („Sehr geehrte Frau G“) die zuständige Sachbearbeiterin der Rechtsbehelfsstelle ... des Beklagten. Das Begleitschreiben zur Einkommensteuererklärung 2013 vom 24.12.2014 wies demgegenüber keinerlei Bezug zu diesen Einsprüchen bzw. zu den Einkommensteuerveranlagungen 2007-2012 auf, so dass die hierfür zuständige Rechtsbehelfsstelle nicht als Erklärungsempfänger dieses Schreibens in Betracht kam.
76Im Streitfall ist überdies nicht erkennbar, wie die für die Bearbeitung der Einsprüche gegen die Einkommensteuerfestsetzungen der Jahre 2007-2012 zuständige Sachbearbeiterin des Beklagten von dem Inhalt der Einkommensteuererklärung 2013 und des dazu erfolgten Begleitschreibens vom 24.12.2014 hätte Kenntnis nehmen können. Denn die Bearbeitung der Steuererklärung 2013 erfolgte sowohl sachlich als auch personell unabhängig von den anhängigen Einspruchsverfahren der Jahre 2007-2012 durch die zuständige Veranlagungsstelle und nicht durch die für die Bearbeitung dieser anhängigen Einspruchsverfahren zuständige Rechtsbehelfsstelle. Vor diesem Hintergrund ergeben sich für den erkennenden Senat keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin G, dass sie von dem im Rahmen der Veranlagung zur Einkommensteuer 2013 gestellten Verlustverrechnungsantrag der Kläger nicht in Kenntnis gesetzt worden sei.
773.4. Ein anderes Auslegungsergebnis lässt sich auch nicht aus dem klägerischen Vortrag ableiten, dass ein Antrag auf Verrechnung von Altverlusten aus Veräußerungsgeschäften gemäß § 23 Abs. 3 S. 9 und 10 EStG mit den Gewinnen des Klägers aus Kapitalerträgen im Sinne des § 20 Abs. 2 EStG erst sinnvoll möglich gewesen sei, nachdem in dem bei dem BFH anhängigen Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des FG Köln vom 23. Oktober 2014 – 11 K 1217/09 geklärt worden sei, dass die vertikale Verlustausgleichsbeschränkung gemäß § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG 2002 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist und deshalb ein – steuerlich günstigerer – Verbrauch der Verluste in den Vorjahren ausscheide. Denn auf diese ihrem Vorgehen zu Grunde liegende Überlegung haben die Kläger erst im Zuge des Einspruchsverfahrens (Schriftsatz vom 02.04.2018) gegen die Ablehnung der Änderung der Einkommensteuerbescheide 2009-2012 gemäß § 173 AO mit Bescheid vom 27.03.2018 hingewiesen. Aus der Sicht des Beklagten konnte sich demgegenüber die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der vertikalen Verlustausgleichsbeschränkung auch in Bezug auf die Jahre 2009-2012 durchaus als sinnvoll darstellen, da eine entsprechende gesetzliche Regelung in Gestalt des § 23 Abs. 3 Satz 7 EStG 2009 auch in diesen Jahren fortbestand. Es war daher für den Beklagten jedenfalls nicht offenkundig, dass sich das Einspruchsbegehren der Kläger keinesfalls in der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung erschöpfen konnte.
783.5. Die von den Klägern aufgeworfene Frage, ob in der Nichtweiterleitung des in dem Schreiben vom 24.12.2014 betreffend die Einkommensteuerveranlagung 2013 enthaltenen Antrags zur Verlustverrechnung ein Organisationsversagen des Beklagten liegt, weil diesem Antrag auch die Erträgnisaufstellungen für die Jahre 2009 bis 2012 beigefügt waren, bedarf schließlich im Streitfall keiner Entscheidung. Denn auch wenn dem Beklagten ein solches Versagen anzulasten wäre, so könnte dies doch nicht zu einer fiktiven Wissenszurechnung auf der Ebene der Auslegung der Erklärung zur Rücknahme der Einsprüche vom 19.08.2015 führen.
794. Im Hinblick auf die Frage, ob der Empfänger einer gegenüber einer Finanzbehörde abgegebenen Erklärung und damit die Reichweite des Empfängerhorizonts nach Maßgabe der innerbehördlichen organisatorischen Zuständigkeit zu bestimmen ist, lässt der Senat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zu.
805. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.