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Die Beklagte wird verpflichtet, die mit Bescheid der Familienkasse E vom 17.10.2017 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.12.2017 gegen den Kläger festgesetzte Rückforderung des Kindergelds für April 2016 bis Januar 2017 zu erlassen und über den Antrag des Klägers auf Erlass der Säumniszuschläge, die zuletzt durch die Mahnung der Agentur für Arbeit W vom 18.6.2020 geltend gemacht worden sind, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Wegen des weitergehenden Verpflichtungsbegehrens wird die Klage abgewiesen.
Der Bescheid der Agentur für Arbeit W vom 29.8.2019 gegen den Kläger wird aufgehoben, soweit durch ihn der Erlass der Rückforderung des Kindergeldes für April 2016 bis Januar 2017 und der bis zum 20.8.2019 berechneten Säumniszuschläge abgelehnt wird.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil wird wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung erklärt. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Die Beteiligten streiten, ob die beklagte Familienkasse verpflichtet ist, das vom Kläger zurückgeforderte Kindergeld April 2016 bis Januar 2017 (im Folgenden: Streitzeitraum) sowie Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen.
3Der Kläger ist der Vater der am ....1998 geborenen Tochter M. Für sie erhielt er von der Familienkasse E bis Januar 2017 Kindergeld nach dem EStG. Die Tochter wurde am ....2014 selbst Mutter von M1. Der Kläger lebte mit der ganzen Familie in Q in der T‑Straße .... M erhielt mindestens von Oktober 2015 bis September 2017 vom Jobcenter der Stadt Q Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Wegen der Einzelheiten wird auf die Bescheide vom 16.10.2017, 7.3.2016, 6.10.2016 und 17.1.2017 Bezug genommen. Bei der Ermittlung ihres monatlichen Bedarfs berücksichtigte das Jobcenter jeweils auch das Kindergeld, dass der Kläger für M von der Familienkasse erhielt, als Einkommen. Am ....2015 begann M eine vom Jobcenter getragene und auf zwei Jahre angelegte Ausbildungsmaßnahme als Verkäuferin, die von der X GmbH durchgeführt wurde. Die reduzierte Ausbildungsvergütung zahlte das Jobcenter aus und stockte diese um die Mittel zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II auf. Als ihre Ausbildung zu Problemen bei der Betreuung der erst ein Jahr alten M1 führte, nahm M mit Zustimmung der X GmbH gemäß dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz ab dem ....11.2015 Elternzeit in Anspruch.
4Am ....3.2016 stellte der Kläger im Hinblick auf die kurz bevorstehende Vollendung des 18. Lebensjahrs seiner Tochter bei der Familienkasse E einen Kindergeldantrag. In der „Anlage Kind“ erklärte er, dass sich seine Tochter vom „02.02.2015 bis 02.02.2018“ in der Berufsausbildung als Verkäuferin befinde. In einer zusätzlichen formularmäßigen „Erklärung zum Ausbildungsverhältnis“ war der „01.02.2017“ als voraussichtliches Ende der Ausbildung angegeben. Diese Erklärung wurde mit einem Stempel der X GmbH als Ausbildungsbetrieb versehen, das die Angaben richtig und vollständig seien, und am ....3.2016 von einem Mitarbeiter der GmbH unterzeichnet, ferner trägt die Erklärung die Unterschrift des Klägers und von M. Die Konstellation, dass ein Auszubildender – wie im Streitfall – während eines laufenden Ausbildungsverhältnisses Elternzeit in Anspruch nimmt, wurde in dem Vordruck nicht angesprochen und vom Kläger nicht von sich aus erwähnt. Der Kläger versicherte mit seiner Unterschrift im Antragsvordruck, dass alle Angaben (auch in den Anlagen) vollständig seien und der Wahrheit entsprächen. Ihm sei bekannt, dass er alle Änderungen, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung sind, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen habe. Das Merkblatt über Kindergeld habe er erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen. Mit Bescheid vom 18.3.2016 entsprach die Familienkasse E dem Antrag des Klägers und setzte das Kindergeld ab April 2016 in gesetzlicher Höhe fest.
5Mit Schreiben vom 31.10.2016 genehmigte die X GmbH M eine Verlängerung der Elternzeit bis zum 31.8.2017, das Ausbildungsverhältnis ruhe damit bis zur Wiederaufnahme am 1.9.2017. Hierüber informierte der Kläger die Familienkasse nicht.
6Mit Bescheid vom 2.1.2017 hob die Familienkasse E die Kindergeldfestsetzung vom 18.3.2016 ab Februar 2017 auf und führte aus, der Kläger wisse aus den Informationen zu seiner Kindergeldfestsetzung, dass das Kindergeld für jedes Kind längstens bis zum Ende des Anspruchszeitraums gezahlt werden könne, für den der Familienkasse auch ein Nachweis vorliege. Als der Kläger hierauf das Schreiben der X GmbH vom 31.10.2016 übersandte, erfuhr die Familienkasse E erstmals von der Elternzeit von M und stellte sich dann auf den Standpunkt, dass der Kläger für den gesamten Zeitraum keinen Kindergeldanspruch habe. Dem hielt der Kläger entgegen, dass die Ausbildung durch die Elternzeit nicht beendet worden sei. Die Familienkasse E hob gleichwohl durch Bescheid vom 17.10.2017 die Festsetzung des Kindergeldes ab dem Monat Dezember 2015 auf und forderte das bis Januar 2017 gezahlte Kindergeld in Höhe von 2.660 € vom Kläger zurück. Darin ist das Kindergeld für den Streitzeitraum April 2016 bis Januar 2017 in Höhe von 1.902 € (= 9x190 + 1x192) enthalten. Der Betrag sollte vom Kläger bis zum 16.11.2017 überwiesen werden. Den gegen diesen Bescheid vom Kläger eingelegten Einspruch wies die Familienkasse E am 28.12.2017 als unbegründet zurück. Sie führte aus, dass im Streitzeitraum die Berücksichtigungsvoraussetzungen nicht vorgelegen hätten. Für Zeiten der Kindererziehung außerhalb der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz bestehe kein Anspruch auf Kindergeld. Der Gesetzgeber habe für das Kindergeld nach dem EStG die Berücksichtigung von volljährigen Kindern während der Zeiten der Kindesbetreuung nicht vorgesehen. Hierzu verwies die Familienkasse auf das BFH-Urteil vom 15.7.2003 VIII R 47/02, BStBl II 2003, 848. Diese Einspruchsentscheidung blieb unangefochten.
7Da der Kläger der Zahlungsaufforderung nicht nachkam, mahnte die Agentur für Arbeit W mit dem Zusatz Inkasso Service Familienkasse (im Folgenden: Inkasso Service) am 8.12.2017 die 2.660 € sowie einen Säumniszuschlag von 26,50 € beim Kläger zur Zahlung an. Mit Bescheid vom 13.2.2018 setzte die Familienkasse E ferner 135 € Hinterziehungszinsen gegen den Kläger fest.
8Am 21.2.2018 beantragte der Kläger, nunmehr vertreten durch die Prozessbevollmächtigte, bei der Familienkasse E, die Kindergeldrückforderung in Höhe von 2.660 € aus Billigkeitsgründen nach § 227 AO zu erlassen. Für den Kläger sei nicht erkennbar gewesen, dass seine Tochter während der Elternzeit keinen Anspruch auf Kindergeld mehr gehabt habe. Denn sie habe nach Beginn der Elternzeit weiterhin Abrechnungen von dem Träger der Ausbildungsmaßnahme erhalten, so dass der Kläger davon ausgegangen sei, dass das Ausbildungsverhältnis weiterhin Bestand habe. Das komplizierte Konstrukt der Ausbildungsmaßnahme unter Beteiligung des Jobcenters sei für einen Laien nicht ohne Weiteres durchschaubar. Der Kläger habe sich nicht veranlasst sehen müssen, fachlichen Rat einzuholen. Insbesondere unter Berücksichtigung der fehlenden individuellen Kenntnisse, des niedrigen Bildungsstandes, keiner Berufsausbildung und der mangelnden Erfahrung des Klägers im Umgang mit Behörden müsse man zu dieser indiziellen Bewertung kommen. Hinzu komme, dass auch die Tochter keinen Hinweis seitens des Jobcenters erhalten habe, obschon sie während des in Rede stehenden Zeitraums dort wiederholt vorgesprochen habe, um diverse Formulare auszufüllen.
9Die Familienkasse E übersandte den Antrag zur Entscheidung an den Inkasso Service. Dieser erließ durch Bescheid vom 13.7.2018 dem Kläger aufgrund sachlicher Unbilligkeit vom zurückgeforderten Kindergeld für Dezember 2015 in Höhe von 188 € einen Betrag von 184 €; die restlichen 4 € wurden in der mündlichen Verhandlung erlassen. Im Übrigen lehnte der Inkasso Service den Erlass der Kindergeldrückforderung und der Säumniszuschläge ab. Nach § 227 AO dürfe die Familienkasse Forderungen nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig sei. Mit seinem Antrag ziele der Kläger auf einen Erlass der Kindergeldrückforderung aufgrund sachlicher Unbilligkeit ab, da das Kindergeld auf die Sozialleistung angerechnet worden sei. Bei der Entscheidung über den Antrag sei jedoch auch das Verhalten des Kindergeldberechtigten abzuwägen. Nach vorliegenden Erkenntnissen beruhe die entstandene Überzahlung auf einer Verletzung der Mitteilungspflichten, weshalb der Erlass bezüglich des Kindergelds ab Januar 2016 nicht in Betracht komme. Die weitere Einziehung der Teilforderung sei somit nicht unbillig, ein vollständiger Erlass der Forderung komme nach pflichtgemäßem Ermessen nicht in Betracht. Gründe für eine persönliche Unbilligkeit seien nicht vorgetragen und vorliegend auch nicht erkennbar.
10Am 19.7.2018 legte der Kläger gegen den Ablehnungsbescheid des Inkasso Service entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung bei der hier beklagten Familienkasse F Einspruch ein. Diese wies den Einspruch am 5.10.2018 als unbegründet zurück. Die Unbilligkeit der Einziehung sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der mit einer Ermessensentscheidung gekoppelt sei. Die Frage, ob ein Ausnahmefall vorliege, sei unter gegenseitiger Abwägung der schutzwürdigen Interessen des Schuldners auf der einen und der Allgemeinheit auf der anderen Seite zu beantworten. Dabei seien folgende Kriterien zu beachten: Die Einziehung der Forderung könne aus sachlichen Gründen unbillig sein. Sachliche Unbilligkeit liege vor, wenn die Einziehung der Forderung dem Zweck der anspruchsbegründenden Regelungen widersprechen würde, mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen unvereinbar wäre. Der Erlass einer Forderung komme daher insbesondere in Betracht, wenn die Einziehung den Geboten der Gleichheit und des Vertrauensschutzes, den Grundsätzen von Treu und Glauben oder dem Erfordernis der Zumutbarkeit widersprechen würde. Nachteile, die in der Norm selbst begründet seien, rechtfertigten daher grundsätzlich nicht die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen könne gerechtfertigt sein, wenn bei der Berechnung der Höhe des Arbeitslosengeldes II als Einkommen Kindergeld festgesetzt werde, bei einer Rückforderung des Kindergeldes eine nachträgliche Korrektur der Leistungen in Höhe des Kindergeldes jedoch nicht möglich sei. Eine sachliche Unbilligkeit liege jedoch nur vor, wenn die Rückforderung nicht auf das Verhalten des Berechtigten zurückzuführen sei. Hier sei der Kläger seiner Mitwirkungspflicht aus § 68 Abs. 1 EStG nicht nachgekommen. Auf diese sei er in den Festsetzungsbescheiden hingewiesen worden. Er sei verpflichtet gewesen, alle Änderungen der Verhältnisse mitzuteilen. Hierzu habe insbesondere eine Mitteilung über die Elternzeit seiner Tochter M gehört. Soweit der Kläger vortrage, dass jedoch das Kindergeld beim Arbeitslosengeld II als Einkommen angerechnet worden sei und das Jobcenter das Geld nicht nachträglich wieder auszahle, könne dieses nicht zu einem anderen Ergebnis führen. Der BFH habe lediglich erklärt, dass die Anrechnung des Kindergeldes auf das Arbeitslosengeld II als Einkommen einen Grund für den Billigkeitserlass darstellen „könne“. Es liege somit nicht in jedem Fall ein Grund für einen Billigkeitserlass in diesen Fällen vor.
11Mit der Klage verfolgt der Kläger weiter den Erlass der rückständigen Beträge.
12Er führt weiter aus, der Billigkeitserlass sei gerechtfertigt, weil das Kindergeld bei der Berechnung der Höhe des Arbeitslosengeldes II seiner Tochter als Einkommen angesetzt worden sei und eine nachträgliche Korrektur der Leistungen jedenfalls nach der derzeitigen Rechtsprechung der Sozialgerichte nicht möglich erscheine. Der Kläger habe seine Mitwirkungspflicht nicht verletzt. In Anwendung der Grundsätze des Billigkeitserlasses in der aktuellen Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG (V 25.2 DA-KG 2015) sei ein Erlass auszusprechen, wenn die Überzahlung des Kindergeldes nicht auf das Verhalten des Berechtigten zurückzuführen sei. Demgegenüber sei ein Erlass regelmäßig zu versagen, wenn der Kindergeldberechtigte die ungerechtfertigte Weitergewährung und damit die Überzahlung des Kindergeldes durch die Verletzung seiner Mitwirkungspflicht nach § 68 Abs. 1 EStG selbst herbeigeführt habe. Die Überzahlung des Kindergeldes sei jedoch gerade nicht auf das Verhalten des Klägers zurückzuführen, sondern auf die fehlerhafte Zusammenarbeit der zuständigen Behörden Jobcenter, der Kindergeldkasse und des Bildungsträgers. Das Jobcenter habe in Kenntnis der Tatsache, dass die Tochter das Kindergeld für sich selbst erhalten habe, weil dieses nämlich ersichtlich einkommenserhöhend angerechnet wurde, unterlassen, die Familienkasse hierüber zu informieren. Zumindest habe das Jobcenter den Kläger bzw. die Tochter dahingehend aufklären müssen, dass kein Kindergeldanspruch bestehe und die Familienkasse hierüber zu informieren wäre. Von einer Verletzung der Mitwirkungspflichten könne beim Kläger keine Rede sein. Nach alledem sei hinsichtlich des Anspruchs auf Billigkeitserlass von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen. Denn ein Billigkeitserlass gemäß § 227 AO sei in der Regel nicht zu versagen, wenn entweder dem Kindergeldberechtigten die Konsequenzen aus der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses (hier: Ruhen des Ausbildungsverhältnisses) nicht bewusst waren und zudem die Weitergewährung des Kindergeldes auch auf fehlende Kommunikation zwischen den zuständigen Behörden, hier Jobcenter der Stadt Q und Familienkasse, zurückzuführen sei.
13Ursprünglich hat der Kläger den Erlass des zurückgeforderten Kindergelds für Januar 2016 bis Januar 2017, der durch Bescheid vom 13.2.2018 festgesetzten Hinterziehungszinsen (= 135 €) und der Säumniszuschläge wegen der nicht entrichteten Rückzahlungen zuletzt in Höhe von 608 € begehrt, die am 3.6.2020 und 18.6.2020 angemahnt wurden. Durch Bescheid vom 11.3.2019 hat die Familienkasse E die Festsetzung der Hinterziehungszinsen aufgehoben.
14Am 29.8.2019 hat der Inkasso Service die Rückforderung des Kindergeldes für die Monate Januar bis März 2016 aus Gründen sachlicher Unbilligkeit erlassen. Denn in diesem Zeitraum sei die am ....1998 geborene Tochter des Klägers noch minderjährig gewesen, so dass die Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld noch vorgelegen hätten und selbst bei rechtzeitiger Mitteilung durch den Kläger keine Änderung der Anspruchsvoraussetzungen herbeigeführt worden wäre. Wegen des Kindergelds für den Streitraum April 2016 bis Januar 2017 und wegen 418 € bis 20.8.2019 berechneter Säumniszuschläge hat der Inkasso Service den Antrag auf Erlass der Forderung wie bisher mit der Begründung abgelehnt, dass die Überzahlung auf einer Verletzung der Mitteilungspflichten durch den Kläger beruhe und deshalb keine sachliche Unbilligkeit vorliege.
15Die Klage wegen des Erlasses der Rückforderung des Kindesgelds Januar 2016 bis März 2016 sowie der Hinterziehungszinsen ist für erledigt erklärt und abgetrennt worden.
16Der Kläger beantragt,
17den Bescheid vom 29.8.2019 im Umfang der Ablehnung aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Rückzahlung des Kindergelds April 2016 bis Januar 2017 nebst Säumniszuschlägen in Höhe von 608 € zu erlassen.
18Die beklagte Familienkasse beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Sie hält an der Auffassung aus der Einspruchsentscheidung fest.
21Wenn der Kindergeldberechtigte die ungerechtfertigte Weitergewährung und damit letztlich die Überzahlung des Kindergeldes durch die Verletzung der Mitwirkungspflichten gemäß § 68 Abs. 1 EStG selbst herbeigeführt habe, sei der Erlass regelmäßig zu versagen. Hierdurch solle verhindert werden, dass der betroffene Kindergeldberechtigte, insbesondere Empfänger von Leistungen nach dem SGB II, ihren Mitwirkungsverpflichtungen gegenüber der Familienkasse nicht nachkommen, weil das Vermeiden dieses Aufwandes für sie folgenlos wäre. Vorliegend sei die Überzahlung des Kindergeldes allein darauf zurückzuführen, dass der Kläger nicht unmittelbar angezeigt habe, dass sich seine Tochter M nach der Geburt des eigenen Kindes in Elternzeit befunden habe. Die fehlende Kommunikation zwischen Jobcenter und Familienkasse stelle keinen Grund für einen Billigkeitserlass dar.
22Das Gericht hat die (nur) in Papier vorhandene Akte der beklagten Familienkasse über den Erlassantrag und die elektronische Akte der Familienkasse E über die Kindergeldfestsetzung beigezogen.
23Entscheidungsgründe
24Die Klage hat im Wesentlichen Erfolg.
25A) Die Klage ist zulässig.
26I. Die Klage ist gemäß § 40 Abs. 1 Variante 2 FGO mit dem Begehren der Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) statthaft. Der Kläger begehrt die Verpflichtung der beklagten Familienkasse, die Ansprüche auf Rückforderung des Kindergelds für den Streitzeitraum und auf die Säumniszuschläge zu erlassen. Der Erlass von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis durch die Finanzbehörde nach § 227 AO ist ohne Zweifel ein Verwaltungsakt (§ 118 Satz 1 VwGO), der für den Streitzeitraum durch den Bescheid vom 13.7.2018 – in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5.10.2018 (§ 44 Abs. 2 FGO) – abgelehnt wurde.
27Mit dem nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung im Klageverfahren ergangenen Teilabhilfebescheid vom 29.8.2019 wurde der Erlass der Ansprüche für den Streitzeitraum erneut abgelehnt. Die entsprechende Regelung aus dem Bescheid vom 13.7.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5.10.2018 (§ 44 Abs. 2 FGO) ist insoweit durch den Bescheid vom 29.8.2019 ersetzt worden. Gemäß § 68 Satz 1 FGO ist dieser Bescheid zum Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden. Da eine Klage auf Verpflichtung zum Erlass eines abgelehnten Verwaltungsakts notwendigerweise ein Anfechtungsbegehren hinsichtlich der Ablehnung beinhaltet, ist § 68 Satz 1 FGO auf solche Verpflichtungsklagen anwendbar (BFH, Urteile vom 24.5.1991 III R 105/89, BStBl II 1992, 123 Rn. 10 und vom 14.9.2017 IV R 28/14 Rn. 14, BFH/NV 2018, 1). Dass der Erlass eines Verwaltungsakts im Ermessen der Verwaltung steht, ändert an der Anwendbarkeit von § 68 Satz 1 FGO nichts (vgl. BFH, Urteil vom 16.12.2008 I R 29/08, BStBl. II 2009, 539 Rn. 14, vom 26.6.2014 IV R 17/14, BFH/NV 2014, 1507 Rn. 21 und vom 12.5.2016 II R 17/14, BStBl. II 2016, 822 Rn. 14).
28II. Die Klage ist zutreffend gegen die Familienkasse F gerichtet worden. Das folgt aus einer analogen Anwendung von § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
291. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die (Verpflichtungs-)Klage grundsätzlich gegen die Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt unterlassen oder abgelehnt hat. Im Streitfall hat die Agentur für Arbeit W als Inkasso Service der Familienkasse den Erlassantrag des Klägers mit Bescheid vom 13.7.2018 abgelehnt. § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist im Streitfall aber nicht anwendbar.
302. Gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, welche die Einspruchsentscheidung erlassen hat, wenn vor Erlass der Entscheidung über den Einspruch eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist. § 63 Abs. 2 FGO ist eine Sonderregelung (Herbert in Gräber, FGO, 9. Auflage 2019, § 63 Rn. 16). Die hier relevante Einspruchsentscheidung vom 5.10.2018 ist von der beklagten Familienkasse F erlassen worden. § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO ist über seinen Wortlaut hinaus analog selbst dann anzuwenden, wenn die Behörde, die die Einspruchsentscheidung erlassen hat, schon von Anfang an für den Steuerfall örtlich und sachlich zuständig war und der zugrundeliegende Verwaltungsakt also von einer örtlich oder sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde (BFH, Urteil vom 10.6.1992 I R 142/90, BStBl II 1992, 784 Rn. 10 zu § 63 Abs. 2 Nr. 2 FGO a. F., Beschlüsse vom 28.1.2002 VII B 83/01 BFH/NV 2002, 934 Rn. 15 und vom 27.8.2007 IV B 98/06, BFH/NV 2007, 2322 Rn. 7; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 63 FGO Rn. 44 [Stand November 2017]; Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 63 FGO, Rn. 6 [Stand Oktober 2010]; Herbert in Gräber, FGO, 9. Auflage 2019, § 63 Rn. 16). Dieser Rechtsfortbildung schließt das Gericht sich für die hier zu entscheidende Verpflichtungsklage an. § 63 FGO regelt die Prozessführungsbefugnis auf Seiten des Beklagten. Diese kann nur die Behörde haben, der die entsprechende Verwaltungskompetenz zusteht. Das ist – wie nachfolgend zur Begründetheit ausgeführt wird – nur die hier beklagte Familienkasse F. Der Rückgriff auf § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ergäbe keinen Sinn. Das Gericht kann eine Behörde nicht dazu verpflichten, einen Verwaltungsakt zu erlassen, wenn diese dafür gesetzlich nicht zuständig ist.
313. Aus § 68 Satz 1 FGO folgt für die Prozessführungsbefugnis hier nichts anderes. Zwar wird angenommen, dass der Erlass eines einen angefochtenen Verwaltungsakt nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ändernden oder ersetzenden Verwaltungsakts zu einem gesetzlichen Beteiligtenwechsel auf der Beklagtenseite führt, wenn der neue Verwaltungsakt von einer anderen Finanzbehörde erlassen worden ist (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 63 FGO Rn. 9 [Stand Oktober 2020] m. w. N.). Das kann aber jedenfalls dann nicht gelten, wenn diese Finanzbehörde – wie hier der Inkasso Service – für den Erlass des Verwaltungsaktes, den der Kläger begehrt, nicht zuständig ist.
32B) Die Klage ist überwiegend begründet.
33Das Gericht hat gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung der beklagten Familienkasse auszusprechen, die Ansprüche auf Rückforderung des Kindergelds für den Streitraum zu erlassen, weil die Ablehnung rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (I). Wegen des Antrags auf Erlass der Säumniszuschläge kann das Gericht gemäß § 101 Satz 2 FGO nur die Verpflichtung der beklagten Familienkasse auszusprechen, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden, da diese Sache nicht spruchreif ist (II). Hinsichtlich der Ablehnung des Erlasses ist der Bescheid vom 29.8.2019 rechtswidrig und insoweit durch das Gericht gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO aufzuheben (III).
34I. Der Kläger hat aus § 227 AO gegen die beklagte Familienkasse einen Anspruch darauf, dass diese die Ansprüche auf Rückforderung des Kindergelds für den Streitraum erlässt. Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Diese Voraussetzungen sind hier alle erfüllt.
351. Die Ansprüche auf Rückforderung des Kindergelds für den Streitzeitraum sind Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis im Sinne des § 227 AO. Das ergibt sich aus der Legaldefinition in § 37 Abs. 1 AO, wonach auch der in Absatz 2 geregelte Erstattungsanspruch ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis ist. Ist eine Steuervergütung ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrags; dies gilt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 AO auch dann, wenn der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt. Die monatlichen Kindergeldzahlungen für den Streitzeitraum sind Steuervergütungen (§ 31 Satz 3 EStG). Der rechtliche Grund für ihre Zahlung war der Kindergeldbescheid der Familienkasse E vom 18.3.2016. Durch die rückwirkende Aufhebung dieser Kindergeldfestsetzung am 17.10.2017 ist der rechtliche Grund später weggefallen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Familienkasse E, auf deren Rechnung die Zahlung bewirkt worden war, hatte daher nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO an den Kläger als Leistungsempfänger den Anspruch auf Erstattung. Steht der Anspruch dem Steuerberechtigten gegen den Steuerpflichtigen zu, wird er als Rückforderungsanspruch bezeichnet (vgl. Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 37 AO Rn. 4, 21 [Stand Februar 2020]; Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 37 AO, Rn. 10, 109 [Stand Januar 2014]).
362. Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnissen können nach § 227 AO nur von Finanzbehörden erlassen werden. Als Familienkasse ist die Beklagte begrifflich eine Finanzbehörde (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO). Sie ist sachlich (a) und örtlich (b) für den beantragten Erlass zuständig.
37a) Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich gemäß § 16 AO nach dem FVG, soweit nichts anderes bestimmt ist. Die sachliche Zuständigkeit bezieht sich auf die Frage, welcher Aufgabenkreis einer Behörde zugewiesen ist (BFH, Urteil vom 26.7.1988 VII R 194/85, BStBl II 1989, 3 Rn. 4; Wackerbeck in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 16 AO Rn. 6 [Stand Juli 2020]). Einschlägig dafür ist § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG. Danach hat das Bundeszentralamt für Steuern den Familienleistungsausgleich nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG durchzuführen. Damit ist nicht nur die in § 70 EStG ausdrücklich geregelte Aufgabe der Festsetzung und Zahlung des Kindergelds sowie die Aufhebung und Änderung von Festsetzungen gemeint. Im Rahmen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung haben die Finanzbehörden insbesondere sicherzustellen, dass „Steuervergütungen nicht zu Unrecht gewährt“ werden (§ 85 Satz 2 AO). Zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG gehören daher auch die Geltendmachung von Rückforderungsansprüchen, wenn Kindergeld rechtsgrundlos gezahlt wurde (§ 37 Abs. 2 Satz 1 AO), und die Entscheidung über einen Erlass der Rückforderungsansprüche nach § 227 AO.
38Zur Durchführung dieser Aufgaben stellt die Bundesagentur für Arbeit dem Bundeszentralamt für Steuern ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG). § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG stellt verwaltungsverfahrensrechtlich eine sog. Organleihe dar (Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 FVG Rn. 12 [Stand Juni 2020]). Die Familienkassen gelten als Bundesfinanzbehörden, soweit sie den Familienleistungsausgleich durchführen, und unterliegen insoweit der Fachaufsicht des Bundeszentralamtes für Steuern (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 11 FVG). Die Familienkassen erlassen die Verwaltungsakte allerdings im eigenen Namen und nicht etwa für das Bundeszentralamt für Steuern (von Wedelstädt in Gosch, AO/FGO, § 5 FVG Rn. 16 [Stand März 2017]).
39Die Bundesagentur für Arbeit ist eine rechtsfähige bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung (§ 367 Abs. 1 SGB III). Sie wird auf der örtlichen Verwaltungsebene nicht nur durch die sog. Agenturen für Arbeit tätig, sie kann auch besondere Dienststellen errichten (§ 367 Abs. 2 Satz 2 SGB III) und hat insoweit die Organisationshoheit (vgl. Bundestags-Drucksache 15/1515, S. 104). Die Bundesagentur hat die Familienkasse als eine besondere Dienststelle im Sinne des § 367 Abs. 2 Satz 2 SGB III errichtet (Weckmann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Auflage 2019, § 367 SGB III Rn. 47, Heinz/Schmidt-De Caluwe/Scholz, SGB III, 7. Auflage 2021, § 367 Rn. 20, vgl. auch BFH, Urteil vom 25.9.2014 III R 25/13, BStBl II 2015, 847 Rn. 21). Für die sachliche Zuständigkeit der Beklagten genügt an dieser Stelle die Feststellung, dass sie eine Familienkasse der Bundesagentur ist. Die weiteren Fragen betreffen ihre örtliche Zuständigkeit.
40b) Die Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit regeln die Frage, welche von mehreren sachlich zuständigen Behörden im Ergebnis die Verwaltungstätigkeit durchzuführen hat (Drüen in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 17 AO Rn. 1 [Stand Oktober 2020]). Für die örtliche Zuständigkeit gelten grundsätzlich die Bestimmungen der §§ 17 ff. AO.
41aa) Für die Besteuerung natürlicher Personen nach dem Einkommen ist nach § 19 AO das Finanzamt örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Steuerpflichtige seinen Wohnsitz oder in Ermangelung eines Wohnsitzes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Wohnsitzfinanzamt) hat. Da das Kindergeld – wie bereits dargestellt – eine Einkommensteuervergütung ist, ist bei der gebotenen entsprechenden Anwendung von § 19 AO grundsätzlich diejenige Familienkasse örtlich zuständig, in deren Bezirk der Kindergeldberechtigte seinen Wohnsitz hat (vgl. BFH, Urteil vom 25.9.2014 III R 25/13, BStBl II 2015, 847 Rn. 21). An dieses Prinzip anknüpfend hat der Vorstand der Bundesagentur unter Hinweis auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG durch die Anlagen 1 und 2 zum Beschluss 21/2013 vom 18.4.2013 (ANBA Mai 2013 Seite 5/11 bis 5/16) bzw. die Anlage 1 zum Beschluss 15/2016 vom 14.4.2016 (ANBA Mai 2016 Seite 05/5 bis 05/9) die „Regelzuständigkeit“ festgelegt. Diese hängt davon ab, im Bezirk welcher der 156 Agenturen für Arbeit der Antragsteller bzw. Berechtigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Sodann wird jeder einzelnen Agentur eine von insgesamt 14 Familienkassen zugeordnet, die den Familienleistungsausgleich (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 und Satz 2 FVG) durchzuführen hat. Daraus ergibt sich für den Kläger, der in Q und damit im Bezirk der Agentur für Arbeit Q wohnt, die Regelzuständigkeit der Familienkasse E, die dementsprechend am 18.3.2016 das Kindergeld festgesetzt und es am 17.10.2017 wieder aufgehoben und zurückgefordert hat. Da die binnenregionale Neuorganisation der Familienkassen inzwischen abgeschlossen ist, sind diese Zusammenstellungen ausweislich der Vorbemerkung zum Vorstandsbeschluss 11/2017 vom 28.4.2017 (ANBA Ausgabe August 2017 Seite 08/9) nicht mehr vorgesehen. Die Regelungen gelten aber in der Sache bis heute fort. Für die Verpflichtungsklage ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgebend, wenn der Erlass des Verwaltungsakts im Ermessen der Finanzbehörde steht und der Kläger kein Bescheidungs-, sondern ein Vornahmeurteil beantragt (BFH, Urteile vom 14.3.2012 XI R 33/09, BStBl II 2012, 477 Rn. 26 f. und vom 11.10.2017 IX R 2/17, BFH/NV 2018, 322 Rn. 20; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 101 FGO Rn. 25 [Stand Oktober 2019]).
42bb) Schon mit dem Beschluss 21/2013 vom 18.4.2013 (ANBA Mai 2013 Seite 5/17 bis 5/18) hatte der Vorstand daneben „Besondere Zuständigkeiten“ geschaffen, darunter die Zuständigkeit für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen der Regionalen Inkasso Services im Bereich des steuerlichen Kindergeldes, die der Familienkasse F übertragen wurde. Mit Wirkung ab 1.1.2020 gilt der Beschluss 33/2019 vom 24.10.2019 über die Zuständigkeit für Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Inkasso Services im Bereich des steuerlichen Kindergeldes, welche die „regionale“ Familienkasse F hat (ANBA Ausgabe April 2020, S. 3).
43Diese von der Regelzuständigkeit nach dem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt abweichende Zuständigkeit ist durch § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Danach kann der Vorstand der Bundesagentur innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs „abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld […] für bestimmte Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen.“ Es handelt sich um eine sog. Konzentrationsermächtigung (Schmieszek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 5 FVG Rn. 121 [Stand Juli 2017]). Das erkennende Gericht ist der Auffassung, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG eine taugliche Grundlage für die örtliche Zuständigkeit der hier beklagten Familienkasse für die Entscheidung über den Erlass der Kindergeldrückforderungsansprüche (§ 227 AO) darstellt, und der Vorstand der Bundesagentur davon in den Beschlüssen mit hinreichender Klarheit Gebrauch gemacht hat.
44cc) Die vorstehende Auslegung des Gesetzes und die Bedeutung der Vorstandsbeschlüsse für die Familienkasse F sind in der aktuellen Rechtsprechung der Finanzgerichte umstritten. Wie das erkennende Gericht haben im Ergebnis entschieden FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.10.2019 3 K 3077/19; FG Düsseldorf, Urteil vom 22.1.2020 9 K 2688/19 KV, AO, bei juris, FG Hamburg, Urteil vom 27.1.2020 6 K 202/19, EFG 2020, 821 FG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 17.6.2020 7 K 14045/18, EFG 2020, 1284 und 7 K 8108/19, EFG 2020, 1553. Dagegen wird der Anwendung von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG bzw. der Deutung des Vorstandsbeschlusses widersprochen durch das Sächsische FG, Urteil vom 7.3.2018 8 K 1527/17 Kg, bei juris, Revision beim BFH unter III R 21/18 anhängig; FG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.5.2019 10 K 3317/18 AO, bei juris, Revision III R 36/19; Hessisches FG, Beschluss vom 30.8.2019 12 V 591/19, EFG 2020, 218; Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 28.4.2020 13 K 258/19, bei juris, rechtskräftig, FG München, Gerichtsbescheid vom 3.7.2020 5 K 2783/19, Revision III R 46/20 und Urteil vom 7.7.2020 5 K 2557/19, Revision III R 47/20). In den Urteilen des FG Baden-Württemberg vom 18.9.2019 12 K 234/19, bei juris, und des Niedersächsischen FG vom 28.4.2020 13 K 258/19 Rn. 71, bei juris, sind die Rechtsfragen im Ergebnis offengelassen worden. Eine Entscheidung des BFH zu dieser Frage liegt bisher nicht vor.
45dd) Das erkennende Gericht begründet seine Auffassung zur örtlichen Zuständigkeit der Familienkasse F für den Erlass nach § 227 AO wie folgt:
46(1) In der AO wird grundlegend zwischen der Festsetzung (§ 155 AO) und der Erhebung (§ 218 AO) einer Steuer getrennt. Es ist gerichtsbekannt, dass schon innerhalb der Finanzämter (§ 17 Abs. 2 Satz 1 FVG) für Festsetzung und Erhebung von Steuern organisatorisch unterschiedliche Stellen zuständig sind. Hintergrund ist der haushaltsrechtliche Grundsatz der Kassensicherheit (vgl. z. B. für NRW §§ 70, 77 LHO). Es wäre sogar zulässig, durch eine Landesrechtsverordnung die landesweite Zuständigkeit für Kassengeschäfte und das Erhebungsverfahren einschließlich der Vollstreckung einer Landesoberbehörde zu übertragen (§ 17 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 FVG). Ein Grundsatz, dass für Festsetzung und Erhebung einer Steuer stets dieselbe Behörde zuständig sein muss, besteht daher nicht. Da nach der AO auch bei den Familienkassen zwischen der Festsetzung des Kindergeldrückforderungsanspruchs und der Erhebung dieses Anspruchs getrennt werden muss, ist es nachvollziehbar, dass der Vorstand der Bundesagentur ein Bedürfnis dafür erkannt hat, alle Aufgaben im Zusammenhang mit der Erhebung von zurückgefordertem Kindergeld bei einer bestimmten Dienststelle zu konzentrieren.
47(2) Alle 14 „regionalen“ Familienkassen sind alleine der Bundesagentur zugeordnet. Diese ist es, die gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG „ihre Dienststellen als Familienkassen“ zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs zur Verfügung stellt. In der ursprünglichen Fassung von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 FVG durch Art. 6 Jahressteuerergänzungsgesetz vom 18.12.1995 (BGBl I S. 1959) waren Vorgaben für Regelungen zur örtlichen Zuständigkeit der Familienkassen noch gar nicht vorgesehen. Es wurde als selbstverständlich angesehen, dass die Bundesagentur innerhalb ihrer Verwaltungsstruktur die Zuweisung bestimmter Aufgabenbereiche organisatorisch regeln darf (BFH, Beschluss vom 25.8.1997 VI B 94/97, BStBl II 1998, 118 Rn. 23). § 5 Abs. 1 Satz 3 Nr. 11 Satz 4 FVG ist erst mit Wirkung zum 1.1.2000 (Art. 6 und 9 des Gesetzes zur Familienförderung vom 22.12.1999, BGBl I S. 2552) eingefügt worden. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Die Regelung dient der Verbesserung der Durchführung des Familienleistungsausgleichs. Mit ihr wird dem Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit die Möglichkeit gegeben, zur Erhöhung der Effizienz der Verwaltung zweckdienliche Zuständigkeitsverlagerungen vorzunehmen. Personal- und betriebswirtschaftliche Gründe erfordern – insbesondere für den Großraum München – eine solche Modifizierung der bisherigen, auf der Abgabenordnung beruhenden Zuständigkeiten. Aus organisatorischen Gründen besteht ein dringendes Bedürfnis, eine Rechtsgrundlage für Veränderungen der örtlichen Zuständigkeit möglichst bald zur Verfügung zu stellen“ (Bundestags-Drucksache 14/1513 S. 18).
48§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG lässt eine Konzentration von bestimmten Aufgaben bei einer anderen Familienkasse ausdrücklich zu. Es handelt sich hier auch um die Übertragung der Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Gruppen von Berechtigten auf eine andere Familienkasse, die von den Vorschriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden abweicht. Der BFH hat es gebilligt, dass für Anspruchsberechtigte mit Wohnsitz in einem bestimmten Mitgliedstaat der EU die Zuständigkeit jeweils einer bestimmten Familienkasse übertragen worden ist (BFH, Beschluss vom 30.9.2013 XI B 57/13, BFH/NV 2014, 61 Rn. 8; Urteile vom 16.5.2013 III R 8/11, BStBl II 2013, 1040 Rn. 11 und vom 19.1.2017 III R 31/15, BStBl II 2017, 642 Rn. 14). Hintergrund dafür ist die Anwendung über- oder zwischenstaatlicher Rechtsvorschriften wie die VO (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009, somit ein sachbezogenes Kriterium. Nach Auffassung des erkennenden Gerichts besteht kein Grund für eine enge Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG. Die Formulierung „Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld“ geht – wie bereits zu Satz 1 und der „Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG“ ausgeführt – über die Festsetzung und Zahlung des Kindesgelds hinaus. Es ist sprachlich möglich, unter die „Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Gruppen von Berechtigten“ die Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer Kindergeldrückforderung gemäß § 227 AO für die Gruppe der Personen zu subsumieren, die – wie hier der Kläger – einen solchen Anspruch geltend machen.
49(3) Der Gegenauffassung in der FG-Rechtsprechung ist zuzugeben, dass die Anwendung von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG in den zitierten Beschlüssen des Vorstands der Bundesagentur besser hätte formuliert werden können. Dass die übertragenen Zuständigkeiten nicht mit den Begriffen der AO wie Mahnungen erteilen (§ 259 AO), Abrechnungsbescheide erlassen (§ 218 Abs. 2 Satz 1 AO), über Stundungen (§ 222 AO) oder Erlass (§ 227 AO) zu entscheiden, sondern als Entscheidungen des „Inkasso Services“ bezeichnet werden, mag dem Umstand geschuldet sein, dass die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 BGBl I S. 2954 auch durch die Änderung vieler allzu bürokratisch anmutender Begriffe „zu einem leistungsfähigen und kundenorientierten Dienstleister umgestaltet werden“ sollte (Bundestags-Drucksache 15/1515). Es ist jedenfalls gerichtsbekannt, dass die beklagte Familienkasse F in ihrer Verwaltungspraxis über alle vorgenannten Fragen aus der AO regelmäßig entscheidet.
50Jedenfalls nicht einleuchtend ist, warum die Familienkasse F nur für die Bearbeitung „von Rechtsbehelfen“ gegen Entscheidungen des Inkasso Services zuständig ist und nicht zugleich für die Entscheidungen des Inkasso Service selbst, der als eigenständige Verwaltungsaufgabe ebenso wie die Agentur für Arbeit W als Behörde in keinem der zitierten Beschlüssen des Vorstands der Bundesagentur auch nur mit einem Wort erwähnt wird. Darauf kommt es aber im Ergebnis auch nicht an. Mit der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen ist ohne Zweifel das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren im Sinne des Siebenten Teils der AO, also der Einspruch nach den § 347 AO gemeint. Nur die zur Entscheidung über den Einspruch berufene Finanzbehörde hat dessen Zulässigkeit zu prüfen (§ 358 AO). In der Sache darf nach § 367 Abs. 1 AO nur die für den Steuerfall zuständige Finanzbehörde entscheiden. Allein auf dieser Grundlage kann die Finanzbehörde gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO die Sache in vollem Umfang erneut prüfen, ggf. den Verwaltungsakt zum Nachteil des Einspruchsführers ändern (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO) oder dem Einspruch abhelfen (§ 367 Abs. 2 Satz 3 AO). Daher begründet die Übertragung der Zuständigkeit der beklagten Familienkasse F für die Bearbeitung der Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen des Inkasso Services durch den Vorstand der Bundesagentur zwangsläufig auch die Übertragung der Zuständigkeit für die zugrundeliegenden Entscheidungen im Bereich des Inkasso Services und damit die hier interessierende Zuständigkeit für den Erlass nach § 227 AO. Wie die Familienkasse F die hier vom Gericht ausgesprochene Verpflichtung zum Erlass der streitgegenständlichen Kindergeldrückforderung umsetzt, bleibt ihr überlassen. Es ist zu vermuten, dass sie den Inkasso Service W anweisen wird, dem Kläger einen entsprechenden Bescheid zu erteilen. Ob sich der Kläger damit zufriedengeben wird, bleibt abzuwarten. Ob für gegen einen solchen Bescheid nach dessen förmlicher Bestätigung durch die Familienkasse F im Einspruchsverfahren (§ 44 Abs. 2 FGO) eine Anfechtungsklage zulässig und begründet wäre, hat das erkennende Gericht derzeit nicht zu entscheiden.
513. Die für den Erlass erforderliche tatbestandliche Voraussetzung des § 227 AO, dass die Einziehung der hier interessierenden Kindergeldrückforderungsansprüche nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre, ist hier erfüllt.
52a) Die Unbilligkeit im Sinne des § 227 AO ist nach der neueren Rechtsprechung des BFH ein bestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung und Anwendung durch die Finanzbehörden vom Finanzgericht uneingeschränkt überprüft werden kann (grundlegend zum Sanierungserlass des BMF der Beschluss des Großen Senats vom 28.11.2016 (GrS 1/15, BStBl II 2017, 393 Rn. 106; ihm folgend die BFH-Urteile vom 23.8.2017 I R 52/14, BStBl II 2018, 232 Rn. 15 und vom 27.2.2019 VII R 34/17, BFH/NV 2019, 736 Rn. 17; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO Rn. 20 [Stand April 2020], Oellerich in Gosch, AO/FGO, AO § 227 Rn. 63.2). Der eingeschränkte Prüfungsmaßstab des § 102 Satz 1 FGO ist auf diesen dem Tatbestand des § 227 AO zuzuordnenden Rechtsbegriff nicht anwendbar. Im Ermessen der Finanzbehörde steht nach dem eindeutigen Wortlaut von § 227 AO („können […] ganz oder zum Teil erlassen“) nur die Rechtsfolge, ob und wenn ja, in welchem Umfang, die Finanzbehörde den betreffenden Anspruch aus dem Steuerschuld erlässt.
53b) Billigkeit – als Gegenteil von Unbilligkeit – ist die Gerechtigkeit des Einzelfalls (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO Rn. 18 [Stand April 2020]). Für Gerechtigkeit hat zwar in erster Linie die an die verfassungsmäßige Ordnung gebundene Gesetzgebung zu sorgen (Art. 20 Abs. 3 GG). Da Gesetze aber abstrakt-generelle Regeln darstellen, kann es vorkommen, dass ihre buchstabengetreue Anwendung in Einzelfällen zu Härten führt, die der Gesetzgeber nicht vorhergesehen hat. Die Gründe für die Unbilligkeit können sich aus dem Gesetz selbst (sachliche Unbilligkeit) oder aus den Verhältnissen des einzelnen Steuerpflichtigen (persönliche Billigkeitsgründe) ergeben (Rüsken in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 227 Rn. 1). Sachliche Unbilligkeit wird vom BFH angenommen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. BFH, Urteile vom 26.8.2010 III R 80/07, BFH/NV 2011, 401 und vom 8.10.2013 X R 3/10, BFH/NV 2014, 5). So liegen die Dinge im Streitfall.
54c) Der BFH hat sich mit dem Erlass von Kindergeldrückforderungsansprüchen wegen sachlicher Unbilligkeit wiederholt befasst (zur Entwicklung Stahl, jM 2020, 432). Erstmals durch das Urteil vom 19.11.2008 (III R 108/06, BFH/NV 2009, 357 Rn. 11) hat er darauf hingewiesen, dass ein Erlass nach § 227 AO gerechtfertigt sein könne, weil das Kindergeld bei der Berechnung der Höhe der Sozialhilfeleistungen als Einkommen der damaligen Klägerin angesetzt worden und eine nachträgliche Korrektur der Leistungen zu ihren Gunsten nicht möglich sei. Diese Einschätzung wiederholte der BFH durch Urteile vom 18.12.2008 III R 93/06, BFH/NV 2009, 749 Rn. 20, vom 30.7.2009 III R 22/07, BFH/NV 2009, 1983 Rn. 16, vom 6.5.2011 III B 130/10, BFH/NV 2011, 1353 Rn. 6, vom 22.9.2011 III R 78/08, BFH/NV 2012, 204 Rn. 24; vom 27.12.2011 III B 35/11, BFH/NV 2012, 696 Rn. 5; vom 23.2.2015 III B 41/14, BFH/NV 2015, 658 Rn. 5.
55Erst zehn Jahre später, durch Urteil vom 13.9.2018 (III R 19/17, BStBl II 2019, 187), hat der BFH einschränkend entschieden, alleine der Umstand, dass das Kindergeld auf bezogene Sozialleistungen angerechnet wurde, verpflichte die Familienkasse nicht zu einem Billigkeitserlass. Auch die Tatsache, dass das Jobcenter die Familienkasse nicht über die ihm – dem Jobcenter – bekannten kindergeldschädlichen Tatsachen informiert habe, müsse bei der Entscheidung über den Billigkeitsantrag außer Betracht bleiben, weil das Jobcenter zu einer derartigen Information nicht verpflichtet und auch nicht befugt sei. Stattdessen hat der BFH die damalige Klägerin auf ihre Verpflichtung aus § 68 Abs. 1 EStG hingewiesen, der Familienkasse alle Informationen zu übermitteln, die für die Kindergeldfestsetzung von Bedeutung waren. Wenn die Familienkasse das Kindergeld zu Unrecht auszahle, weil der Kindergeldempfänger es unterlassen habe, die Familienkasse über tatsächliche Verhältnisse zu informieren, die für den Anspruch auf Kindergeld von Bedeutung sind, sei der Familienkasse aus diesem Grund kein Fehlverhalten vorzuwerfen. Dann liege kein Gesetzesüberhang vor, der einen Billigkeitserlass gebiete. Über die gegen dieses Urteil eingelegte Verfassungsbeschwerde (1 BvR 846/19) hat das BVerfG bisher nicht entschieden. Der BFH hat die neuere Linie bis in die jüngste Gegenwart fortgeführt (BFH, Urteile vom 23.1.2020 III R 16/19, BFH/NV 2020, 926 und vom 27.5.2020 III R 45/19 BFH/NV 2020, 1283).
56d) Das erkennende Gericht versteht die neuere Rechtsprechung des BFH so, dass die beiden Voraussetzungen – Anrechnung des Kindergelds auf Sozialleistungen und Fehlen einer Mitwirkungspflichtverletzung beim Kindergeldberechtigten – kumulativ vorliegen müssen, wenn die sachliche Unbilligkeit des Kindergeldrückforderungsanspruchs im Sinne des § 227 AO bejaht werden soll. So liegen die Dinge hier.
57Das Kindergeld für den Streitzeitraum, das vom Kläger zurückgefordert wird, wurde vom Jobcenter der Stadt Q bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes seiner Tochter M nach dem SGB II für denselben Zeitraum – April 2016 bis Januar 2017 – als Einkommen behandelt (§ 11 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 2 Satz 1 SGB II) und hat ihren Bedarf jeweils gemindert. Das ist durch die Bescheide des Jobcenters vom 16.10.2017, 7.3.2016, 6.10.2016 und 17.1.2017 nachgewiesen und zwischen den Beteiligten nicht streitig. Nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte kommt es alleine auf den tatsächlichen Zufluss des Kindergelds beim Hilfeempfänger an, es ist nicht möglich, für einen solchen Zeitraum Leistungen nachzufordern, wenn das zugeflossene Kindergeld in einem späteren Monat zurückgezahlt werden muss (vgl. BSG, Urteil vom 23.8.2011 B 14 AS 165/10 R, bei juris, Rn. 24; LSG NRW, Beschluss vom 5.12.2013 L 6 AS 926/13 B, juris, Rn. 14; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 7.6.2018 L 34 AS 201/15, juris, Rn. 39).
58Die weitere Voraussetzung für die Annahme einer sachlichen Unbilligkeit ist ebenfalls erfüllt. Der Kläger hat für den Streitzeitraum – entgegen der Auffassung der beklagten Familienkasse – seine gesetzlichen Mitwirkungspflichten nicht verletzt.
59aa) Da das Kindergeld für den Streitzeitraum auf dem Bescheid der Familienkasse E vom 18.3.2016 beruht, ist zunächst auf die diesbezügliche Mitwirkungspflicht des Klägers einzugehen. Einschlägig ist dafür § 90 Abs. 1 AO, der für jedes in der AO und in den Einzelsteuergesetzen geregeltes Verwaltungsverfahren in Steuersachen und damit auch im Kindergeldrecht gilt (vgl. Söhn in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, AO § 90 Rn. 9 [Stand April 2020] und AO § 78 Rn. 18 [Stand November 2017]). Gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 AO sind die Beteiligten zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts verpflichtet. Sie kommen der Mitwirkungspflicht gemäß § 90 Abs. 1 Satz 2 AO insbesondere dadurch nach, dass sie die für die Besteuerung – bzw. die Festsetzung einer Steuervergütung (§ 155 Abs. 5 AO) – erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offen legen und die ihnen bekannten Beweismittel angeben. Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (§ 90 Abs. 1 Satz 3 AO). Der Kläger war nach diesen Bestimmungen verpflichtet, die Vordrucke der Familienkasse E für den Antrag auf Kindergeld vollständig und richtig auszufüllen. Das hat der Kläger getan.
60Als offensichtlichen Schreibfehler des Klägers wertet das erkennende Gericht die Angabe zum Ende der Ausbildung seiner Tochter, zu der er in der Anlage Kind das Datum „02.02.2018“ angegeben hat. Denn in der vom Ausbildungsbetrieb ausdrücklich bestätigten „Erklärung zum Ausbildungsverhältnis“ ist der „01.02.2017“ angegeben und diese Angabe hat auch die Familienkasse zugrunde gelegt. Das zeigt der Aufhebungsbescheid vom 2.1.2017, mit dem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung unter Bezugnahme auf den ihr vorliegenden Nachweis ab dem Monat Februar aufgehoben hat.
61Eine Verletzung der Pflicht aus § 90 Abs. 1 Satz 2 AO könnte lediglich darin bestehen, dass der Kläger nicht angegeben hat, dass sich seine Tochter seit dem 7.11.2015 und damit auch bei Unterzeichnung des Kindergeldantrags am 17.3.2016 in Elternzeit befunden hat. Im Ergebnis wurde hierdurch aber § 90 Abs. 1 Satz 2 AO nicht verletzt. Der Kläger ist nämlich im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass die Elternzeit am Fortbestand des Berufsausbildungsverhältnisses nichts geändert hat. Eben dies hat der Ausbildungsbetrieb, die X GmbH, der Tochter des Klägers vor Beginn der Elternzeit mitgeteilt und durch die Unterzeichnung der „Erklärung zum Ausbildungsverhältnis“ am 14.3.2016 nochmals bestätigt. Der Kläger hatte keinen Grund, dieser Beurteilung des Ausbildungsbetriebs zu misstrauen. Dass ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG solange nicht „für einen Beruf ausgebildet wird“, wie es wegen Betreuung des eigenen Kindes die Elternzeit in Anspruch nimmt und die Ausbildung nach §§ 15, 20 Abs. 1 BErzGG unterbricht (BFH, Urteile vom 15.7.2003 VIII R 47/02, BStBl II 2003, 848, vom 24.9.2009 III R 79/06 und vom 13.6.2013 III R 58/12, BStBl II 2014, 834), ist dem Kläger nicht bekannt gewesen und musste sich ihm nach Lage der Dinge auch nicht aufdrängen. Gemäß der „Erklärung zum Ausbildungsverhältnis“ (Bl. 8 und 9 elektronische Kindergeldakte) war diese Konstellation gar nicht vorgesehen, danach ist das Ausbildungsverhältnis nur entweder beendet oder noch nicht beendet, wobei zu einem beendeten Ausbildungsverhältnis noch Zusatzfragen gestellt werden. Bei unbefangener Betrachtung dieses Vordrucks gibt es keine dritte Möglichkeit. Es handelt sich um einen amtlichen Vordruck der Bundesagentur für Arbeit „KG 5b – 01/12 – Stand August 2012“. Zu diesem Zeitpunkt war die Rechtslage zu den Auswirkungen der Elternzeit auf ein Ausbildungsverhältnis durch das BFH-Urteil von 2003 bereits seit neun Jahren geklärt. Dem erkennenden Gericht erschließt sich nicht, warum der Vordruck nicht entsprechend aktualisiert und der Sachverhalt der Unterbrechung des Ausbildungsverhältnisses durch Elternzeit dort aufgenommen wurde. Wäre dies geschehen, hätte der Kläger dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angegeben und das Kindergeld für den Streitzeitraum wäre nicht bewilligt worden; stattdessen hätte die Tochter entsprechend höhere Leistungen beim Jobcenter beantragt und erhalten.
62In dem „Merkblatt Kindergeld“ des Bundeszentralamts für Steuern von Januar 2016 heißt es auf Seite 13: „Wird die Ausbildung wegen Erkrankung oder Mutterschaft nur vorübergehend unterbrochen, wird das Kindergeld grundsätzlich weitergezahlt. Das gilt jedoch nicht für Unterbrechungszeiten wegen Kindesbetreuung nach Ablauf der Mutterschutzfristen (z. B. Elternzeit).“ Zwar hat der Kläger formularmäßig erklärt, er habe das Merkblatt über Kindergeld erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen. Es erscheint dem Gericht aber glaubhaft, dass der Kläger jedenfalls nicht gewusst hat, dass ihm wegen der Elternzeit kein Kindergeld zugestanden hat. In der Klageschrift hat die Prozessbevollmächtigte unwidersprochen vorgetragen, dass der Kläger einen niedrigen Bildungsstand, keine Berufsausbildung und keine Erfahrung im Umgang mit Behörden habe. Die beklagte Familienkasse hat selbst nicht behauptet, dass der Kläger den Kindergeldantrag in Kenntnis der tatsächlichen Rechtslage gestellt habe; der Bescheid vom 13.2.2018 über die Festsetzung von Hinterziehungszinsen ist am 11.3.2019 aufgehoben worden. Das Gericht misst im Übrigen einem auf den konkreten Sachverhalt bezogenen und vom Bürger auszufüllenden Antragsvordruck der Behörde ein höheres Gewicht bei als ein 47 Seiten umfassendes Merkblatt, das zu allen möglichen Fragen zum Kindergeld Stellung nimmt.
63Mitwirkungspflichten der Beteiligten im Zusammenhang mit der Festsetzung von Steuervergütungen wie § 90 Abs. 1 Satz 1 AO müssen sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Danach muss das eingesetzte Mittel zur Erreichung des angestrebten Zwecks nicht nur erforderlich und geeignet sein, sondern hierzu auch in einem angemessenen, d.h. für den Betroffenen zumutbaren Verhältnis stehen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genießt Verfassungsrang und ist deshalb stets auch bei der Auslegung und Anwendung von Normen des einfachen Rechts zu beachten (BVerfG, Beschluss vom 9.11.1976 2 BvL 1/76, BVerfGE 43, 101 Rn. 27). Wenn der Zweck der Mitwirkungspflicht die grundsätzlich der Finanzbehörde obliegende Aufklärung des Sachverhalts ist (§ 88 Abs. 1 Satz 1 AO), dann müssen die Mitwirkungspflichten der Kindergeldberechtigten zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und zumutbar sein. Das gilt insbesondere für die Auslegung des § 90 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 155 Abs. 4 AO, wonach die Beteiligten die für die Festsetzung einer Steuervergütung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen haben. Im Sinne der Verhältnismäßigkeit darf der rechtlich nicht vorgebildete Kindergeldberechtigte darauf vertrauen, dass ihm in einem Antragsvordruck der Behörde alle für den konkreten Sachverhalt – Berufsausbildung eines über 18 Jahre alten Kindes – relevanten Fragen zum Sachverhalt gestellt werden. Von der entsprechenden Verpflichtung, ein zutreffendes Antragsformular zu erstellen, kann sich die Behörde nicht unter Hinweis auf ein umfängliches Merkblatt befreien.
64Das Argument der Beklagten, die Verletzung von Mitwirkungspflichten als Ausschlusskriterium für einen Erlass solle verhindern, dass für Empfänger von Leistungen nach dem SGB II die Nichtbeachtung der Mitwirkungspflichten folgenlos wäre, schlägt im Streitfall nicht durch. Das erkennende Gericht geht von der Geltung der Mitwirkungspflichten der Kindergeldberechtigten in einem verhältnismäßigen Umfang aus. Die Entscheidung hängt nur von der Frage ab, ob diese Mitwirkungspflichten im hier zu beurteilenden Sachverhalt verletzt worden sind. Das ist zu verneinen.
65bb) Der Kläger hat auch nicht gegen § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG verstoßen. Diese Pflicht zur sog. Veränderungsanzeige betrifft den Zeitraum nach Stellung des Kindergeldantrags und trägt dem Umstand Rechnung, dass es sich bei der Kindergeldfestsetzung um einen Dauerverwaltungsakt handelt (vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, EStG § 68 Rn. 6). Wer Kindergeld beantragt oder erhält, hat nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen. Die einzige erkennbare Änderung gegenüber den Verhältnissen bei Antragstellung im März 2016 ist die am 31.10.2016 von der X GmbH erteilte Verlängerung der Elternzeit bis zum 31.8.2017. Für diese ist der Tatbestand des § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG jedoch nicht erfüllt. Die Pflicht zur Mitteilung kann gemäß der ersten Variante nur entstehen, wenn dem Betroffenen bekannt ist, dass die geänderten Verhältnisse für die Leistung erheblich sind (vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 301. Lieferung 12.2020, § 68 EStG Rn. 6). Das war hier nicht der Fall. Dem Kläger war gerade nicht bekannt, dass die Elternzeit oder deren Verlängerung für das Kindergeld erheblich ist. Die Pflicht nach der zweiten Variante von § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt lediglich objektiv voraus, dass sich Verhältnisse ändern, zu denen im Zusammenhang mit der Leistung eine Erklärung abgegeben worden sind. Auch diese Variante liegt hier nicht vor. Der Kläger hat im Kindergeldantrag keine Erklärung über die Elternzeit abgegeben.
66Zu denken wäre allenfalls an die Erklärung über die Dauer der Ausbildung der Tochter, die sich gegenüber dem 1.2.2017 durch die zusätzliche Elternzeit bis zum 1.9.2017 verlängern hat. Der Erlass von Kindergeld für die Monate Februar 2017 bis September 2017 ist jedoch nicht streitgegenständlich, infolge des Aufhebungsbescheids vom 2.1.2017 ist bereits ab Februar 2017 kein Kindergeld mehr ausgezahlt worden. Nach der zitierten neueren Rechtsprechung muss die Verletzung der Mitwirkungspflicht zu der Überzahlung geführt haben, die den Kindergeldrückforderungsanspruch begründet, dessen Erlass beantragt wird. Dieser Zusammenhang besteht im Streitfall nicht.
674. Rechtsfolge des § 227 AO ist, dass die Finanzbehörde den Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, dessen Einziehung unbillig wäre, ganz oder teilweise erlassen „kann“. Ist nämlich die Finanzbehörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat sie gemäß § 5 AO ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Das Finanzgericht kann die behördliche Ermessensentscheidung nach § 102 Satz 1 FGO nur darauf überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Maßgebend dafür ist die letzte Verwaltungsentscheidung (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 102 FGO, Rn. 64 [Oktober 2019]). Das war hier – wie bereits bei der Zulässigkeit ausgeführt – nach § 68 Satz 1 FGO der Bescheid des Inkasso Service vom 29.8.2019. Darin ist der Erlass mit der Begründung abgelehnt worden, dass es an der sachlichen Unbilligkeit fehle, weil die Überzahlung auf einer Verletzung der Mitteilungspflichten durch den Kläger beruhe. Diese nach Auffassung des Gerichts unzutreffende Annahme hat dazu geführt, dass der Inkasso Service das ihm hier zustehende Ermessen überhaupt nicht ausgeübt hat. Übt die Behörde ein ihr zustehendes Ermessen tatsächlich nicht aus, so spricht man von Ermessensnichtgebrauch oder von Ermessensunterschreitung. Es handelt sich um einen Ermessensfehler im Sinne des § 102 Satz 1 Variante 2 FGO, denn den Zweck zur Ermessensermächtigung nach § 5 AO berücksichtigen heißt zumindest, von der Ermächtigung Gebrauch machen (BFH, Urteil vom 2.11.1994 VII R 94/93, BFH/NV 1995, 754 Rn. 19 und vom 18.12.2001 VIII R 27/96, BFH/NV 2002, 747 Rn. 11).
68Die Sache ist im Sinne des § 101 Satz 1 FGO spruchreif. Ausgehend von dem bereits dargestellten Zweck des § 227 AO ermöglicht es die Vorschrift, das Ergebnis der buchstabengetreuen Anwendung des Gesetzes – hier also den Kindergeldrückforderungsanspruch aus § 37 Abs. 2 Satz 1 AO geltend zu machen – so anzupassen, dass der dem Gesetz zugrundeliegende Gedanke auch im Einzelfall verwirklicht wird (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO Rn. 18 [Stand April 2020]). So verhält es sich, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage – wenn er sie als regelungsbedürftig erkannt hätte – im Sinne der begehrten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (Oosterkamp in BeckOK AO, § 227 Rn. 37 [Stand Oktober 2020]). Es war bereits nach der früheren Rechtsprechung anerkannt, dass bei sachlicher Unbilligkeit der Einziehung im Sinne des § 227 AO eine sog. Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, weil allein der Erlass des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis die einzig rechtmäßige Ausübung des Ermessens durch die Finanzbehörde darstellt (vgl. etwa BFH-Urteile vom 21.8.2012 IX R 39/10, BFH/NV 2013, 11 Rn. 10, und in BFHE 247, 170, BStBl II 2015, 237 Rn. 28). Daran hat sich durch das gewandelte Verständnis des § 227 AO nach der Entscheidung des Großen Senats zum Sanierungserlass nichts geändert (vgl. Beschluss vom 28.11.2016 GrS 1/15, BStBl II 2017, 393 Rn. 101 f.).
69II. Wegen der Säumniszuschläge führt die Klage gemäß § 101 Satz 2 FGO zur Verpflichtung der beklagten Familienkasse, den Kläger neu zu bescheiden. Auch der Anspruch auf einen Säumniszuschlag ist gemäß § 37 Abs. 1 AO in Verbindung mit § 3 Abs. 4 Nr. 5 AO als steuerliche Nebenleistung ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis, den die Finanzbehörde gemäß § 227 AO erlassen kann, wenn die Einziehung bei Fälligkeit nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre. Der für die Überprüfung des Ermessens maßgebende Ablehnungsbescheid vom 29.8.2019 ist insoweit schon deshalb rechtswidrig, weil ihm die erforderliche Begründung fehlt. Gemäß § 121 Abs. 1 AO ist ein schriftlicher Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen, soweit dies zu seinem Verständnis erforderlich ist. Dies gilt insbesondere für Ermessensentscheidungen, denn die maßgebenden Erwägungen bei der Ermessensausübung müssen aus der Entscheidung erkennbar sein (BFH-Urteile vom 13.6.1991 V R 44/87, BFH/NV 1992, 78 Rn. 14 und vom 2.9.2010 VI R 3/09, BStBl II 2011, 233 Rn. 18). Im Ablehnungsbescheid wird auf die Säumniszuschläge aber gar nicht gesondert eingegangen. Die maßgeblichen Ermessenserwägungen der Ablehnungsentscheidung sind somit nicht erkennbar. Die Ablehnung des Erlasses für die Hauptforderung reicht dafür nicht aus, weil § 240 Abs. 1 Satz 4 AO zeigt, dass der Grundsatz der Akzessorietät gerade bei Säumniszuschlägen durchbrochen ist (vgl. BFH, Urteil vom 17.7.2019 III R 64/18 BFH/NV 2020, 7 Rn. 24). Bei der erneuten Entscheidung hat die Familienkasse jedenfalls zu berücksichtigen, dass Säumniszuschläge in der Regel zur Hälfte zu erlassen sind, wenn ihre Funktion als Druckmittel ihren Sinn verliert (BFH, Urteil vom 30.3.2006 V R 2/04, BStBl II 2006, 612). Vor dem Hintergrund der ausgesprochenen Verpflichtung, die Kindergeldrückforderungsansprüche zu erlassen, liegt auch ein vollständiger Erlass der Säumniszuschläge im Ermessen der beklagten Finanzbehörde.
70III. Das Gericht hat die Kosten des Verfahrens gemäß § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO ganz der beklagten Familienkassen auferlegt, weil der Kläger nur zu einem geringen Teil unterlegen ist (vgl. zum Bescheidungsurteil anstelle des Verpflichtungsurteils die BFH-Urteile vom 2.6.2005 III R 66/04, BStBl II 2006, 184 Rn. 36 und vom 24.2.2010 III R 73/07, BFH/NV 2010, 1429 Rn. 14). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 FGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
71IV. Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO. Wegen der unterschiedlichen Behandlung der Zuständigkeit des Inkasso Service und der Zuständigkeit der Familienkasse F durch die Finanzgerichte erfordert die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH. Die Rechtssache hat ferner grundsätzliche Bedeutung, soweit die Voraussetzungen für einen Erlass von Ansprüchen auf Rückforderung von Kindergeld in Konstellationen wie im Streitfall bisher jedenfalls nicht abschließend geklärt sind (vgl. Oellerich in Gosch, AO/FGO, AO § 227 Rn. 65 [Stand Oktober 2020]).