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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 113.136 € festgesetzt.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob es der sachlichen Bescheidung eines innerhalb der Antragsfrist gestellten zweiten Antrages auf Vorsteuervergütung entgegensteht, dass über einen ersten Antrag bereits durch bestandskräftigen Bescheid entschieden wurde.
3Die Klägerin ist ein in Großbritannien ansässiges Unternehmen.
4Am 1. Februar 2012 (Posteingangsdatum) stellte die Klägerin beim Beklagten über das britische Inlandsportal einen Antrag auf Vergütung von Vorsteuern im Rahmen des besonderen Verfahrens nach § 18 Abs. 9 UStG i.V.m. §§ 59 ff. UStDV für den Vergütungszeitraum 10-12/2011 i.H.v. 113.136,42 €. Dem Antrag waren nicht die eingescannten Originalrechnungen beigefügt.
5Der Beklagte lehnte den Vorsteuervergütungsantrag mit Bescheid vom 21. Mai 2012 ab. Es ist streitig, ob der Klägerin zuvor das Hinweisschreiben des Beklagten vom 27. März 2012 zugegangen ist.
6Am 1. August 2012 stellte die Klägerin über das britische Inlandsportal einen weiteren Antrag auf Vorsteuervergütung für den Vergütungszeitraum 10-12/2011 i.H.v. 113.136,42 €, der die gleichen Rechnungen des Antrags vom 1. Februar 2012 zum Gegenstand hatte. Diesem Antrag waren die eingescannten Originalrechnungen beigefügt.
7Der Beklagte erfasste diesen Antrag als Einspruch gegen den Bescheid vom 21. Mai 2012.
8Am 27. September 2012 stellte die Klägerin einen weiteren Antrag auf Vorsteuervergütung für den Zeitraum 10-12/2011 i.H.v. 113.136,42 €, der die gleichen Rechnungen wie der Antrag vom 1. Februar 2012 zum Gegenstand hatte.
9Nachdem die Beteiligten sich im parallel geführten Klageverfahren 2 K 794/13 darüber gestritten hatten, ob es sich bei dem Antrag vom 27. September 2012 um einen eigenständigen, separat zu entscheidenden Antrag oder um einen Nachtrag im Einspruchsverfahren handele, lehnte der Beklagte den Antrag schließlich mit Bescheid vom 25. Juli 2014 ab und führte zur Begründung an, dass der Antrag auf Änderung des vorhergehenden Bescheids vom 21. Mai 2012 erst nach Ablauf der Einspruchsfrist eingegangen sei. Gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a AO könne dem Antrag daher nicht entsprochen werden. Gründe für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben.
10Der Bescheid vom 25. Juli 2014 wurde an die Klägerin per E-Mail an die E-Mail-Adresse B@...com gesendet. Daraufhin erhielt der Beklagte die automatische Fehlermeldung, dass die E-Mail-Adresse nicht habe gefunden werden können. Am 28. Juli 2014 übersandte der Beklagte der Klägerin den Bescheid per E-Mail an die E-Mail-Adresse A@...com und am 17. Oktober 2014 per E-Mail an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin, für die bereits bei Erlass des Bescheides eine Bekanntgabe-/Empfangsvollmacht bestand.
11Hiergegen legte die Klägerin am 5. November 2014 Einspruch ein. Der Bescheid sei ihr erst durch Übersendung an ihren Prozessbevollmächtigten zugegangen. Die vorherige elektronische Bekanntgabe gegenüber ihr persönlich setze mangels wirksamer Bekanntgabe die Einspruchsfrist nicht in Lauf, da die von ihr erteilte Bekanntgabe-/Empfangsvollmacht zu Gunsten ihres Bevollmächtigten ohne besondere Gründe nicht beachtet worden sei (vgl. AEAO zu § 122, Nr. 1.7.3. Satz 1).
12In der Sache machte die Klägerin im Einspruchsverfahren geltend, dass ihr Antrag vom 27. September 2012 keinen Antrag auf Änderung des Vergütungsbescheides vom 21. Mai 2012 darstelle, sondern dass es sich um einen erstmaligen ordnungsgemäßen (zulässigen und wirksamen) Antrag auf Vorsteuervergütung für den Vergütungszeitraum 10-12/2011 handele.
13Mit Einspruchsentscheidung vom 12. Mai 2015 wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte an, dass der als Antrag auf Änderung des Bescheides vom 21. Mai 2012 zu wertende Antrag bei ihm am 27. September 2012 und damit nach Ablauf der Einspruchsfrist eingegangen sei. Mit Erlangung der formellen Bestandskraft mit Ablauf des 25. Juni 2012 sei der Bescheid vom 21. Mai 2012 nicht mehr anfechtbar gewesen und habe auch nicht mehr nach § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO geändert werden können.
14Zur Begründung ihrer hiergegen fristgemäß erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, dass der selbständige Vergütungsantrag vom 27. September 2012 zulässig sei. Der Bescheid vom 21. Mai 2012 stehe dem nicht entgegen. Der Beklagte habe mit dem Bescheid vom 21. Mai 2012 lediglich über den Antrag auf Vorsteuervergütung vom 1. Februar 2012 entschieden. Diesem Antrag seien keine elektronischen Rechnungskopien beigefügt gewesen. Angesichts dessen sei dieser Antrag nicht wirksam, mithin also unzulässig gewesen. Die zum alten Vergütungsverfahren ergangene Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen der mangelnden Einreichung der Originalrechnungen sei auf das nunmehr geltende elektronische Vergütungsverfahren entsprechend anwendbar.
15Die Vorlage der Rechnungen innerhalb der Antragsfrist sei Voraussetzung für einen wirksamen Vergütungsantrag. Etwas anderes könne nicht aus Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/9/EG gefolgert werden. Zwar werde in Art. 15 der Richtlinie die Verpflichtung zur Vorlage von Rechnungen gemäß Art. 10 - im Gegensatz zu den Bestimmungen der Art. 8, 9 und 11 - nicht erwähnt. Jedoch bestehe auch im elektronischen Vorsteuervergütungsverfahren eine systematische Verbindung zwischen der Rechnungsvorlage und den übrigen Anforderungen an einen wirksamen Antrag.
16Ein unwirksamer Antrag könne nach allgemeinem Verständnis keine Rechtswirkung über den konkreten Antrag hinaus entfalten (vgl. Brandt, in Beermann/Gosch, § 110 FGO Rn. 115; Seer, in Tipke/Kruse, § 110 FGO Rn. 11). Die Abweisung eines Antrags als unzulässig entfalte keine Rechtsbindungswirkung über den entschiedenen Antrag hinaus (vgl. Brandt, in Beermann/Gosch, § 110 FGO Rn. 115; Seer, in Tipke/Kruse, § 110 FGO Rn. 11). Insbesondere stehe eine solche Abweisung der Geltendmachung des materiell-rechtlichen Vergütungsanspruchs durch einen erneuten, fristgerecht gestellten Antrag nicht entgegen. Dies entspreche der Rechtslage im Zivilprozess. Danach stehe im Falle einer Klageabweisung durch Prozessurteil dessen Rechtskraft einer abermaligen Klageerhebung nicht entgegen. Auch § 86 Satz 2 Nr. 2 AO sehe vor, dass die Finanzbehörden ein Verwaltungsverfahren nicht durchführen dürften, wenn sie aufgrund von Rechtsvorschriften nur auf Antrag tätig werden dürften und ein wirksamer Antrag nicht vorliege. Im Ergebnis müsse die Rechtslage nach einem unwirksamen Antrag somit derjenigen entsprechen, die bestünde, wenn der betreffende Antrag nicht gestellt worden wäre. Hätte die Klägerin den unwirksamen Antrag vom 1. Februar 2012 nicht gestellt, so wäre der Antrag vom 27. September 2012 zulässig, wirksam und begründet gewesen.
17Auch die Tatsache, dass der Bescheid vom 21. Mai 2012 möglicherweise bestandskräftig geworden sei, stehe einem erneuten Antrag nicht entgegen. Die materielle Bestandskraft eines Bescheides umfasse seinen Entscheidungssatz. Aus dem Entscheidungssatz des Bescheides vom 21. Mai 2012 ergebe sich, dass dieser lediglich die Ablehnung des Antrags vom 1. Februar 2012 als unwirksam regele, nicht jedoch die Vergütungsberechtigung der Klägerin für den fraglichen Zeitraum als solche. Nur die Ablehnung des Antrages vom 1. Februar 2012 als unwirksam habe somit in Bestandskraft erwachsen können. Der Bescheid vom 21. Mai 2012 könne keine Sperrwirkung für den wirksamen Antrag vom 27. September 2012 entfalten. Bei Gewährung der Vorsteuervergütung aufgrund des Antrages vom 27. September 2012 liege somit keine Durchbrechung der Bestandskraft des Bescheides vom 21. Mai 2012 vor, da diese einen anderen Regelungsgehalt habe.
18Die Nennung des Vergütungszeitraums im Entscheidungssatz des Bescheides vom 21. Mai 2012 diene ausschließlich der genauen Bezeichnung des Antrags vom 1. Februar 2012. Hieraus könne nicht auf eine Ausweitung der Bestandskraft geschlossen werden.
19Ihre Rechtsauffassung werde durch die europarechtlichen Grundlagen und die ständige Rechtsprechung des EuGH gestützt.
20Durch den Vorsteuerabzug gewährleiste das gemeinsame Mehrwertsteuersystem die völlige Neutralität hinsichtlich aller wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen würden. Als integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer könne das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich nicht eingeschränkt werden (vgl. EuGH-Urteil vom 6. September 2012 – C-324/11 Rn. 14). Eine Beschränkung sei lediglich wegen entgegenstehender anderer Ziele des Mehrwertsteuersystems zulässig. Solche Einschränkungen müssten jedoch stets dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Die bloße Versäumnis, einen formgerechten Antrag einzureichen, dürfe daher nicht dazu führen, dass der Steuerpflichtige seinen materiell-rechtlichen Steuererstattungsanspruch endgültig verliere (vgl. EuGH-Urteil vom 8. Mai 2008 – C 95/07, C-96/07 Rn. 63, 67). Insbesondere sei eine derartige Beschneidung des Vorsteuerabzugsrechts unzulässig, wenn jede Gefährdung des Steueraufkommens ausscheide (vgl. EuGH-Urteil vom 8. Mai 2008 – C 95/07, C-96/07 Rn. 71).
21Sie, die Klägerin, habe unstreitig einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Vergütung der geltend gemachten Vorsteuerbeträge. Es bestehe weder die Gefahr einer Steuerhinterziehung noch eine Gefährdung des Steueraufkommens. Sie habe ihren Vergütungsantrag bereits frühzeitig, mehrere Monate vor Ablauf der Antragsfrist gestellt. Die Tatsache, dass hierbei, durch ein einmaliges Versehen, das Beifügen von Rechnungskopien unterblieben sei, könne nicht dazu führen, dass sie ihren Erstattungsanspruch endgültig verliere. Angesichts dessen müsse es möglich sein, dass sie ihr Versehen bis zum Ablauf der Antragsfrist korrigiere und so ein der materiellen Rechtslage entsprechendes Ergebnis herbeiführe. Deshalb habe sie sich dafür entschieden, am 27. September 2012 einen erneuten Vorsteuervergütungsantrag zu stellen.
22Die Ablehnung der Vorsteuervergütung verstoße auch gegen europäische Grundfreiheiten, insbesondere gegen die Gewährleistung des Binnenmarktes, die Dienstleistungsfreiheit sowie die Regelungen der Art. 110 ff. AEUV.
23Darüber hinaus sei das Verbot der Ausländerdiskriminierung verletzt. Dies zeige der Vergleich des Streitfalls mit dem Vorsteuervergütungsverfahren ohne Auslandsbezug. Durch die Versagung der Vorsteuervergütung werde sie, die Klägerin, gegenüber im Inland ansässigen Unternehmen erheblich benachteiligt. Ein im Inland ansässiger Unternehmer habe gemäß § 18 Abs. 1 UStG seine Umsatzsteuervoranmeldung bis zum 10. Tag nach Ende des Voranmeldungszeitraumes abzugeben. Für die Einhaltung der Frist sei es unerheblich, ob sich aus der Voranmeldung eine Zahlpflicht oder ein Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen ergebe. Vielmehr habe die Finanzverwaltung gegenüber dem Steuerpflichtigen durch die Festsetzung eines Verspätungszuschlags nach § 152 AO auf die Abgabe einer Voranmeldung hinzuwirken. Gebe der Steuerpflichtige eine Voranmeldung nicht innerhalb der Frist ab, verliere er einen etwaigen Erstattungsanspruch nicht. Ein im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässiger Unternehmer, welcher einen Vorsteuervergütungsanspruch nach Ablauf der Antragsfrist geltend mache, verliere hingegen nach dem derzeitigen Verfahren seinen Anspruch vollständig. Darüber hinaus bestehe, wie der Streitfall zeige, sogar die Möglichkeit, den Vergütungsanspruch innerhalb der laufenden Antragsfrist zu verlieren. Es bestehe kein rechtlicher Unterschied zwischen Voranmeldung und Vergütungsantrag, welche diese Ungleichbehandlung rechtfertigen würde. Zwar sei die Befristung der Möglichkeit, einen Vorsteuervergütungsanspruch geltend zu machen, in der Richtlinie 2008/9/EG vorgesehen. Angesichts der primärrechtlichen Diskriminierungsverbote müsse die Befristung aber als äußerste Grenze der gemeinschaftsrechtlich noch zulässigen Ungleichbehandlung von Steuerinländern und Steuerausländern aus dem übrigen Gemeinschaftsgebiet gesehen werden. Insbesondere dürfe bei grenzüberschreitenden Sachverhalten der Vergütungsanspruch nicht aus anderen Gründen als der Fristversäumung versagt werden, wenn ein gleich gelagerter Sachverhalt ohne Auslandsbezug nicht den Verlust des Erstattungsanspruchs nach sich ziehen würde.
24Die Ungleichbehandlung von Sachverhalten mit und ohne Auslandsbezug aufgrund der Befristung der Vorsteuervergütung stelle sich auch als Beschränkung der Wettbewerbsgleichheit dar. Auch wenn der BFH die Frist bisher als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erachtet habe, müsse bei den Überlegungen zu ihrem Vergütungsanspruch berücksichtigt werden, dass das gemeinsame Mehrwertsteuersystem auch die Wettbewerbsgleichheit innerhalb des Binnenmarktes gewährleisten solle.
25Sie, die Klägerin, habe jedenfalls innerhalb der Frist alle Anforderungen an einen wirksamen Vergütungsantrag erfüllt, sei es durch die Ergänzung ihres unzulässigen Antrages vom 1. Februar 2012, sei es durch die Einreichung des Antrages vom 27. September 2012. Durch die Ablehnung der Vorsteuervergütung werde sie schlechter gestellt als ein inländischer Unternehmer, der bei vergleichbarem Sachverhalt lediglich eine Schmälerung seines Erstattungsanspruchs durch einen unter Umständen festgesetzten Verspätungszuschlag hinzunehmen hätte.
26Es sei insbesondere auf die Entscheidung des EuGH vom 8. Mai 2008 (C-95/07, C-96/07, Ecotrade SpA/Agenzia delle entrate – Ufficio di Genova 3“) hinzuweisen. Demnach stehe die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie (77/388) in der durch die Richtlinie 2000/17 geänderten Fassung einer Praxis der Erhebung der Mehrwertsteuer entgegen, bei der eine Nichterfüllung einer nach nationalem Recht vorgeschriebenen Förmlichkeit mit der Verwehrung des Abzugsrechts geahndet werde.
27Die Richtlinie 77/388 stehe auch einer Praxis entgegen, die einem Steuerpflichtigen sein Recht auf Vorsteuerabzug versage, obwohl er während der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9/EG vorgesehenen Antragsfrist einen vollständigen Antrag auf Vorsteuervergütung bei der zuständigen Behörde eingereicht habe.
28Die Klägerin regt hilfsweise an, das Verfahren gegebenenfalls auszusetzen und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob die Bestimmungen der sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie in der durch die Richtlinie 2000/17 geänderten Fassung einer Verwaltungspraxis entgegenstehen würden, die dazu führe, dass ein Steuerpflichtiger seinen materiell-rechtlichen Vorsteuervergütungsanspruch verliere, obwohl er während der Antragsfrist gemäß der Richtlinie 2008/9/EG einen ordnungsgemäßen Vergütungsantrag gestellt habe. Ebenso regt sie an, die Frage vorzulegen, ob die europäischen Grundfreiheiten einer Verwaltungspraxis entgegenstehen würden, die dazu führe, dass ein im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässiger Steuerpflichtiger seinen materiell-rechtlichen Vorsteuervergütungsanspruch verliere, wenn er es versäume, seinem Antrag die erforderlichen Rechnungskopien beizufügen, er diesen Fehler jedoch innerhalb der Antragsfrist korrigiere.
29Der Bescheid vom 25. Juli 2014 sei auch in anderer Hinsicht fehlerhaft. Der Beklagte stütze seine Ablehnung des Einspruchs gegen den Bescheid vom 25. Juli 2014 maßgeblich auf die Erwägung, dass der Antrag vom 27. September 2012 einen Änderungsantrag zum Bescheid vom 21. Mai 2012 darstelle, der nach Ablauf der Einspruchsfrist eingegangen und daher als unzulässig abzulehnen sei.
30Für eine Auslegung des Antrages vom 27. September 2012 als Änderungsantrag gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO bestehe jedoch kein Raum. Der Antrag sei ausdrücklich als Antrag auf Vorsteuervergütung gestellt worden. Insoweit unterscheide er sich auch klar von der Ergänzung des Antrags vom 1. Februar 2012 durch das Hochladen der Rechnungen am 1. August 2012. Dem entspreche es auch, dass der Antrag vom 27. September 2012 eine eigene Referenznummer aufweise, welche von derjenigen des Antrags vom 1. Februar 2012 abweiche. Die Absicht, einen eigenständigen Vorsteuervergütungsantrag zu stellen, habe sie, die sie zudem steuerlich beraten gewesen sei, mehrfach geäußert.
31Die Klägerin hat beantragt, das Klageverfahren mit dem Verfahren 2 K 794/13 zu verbinden, da es in der Sache um denselben Vorsteuerabzugsanspruch gehe, den sie auf den Antrag vom 27. September 2012 oder gegebenenfalls hilfsweise auf den Antrag vom 1. Februar 2012 stütze.
32Die Klägerin beantragt,
331.) den Beklagten unter Aufhebung des Vergütungsbescheides vom 25. Juli 2014 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 12. Mai 2015 zu verpflichten, die Vorsteuervergütung i.H.v. 113.116,42 € festzusetzen;
342.) hilfsweise die Sache dem EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV vorzulegen;
35Der Beklagte beantragt,
36die Klage abzuweisen.
37Der Beklagte trägt vor, dass der Antrag auf Änderung vom 27. September 2012 bezüglich des Bescheides vom 21. Mai 2012 wegen Fristversäumung unzulässig sei. Der Antrag sei außerhalb der Einspruchsfrist erfolgt.
38Gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9/EG könne der Antragsteller bei den zuständigen Behörden des Erstattungsmitgliedstaates Einspruch gegen eine Entscheidung, einen Erstattungsantrag abzuweisen, einlegen und zwar in den Formen und binnen der Frist, die für Einsprüche bei Erstattungsanträgen der in den Mitgliedstaaten ansässigen Personen vorgesehen sei.
39Dementsprechend sei der Einspruch gegen den Bescheid vom 21. Mai 2012 gemäß § 355 Abs. 1 AO bis zum 25. Juli 2012 einzulegen gewesen. Mit Ablauf des 25. Juni 2012 sei der Bescheid in formelle Bestandskraft erwachsen, so dass er nicht mehr im Wege des Einspruchs anfechtbar gewesen sei und ein Antrag auf Änderung gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO nach diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht mehr habe berücksichtigt werden können.
40Soweit von einem erneuten Antrag auf Vorsteuervergütung ausgegangen werde, sei die Vergütung aus dem Antrag vom 27. September 2012 zu versagen, da die geltend gemachten Vorsteuerbeträge bereits Bestandteil des Vorsteuervergütungsantrages vom 1. Februar 2012 gewesen seien. Über diesen Antrag sei mit Bescheid vom 21. Mai 2012 abschließend entschieden worden. Eine Einreichung von mehreren Vorsteuervergütungsanträgen innerhalb des gleichen Zeitraums sei rechtlich nicht zulässig. Es sei zwar durchaus möglich, innerhalb der in § 18 Abs. 9 UStG i.V.m. § 61 Abs. 2 Satz 1 UStDV normierten Antragsausschlussfrist einen weiteren für das gesamte Kalenderjahr geltenden Vergütungsantrag zu stellen (vgl. § 60 UStDV). Dies gelte jedoch nicht, wenn über die konkreten Vergütungsbeträge bereits – wie im Streitfall – durch Bescheid bestandskräftig entschieden worden sei. Die Möglichkeit zur Einreichung eines Vorsteuervergütungsantrags für das gesamte Kalenderjahr sei so auszulegen, dass in diesem Antrag ausschließlich Rechnungen eingereicht würden, die bislang nicht Gegenstand eines Vergütungsantrags gewesen seien. Soweit dieser Grundsatz bereits für den Vorsteuervergütungsantrag für das Kalenderjahr gelte, sei eine erneute Einreichung im Rahmen eines Antrags für ein Kalendervierteljahr erst recht ausgeschlossen. Die Einreichung weiterer Vorsteuervergütungsanträge für denselben Vergütungszeitraum eines Kalenderjahres sei rechtlich nicht mehr zulässig, sobald über diesen Zeitraum in einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung entschieden worden sei. Die Klägerin sei an den Verfahrensweg gebunden und hätte fristgerecht Einspruch gegen den Bescheid einlegen müssen.
41Auch der Umstand, dass die Vorsteuervergütung an der mangelnden Vorlage der Rechnungen gescheitert sei und somit grundlegende Antragsvoraussetzungen nicht eingehalten worden seien, vermag keine andere Schlussfolgerung zuzulassen. Die Ursache des ablehnenden Bescheides wirke nicht entscheidend auf das weitere Verfahren ein.
42Auch der Bezug zu dem Entscheidungssatz des Bescheides vom 21. Mai 2012 lasse nicht die Schlussfolgerung zu, dass ein erneuter Antrag auf Vorsteuervergütung gestellt werden könne. Der Entscheidungssatz beziehe sich nicht nur auf den Antrag vom 1. Februar 2012, sondern auch auf den Vergütungszeitraum 10-12/2011. Da die materielle Bestandskraft eines Bescheides seinen Entscheidungssatz umfasse, sei mit Ablauf der Einspruchsfrist auch der im Entscheidungssatz aufgeführte Vergütungszeitraum in Bestandskraft erwachsen. Folglich sei ein erneuter Antrag auf Vorsteuervergütung für den Vergütungszeitraum 10-12/2011 nicht möglich.
43Die Versagung der begehrten Vorsteuervergütung verstoße nicht gegen EU-Recht.
44Entgegen der Auffassung der Klägerin könne das Verfahren der Vorsteuervergütung formellen Einschränkungen unterliegen.
45Auch der von der Klägerin geltend gemachte Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer gelte nicht grenzenlos. Der EuGH akzeptiere formelle Einschränkungen. So habe der EuGH z.B. die grundsätzliche Fristbindung der Antragstellung bestätigt (Urteil vom 21. Juni 2012, C-294/11).
46Auch der allgemeine verfahrensrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit, der in den Instituten der Rechts- und Bestandskraft seine Ausprägung finde, sei vorliegend europarechtskonform. Der EuGH betone, dass es (sofern nicht gemeinschaftsrechtlich geregelt) Aufgabe des nationalen Gesetzgebers sei, die Voraussetzungen und Verfahrensmodalitäten für Klagen vor nationalen Gerichten, die die aus dem Gemeinschafts-/Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollten, zu normieren. Diese müssten sich sodann am Grundsatz der Äquivalenz und der Effektivität messen lassen (EuGH-Urteil vom 21. Januar 2010, C-472/08). Das Gemeinschaftsrecht gebiete es einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund derer eine Entscheidung Rechtskraft erlange, abzusehen, selbst wenn damit ein Verstoß dieser Entscheidung gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könnte (EuGH-Urteil vom 16. März 2006, C-234/04).
47Die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung sei im Interesse der Rechtssicherheit (die sowohl den Abgabepflichtigen und als auch die Verwaltung schützen solle) mit Unionsrecht vereinbar (EuGH-Urteil vom 17. November 1998, C-228/96).
48Die zitierten Entscheidungen des EuGH würden sich zwar ausdrücklich auf die Rechtskraft beziehen. Da es in Bezug auf die Bestandskraft an gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften fehle, könnten die Erwägungen des EuGH hinsichtlich der Rechtskraft von Entscheidungen – mithin der fehlenden Möglichkeit der Abänderung von Entscheidungen – auch auf das Institut der Bestandskraft übertragen werden.
49Auch der BFH habe wiederholt entschieden, dass mit der bestandskräftigen Ablehnung eines Vergütungsantrages unanfechtbar feststehe, dass keine Vergütung von Vorsteuern für diesen Zeitraum mehr beansprucht werden könne. Wenn ein Bescheid unanfechtbar sei, bewirke dies die materielle Bestandskraft. Der Entscheidungssatz des Bescheides gelte als richtig (BFH-Beschlüsse vom 17. Mai 2001 - V B 136/00 und 137/00 vom 13. Juli 2001 – V B 192/00; vom 7. November 2001 – I B 230/08).
50Entscheidungsgründe
51Die Klage ist unbegründet.
52A. Das Klageverfahren wird nicht mit dem Verfahren 2 K 794/13 gemäß § 73 Abs. 1 FGO verbunden. Für den Senat ist die Zweckmäßigkeit einer solchen Verbindung nicht gegeben. Die Verfahren betreffen unterschiedliche Rechtsfragen. Das Verfahren 2 K 794/13 betrifft im Hinblick auf den Bescheid vom 21. Mai 2012 Fragen zur Einspruchsfrist und zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Verfahren 2 K 1592/15 betrifft hingegen den Bescheid vom 25. Juli 2014. Insoweit ist die Rechtsfrage zu behandeln, ob es der sachlichen Bescheidung eines innerhalb der Antragsfrist gestellten zweiten Antrages auf Vorsteuervergütung entgegensteht, dass über einen ersten Antrag bereits durch bestandskräftigen Bescheid entschieden wurde. Hinzu kommt, dass sich das Petitum der Klage 2 K 794/13 auf eine Vorsteuervergütung richtet, während es im Klageverfahren 2 K 1592/15 auf eine Sachentscheidung des Beklagten zielt, der dort bislang von einer Entscheidung in der Sache Abstand genommen hatte. Die von der Klägerin geltend gemachten Kostengesichtspunkte sind dagegen – ungeachtet der Frage, ob sie überhaupt zutreffend sind – nicht erheblich. Kostengesichtspunkte sind für sich betrachtet sachfremde Erwägungen bei der Ausübung des Ermessens im Hinblick auf eine Verfahrensverbindung (BFH-Beschluss vom 13. Dezember 2006 – XI E 5/06, BFH/NV 2007, 493).
53B. Der Vergütungsbescheid vom 25. Juli 2014 (übersandt per E-Mail vom 17. Oktober 2014) und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 12. Mai 2015 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO).
54I. Der Ablehnungsbescheid vom 25. Juli 2014 (17. Oktober 2014) hält einer rechtlichen Überprüfung stand. Der Beklagte hat die begehrte Vorsteuervergütung für den Vergütungszeitraum 10-12/2011 zu Recht abgelehnt, weil hierüber bereits mit Bescheid vom 21. Mai 2012 entschieden wurde.
55Einer materiell-rechtlichen Entscheidung über den Vergütungsantrag vom 25. Juli 2014 (17. Oktober 2014) steht die Bestandskraft des Bescheides vom 21. Mai 2012 entgegen.
56II. Dabei ist zwischen formeller und materieller Bestandskraft zu unterscheiden.
571. Formelle Bestandskraft bedeutet Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes; sie ergibt sich für Steuer-Verwaltungsakte aus dem Ablauf der Einspruchs- bzw. Klagefrist gemäß § 355 AO, § 47 FGO (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 12; von Groll, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 172-177 AO Rz. 10; Söhn, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 AO Rz. 366; s.a. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., § 43 Rn. 29; Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 43 Rn. 20 ff.; FG des Saarlandes, Urteil vom 28. Juli 2003 – 2 K 83/03, EFG 2003, 1449).
582. Der Begriff der materiellen Bestandskraft wird hingegen nicht einheitlich verstanden.
59a. Es finden sich unterschiedlichen Definitionen der materiellen Bestandskraft, wie etwa „inhaltliche Verbindlichkeit“ (vgl. Beermann/Gosch, AO, Vor §§ 172 ff. Rz. 17), „Bindungswirkung“ (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 43 Rn. 31) oder „Unabänderbarkeit“ (vgl. Frotscher, in Schwarz, Vor §§ 172 ff. Rz. 5). Rechtlich folgen daraus im Ergebnis jedoch keine Unterschiede (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 13). Den formal voneinander abweichenden Definitionen liegt der allgemein anerkannte Grundgedanke zugrunde, dass der Verwaltungsakt als hoheitliche Regelung aufgrund seiner Bestandskraft für Bürger und Behörde verbindlich und dauerhaft sein soll, indem ein grundsätzliches Aufhebungs- und Abweichungsverbot besteht (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 13; Söhn, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 AO Rz. 368).
60b. Der Sinn und Zweck der materiellen Bestandskraft ist darin zu sehen, dass der durch den Verwaltungsakt getroffenen Regelung eine Dauerhaftigkeit verliehen werden soll. Schon der Wortlaut „zur Regelung“ in § 118 AO setzt diese Beständigkeit voraus. Denn ein Sachverhalt wird nicht geregelt bzw. diese Regelung ist nutzlos, wenn die Regelung nicht von Dauer ist, sondern jederzeit ohne weiteres geändert werden könnte (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 20). Die Bestandskraft dient damit sowohl den Interessen der Allgemeinheit als auch denen des Bürgers (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 20).
61Die materielle Bestandskraft eines Verwaltungsaktes dient auch der Effektivität der Verwaltung. Eine einmal getroffene Entscheidung soll nicht ständig erneut infrage gestellt werden dürfen (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 21). Dies ist im Steuerrecht von ganz besonderer Bedeutung. Denn das Steuerrecht ist ein Massenverfahrensrecht. Die damit einhergehende Verwaltungstätigkeit ist nur zu bewältigen, wenn die abgabenrechtlichen Verwaltungsakte prinzipiell beständig sind und den Einzelfall stabil regeln. Eine unbeschränkte, freie Abänderbarkeit der im Massenverfahren ergangenen Steuerverwaltungsakte wäre mit einer nochmaligen Sachverhaltsprüfung durch die Finanzbehörden verbunden und folglich nicht praktikabel (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 21).
62Die Bestandskraft dient darüber hinaus der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden, welche grundgesetzlich im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 Satz 1 GG) verankert sind. Im Interesse von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden kann oder muss unter Umständen auch eine falsche Entscheidung aufrechterhalten werden (vgl. Wernsmann, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 130-133 AO Rz. 21). Eine Durchbrechung der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes kann nur im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Korrekturnormen erfolgen, z.B. der §§ 172 ff. AO (hierzu von Groll, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Vor §§ 172-177 AO Rz. 25).
63c. Der Umfang der materiellen Bestandskraft erstreckt sich auf die nach außen getroffene Regelung – den Ausspruch, Entscheidungssatz, Verfügungssatz oder das Thema eines Verwaltungsaktes (vgl. BFH-Urteil vom 4. August 2011 – III R 71/10, BStBl II 2013, 380, BFHE 235, 203; Söhn, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 Rz. 370). Die in der Begründung des Ausspruchs getroffenen Feststellungen und entschiedenen Vorfragen sind für sich (isoliert) weder bindend noch materiell bestandskräftig, sondern nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen Ausspruch (vgl. Söhn, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 Rz. 370; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl., § 43 Rn. 32). Dementsprechend erwächst auch die Begründung des Verwaltungsaktes nicht in materielle Bestandskraft (vgl. Krumm, DStR 2005, 631).
64d. Zur Bestimmung des Umfangs der materiellen Bestandskraft ist die im Verwaltungsakt verbindlich mit Wirkung nach außen getroffene Regelung über den bloßen Wortlaut hinaus gegebenenfalls entsprechend §§ 133, 157 BGB auszulegen (vgl. BFH-Urteil vom 11. Juli 2006 – VIII R 10/05, BStBl. II 2007, 96, BFHE 214, 18; Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 43 Rn. 56).
65aa. Ausgangspunkt der Auslegung ist dabei der Entscheidungsausspruch des Verwaltungsaktes, ggf. im Gesamtzusammenhang mit dessen Regelungsgehalt (vgl. Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 43 Rn. 58). Insbesondere die inhaltliche Tragweite ablehnender Entscheidungen lässt sich in der Regel nur bestimmen, indem nicht nur auf die gestellten Anträge, sondern auch auf die jeweiligen Ablehnungsgründe abgestellt wird (vgl. Sachs, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 43 Rn. 58).
66bb. Entscheidend ist, wie der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen – nach seinem objektiven Verständnishorizont – den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte (BFH-Urteil vom 11. Juli 2006 – VIII R 10/05, BStBl. II 2007, 96, BFHE 214, 18 m.w.N.). Bei der Auslegung eines Verwaltungsaktes kommt es somit nicht darauf an, was die Behörde mit ihrer Erklärung gewollt hat (BFH-Urteil vom 11. Juli 2006 – VIII R 10/05, BStBl. II 2007, 96, BFHE 214, 18). Im Zweifel ist das den Betroffenen weniger belastende Auslegungsergebnis vorzuziehen, da er als Empfänger einer auslegungsbedürftigen Willenserklärung der Verwaltung durch etwaige Unklarheiten aus deren Sphäre nicht benachteiligt werden darf (BFH-Urteil vom 11. Juli 2006 – VIII R 10/05, BStBl. II 2007, 96, BFHE 214, 18).
67III. Im Streitfall steht die materielle Bestandskraft des Bescheides vom 21. Mai 2012 der materiell-rechtlichen Entscheidung über den Antrag auf Vorsteuervergütung vom 27. September 2012 entgegen. Mit dem Bescheid vom 21. Mai 2012 hat der Beklagte über diesen Antrag materiellrechtlich bereits - anlässlich des ersten Antrags der Klägerin auf Vorsteuervergütung vom 1. Februar 2012 - entschieden. Beide Anträge betreffen in der Sache den gleichen Gegenstand.
681. Die materielle Bestandskraft des Bescheides vom 21. Mai 2012 und damit dessen Bindungswirkung erstreckt sich - entgegen der Auffassung der Klägerin - nicht auf die Ablehnung der Vorsteuervergütung, so wie sie in allen Einzelheiten im ersten Antrag vom 1. Februar 2012 begehrt wurde, also ohne Einreichung der eingescannten Rechnungen. Vielmehr erstreckt sich die materielle Bestandskraft des Bescheides vom 21. Mai 2012 auf die Ablehnung der Vorsteuervergütung für den Vergütungszeitraum 10-12/2011. Denn diese Vorsteuern und dieser Vergütungszeitraum sind Gegenstand der Ablehnung durch den Beklagten; sie sind Gegenstand der nach außen hin erkennbaren Regelung. Dies ergibt sich auch aus der Auslegung des Bescheides.
69a. Der Bescheid betrifft im Ausspruch die Ablehnung der Vorsteuervergütung für den Vergütungszeitraum 10-12/2011 aufgrund des Antrags vom 1. Februar 2012. Gegenstand dieses Antrags ist die Vorsteuervergütung für den Vergütungszeitraum 10‑12/2011. Der Gegenstand wird durch die (Nicht-)Einreichung der eingescannten Rechnungen nicht berührt, da es sich hierbei um den Nachweis der begehrten Vorsteuern handelt. Das Begehren der Klägerin erstreckte sich auf die Vorsteuervergütung und nicht auf die Vorsteuervergütung ohne eingescannte Rechnungen. Die mangelnde Einreichung der eingescannten Rechnungen ist eine Modalität des Antrags, nicht aber dessen Gegenstand. Dieses Verständnis wird auch durch die Gesamtschau des Ablehnungsbescheides vom 21. Mai 2012 bekräftigt, indem dort die Höhe der begehrten Vorsteuervergütung und die der Vergütungsfestsetzung angegeben sind. Hierdurch wird der inhaltliche Geltungsumfang des Bescheides, also die materielle Bestandskraft, umschrieben und eingegrenzt. Der fehlenden ordnungsgemäßen Einreichung der eingescannten Rechnungen kommt dabei – für den Empfänger erkennbar - keine Bedeutung zu. Sie betrifft den Ablehnungsgrund, nicht aber den Geltungsumfang des Bescheides. Dies wird dadurch bestätigt, dass die mangelnde Einreichung der eingescannten Rechnungen ausdrücklich im Zusammenhang mit der Begründung des Bescheides erwähnt wird („Die Ablehnung erfolgt aus folgenden Gründen“).
70b. Angesichts dessen lässt sich - entgegen der Auffassung der Klägerin - auch nichts anderes daraus ableiten, dass der Bescheid ausdrücklich auf den Antrag vom 1. Februar 2012 Bezug nimmt. Der Regelungsgehalt des Bescheides wird dadurch nicht auf die fehlenden eingescannten Rechnungen beschränkt. Denn mit der mangelnden Einreichung der eingescannten Rechnungen wurde die Ablehnung lediglich begründet. Sie ist nicht Teil des Verfügungsausspruchs. Der Ablehnungsgrund erwächst indes nicht in materielle Bestandskraft.
712. Der gleiche Vergütungszeitraum wie der im ersten Antrag vom 1. Februar 2012 ist auch Gegenstand des wiederholten Antrags auf Vorsteuervergütung vom 27. September 2012. Der Sachverhalt ist insoweit identisch. Die Vorlage der eingescannten Rechnungen im Antrag vom 27. September 2012 führt nicht dazu, dass es sich um einen anderen Sachverhalt handelt. Die mangelnde Vorlage der eingescannten Rechnungen im ersten Antrag ist kein Sachverhaltselement, sondern lediglich der Nachweis für einen Sachverhalt, nämlich die begehrte Vorsteuer.
723. Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit dem Sinn und Zweck der materiellen Bestandskraft. Denn nur auf diese Weise ist die Dauerhaftigkeit der Regelung und insbesondere die Effektivität des Verwaltungshandelns gewahrt. Anderenfalls könnte der Antrag auf Vergütung hinsichtlich derselben Vorsteuern und desselben Vergütungszeitraums außerhalb der Rechtsbehelfsfristen wiederholt gestellt und nachgebessert werden. Hierdurch würde ein Verwaltungsaufwand verursacht, der durch die materielle Bestandskraft gerade vermieden werden soll.
73Außerdem könnten hierdurch die Rechtsbehelfsfristen umgangen werden. Entgegen der Auffassung der Klägerin handelt es sich nämlich nicht um inhaltlich verschiedene Anträge, nur weil in dem einen Antrag eingescannte Rechnungen vorgelegt wurden und in dem anderen nicht. Das Wesen des Antrags zeichnet sich durch dessen Gegenstand aus. Dies ist – bezogen auf den Streitfall – die Vergütung der Vorsteuern für den Zeitraum 10-12/2011.
744. Schließlich ist der Auffassung des Klägers auch entgegenzuhalten, dass hierdurch das System der Korrekturnormen ausgehöhlt würde. Denn schon allein die Vorlage neuer Unterlagen (oder aber auch von Erklärungen) würde - unter Zugrundelegung der Auffassung der Klägerin - dazu führen können, dass ein neuer, bislang unbeschiedener Sachverhalt vorliegen würde. Die Korrekturnorm etwa des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wäre dann obsolet. Dies entspricht nicht der Systematik des Steuerrechts und dem Willen des Gesetzgebers. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Systematik des Steuerrechts kann es dahingestellt bleiben, wie sich die Rechtslage in anderen Rechtsgebieten, insbesondere dem von der Klägerin angeführten Zivilprozessrecht darstellt.
755. Angesichts dessen verfängt auch nicht der Einwand der Klägerin, dass hierdurch die Antragsfrist für die Vorsteuervergütung verkürzt werde. Diese hat insbesondere keine Priorität gegenüber den Rechtsbehelfsfristen. Dies wird dadurch bestätigt, dass Art. 23 Abs. 2 Satz 1 der Elften Richtlinie (des Rates vom 12. Februar 2008, 2008/9/EG, EUABl L 44/27) ohne Einschränkung vorsieht, dass der Antragsteller bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats der Erstattung Einspruch gegen eine Entscheidung, einen Erstattungsantrag abzuweisen, einlegen kann, und zwar in den Formen und binnen der Fristen, die für Einsprüche bei Erstattungsanträgen der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Personen vorgesehen sind.
76Die Antragsfrist wird im Übrigen auch nicht verkürzt, sondern es kommt die Bestandskraft des Ablehnungsbescheides zum Tragen. Die Klägerin begehrt in der Sache letztlich eine Korrektur des Ablehnungsbescheides vom 21 Mai 2012. Dies ist aber nur in den Grenzen des nationalen Einspruchsrechts bzw. Korrekturrechts möglich. Dies steht auch im Einklang mit Art. 291 AEUV, wonach das Verfahrensrecht zur Durchführung verbindlicher Rechtsakte der Union auf nationaler Ebene der Mitgliedstaaten zu regeln ist.
776. Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Klägerin geltend macht, dass der Antrag vom 1. Februar 2012 unwirksam sei und als nicht gestellt gelten müsse. Der Senat lässt es dahingestellt, ob der Antrag mangels Einreichung der eingescannten Rechnungen im Lichte des Art. 15 der Elften Richtlinie tatsächlich unwirksam ist. Denn auch über einen unwirksamen Antrag wird – wie über einen wirksamen Antrag – durch einen Bescheid entschieden, der in materielle Bestandskraft erwächst. Die Frage der Unwirksamkeit eines Antrages betrifft die Gründe des Bescheides, nicht den Entscheidungssatz, der die Stattgabe bzw. Ablehnung der konkret begehrten Vorsteuervergütung zum Gegenstand hat.
78Die Klägerin beruft sich insoweit auf Grundsätze des Prozessrechts, in dem nach Zulässigkeit und Begründetheit von Anträgen bzw. Rechtsbehelfen mit unterschiedlichen Rechtsfolgen differenziert wird. Allerdings ist dem Vorsteuervergütungsantrag eine solche Differenzierung fremd. Hierbei wird vielmehr zwischen formell- und materiellrechtlichen Antragserfordernissen unterschieden. Dabei sind die formellrechtliche Voraussetzungen des Antrags jedoch keine Zulässigkeitsvoraussetzungen. Für die Bestandskraftwirkung ist es ohne Bedeutung, ob der Antrag aus formellrechtlichen oder aus materiellrechtlichen Gründen abgelehnt wurde.
797. Schließlich vermag auch der Einwand der Klägerin, dass sie alles ihr Mögliche unternommen habe, um innerhalb der Ausschlussfrist und möglichst zeitnah zur versäumten Einspruchsfrist einen vollständigen Antrag einzureichen, keine andere Entscheidung zu rechtfertigen. Denn die Bestandskraft des Vergütungsbescheides tritt mit Ablauf der Einspruchsfrist ein. Ihr Eintritt wird nur vermieden, wenn die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO gegeben sind. Ihre Rechtsfolge der mangelnden Abänderbarkeit des Bescheides kann nur in den Grenzen der Korrekturvorschriften gemäß §§ 172 ff. AO vermieden werden. Lediglich die zeitliche Nähe der Einreichung eines nachgebesserten Antrags zum Ablauf der Einspruchsfrist vermag indes keinen Korrekturtatbestand zu begründen. Sie rechtfertigt als solche auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
80IV. Die Bestandskraft von Vergütungsbescheiden und die sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen verstoßen nicht gegen EU-Recht.
811. So sieht bereits die Elfte Richtlinie in Art. 23 Abs. 2 Satz 1 selber vor, dass sich der Rechtsschutz gegen ablehnende Vergütungsbescheide nach dem nationalen Verfahrensrecht richtet.
822. Es liegt kein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV vor. Denn der im Gemeinschaftsgebiet ansässige Unternehmer wird nicht anders behandelt als der im Inland ansässige Unternehmer. Beide unterliegen den gleichen verfahrensrechtlichen Vorschriften hinsichtlich der Einlegung des Einspruchs gegen einen belastenden Bescheid. Für beide gelten die gleichen Rechtsfolgen (Bestandskraft) nach Ablauf der Einspruchsfrist.
83Dass der im Gemeinschaftsgebiet ansässige Unternehmer dabei seinen bereits bestandskräftig entschiedenen Vergütungsantrag nicht nachbessern und ein weiteres Mal innerhalb der Antragsfrist einreichen kann, steht dem nicht entgegen. Denn dies ist eine Folge der Bestandskraft, die für den inländischen Unternehmer gleichermaßen gilt. Wollte man – wie von der Klägerin gefordert – dem ausländischen Unternehmer eine Korrektur des bestandskräftigen Vergütungsbescheides innerhalb der Vergütungsfrist ungeachtet der Korrekturnormen gemäß §§ 172 ff. AO zugestehen, dann würde dies zu einer ungerechtfertigten Privilegierung des ausländischen Unternehmers gegenüber dem inländischen Unternehmer führen, dem eine Korrektur eines bestandskräftigen Steuerbescheides nur unter den Voraussetzungen der §§ 172 ff. AO gewährt wird.
84Entsprechendes gilt für den von der Klägerin geltend gemachten Vorwurf der Beschränkung der Wettbewerbsfreiheit gemäß Art. 102 AEUV.
853. Dementsprechend liegt auch kein Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung nach Art. 18 AEUV vor. Hiernach ist unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten. Dieses Diskriminierungsverbot setzt voraus, dass ein Angehöriger eines Mitgliedstaats nur aufgrund seiner Staatsangehörigkeit gegenüber den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats anders behandelt wird. Im Streitfall mangelt es bereits an der Ungleichbehandlung.
864. Auch der Effektivitätsgrundsatz ist nicht verletzt. Der Effektivitätsgrundsatz verlangt, dass die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden dürfen (vgl. EuGH-Urteil vom 26. Januar 2012, C-218/10, ADV Allround, DB 2012, 384). Die Bestandskraft eines Vergütungsbescheides verstößt hiergegen nicht. Es ist nicht ersichtlich, weshalb hierdurch die Vorsteuervergütung praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert würde. Dies gilt umso mehr als nach Versäumung der Einspruchsfrist die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 AO und die der Korrektur gemäß §§ 172 ff. AO besteht.
875. Die übrigen Erwägungen der Klägerin zur EU-Rechtswidrigkeit verfangen nicht. Im Streitfall scheitert die Vorsteuervergütung insbesondere auch nicht an einer „Förmelei“, sondern an der nicht entschuldbaren Versäumung der Einspruchsfrist und der damit einhergehenden Bestandskraft des Vergütungsbescheides. Die Anwendung des innerstaatlichen Verfahrensrechts ist nach Art. 23 Abs. 2 Satz 1 der Elften Richtlinie gerechtfertigt. Die zunächst versäumte Einreichung der eingescannten Rechnungen hätte die Klägerin durch rechtzeitige Einspruchseinlegung nachbessern können.
88Die Neutralität der Mehrwertsteuer ist nicht tangiert. Die Neutralität der Mehrwertsteuer ist im Hinblick auf die im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässige Unternehmer an die Voraussetzungen der hier einschlägigen Elften Richtlinie gebunden, die der EU-Gesetzgeber selbst geregelt hat.
89V. Vor diesem Hintergrund besteht für den Senat kein Anlass, die Rechtssache dem EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV vorzulegen.
90VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
91VII. Die Revision wird nicht zugelassen. Der Rechtssache kommt insbesondere keine grundlegende Bedeutung i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zu.
92VIII. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52, 63 GKG.