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Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 07.02.2013 und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 26.08.2013 wird die Familienkasse verpflichtet, der Klägerin für ihre Tochter A für den Zeitraum 01.12.2012 bis 31.08.2013 Kindergeld zu zahlen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
2Zwischen den Beteiligten ist die Auslegung des § 65 Abs. 1 Satz 3 Einkommensteuergesetz - EStG - streitig.
3Die Klägerin ist seit 2003 als Beamtin beim Bundesministerium ... in E tätig.
4Mit Schreiben vom 05.11.2012 beantragte die Klägerin bei der Familienkasse E Kindergeld für ihre am ....10.2011 geborene Tochter A ab dem 01.12.2012. Die Klägerin gab dabei an, dass der Kindesvater, Herr P, seit Juli 2012 bei der K in Belgien tätig sei und dort für ihre Tochter einen Kinderzuschlag erhalte. Den monatlichen Betrag dieses Kinderzuschlags könne sie mangels genauer Gehaltsabrechnung noch nicht angeben.
5Mit Bescheid vom 07.02.2013 lehnte die Familienkasse E den Antrag auf Kindergeld für die Tochter der Klägerin ab. Zur Begründung wies die Familienkasse darauf hin, dass der Kindesvater bei seinem Arbeitgeber, der K, dem Kindergeld ähnliche Leistungen erhalte und somit in Deutschland kein Anspruch auf Kindergeld bestehe.
6Mit Schreiben vom 03.03.2013, Eingang bei der Familienkasse E am 05.03.2013, legte die Klägerin gegen den Ablehnungsbescheid Einspruch ein. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass der Kindesvater von der K zwar eine Kinderzulage beziehe, diese aber von Amts wegen um den Betrag des deutschen Kindergelds i.H.v. monatlich 184 € gekürzt werde. Einem Beamten der Europäischen Gemeinschaften sei die Kinderzulage um den Betrag des deutschen Kindergeldes zu kürzen, wenn die Kindesmutter, die einer unselbstständigen Tätigkeit nachgehe, Anspruch auf nationales Kindergeld habe. Insoweit sei auf Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts sowie das Urteil des EuGH, Rs. 189/85, vom 07.05.1987 hinzuweisen. Dementsprechend werde gemäß § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG der Anspruch auf Kindergeld für ein Kind nicht mit Rücksicht darauf ausgeschlossen, dass der Ehegatte als Beamter der Europäischen Gemeinschaften für das Kind Anspruch auf Kinderzulage habe.
7Mit Einspruchsentscheidung vom 26.08.2013 wies die beklagte Familienkasse R den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Die Beklagte führte aus, dass für die Tochter der Klägerin ab Juli 2012 ein Anspruch auf eine Leistung von einer zwischen- bzw. überstaatlichen Einrichtung bestehe, die dem Kindergeld vergleichbar sei. Insoweit handele es sich um eine Zulage für Kinder nach Art. 67 des EU-Beamtenstatuts. Der Bezug dieser Leistung schließe den deutschen Kindergeldanspruch gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG vollständig aus. Eine Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG komme im Streitfall nicht in Betracht, da diese Vorschrift auf „Ehegatten“ abstelle.
8Mit der hiergegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen Folgendes vor:
9Der Kindesvater sei Beamter im W. Sie lebe mit dem Kindesvater zusammen, sei aber nicht mit ihm verheiratet. Zunächst habe er seit der Geburt ihrer Tochter das Kindergeld bezogen. Zum 01.07.2012 sei der Kindesvater für eine Tätigkeit beim ... Dienst der K vom W beurlaubt worden. Seitdem beziehe er eine „Kinderzulage“ gemäß Art. 67 Abs. 1 Buchst. b) des EU-Beamtenstatuts. Diese „Kinderzulage“ sei von der K unter Hinweis auf die Kollisionsregelung in Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts um den Betrag des deutschen Kindergelds gekürzt worden.
10Die Ablehnung der Kindergeldzahlung durch die beklagte Familienkasse stehe in Widerspruch zu der vorrangigen Zahlungsverpflichtung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 67 Abs. 1 und 2 des EU-Beamtenstatuts. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen Entscheidung des EuGH vom 07.05.1987 (Rs. 189/85, Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland) sei die Kindergeldzahlung an sie, die Klägerin, als unverheirateter Elternteil nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Kindesvater als Beamter der Europäischen Gemeinschaften für das Kind einen Anspruch auf Kinderzulage habe. Der nationale Gesetzgeber hätte insoweit die in § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG normierte Rückausnahme zu § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht auf „verheiratete Eltern“ begrenzen dürfen.
11Auf die Frage, ob die Kindeseltern verheiratet seien, komme es weder in Bezug auf die Zahlung der Kinderzulage nach Art. 67 des EU-Beamtenstatuts noch in Bezug auf die Zahlung des Kindergeldes nach §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG an. Allein die Vorlagefrage sei - zum damaligen Zeitpunkt vielleicht nicht verwunderlich - vom EuGH im Hinblick auf Ehegatten entschieden worden. Sogar das Feststellungsbegehren der Kommission habe sich ganz allgemein auf „Elternteile“ und nicht auf „Ehegatten“ bezogen. Insoweit sei auf Rn.12 des EuGH-Urteils hinzuweisen. Danach habe die Kommission hilfsweise die Feststellung begehrt, dass die Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Art. 67 Abs. 2 sowie der „allgemeinen Grundsätze“ des Statuts verpflichtet sei, Kindergeld für Kinder zu zahlen, bei denen ein Elternteil Beamter, ruhegehaltsberechtigter Beamter oder sonstiger Bediensteter der Gemeinschaften sei, während der andere Elternteil in Deutschland einer Berufstätigkeit nachgehe.
12Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts führe nach der Rechtsprechung des EuGH dazu, dass entgegenstehendes nationales Recht im Einzelfall nicht angewendet werden dürfe. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts müssten daher der zu weit gefasste § 65 Abs. 1 Satz 1 EStG sowie der zu eng gefasste § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG im vorliegenden Streitfall unangewendet bleiben.
13Ihr Rechtsstandpunkt werde auch von der zuständigen Dienststelle der K (PMO) ausdrücklich unterstützt (vgl. E-Mail vom 30.08.2013, Akte der Beklagten, Seite 96).
14Sollte das Finanzgericht diese Rechtsauffassung nicht teilen, werde angeregt, die zu Grunde liegende Rechtsfrage gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - dem EuGH vorzulegen, da entscheidungserheblich die Auslegung von Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts sei.
15Die Klägerin beantragt,
16den Bescheid der Familienkasse vom 07.02.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.08.2013 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, der Klägerin für ihre Tochter ab dem 01.12.2012 bis zum 31.08.2013 Kindergeld zu zahlen.
17Die Beklagte beantragt,
18die Klage abzuweisen.
19Zur Begründung verweist die Beklagte auf die angegriffene Einspruchsentscheidung. Ergänzend werde auf die Stellungnahmen des ... vom 20.08.2013 (Kindergeldakte der Beklagten, Seite 81-82) und vom 11.09.2013 (Kindergeldakte der Beklagten, Seite 107) verwiesen.
20Entscheidungsgründe
21Die Klage ist begründet.
22I. Der Ablehnungsbescheid der Familienkasse vom 07.02.2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 26.08.2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -).
23Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG zu Unrecht den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld für ihre am ....10.2011 geborene Tochter A für den Zeitraum Dezember 2012 bis August 2013 abgelehnt.
241. Die Klägerin hat gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 64 Abs. 1 und Abs. 2 Sätze 1 und 2 EStG einen Anspruch auf Zahlung von Kindergeld für ihre Tochter in dem von ihr geltend gemachten Zeitraum Dezember 2012 bis August 2013. Da dies zwischen den Beteiligten unstreitig ist, verzichtet der erkennende Senat insoweit auf weitere Ausführungen.
252. Der Anspruch der Klägerin ist entgegen der Rechtsansicht der Beklagten auch nicht gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 3 EStG ausgeschlossen.
26a) Zwar liegen im Streitfall die Tatbestandsvoraussetzungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG für einen Ausschluss des Kindergeldanspruchs vor.
27Denn die dem Kindesvater seit Juli 2012 gemäß Art. 67 Abs. 1 Buchst. b) der Verordnung Nr. 31 (EWG) 11 (EAG) über das Statut der Beamten und über Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft – sog. EU-Beamtenstatut – (ABl. Nr. 45 vom 14. Juni 1962) gewährte Zulage für unterhaltsberechtigte Kinder stellt eine dem Kindergeld vergleichbare Leistung i.S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG dar (so auch DA 65.1.4 Abs. 3 der DA-FamEStG 2013).
28b) Außerdem sind im Streitfall auch die Voraussetzungen für die Rückausnahme vom Ausschluss des Kindergeldanspruchs gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG nach dem Wortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG eindeutig nicht erfüllt.
29Denn danach wird u.a. der Anspruch eines Kindergeldberechtigten, der - wie die Klägerin - im Inland in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnis steht, nur dann nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG ausgeschlossen, wenn sein „Ehegatte“ als Beamter, Ruhestandsbeamter oder sonstiger Bediensteter der Europäischen Gemeinschaften für das Kind Anspruch auf Kinderzulage hat.
30Da die Klägerin mit dem Kindesvater nicht verheiratet ist, liegen diese Voraussetzungen für eine Rückausnahme von § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht vor.
31c) Aber die nationalen Regelungen in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 3 EStG widersprechen nach Ansicht des erkennenden Senats Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts in Gestalt der Auslegung, die der Gerichtshof der Europäischen Union - EuGH - in seinem Urteil vom 07.05.1987 (Rs. 189/85 Slg. 1987, 2075) bei verständiger Würdigung der Urteilsgründe vorgegeben hat.
32aa) Zwar führt der EuGH im zweiten Leitsatz des genannten Urteils aus, dass ein Mitgliedstaat aufgrund von Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts u.a. die Zahlung der in seinem Recht vorgesehenen Familienbeihilfen für unterhaltsberechtigte Kinder nicht aus dem Grund ausschließen darf, dass für dasselbe Kind Zulagen nach dem Statut in Anspruch genommen werden können, wenn der an sich Anspruchsberechtigte, der Ehegatte eines aktiven Beamten ist, in seinem Hoheitsgebiet eine unselbstständige Tätigkeit ausübt.
33Bei verständiger Würdigung der Urteilsgründe kann diese im zweiten Leitsatz zum Ausdruck kommende Beschränkung auf „Ehegatten“ eines aktiven EU-Beamten, die ihm Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einer unselbstständigen Tätigkeit nachgehen, nach Ansicht des erkennenden Senats jedoch nicht wörtlich verstanden werden.
34(1) Für diese Schlussfolgerung spricht insbesondere der Umstand, dass der EuGH in seinem Urteil vom 07.05.1987 den Hilfsantrag der Kommission in vollem Umfang als begründet angesehen hat (vgl. Rn. 29 des Urteils).
35Nach Rn. 12 des Urteils lautete der Hilfsantrag der Kommission aber wie folgt:
36„Hilfsweise begehrt die Kommission die Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Art. 67 Abs. 2 sowie der „allgemeinen Grundsätze“ des Statuts verpflichtet ist, Kindergeld für die Kinder zu zahlen, bei denen ein Elternteil Beamter, ruhegehaltsberechtigter Beamter oder sonstiger Bediensteter der Gemeinschaften ist, während der andere Elternteil in Deutschland einer Berufstätigkeit nachgeht.“
37Der vom EuGH als begründet angesehene Hilfsantrag der Kommission war damit eindeutig nicht dahingehend beschränkt, dass die beiden Elternteile des betreffenden Kindes miteinander verheiratet sind.
38Aus der gesamten Urteilsbegründung des EuGH sind im Übrigen auch keine Erwägungen ersichtlich, die eine Beschränkung der vom EuGH vorgenommenen Auslegung des Art. 67 Abs. 2 EU-Beamtenstatuts auf „Ehegatten“ begründen könnten.
39(2) Weiterhin spricht für die obige Schlussfolgerung, dass weder das EU-Beamtenstatut noch das nationale Kindergeldrecht darauf abstellen, dass es sich bei dem betreffenden Kind um ein „eheliches Kind“ handelt.
40Gemäß Art. 2 Abs. 1 und 2 der Anlage VII zum EU-Beamtenstatut erhält der Beamte auch für uneheliche Kinder eine Kinderzulage.
41Gleiches gilt im Ergebnis auch nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Denn danach werden beim Kindergeld u.a. die im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandten Kinder berücksichtigt.
42(3) Schließlich wendet auch die nationale Finanzverwaltung den § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG über seinen ausdrücklichen Wortlaut hinaus u.a. zumindest auch auf geschiedene Ehegatten an (vgl. DA 65.1.4 Abs. 4 Satz 3 DA-FamEStG 2013). Auch dies zeigt, dass es selbst nach der Rechtsauffassung der Finanzverwaltung bei der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 3 EStG letztlich nicht darauf ankommen kann, dass die beiden Elternteile des betreffenden Kindes tatsächlich (noch) miteinander verheiratet sind.
43d) Aus dem sog. Anwendungsvorrang des Unionsrechts in Gestalt dieser damit nach Auffassung des erkennenden Senats vom EuGH vorgegebenen Auslegung (vgl. zur Bindung nationaler Gerichte an das Unionsrecht in der Gestalt der vom EuGH vorgegebenen Auslegung z.B. BVerfG, Beschluss vom 10.12.2014 2 BvR 1549/07, ZIP 2015, 335 m.w.N.) folgt daher im Streitfall, dass die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Art. 67 Abs. 2 des EU-Beamtenstatuts verpflichtet ist, Kindergeld auch für die Kinder zu zahlen, bei denen - wie im Streitfall - ein Elternteil Beamter, ruhegehaltsberechtigter Beamter oder sonstiger Bediensteter der Europäischen Gemeinschaften ist, während der andere Elternteil in Deutschland einer Berufstätigkeit nachgeht.
44II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
45III. Die Revision zum Bundesfinanzhof ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
46IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.