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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
2Die Klägerin begehrt eine Änderung ihres Einkommensteuerbescheids 2018. Sie macht von ihr geleistete Beiträge an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen steuermindernd geltend.
3Die Klägerin nahm am 00.00.2018 ihre Tätigkeit als angestellte Rechtsanwältin in einer Kanzlei auf. Am 00.00.2018 erhielt sie ihre Zulassung als Rechtsanwältin und ist seit diesem Tag Mitglied im Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen. Ab diesem Zeitpunkt stellte die Klägerin die Zahlungen an die gesetzliche Rentenversicherung ein. Sie zahlte fortan die Mitgliedsbeiträge an das Versorgungswerk selbst, wobei ihr der Arbeitgeber seinen Anteil zu der berufsständischen Versorgungseinrichtung mit dem Gehalt auszahlte (sogen. „Selbstzahlerin“).
4Aus der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung 2018 ergaben sich unter anderem folgende Werte:
5Nr. 22a: Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Rentenversicherung |
362,70 € |
Nr. 22b: Arbeitgeberanteil an berufsständische Versorgungseinrichtungen |
6.911,45 € |
Nr. 23a: Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung |
362,70 € |
Nr. 23b: Arbeitnehmeranteil an berufsständische Versorgungseinrichtungen |
/ |
Am 27.09.2019 übermittelte die Klägerin ihre mithilfe einer Software („WISO“) erstellte Einkommensteuererklärung für das Jahr 2018. Einen Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung oder einen Hinweis zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk legte sie nicht bei. In der Anlage Vorsorgeaufwand trug sie in der Zeile 4 Kennzahl 300 „Beiträge laut Nr. 23a/b der Lohnsteuerbescheinigung (Arbeitnehmeranteil)“ einen Betrag von 7.275 € ein. Die Zeile 5 Kennzahl 301 füllte sie nicht aus. Diese enthält folgenden Erklärungstext:
7„Beiträge zu landwirtschaftlichen Altersklassen; zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen, die den gesetzlichen Rentenversicherungen vergleichbare Leistungen erbringen (abzüglich steuerfreier Zuschüsse lt. Nr. 22b der Lohnsteuerbescheinigung) – ohne Beiträge, die in Zeile 4 geltend gemacht werden“
8In Zeile 9 Kennzahl 304 – „Arbeitgeberanteil/-zuschuss lt. Nr. 22a/b der Lohnsteuerbescheinigung“ – trug sie 7.273 € ein.
9Der Arbeitgeber der Klägerin übermittelte elektronisch Daten an den Beklagten. Diese wiesen für den Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung 362,70 € aus. Der Arbeitgeberanteil (lt. Nr. 22a/b der Lohnsteuerbescheinigung) betrug nach den elektronisch übermittelten Werten 7.274,15 €.
10Nach Aktenlage warf das Bearbeitungsprogramm des Beklagten einen Prüfhinweis aus, welcher lautete:
11„Die Eintragungen zum Arbeitnehmeranteil und Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Rentenversicherung weichen voneinander ab. […] Die Eintragungen sind zu überprüfen.“
12Es ist mangels Datumsvermerks unklar, ob dieser Hinweis bereits bei der erstmaligen Bearbeitung der Steuererklärung ausgeworfen wurde.
13Mit Bescheid vom 21.10.2019 (Montag), versandt per einfachem Brief, setzte der Beklagte die Einkommensteuer 2018 fest. Dabei berücksichtigte er beschränkt abziehbare Sonderausgaben in Höhe von insgesamt 2.121 €. Entsprechend der vorliegenden elektronischen Daten übernahm der Beklagte den Arbeitnehmeranteil nur in Höhe von 363 €. Einen Hinweis darauf, dass der Beklagte von der Klägerin abweichende Werte berücksichtigte, fand sich nicht im Bescheid. Der Bescheid enthielt lediglich den Hinweis, dass die Günstigerprüfung ergeben habe, dass die Ermittlung der abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der Rechtslage 2004 zu einem günstigeren Ergebnis führe.
14Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin keinen Einspruch ein.
15Mit Schreiben vom 14.07.2021, Eingang 16.07.2021, stellte die Klägerin beim Beklagten einen Antrag auf Änderung des Bescheids vom 21.10.2019. Zur Begründung führte sie aus, dass sich ihr Anspruch auf Änderung aus § 129 AO ergebe, da dem Beklagten eine offenbare Unrichtigkeit unterlaufen sei. Sie zahle seit Mitte ... 2018 Beiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk anstelle der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung für Anfang ... 2018 sowie die zur berufsständischen Versorgungseinrichtung habe sie in der Anlage Vorsorgeaufwendungen bei Abgabe der Steuererklärung angegeben. Diese seien bei den beschränkt abzugsfähigen Sonderausgaben jedoch nicht berücksichtigt worden, obwohl dies zwingend erforderlich gewesen sei. Dem Antrag fügte die Klägerin einen Ausdruck der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für 2018 bei. Weiterhin legte die Klägerin dem Antrag eine Bescheinigung des Versorgungswerks der Rechtsanwälte im Lande Nordrhein-Westfalen vom 18.02.2019 über entrichtete Mitgliedsbeiträge im Jahr 2018 bei. Diese betrugen 13.782,60 €.
16Mit Ablehnungsbescheid vom 01.09.2021 (Mittwoch) wies der Beklagte den Antrag auf Änderung zurück. Diese Entscheidung begründete er damit, dass die Korrekturvorschrift des § 129 AO nicht einschlägig sei. Es liege keine offenbare Unrichtigkeit vor. In dem Steuerbescheid seien nur Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von 362,70 € berücksichtigt worden, wie sie sich auch aus den elektronisch übermittelten Daten und der nunmehr vorgelegten Lohnsteuerbescheinigung ergäben. Dass darüber hinaus der Differenzbetrag zu den erklärten 7.275 € keine Berücksichtigung gefunden habe, sei kein mechanisches Versehen. Er habe sich auf die Richtigkeit der ihm elektronisch zur Verfügung gestellten Daten verlassen. Das Unterlassen weiterer Ermittlungen sei eine bewusste Entscheidung und kein mechanisches Versehen gewesen.
17Am 01.10.2021 legte die Klägerin Einspruch gegen den Ablehnungsbescheid vom 01.09.2021 ein. Dies begründete sie damit, dass der Bescheid bereits von Amts wegen hätte berichtigt werden müssen. Der Beklagte habe durch Missachtung des ausgewiesenen Prüfungshinweises bei der Erstellung des Steuerbescheids seine Ermittlungspflichten nach § 88 AO verletzt. Zumindest sei die Änderung aber gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO möglich. Bei der Bescheinigung über die Mitgliedsbeiträge zum Versorgungswerk der Rechtsanwälte handle es sich um ein nachträglich bekannt gewordenes Beweismittel. Die Tatsache, dass sie die Zahlungen an das berufsständische Versorgungswerk selbst zahle, sei vom Beklagten als nicht existent angesehen worden. Diese Tatsache könne nun durch die nachträglich eingereichte Bescheinigung bewiesen werden. Sie treffe auch kein Verschulden, da sie keiner Pflicht zur Vorlage von Belegen unterlegen habe. Zudem entfiele mit Berücksichtigung der Beiträge zum Versorgungswerk in voller Höhe die Grundlage für die Günstigerprüfung. Hilfsweise stütze sie ihren Einspruch auf weitere Korrekturnormen der AO.
18Mit Schreiben vom 27.10.2021 nahm der Beklagte ausführlich Stellung und legte der Klägerin die Berechnung der Sonderausgaben inklusive der Günstigerprüfung dar.
19Mit Einspruchsentscheidung vom 04.03.2022 (Freitag) wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Die Begründung stützte er inhaltlich weitestgehend auf die Begründung des Ablehnungsbescheids. Ergänzend trug er vor, eine Änderung nach § 129 AO komme insbesondere nicht in Betracht, da es sich bei unzureichender Sachverhaltsaufklärung nicht um einen mechanischen Fehler handle. Die Klägerin habe die Beiträge zum berufsständischen Versorgungswerk fälschlicherweise in die Kennziffer 300 statt die Kennziffer 301 eingetragen. Aus diesem Eintragungsfehler habe der Beklagte nicht ohne Weiteres darauf schließen können, dass die Klägerin Selbstzahlerin sei. Auch könne die Klägerin sich nicht auf § 173 AO berufen. Die Tatsache, dass die Klägerin die Beiträge zum berufsständischen Versorgungswerk selbst zahle, sei zwar nachträglich bekannt geworden. Die Klägerin treffe allerdings ein grobes Verschulden hieran. Sie hätte beim Lesen des Steuerbescheids erkennen können, dass die Vorsorgeaufwendungen nicht in der erklärten Höhe berücksichtigt worden seien. Zudem habe die Klägerin die Steuererklärung mit dem WISO-Programm erstellt. Dieses gebe eine Prüfberechnung aus, welche sie mit dem Steuerbescheid hätte vergleichen können. Zudem hätte sie die Beträge in der richtigen Kennziffer eintragen müssen. Andere Korrekturvorschriften seien nicht einschlägig.
20Die Klägerin hat am 04.04.2022 Klage erhoben. Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlich auf ihr bisheriges Vorbringen. Ergänzend trägt sie vor, der Beklagte habe verkannt, dass vorliegend die zweite Alternative des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO einschlägig sei. Es liege zudem kein grobes Verschulden vor. Sie sei eine Juristin ohne steuerliche Vorkenntnisse und der Einkommensteuerbescheid habe keinen Hinweis auf Kürzungen oder Streichungen enthalten. Es könne unter diesen Voraussetzungen nicht erwartet werden, dass sie den Steuerbescheid vollumfänglich überprüfen könne. Ein Abgleich des Bescheids mit dem WISO-Programm sei nicht erfolgt, da sie nicht für ELSTER freigeschaltet gewesen sei. Sie habe weder eine elektronische Einreichung noch einen elektronischen Abruf vornehmen können. Hilfsweise stütze sie ihre Klage auf weitere in Betracht kommende Korrekturnormen der AO, insbesondere §§ 173 Abs. 1 Nr. 2, 129 S. 1, 2 AO.
21Die Klägerin beantragt sinngemäß,
22unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 01.09.2021 sowie der Einspruchsentscheidung vom 04.03.2022 den Beklagten zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 2018 vom 21.10.2019 dahingehend zu ändern, dass die ihrerseits an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte gezahlten Beiträge i.H.v. 6.871 € im Veranlagungszeitraum als beschränkt abzugsfähige Sonderausgaben berücksichtigt werden.
23Der Beklagte beantragt,
24die Klage abzuweisen.
25Der Beklagte trägt in Ergänzung zur Begründung der Einspruchsentscheidung vor, die zweite Alternative des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sei nicht einschlägig. Zudem treffe die Klägerin ein grobes Verschulden, da sie spätestens bei Erhalt des Steuerbescheids für das Jahr 2019 hätte erkennen können, dass die Erstattung viel höher ausgefallen sei als im Vorjahr. Sie hätte bei einem Abgleich der Bescheide feststellen können, dass die beschränkt abzugsfähigen Sonderausgaben in der Höhe erheblich voneinander abwichen. Zudem seien weitere Ermittlungen entbehrlich gewesen, da man die Richtigkeit der elektronisch übermittelten Werte habe annehmen dürfen.
26Die Klägerin hat sich mit Schreiben vom 24.11.2024 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Beklagte hat sich dem mit Schreiben vom 28.11.2024 angeschlossen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
28Entscheidungsgründe
29Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung ‑FGO‑).
30Die Klage ist unbegründet. Der Ablehnungsbescheid vom 01.09.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.03.2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO). Der Beklagte hat die Änderung der formell bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 2018 zu Recht abgelehnt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Änderung dieses Bescheids.
31I. Der Einkommensteuerbescheid 2018 vom 21.10.2019 ist zunächst mit Ablauf der Einspruchsfrist am 25.11.2019 formell bestandkräftig geworden. Der mit einfachem Brief zur Post versandte Bescheid gilt gem. § 122 Abs. 1. Abs. 2 Nr. 1 AO am 24.10.2019 als bekannt gegeben. Die dann beginnende Einspruchsfrist endete gem. § 355 Abs. 1 Satz 1, 108 Abs. 1 und Abs. 3 AO i.V.m. § 188 Abs. 2 1. HS des Bürgerlichen Gesetzbuches mit Ablauf des 25.11.2019.
32Der Klägerin war keine Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist zu gewähren. Eine Wiedereinsetzung ist nämlich – vorbehaltlich der Fristversäumung wegen höherer Gewalt – nicht mehr möglich, wenn seit dem Ablauf der für die versäumte Handlung vorgesehenen Frist (hier: Einspruchseinlegung) ein Jahr verstrichen ist und weder ein Antrag auf Wiedereinsetzung gestellt noch die versäumte Handlung nachgeholt worden ist; auf den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses kommt es nicht an. Vor dem Ende der Jahresfrist muss entweder ein begründeter Wiedereinsetzungsantrag vorliegen oder - zwar kein Antrag gestellt, aber - die nicht rechtzeitig vorgenommene Handlung nachgeholt und die Wiedereinsetzungsgründe vorgetragen worden sein, so dass die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung vor Fristende erfüllt sindund vor Ablauf der Jahresfrist über die Frage einer Wiedereinsetzung hätte entschieden werden können.
33Die Jahresfrist ist als sog. Ausschlussfrist eine für Beteiligte und Finanzbehörden indisponible Frist und nach ihrem Zweck, der Herbeiführung von Rechtssicherheit, nicht wiedereinsetzungsfähig (so auch Söhn in: Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, 282. Lieferung, 9/2024, § 110 AO, Rn. 547; FG Köln, Urteil vom 30. Mai 2001, 9 K 4868/00, EFG 2001, 1098). Dementsprechend kann eine versäumte Handlung nach einem Verstreichen der Jahresfrist auch aus Billigkeitsgründen nicht mehr nachgeholt werden. Durch die Versäumung der Jahresfrist treten die mit einem verspäteten Handeln verknüpften Rechtsfolgen endgültig ein.
34Anhaltspunkte dafür, dass die Nichteinhaltung der Jahresfrist auf höhere Gewalt zurückzuführen sein könnte, sind nicht vorgetragen worden oder aktenkundig. Höhere Gewalt ist ein Ereignis, das vom Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe (also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung, Bildung usw.) auch durch die äußerste, nach den Umständen des gegebenen Falles vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (BFH, Urteile vom 29. September 1988, IV R 217/85, BStBl II 1989, 196, und vom 7. Mai 1993, III R 95/88, BStBl. II 1993, 818). Gemeint sind von außen kommende Ereignisse, die vom Betroffenen nicht beherrscht werden können; dass sie der menschlichen Steuerung völlig entzogen sind, ist aber nicht erforderlich. Höhere Gewalt kann z.B. auch vorliegen, wenn der Betroffene durch arglistiges Verhalten seines Gegners an der rechtzeitigen Einlegung eines Rechtsbehelfs gehindert worden ist oder wenn die Fristversäumnis auf das rechts- oder treuwidrige Verhalten der Finanzbehörde zurückgeführt werden kann.
35Im Streitfall gibt es keinerlei Anhaltspunkte für ein arglistiges oder treuwidriges Verhalten des Beklagten. Die (unzutreffende) Angabe der Klägerin zur Kennzahl 300 wurde lediglich ohne vorherige Anhörung an die elektronisch zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Daten angepasst. Dass die von der Klägerin eingetragenen Werte erheblich höher waren, als die im Bescheid berücksichtigten Werte war auch für einen steuerlichen Laien und erst recht für eine zu diesem Zeitpunkt in einer namhaften Wirtschaftskanzlei beschäftigten Volljuristin ohne weiteres erkennbar. Höhere Gewalt wegen der unterlassenen Anhörung zur Anpassung an die elektronisch vorliegenden Daten ist daher im Streitfall unter Berücksichtigung der Bildung der Klägerin nicht anzunehmen.
36III. Der Anspruch auf Änderung des bestandskräftigen Bescheids ergibt sich zudem nicht aus § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO.
37Nach der Korrekturvorschrift des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
381. Der Anspruch lässt sich nicht auf die erste Alternative des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ‑ das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen ‑ stützen.
39Die Beitragszahlungen zum Versorgungswerk für Rechtsanwälte stellen nachträglich bekannt gewordene Tatsachen im Sinne des § 173 Abs. 1 AO dar.
40Tatsache im Sinne der Vorschrift ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art, nicht dagegen Schlussfolgerungen, insbesondere juristische Subsumtionen (BFH, Urteil vom 2. August 1994, VIII R 65/93, BStBl II 1995, 264). Dass die Klägerin ihre Beiträge eigenständig an das Versorgungswerk der Rechtsanwälte zahlt, stellt einen Umstand dar, welcher gem. § 10 Abs. 1, Nr. 2a, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b, Abs. 3 EStG steuermindernd berücksichtigt werden kann.
41Diese Tatsache ist auch nachträglich bekannt geworden.
42Nachträglich werden Tatsachen bekannt, wenn sie nach dem Zeitpunkt, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist, bekannt werden (BFH, Urteil vom 26. November 1996, IX R 77/95, BStBl II 1997, 422). Hierbei kommt es auf den Kenntnisstand der Finanzbehörde, und zwar der Personen an, die innerhalb der Behörde dazu berufen sind, den betreffenden Steuerfall zu bearbeiten (BFH, Urteil vom 1. April 1998, X R 150/95, BStBl II 1998, 569). Bekannt sind der zuständigen Dienststelle neben dem Inhalt der dort geführten Akten auch sämtliche Informationen, die dem Sachbearbeiter von vorgesetzten Dienststellen über ein elektronisches Informationssystem zur Verfügung gestellt werden, ohne dass insoweit die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters maßgeblich ist (BFH, Urteil vom 18. August 2015, VII R 24/13, BStBl II 2016, 255). Anders als bei einer Änderung zu Lasten des Steuerpflichtigen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO kann eine Tatsache nicht als bekannt angesehen werden, die der zuständige Bedienstete lediglich hätte kennen können oder kennen müssen. Die Behörde kann sich nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen auf ein eigenes Versäumnis oder Verschulden berufen (BFH, Urteil vom 19. November 2008, II R 10/08, BFH/NV 2009, 548).
43Die Willensbildung über die Steuerfestsetzung war mit Erlass des Bescheids am 21.10.2019 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt ergab sich aus den Akten nicht, dass die Klägerin die Beiträge an das Versorgungswerk für Rechtsanwälte selbst bezahlt hatte. Für den Beklagten war zwar ersichtlich, welche Angaben die Klägerin in der Einkommenssteuererklärung gemacht hatte. Dabei trug sie in Zeile 4 Kennziffer 300, den Beiträgen laut Nr. 23a/b der Lohnsteuerbescheinigung (Arbeitnehmeranteil), einen Betrag von 7.275 € ein. In Zeile 9 Kennziffer 304, dem Arbeitgeberanteil/-zuschuss lt. Nr. 22a/b der Lohnsteuerbescheinigung trug sie einen Betrag von 7.273 € ein.
44Bei Abgabe der Steuererklärung war dem Beklagten jedoch nicht bekannt, dass die Klägerin selbst Beiträge an ein berufsständisches Versorgungswerk gezahlt hatte, denn diese Kennzahl hatte sie im Steuererklärungsformular weder ausgefüllt, noch ergab sich diese Tatsache aus den zu diesem Zeitpunkt beim Beklagten vorliegenden Daten. Erst durch Einreichung der Lohnsteuerbescheinigung, der Bescheinigung des Versorgungswerks und den Ausführungen der Klägerin am 14.07.2021 konnte der Beklagte erkennen, dass die Klägerin sogen. Selbstzahlerin ist. Aus den vom Arbeitgeber elektronisch übermittelten Daten ergibt sich nichts Anderes (vgl. Anlage 2.2 zum Schriftsatz vom 27.10.2021).
45Es ist hier auch nicht von Relevanz, ob der Beklagte seine Ermittlungspflichten verletzt hat. Zwar erhielt der Beklagte einen Prüfhinweis, dass die Eintragungen zum Arbeitnehmeranteil und Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Rentenversicherung voneinander abwichen. Für die Frage des nachträglichen Bekanntwerdens ist dies aber nicht ausschlaggebend.
46Die Klägerin trifft ein grobes Verschulden daran, dass die von ihr selbst vorgenommene Beitragszahlung erst nachträglich bekannt geworden ist.
47Als grobes Verschulden i.S.v. § 173 Abs.1 Nr. 2 AO hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grob fahrlässig handelt, wer die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen und Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlich großem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (BFH, Urteil vom 11. Mai 1990, VI R 76/86, BFH/NV 1991, 28). Auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum kann sich der Steuerpflichtige dann nicht berufen, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet (BFH, Urteil vom 23. Oktober 2002, III R 32/00, BFH/NV 2003, 441). Gemäß § 150 Abs. 2 S. 1 AO muss er die Angaben in der Erklärung nach bestem Wissen und Gewissen machen. Auch ein Steuerpflichtiger, dem einschlägige steuerrechtliche Kenntnisse fehlen, muss im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Fragen beantworten und dem Steuererklärungsformular beigefügte Erläuterungen mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt lesen und beachten (BFH, Urteil vom 2. August 1994, VIII R 65/93, BStBl II 1995, 264). Allerdings müssen auch die Erläuterungen für einen steuerlichen Laien ausreichend verständlich, klar und eindeutig sein (BFH, Urteil vom 23. Januar 2001, XI R 42/00, BStBl II 2001, 379). Der Steuerpflichtige muss aber den sich bei dem Ausfüllen von Steuererklärungen aufdrängenden Zweifelsfragen nachgehen (BFH, Urteil vom 1. Oktober 1993, III R 58/92, BStBl II 1994, 346). Grobes Verschulden eines Steuerpflichtigen ist ferner in der Regel auch dann zu bejahen, wenn dieser einen Steuerbescheid bestandskräftig werden lässt, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist hätte aufdrängen müssen, dass dem Finanzamt bisher nicht bekannte Tatsachen noch geltend zu machen seien (BFH, Urteil vom 11. Mai 1990, VI R 76/86, BFH/NV 1991, 281). Zwischen Pflichtverstößen des Steuerpflichtigen, die sowohl im Stadium bis zum Erlass eines Steuerbescheids als auch nach Erlass des Steuerbescheids bis zum Eintritt der formellen Bestandskraft eintreten, besteht ein Rangverhältnis. Ein grob schuldhafter Pflichtverstoß i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO im ersten Verfahrensstadium wirkt fort und überlagert einen gegebenenfalls nur leicht fahrlässigen oder weiteren grob schuldhaften Pflichtverstoß, dem Finanzamt nach Erlass des Steuerbescheids relevante Tatsachen oder Beweismittel nicht bis zum Ablauf der Einspruchsfrist mitgeteilt zu haben (BFH, Urteil vom 10. Dezember 2013, VIII R 10/11, BFH/NV 2014, 820)
48Bei der Würdigung des Begriffs des groben Verschuldens hat das Verhalten des Finanzamtes jedenfalls dann außer Betracht zu bleiben, wenn ein Steuerpflichtiger eine Änderung der Steuerfestsetzung zu seinen Gunsten begehrt (BFH, Urteil vom 9. August 1991, III R 24/87, BStBl II 1992, 65).
49Die Klägerin trifft ein grobes Verschulden im Hinblick auf die inkorrekte bzw. fehlendeAngabe in der Steuererklärung.
50Denn gemäß § 90 AO ist sie verpflichtet, bei der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken, indem die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig offen gelegt werden.
51In der mit der Steuererklärung abgegebenen Anlage Vorsorgeaufwand ist die Klägerin explizit nach Beiträgen zu berufsständischen Versorgungswerken gefragt worden ist. Diese Frage findet sich in Zeile 5 Kennzahl 301, in der nach „Beiträgen zu landwirtschaftlichen Alterskassen; zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen, die den gesetzlichen Rentenversicherungen vergleichbare Leistungen erbringen (abzüglich steuerfreier Zuschüsse lt. Nr. 22b der Lohnsteuerbescheinigung) – ohne Beiträge, die in Zeile 4 geltend gemacht werden“ gefragt ist. Diese Zeile hat die Klägerin nicht ausgefüllt. Aufgrund des Wortlauts der Erklärung – „Beiträge […] zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen“ – war für die Klägerin klar und ausreichend verständlich, welche Beiträge in dieser Zeile anzugeben waren.
52Es ergibt sich aus dem Formular auch nicht – wie die Klägerin es vorgenommen hat –, dass die eigens gezahlten Beiträge zu dem Arbeitnehmeranteil entsprechend Nr. 23a/b der Lohnsteuerbescheinigung zu addieren sind. In Zeile 4 Kennzahl 300 waren lediglich die Beiträge lt. Nr. 23 a/b der Lohnsteuerbescheinigung (Arbeitnehmeranteil) anzugeben. Ausweislich der Lohnsteuerbescheinigung hatte die Klägerin aber nur einen Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von 362,70 €, welchen sie hier hätte eintragen müssen.
53Weiterhin enthält die auf der Seite des Bundesministeriums der Finanzen frei zugängliche Ausfüllanleitung zur Einkommensteuererklärung 2018 eine Beschreibung dazu, wie Beitragsleistungen an berufsständische Versorgungseinrichtungen in Selbstzahler-Fällen einzutragen sind.
54Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin bei Erstellung der Steuererklärung das WISO-Steuerprogramm nutzte. Unter der Rubrik „Meine Steuererklärung / Allgemeine Ausgaben“ wird der Nutzer zu gesetzlichen Rentenversicherungen und danach zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen befragt. Die explizite Frage „Wurden Beiträge an berufsständische Versorgungseinrichtungen gezahlt, die nicht auf der Lohnsteuerbescheinigung enthalten sind?“ muss entweder durch Anklicken der Schaltfläche „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden.
55Zudem befindet sich neben dem Button „Ja/Nein“ ein Symbol mit einem Fragezeichen, welches man ebenfalls anklicken kann. Im rechten Teil des Bildschirms öffnet sich daraufhin eine Erklärungsbox. In dieser wird explizit darauf hingewiesen, dass die Frage mit „Ja“ beantwortet werden sollte, wenn Beiträge an berufsständische Versorgungseinrichtungen gezahlt wurden, die nicht bereits auf der Lohnsteuerbescheinigung enthalten seien. Weiter wird erklärt, dies könne vorkommen, wenn beispielsweise Beiträge als Selbstzahler gezahlt wurden. Da die Klägerin Beiträge selbst leistete, hätte ihr einleuchten müssen, dass hier ihre Zahlungssituation geschildert wird. Weiterhin nennt die Erklärungsbox noch die Berufsgruppen, u.a. Rechtsanwälte, bei denen die Leistungen der Versorgungswerke mit denen der gesetzlichen Rentenversicherung vergleichbar sind. Da die Klägerin Rechtsanwältin ist, hätte ihr bereits beim aufmerksamen Lesen der Erklärungsbox auffallen müssen, dass hier gesonderte Angaben zu den selbst gezahlten Beiträgen erforderlich sind.
56Unabhängig von der Nutzung der Erklärungsbox hätte es sich der Klägerin aufdrängen müssen, dass eigenständige Angaben zu den selbst gezahlten Beiträgen zu machen sind. Hätte die Klägerin die Eingangsfrage nach der Zahlung von Beiträgen mit „Ja“ beantwortet, hätte sich ein weiteres Menü geöffnet. Hier hätte die Klägerin mit „Ja“ oder „Nein“ antworten müssen, ob Beiträge gezahlt worden sind, die nicht auf der Lohnsteuerbescheinigung enthalten sind. Dann wiederum hätte sich ein Menü geöffnet, in dem sie mit „Ja“ oder „Nein“ Angaben dazu machen konnte, ob sie freiwillige Zahlerin, Selbstzahlerin oder Nicht-Arbeitnehmerin ist. Die mehrfachen Fragestellungen, die jeweils mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden mussten, verdeutlichen, dass sich die Klägerin aktiv Gedanken über jede Frage hätte machen müssen.
57Es ist auch nicht ersichtlich, dass bei der Eintragung in Zeile 4 Kennziffer 300 ein Übertragungs- bzw. Eingabefehler vorlag. Die Eintragung erfolgte bewusst, da die Klägerin den selbst gezahlten Beitrag bewusst zu dem Arbeitnehmeranteil in der gesetzlichen Rentenversicherung hinzurechnete.
58Dass die Klägerin keiner Pflicht zur Vorlage von Belegen unterlag, entbindet sie zudem nicht von ihrer Mitwirkungspflicht, insbesondere die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offen zu legen.
59Der Klägerin fällt neben ihrer grob verschuldeten Fehleintragung im Erklärungsvordruck auch ein grobes Verschulden dahingehend zur Last, dass sie den Bescheid nicht innerhalb der Einspruchsfrist angefochten hat und dieser nun bestandskräftig ist. Die Klägerin hätte den Steuerbescheid genau überprüfen und erkennen können, dass die erklärten Werte nicht berücksichtigt worden sind. Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass dem Steuerbescheid kein Hinweis auf die Änderung der Erklärungswerte (in Bezug auf Kennziffer 300) zu entnehmen ist. Des Weiteren fiel der Erstattungsbetrag relativ niedrig aus, obwohl hier auch zu bedenken ist, dass der Klägerin als Berufseinsteigerin insoweit noch Erfahrungswerte fehlen konnten. Allerdings hätte die Klägerin allein anhand der Höhe der abzugsfähigen Sonderausgaben leicht erkennen können, dass die von ihr selbst gezahlten Beiträge zum Versorgungswerk nicht berücksichtigt worden sind. So weicht der berücksichtigte Sonderausgabenabzug in Höhe von 2.121 €, der so auch im Bescheid erkennbar ist, von den erklärten Werten in Höhe von 14.525 € augenfällig ab. Die Klägerin hätte zudem die Prüfberechnung des von ihr verwendeten WISO-Programms zum Abgleich der erklärten und der festgesetzten Werte nutzen können. Dieses schlüsselt die Abweichungen detailliert auf. Entgegen der Ausführungen der Klägerin hätte es einer Anmeldung bei ELSTER für die Nutzung einer solchen Funktion nicht bedurft.
60Darauf, ob das grobe Verschulden zusätzlich damit begründet werden kann, dass die Klägerin bei Vergleich der Steuerbescheide für das Jahr 2018 und 2019 einen Unterschied bei den beschränkt abzugsfähigen Sonderausgaben hätte erkennen können, kommt es nicht an. Die grob schuldhafte Pflichtverletzung ist bereits im Zeitpunkt der Erstellung der Steuererklärung mit unzutreffenden Angaben bzw. bei der nicht vorgenommenen Prüfung des Steuerbescheids zu bejahen.
612. Eine Änderung ist auch nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 2. F. AO nicht möglich.
62Als Beweismittel sind diejenigen Erkenntnismittel anzusehen, die der Aufklärung des steuerrechtlich erheblichen Sachverhalts dienen, d.h. geeignet sind, das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Tatsachen zu beweisen. Keine Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift sind Schlussfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen (BFH, Urteil vom 20. Dezember 1988, VIII R 121/83, BStBl II 1989, 585). Ein Beweismittel ist i.S.v. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nachträglich bekannt geworden, wenn es beim Erlass des zu ändernden Bescheids zwar bereits existierte, aber dem Finanzamt nicht bekannt war.
63Die Bescheinigung des Versorgungswerks ist zwar ein nachträglich bekannt gewordenes Beweismittel. Aber auch hier trifft die Klägerin aus den oben genannten Gründen ein grobes Verschulden daran, dass dieses erst nachträglich bekannt geworden ist. Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass sie grundsätzlich keine Belegvorlagepflicht mehr trifft. Denn nach § 150 Abs. 4 Satz 1 AO müssen nur die Unterlagen beigefügt werden, die nach den Steuergesetzen vorzulegen sind, und für die hier streitgegenständliche Bescheinigung trifft das EStG keine solche Regelung. Die Regelung in § 150 Abs. 4 Satz 1 AO schließt aber nicht aus, dass der Erklärungspflichtige aus eigenem Antrieb mit der Steuererklärung Unterlagen vorlegt, die als Beweismittel für die Richtigkeit der in der Erklärung gemachten Angaben dienen (z.B. Rechnungen, Kontoauszüge, usw.). Da den Steuerpflichtigen die Obliegenheit zu wahrheitsgemäßen Angaben trifft (§ 150 Abs. 2 Satz 1 AO), kann er zur Vermeidung von Nachteilen gehalten sein, mit der Steuererklärung Unterlagen vorzulegen, die nicht schon kraft Gesetzes vorgelegt werden müssen. Wer in Zweifelsfällen z.B. Vertragsunterlagen dem Finanzamt einreicht, geht nicht das Risiko ein, dass ihm im Rahmen von § 173 AO eine Verletzung von Informationspflichten entgegengehalten wird (Heuermann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, 283. Lieferung, 11/2024, § 150 AO, Rn. 45). Da es bei der Erstellung der Steuererklärung ausdrückliche Fragen bzw. Schilderungen zu Zahlungen an berufsständische Versorgungseinrichtungen sowohl im Formular selbst, in den Ausfüllhinweisen und mehrschrittige Abfragen im WISO-Programm gegeben hat, und die Klägerin sogar selbst eine Addition von Werten vorgenommen hatte, hätte es sich aus Sicht der Klägerin durchaus angeboten, diesbezügliche Unterlagen mit der Steuererklärung einzureichen. Hinzukommt, dass es für die Klägerin die erste Steuererklärung nach Aufnahme dieser Berufstätigkeit war Grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden eines Beweismittels liegt vor, wenn der Beteiligte unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Dazu gehört es im Übrigen auch, wenn der Beteiligte es versäumt, Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Vorlage eines der Finanzbehörde bisher nicht bekannten Beweismittels hätte aufdrängen müssen (FG Bremen, Urteil vom 24. Juni 2024, 2 K 42/24, juris). Wie bereits zu 1. ausgeführt, hätte der offenkundig wesentlich geringere Betrag beim Sonderausgabenabzug in Höhe von 2.121 € im Steuerbescheid einen weiteren Anlass gegeben, die Bescheinigung des Versorgungswerks spätestens innerhalb der Einspruchsfrist nachzureichen.
64Unabhängig davon wirkte hier die Mitwirkungspflichtverletzung der Klägerin durch ihre unzutreffende bzw. unvollständige Eintragung trotz expliziter Fragestellung im Steuererklärungsformular und in den Ausfüllhinweisen fort. Diese war zunächst ausschlaggebend für die insoweit fehlende steuerliche Berücksichtigung des Beweismittels und dies geht hier zu ihren Lasten.
65Auch die von der Klägerin zitierte Literaturmeinung führt nicht zu einer anderen Bewertung. Danach kann ein nachträglich bekannt gewordenes Beweismittel für das Vorliegen einer Tatsache zu einer Änderung führen, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, bei der ursprünglichen Steuerfestsetzung nicht bekannt war oder mangels Beweises als nicht existent angesehen wurde. In ersterem Fall führt allerdings regelmäßig schon das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsache selbst zur Tatbestandserfüllung des § 173 AO, so dass es auf das nachträgliche Bekanntwerden des Beweismittels nicht ankommt (von Wedelstädt, in: Gosch, AO/FGO, 185. EL 2024, § 173 Rn. 24). Die Tatsache, dass die Klägerin die Beiträge zum Versorgungswerk selbst zahlt, ist jedoch bei der Steuerfestsetzung nicht bekannt gewesen (s.o.). Dies führt entsprechend der obigen Argumentation sowie der von der Klägerin zitierten Literaturansicht grundsätzlich zur Anwendung der ersten Tatbestandsalternative – des nachträglichen Bekanntwerdens von Tatsachen. Die Tatsache wurde auch nicht mangels Beweises als nicht existent angesehen. Denn das würde voraussetzen, dass der Beklagte zumindest von der Tatsache Kenntnis erlangt hätte, um sie als nicht existent ansehen zu können.
66IV. Ein Anspruch auf Änderung des Bescheids ergibt sich auch nicht aus § 129 S. 1, 2 AO.
67Danach kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen.
68Bei der Kürzung des Arbeitnehmeranteils zur gesetzlichen Rentenversicherung und der fehlenden Berücksichtigung der Beiträge zum berufsständischen Versorgungswerk ist dem Beklagten keine offenbare Unrichtigkeit unterlaufen.
69Offenbare Unrichtigkeiten i.S.v. § 129 AO sind mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler. Dagegen schließen Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts eine offenbare Unrichtigkeit aus. § 129 AO ist ferner nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht. Die Berichtigungsmöglichkeit gemäß § 129 AO setzt voraus, dass der offenbare Fehler in der Sphäre der den Verwaltungsakt erlassenden Finanzbehörde entstanden ist. Da die Unrichtigkeit nicht aus dem Bescheid selbst erkennbar sein muss, ist die Vorschrift auch dann anwendbar, wenn das Finanzamt offenbar fehlerhafte Angaben des Steuerpflichtigen als eigene übernimmt. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist eine Unrichtigkeit hingegen dann offenbar, wenn der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und eindeutig als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist (BFH, Urteil vom 26.10.2016, X R 1/14, BFH/NV 2017, 257). Eine aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen erforderliche, vom Sachbearbeiter jedoch unterlassene Sachverhaltsermittlung ist aber kein mechanisches Versehen, wie es § 129 AO voraussetzt. Das Finanzamt hat zwar möglicherweise damit seine Amtsermittlungspflicht verletzt, eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht zuungunsten des Steuerpflichtigen ist aber nicht mit einer offenbaren Unrichtigkeit gleichzusetzen. Sie schließt vielmehr in der Regel, wie im Streitfall, eine offenbare Unrichtigkeit aus.
70Eine offenbare Unrichtigkeit ist vorliegend nicht gegeben. Zunächst ist in die Überlegungen mit einzubeziehen, dass die fehlende Berücksichtigung der Beiträge an das Versorgungswerk maßgeblich auf den fehlerhaften Eintragungen der Klägerin beruht. Wird eine Eintragung in einem Steuererklärungsformular in einer falschen Zeile vorgenommen, so kommt eine offenbare Unrichtigkeit nach § 129 AO nur in Betracht, wenn ein Rechtsfehler ausgeschlossen ist (BFH, Urteil vom 26. Oktober 2016, X R 1/14, BFH/NV 2017, 257).
71Der hier vorliegende rechtliche Fehler der Klägerin, der durch die von ihr vorgenommene Addition verdeutlich wird, stellt nicht die Konstellationen eines sogen. „Übernahmefehlers“ – bei welcher sich der Finanzbeamte ein mechanisches Versehen des Steuerpflichtigen zu eigen macht – dar.
72Für einen objektiven Dritten hätte sich aus dem Akteninhalt nicht ohne Weiteres ergeben, dass die Klägerin die Beiträge selbst zahlt. So ergaben sich aus den Akten lediglich die fehlerhaften Eintragungen der Klägerin. Diese wiesen in Zeile 5 Kennzahl 301 keine Beiträge zu berufsständischen Versorgungswerken aus. Zudem fanden sich in Zeile 4 Kennzahl 300 von den elektronisch übermittelten Werten abweichende Beträge. In den Akten war weder die Lohnsteuerbescheinigung noch eine Bescheinigung über die Erbringung der Beiträge zum Versorgungswerk. Ohne weitere Nachfragen bei der Klägerin hätte sich für einen objektiven Dritten der Widerspruch zwischen den Erklärungen und den elektronisch übermittelten Werten nicht aufgelöst. Möglicherweise hat der Beklagte dadurch eine Amtsermittlungspflicht verletzt, dies ist aber gerade nicht mit einer offensichtlichen Unrichtigkeit gleichzusetzen.
73V. Auch kann ein Anspruch auf Änderung des Bescheids nicht auf § 173a AO gestützt werden. Danach sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit dem Steuerpflichtigen bei Erstellung seiner Steuererklärung Schreib- oder Rechenfehler unterlaufen sind und der deshalb der Finanzbehörde bestimmte, nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheids rechterhebliche Tatsaschen unzutreffend mitgeteilt hat.
74Vorliegend mangelt es an einem Schreib- bzw. Rechenfehler. Schreibfehler sind insbesondere Rechtschreibfehler, Wortverwechslungen oder Wortauslassungen oder fehlerhafte Übertragungen. Rechenfehler sind insbesondere Fehler bei der Addition, Subtraktion, Multiplikation oder Division sowie bei der Prozentrechnung. Die Klägerin hat jedoch keine Zahlen vertauscht, sondern bewusst die von ihr selbst gezahlten Beiträge zu dem Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung zugerechnet. Auch sind ihr aus diesem Grund keine Fehler in der Berechnung unterlaufen.
75VI. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.